ANDROGYNE - Stanislaw Przybyszewski - E-Book

ANDROGYNE E-Book

Stanislaw Przybyszewski

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Beschreibung

Für Leser, die sich für psychologisch anspruchsvolle Literatur und kulturelle Reflexionen interessieren, ist Androgyne ein Muss. Dieses Buch bietet nicht nur eine packende Handlung und komplexe Charaktere, sondern regt auch dazu an, über die Konstruktion von Geschlecht und Identität nachzudenken. Przybyszewskis unkonventioneller Stil und seine kritische Haltung gegenüber gesellschaftlichen Normen machen dieses Werk zu einem zeitlosen Klassiker, der auch heute noch relevante Fragen aufwirft. Lassen Sie sich von Androgyne in eine Welt voller Rätsel und Entdeckungen entführen und erkunden Sie die Tiefen der menschlichen Seele.

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Stanislaw Przybyszewski

ANDROGYNE

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Inhaltsverzeichnis

Cover
Titelblatt
Text

Es war späte Nacht, als er nach Hause kam.

Er setzte sich an den Schreibtisch und sah gedankenlos auf einen herrlichen Blumenstrauss hin, der mit einem breiten roten Band umwunden war.

Auf dem einen Ende stand in goldenen Buchstaben ein mystischer, weiblicher Name.

Nichts weiter.

Und wieder empfand er diesen langen, fliederweichen Schauer, der ihn durchzuckte, als man ihm diesen Strauss auf die Estrade hinaufreichte.

Man hat ihn ja mit Blumen beworfen, soviel Kränze regneten nieder zu seinen Füssen – aber dieser Strauss mit diesem roten Band und dem mystischen Namen – wer mag ihn wohl hinaufgeschickt haben?

Er wusste es nicht.

Als ob eine warme, kleine Hand die seine erfasst – nein! nicht erfasst, – sich wollüstig einschmeichelte, hineinküsste mit heissen Fingern . . .

Und sie, deren Name ihn so verwirrte . . .

Vielleicht hat sie die Blumen geküsst, bevor man sie ihm reichte, ihr Gesicht in das weiche Blumenbett eingewühlt, bevor sie es zum Strauss gewunden, das reiche Armgewinde von Blumen an ihr Herz gedrückt und sich nackt und lustkeuchend über das Blumenlager gewälzt . . .

Und das Geblüte atmete noch den Duft ihres Körpers, zitterte noch das kauernde, heisse Lispeln ihres Verlangens . . .

Sie liebte ihn ja, sie kannte ihn schon lange, ganze Tage hat sie zitternd durchdacht, bevor sie wagte, ihm diese Blumen zu schenken . . . Er wusste es, ganz genau wusste er es . . .

Er wusste sicher, dass sie ihn liebte, denn solche Blumen schenken nur Mädchen, die lieben.

Er schloss die Augen und horchte. Er sah riesige Märchenrosen, schwarze, blutdürstige, weisse, auf langen Stengeln sich wiegende Kosen. Sie verneigten sich, tief und tiefer, sie richteten sich stolz empor, sie lockten und lachten, trunken ihrer eigenen Pracht.

Er sah Tuberosen, weiss wie Bethlehemssterne, feinstrunkig mit bläulichem Geäder – er sah Urbäume von weissen und roten Azaleen, belastet und überladen von weichflaumiger Blütenpracht und herrlich anzuschauen wie reiche Ballkleider auf wundersamen Märchengestalten längst verstorbener adliger Frauen, er sah Orchideen auf heissgeöffneten Lippen, lustheischenden, giftigen Lippen und Lilien mit weitgebreitetem Mutterschoss der keuschen Lüste und Narzissen und Bionen, Begonien und Kamelien – eine ganze Sintflut von berauschendem Farbengift, berückendem saugenden Duft überströmte seine Seele. Der weiche Maienduft des Flieders ergoss sich in ihm mit der stillen, kindlich naiven Serenade der Hirtenflöten in heissen Frühlingsnächten – wie brünstige Triumphfanfare brauste das gelle Purpur der Rosen, mit keuschen Armen umfingen die Lilien sein Herz, lüstern saugten an ihm mit roten Zungen die Orchideen, in weissem kalten Glanz tanzten um ihn die Tuberosen, wie aphrodisisches Gift ergoss sich in ihm der berückende Duft der Akazienblüten, geschwängert von dem blitzheissen Sommergewitter, und alle diese Düfte, kühl und weich wie reine Mädchenaugen, unwissend ihres Geschlechts – heiss und gierig wie die Arme einer rasenden Hetäre – giftig und schreiend wie der Blick einer getretenen Otter: dies alles ergoss sich in ihm, durchtränkte, durchsättigte ihn; er war berauscht, machtlos; er fühlte, dass er kein Glied rühren könnte, er unterschied nicht mehr die Eindrücke voneinander, er sah keine Farben, fühlte den Duft nicht mehr, alles wurde eins.

Aus der Tiefe blühte in ihm auf ein weites Brachfeld, öde; traurig, schwer gebreitet wie das Stöhnen der Glocken in der Abenddämmerung des Gründonnerstags – weit in der Ferne blaute ein glitzernder Streifen eines fernen Sees, still gebettet von der schlafschweren Hitze des Mittags – nur hie und da schoss empor der schlanke Stengel einer Königskerze, als hätte sie die durchglühte Erdscholle aufgerissen und drohte nun mit siegesmächtiger Faust dem Himmel – nur hier und da ein paar verkümmerte Wachholderbüsche, verkrampft zu seltsamen Formen, als wären sie krank an dem Gift der Leichen, die hier einstens die Erde gedüngt haben – nur hier und da an den sandigen Gräbern träumten blaue Zichorienkörbchen, sehnsüchtig auf den Sonnenuntergang wartend, wenn sie die Blüten zusammenschliessen und den Kirchhofszauber der öden Heide schauernd durchkosten dürften . . .

Dann wieder sah er Kreuzwege auf den Moortriften zwischen den Sümpfen und abschüssigen Gräben. Die Stunde des Mitternachtsgrauens naht, voll von schreckender Angst und Pein. Ab und zu schiesst ein Irrlicht, behende wie ein Gedanke über die sumpfigen Wassertümpel, blitzt auf ein stilles, geheimes Leuchten, hin und wieder bellt ein Hund auf im nahen Dorf, ein anderer antwortet ihm mit langgedehntem Winseln, dann wieder der gelle Ruf des Nachtwächterhornes – und wieder Stille, Stille, die sich hineinschraubt, mählich und tief in die dunkelsten Abgründe und alles aufsaugt, mein Heute und mein Morgen, die den Schritt und jede Regung lahm legt und einen so unendlich einsam, so weltfern und daseinsfremd macht.

Und in immer neuen Bildern erstand vor seinen Augen sein ganzes Heimatland: ein riesiges Laken, zerrissen und zerfetzt in grüne Gerstenlappen, in weissaufgeblühte Heidekrautfelder, goldene Roggenteppiche, blutrote Beete peitschenschwerer Weizenähren: die ganze Erde ist maitrunken, brünstig in ihrer Blütenpracht, ungeheuer in ihrer schöpferischen Raserei, in der hochzeitlichen Majestät andächtiger Liebe – die ganze Erde weit hinauf bis an die Umfriedung der weissen Kirche auf der Anhöhe . . .

Breite Ströme von Glockenklängen gossen sich in das flache Land hinab, ringsherum brandete das Gewoge eines mächtigen Kirchenliedes während der Prozession am Fronleichnamsfest; zwischen dem schwarzen Gebüsch und dem dichten Gehege schimmerten die weissen Kleider der Mädchen, die zu Füssen des Priesters mit dem Allerheiligsten Blumen streuten, es blauten die langen Bauernröcke, gegürtelt mit breiten roten Schals . . .

Er zuckte auf. Lechzte nach mehr Sehnsucht.

Unaufhörlich in wunderlichen Reigen: ein Hochzeitsgang an einem Julitag – das breite Schluchzen der Geigen, gefertigt aus der Lindenrinde, das heisere Stöhnen der Bässe, die von dem Geld klappern, das der Bräutigam in ihr Inneres geworfen hat – und ein jauchzendes Geschrei, das in taktmässigen Abständen mit schrillen Strahlen in die Luft hinaufschiesst: Juchahei! Dann wieder schleppt sich ein Trauergeleite im Spätherbst auf der regendurchweichten Landstrasse. . . . Ein paar Mädchen tragen den weissen Sarg eines Kindes – dann wieder ein feierlicher Pilgerzug, der zu dem Wunderbild eines Heiligen wallfahrtet – dann wieder . . . oh, oh . . . ohne Ende, ohne Mass . . .

Langsam dunkelte es ihm in den Augen – nur ein paar unklarer, abgerissener Bilder glitten faul und zögernd über sein Gehirn – die Seele dämmerte, wiegte sich in weiches Träumen, erlosch, bis sie sich plötzlich in einem mächtigen Lied emporriss.

Der heimtückische Zauber, das berauschende Gift der exotischen Blumen und das Paradies der Heimatserde, das alles liess seine Seele erbeben mit dem dröhnenden ehernen Schrittklang von Rittern, die in Erz gegossen schienen, dass die Erde unter ihrer siegesjauchzenden Schrittwucht erbebte, – dann fühlte er seine Seele auftauen in den schluchzenden Klagen der Mutter, die ihre Erstgeburt verlor, sie ergrünte in dem Myrtenkranz hochzeitlicher Lieder, sie raste in trunkenem Tanz mit Jauchzen und Stampfen auf dem Boden einer überfüllten Schenke, schoss hoch empor mit wildem Schrei, wie die Blüte der Königskerze auf dem sengend heissen Brachacker – das ganze Lied ergoss sich in einem düsteren, wilden Bett, vertrocknete, schnellte rückwärts zurück, um mächtiger noch vorzustürmen und sich endlos über das ganze Flachland zu ergiessen . . .

Eine entsetzliche Macht packte ihn in ihre Arme. Die Tollwut des Gewitters umkrallte ihn mit dem Geächze der Verdammnis, warf ihn auf die kochende Gischt eines abgrundigen Malstroms, wütete in ihm, heulte, krachte, schleuderte ihn kreischend hin und her die steilen Felsen hinauf wie ein Wrack – nur in der Tiefe, ganz in der Tiefe des bodenlosen Trichters ein heller Klang, der schwand und wieder aufleuchtete, sank unter und wieder auftauchte, wie der Widerschein eines blassen Sternes in dem schäumenden Strudel dunkler Wogen.

Lange hat dieser helle Strahl mit der spritzenden Wasserflut, mit dem Gewitter aufgewühlter Wogen gerungen, aber beharrlich ergoss er sich in lange, schmale Streifen, tanzte über den Fluten in zierlichen Schlangenwindungen, rollte sich zusammen, schnellte dann wie eine aufgerollte Feder langhin: über dem sturmgepeitschten Abgrund verzweifelten Ächzens und Kreischens, über dem Strudel abgründiger Qual, dem Geheul und Geschrei tollgewordener Gewitterbrunst flogen stille, sehnsüchtige, weichgesponnene Lichtwellen; immer breitere, immer stärkere Wellen der Beruhigung und lichter Versagung, entzückter Gebete umfingen den Sturm und das qualschreiende Entsetzen in heilige Mutterarme, pressten es an sich in unendlicher Liebe, wiegten es in eine überirdische Sehnsucht, in einen ohnmächtigen Verzückungstraum . . .

Da:

Ein Mädchengesicht tauchte auf: ein heller, heiliger Klang in den schwarzen Sturmakkorden, der helle Widerschein eines blassen Sternes in dem schäumenden Gischt dunkler Wogen, – nie früher hatte er es gesehen, aber er kannte es, er kannte es gut, dies Mädchengesicht . . .

Er wachte auf: rieb sich die Augen, ging in dem Zimmer auf und ab, aber er konnte die Vision dieses Gesichtes nicht los werden: halb Kind, halb Weib.

Ja, ja – sie war es sicher. Sie liess ihm den Blumenstrauss auf die Estrade reichen.

Er dachte nach, woher seine plötzliche Gewissheit, dass sie es war.

Jemand Fremdes hat ihm die Blumen hinaufgereicht.

Und er dachte und grübelte . . .

Sie war also da, sie sass in der ersten Reihe und leuchtete das dunkle Doppelgestirn ihrer Augen in seine Seele hinein, sie hat den Abglanz in ihr zurückgelassen. Damals, als die ganze Welt vor meinen Augen in Nebelschwaden zerrann, als alles zusammenströmte in dem Orkan des Gewitters, das unter meinen Fingern heulte, hat die Macht der Sehnsucht den Abglanz ihrer Augen in mir festgeklebt. . . . Ich selbst habe zu den Augen das Gesicht geformt, denn nur dieses und kein anderes erglüht in dem Glanz solcher Augen . . .

Und der Glanz umfing ihn von allen Seiten, ergoss sich in sein Blut, durchströmte seine Adern, ein heisser Schauer durchzuckte ihn – er zitterte in unbekanntem Wonneschmerz.

– Denn vor der Stunde der Erlösung geschehen seltsame Zeichen und Wunder – flüsterte er leise in sich hinein – die ganze Muttererde ist in mir aufgewacht – das ganze Leben glitt mit Blitzesschnelle über das Himmelsgewölbe meiner Seele – die ganze Verzweiflungslust meines Lebens breitete vor meinen Augen ihre schweren wunden Fittige vom einem End' zum anderen . . .

Blieb wieder stehen und starrte lange den Blumenstrauss an und das breite rote Band mit dem mystischen Namen . . .

Ja – sie ist rank und biegsam wie der Stengel der Tuberose, und ihre Augen so rein, wie die weissen Bethlehemssterne, die auf ihm ruhten und sich träumerisch hin und her wiegten . . .

Woher nur die Vision dieses Gesichtchens – halb Kind, halb Weib?

Er dachte:

Das ist die geheime Stunde, bevor die Sonne aufwacht.