Erdensöhne - Stanislaw Przybyszewski - E-Book

Erdensöhne E-Book

Stanislaw Przybyszewski

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Beschreibung

Dieses eBook: "Erdensöhne" ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Stanisław Przybyszewski (1868-1927) war ein polnischer Schriftsteller, der zu Beginn seiner Laufbahn auf Deutsch schrieb. Przybyszewski entwickelte ein großes Interesse für Satanismus sowie die Philosophie von Friedrich Nietzsche und begann ein Bohème-Leben. Zu seinen Freunden in dieser Zeit gehörten Edvard Munch, Richard Dehmel und August Strindberg. Aus dem Buch: "Stasinek, der immer und überall den Pflichten eines Mundschenks oblag, bewegte sich unermüdlich unter den Zechgenossen hin und her, gofs fortwährend Schnaps oder Bier in die schnell geleerten Gläser und in die ebenso schnell geleerten Humpen, trank jedem fortwährend zu, ermunterte die Gäste, behauptete, dafs so viel Glück auf der Erde, wie auf dem Boden des Schnapsglases sei, wackelte mit seinem Flachskopf hin und her, und war unendlich glücklich: er fühlte sich in seinem Element."

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Stanislaw Przybyszewski

Erdensöhne

e-artnow, 2015 Kontakt: [email protected]
ISBN 978-80-268-4304-7

Inhaltsverzeichnis

I. Malaria.
I.
II.
III.
IV.
V.
II. Dämmerung.
I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
III. Ultima Thule.
I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
VII.

Impromptu.

Die Achse des ganzen Erdenwallens ist die Liebe und der Tod.

Alles, was nur im Erdental der Tränen der ganzen Menschheit, auf diesem Kalvarienberg von Sehmerz und Qual, lebt und atmet: die Familie, die Gemeinde, der Staat, der Krieg, der Menschen Zuwachs und deren Metzelei, das ist etwas Nebensächliches, etwas Notwendiges, um den Geschlechtern Sicherheit geben zu können, welche aus der Frucht der Liebe emporgeblüht sind.

Das sind nur Hilfsmittel, um den kommenden Geschlechtem Leben und Schutz angedeihen zu lassen.

Die Liebe in meinem Begriff, das ist das — was ich bereits gesagt habe: das ist die kosmische Macht, das ist das fürchterliche Heimarmene der ganzen Menschheit, und Moira und der Kismet, alles das, was über dem Menschen steht, ihn regiert, ihn nicht untergehen läfst

Die Liebe, wie ich sie auffasse, ist eine unerhörte Kraft, die dem Menschen unbekannt ist, die Wiedergeburt und Auferstehung in eine Unendlichkeit.

Die Liebe in meiner Auffassung, das ist die grenzenlose Sehnsucht, die selbst zur Märtyrerin werden kann, damit sich zwei Geschlechter ineinander flechten, damit das Menschengeschlecht adliger und gottesherrlicher werden und den heiligen Gotteshain erreichen kann.

Ja! Die Liebe und die Sehnsucht, die einzige Macht des Schaffenden, des Propheten und des Sehers und Deuters.

Und Weib und Mann, die in einer solchen Liebe verschmolzen sind, rasen blindlings zu unbekannten Gestaden in eine helle Zukunft über alle eisgefrorene Flüssen, Seen und Meere, unter denen unbekannte Daseinsgeheimnisse und heilige und furchtbare Majestäten ruhen.

Durch den Orkan aller Schicksalshindernisse —

Durch den Nebel und tiefe Finsternis der menschlichen Liebe, der Hinterlist und Vorurteile gehen sie, stolz ihrer Kraft und ihrer Liebe, durch das Tor eines neuen Lebens und ewiger Wiedergeburt.

Die heilige Liebe und die Sehnsucht nach Verschmelzung zweier verschiedener Geschlechter, das ist das, was ich in diesem Werke geben will.

Warschau, im September 1903.

Der Verfasser.

I. Malaria.

Inhaltsverzeichnis

I.

Inhaltsverzeichnis

Czerkaski safs in tiefem Nachdenken.

Es war heute so leer in dem Restaurant „Zum weifsen Pfau", und sonst pflegte es um diese Zeit so fröhlich und gemütlich zu sein.

Und gerade heute, da er Gesellschaft suchte, da er nach so vielen Wochen steter Einsamkeit Bekannte treffen wollte, so fremde und doch so nahe, da er Klänge fremder Wörter hören möchte, Musik, Zank, Streit . . .

Gedankenlos blieben seine Augen an der Tür haften.

An dieser Tür hing eine Zeichnung: „Der Pfau mit hochgehobenem Bein", albern in seinem Eigendünkel, frech in der Pracht des geschlagenen Rades . . .

„Les paons nonchalants, les paons blanc ont fuis" . . .

Ja, es ist wahrhaft das einzige Symbol für sie.

Sie war dieser Pfau, gekleidet in Pracht und Reichtum, des Dünkels voll, eitel uud kalt — o, wie kalt, wie kalt . . . !

Doch unlängst, vor kaum zwei Monaten, safs er hier mit ihr zusammen. Mit ihr zusammen? He, he — mit ihr zusammen, aber sie war nicht bei ihm! Dafs er so blind war! Dafs er das alles nicht durchschaut hatte!

Übrigens war es ihm vollkommen gleichgültig. Das beste Zeiehen, dafs er sie nie geliebt hat. Was ihn eigentlich quälte — er mufste sich's ehrlich zugestehen —, es war nur der öffentliche Skandal und die Sorge um die Kinder. „Les paons nonchalants, les paons blane ont fuis" . . . aber so wollte es Gott haben.

Er sah nach der Uhr.

Ja, jetzt erinnerte er sich, dafs man heute im Stadttheater die Premiere seines Dramas gibt . . . „Gibt es etwas, das nicht ein Drama sein könnte? Selbst das Glück eines Seifensieders kann ein Drama werden. Kann es ein gröfseres Drama geben, als sich glücklich zu fühlen? Er hat eine Frau, die er liebt; sie liebt ihn auch — he, he . . . plötzlich gleitet sein Fufs aus. Er war angetrunken und fand sich in einer Gesellschaft, in der man sich nicht langweilt, liefs sich verlocken und plötzlich — ehe er sich versah, war das glückliche Ehepaar genötigt, zu einem Arzt für Hautkrankheiten zu wandern . . .

,Herv Doktor,' sagt der arme Seifensieder, ,ich bin der letzte Halunke — aber es ist gesehehen. Um das eine bitte ich Sie inständigst: Zerstören Sie nicht unser Eheglück, sagen Sie meiner Frau nichts von der Natur unserer Krankheit . . .'

Jetzt tritt die sittsame Ehefrau, die keine Sünde und das Böse nicht kennt, ein . . .

Der Arzt untersucht die Dame. Nach langer, langer Weile: ,Gnädige Prau, Sie haben furchtbares Unglück in Ihr Heim gebracht!' Sie weint. Der Arzt: ,Ich will euer schönes Eheglück nicht trüben, ich werde Ihren Mann in der Überzeugung bestärken, dafs er an allem schuld ist, doch unter der einen Bedingung, dafs Sie nicht weiter Ehebruch treiben und mit noch einer schlimmeren Krankheit zu mir kommen.' Sieh mal zu, das Glück des Seifensieders ist ein Drama geworden.

Was soll man nun sagen, wenn das Glück dieses Seifensieders mich, den berühmten Dichter, trifft! He, he, he!" Er lachte hell auf.

„,Les paons nonchalants . . .'

O, diese blödsinnige, hartnäckige Reform!

„Mein Glück," er dachte nach . . . „das war nur eine langwierige Qual, ein Schmerz, ein ununterbrochenes Leiden, Hafs und Zorn."

Er schüttelte sich, machte eine wegwerfende Handbewegung und sah wieder nach der Uhr.

In diesem Augenblick ging die Tür auf.

„Janek, was sehe ich, also endlich bist da aus deinem Loche herausgekrochen? Überall haben wir nach dir gesucht. Aber du warst ziemlich grob, man hat keinen von uns in deine Wohnung gelassen. Man sagte, du wärest ins Ausland gefahren."

Czerkaski schüttelte Szarski die Hand kräftig.

„Es gibt Zeiten, wo der Mensch für sich allein sein mufs; man mufs die schwere Kunst lernen. allein zu sein — das ist wirklich eine schwere Kunst."

„Ja, ja, ich werde sie nie erlernen können.''

Szarski sah seinen Freund mit stieren, gläsernen Augen an.

„Nun, was?'' fragte Szarski. „Trinkst du wie immer?"

„Was soll man tun? Wenn jemand trinkt, dann hat er tausend und eine Ursache, und ich, Gott, ich habe deren tausend und sieben."

„Bist du vielleicht unglücklich?"

Czerkaski lachte kurz auf.

„Unglücklich? Na ja, ja; sprechen wir nicht davon!''

„Aber sage mir, weshalb hast du die Erstaufführung deines Dramas nicht besucht?"

„Wozu denn, soll ich etwa vor dem Publikum kriechen, das mir die grofse Gnade erwiesen hat, mein Werk zu bejubeln!? Ich werde im Gegenteil die Menge zwingen, mir die Füfse zu lecken, dafür, dafs ich für diese Menge ein Stück meines Herzens preisgab."

Er lachte wiederum höhnisch auf.

„Übrigens ist das Drama nichts wert. Ich bin übersatt der dummen Fabeln, der verratenen Liebelei, des verkrachten Lebens und aller dieser Lebensdramen, die du schon tausendmal auf den Brettern gesehen hast."

„Also was?"

„Was?" Er versank in tiefes Nachdenken . . . „Was? Das nackte Herz, das nackte Gehirn des Menschen auf der Bühne zu zeigen; aus dem Herzen, aus dem Gehirn die Schopenhauerschen Gedankenwürmer herauszuholen, sie lebend zu machen, lebende Wesen aus ihnen zu schaffen, sie auf die Füfse zu stellen, aus ihnen blutwarme Menschen zu machen, die sich gegenseitig zerfleischen und sich auf das gemeinsame Opfer werfen . . .

Der eine flüstert in das Ohr das Gift hinterlistiger Worte, der andere steht als Schutzwehr dem Opfer bei, und der Verstand des Menschen steht zu Kopf oder kriecht zu vieren. Nicht wahr, das tut der Verstand immer, der Verstand, der wundervolle Verstand?! Wozu haben wir ihn, zum Teufel? Siehst du — was ich will — ich will einen rasenden brandwütigen Fasching des menschlichen Herzens schaffen, ich will auf der Bühne das Erlebnis eines Herzens sehen, und jedes andere mufs erbeben und das dritte und tausendste, sie müssen dasselbe in einigen Stunden erleben, was ein anderes Herz in hunderten nicht erleben könnte."

Szarski dachte tief nach.

„Du wirst also Allegorien schaffen?"

„O nein! Ich will alles so unlösbar zusammenkitten, dafs es nur lebt, lohheifses Blut hinausspritzt; ich will die Liebe und den Hafs im gegenseitigen Verhältnis zeigen, den furchtbaren Totentanz des menschliehen Herzens, der ihn an den Rand des Abgrundes treibt und ihn hinabstürzt, bis . . . bis . . ."

„Bis?"

„Bis der Mensch von der Qual des Daseins erlöst wird und die Rückmetamorphose beginnt."

„Rückmetamorphose?"

„Ja, durch das Eingeweide der Würmer, wie Shakespeare sagt."

Langes Schweigen.

Aus den anstofsenden Zimmern scholl das Gelächter fröhlicher Gäste sowie das Geräusch der stofsenden Billardstöcke und der klappernden Elfenbeinkugeln herüber.

„Du hast dich merkwürdig verändert," sagte Szarski, um das Stillschweigen zu unterbrechen.

„Ich habe mich verändert? Durchaus nicht; ich habe nur gelernt, mit mir allein zu sein."

„Und heute?"

„Heute habe ich mich nach Menschen gesehnt. — Ja, Janek, wir waren immer Freunde, doch heute bin ich dir gegenüber verschämt . . ."

Czerkaski sah ihn an, traurig und tief freundschaftlich.

„Nein, nein! Ich liebe dich, wie ich dich geliebt habe! Du mufst nur das eine verstehen, dafs ein grofses Unglück den Menschen ebenso verwandelt wie grofses Glück . . ."

„Du fühlst dich also unglücklich?"

„Nein, durchaus nicht. Ich schäme mich nur meines früheren Lebens . . ."

„Man mufs hart sein und das blödsinnige Blendwerk, das die Menschen Glück nennen, auspeien. Weifst du, was Nietzsche sagt?"

„Nun?"

„,Habe ich jemals für mein Glück gelebt? Für mein Werk habe ich gelebt . . .' Ein Künstler, der sich dasselbe nicht mit demselben Stolz sagen kann, ist kein Künstler . . ."

„Und die Liebe?"

„Das ist der Sand, den uns das Leben in die Augen streut. He, he, die Liebe, die Liebe, die Liehe! ,Les paons nouchalants . . .' Das ist gut für Müller und Schultze, aber nicht für den, der da schafft . . ."

Wiederum ging die Tür, und lärmend betraten mehrere junge Leute das Zimmer: sie wairn aufgeregt, wahrscheinlich unter der Einwirkung tiefer Eindrücke.

„Herr Gott, Czerkaski hier!"

Czerkaski lachte plötzIich froh auf.

„Nun, ich kehre von einer langen Reise zurück, es müfste euch dies freuen."

„Aber mein teurer, lieber Kerl! Dort im Theater Triumph, Triumph; unser Theater hat noch nie eine solche Premiere gesehen!''

„Hoch mit ihm, hoch!" riefen mehrere Stimmen; im Nu stürzten sich alle gegen Czerkaski.

„Aber um Gottes willen, lafst mich in Ruh'! Ihr werdet mich sonst totdrücken!" Er klingelte.

„Fünf Flaschen Champagner! Gerade so viel ist mein Drama wert. Voilà hei! Stasinek, spiele mir ,Und der Hans schleicht umher' vor; ich habe das lange nicht mehr gehört."

Stasinek setzte sich ans Klavier, spielte zuerst einen wilden Tusch, und es erscholl sodann in mächtigen Akkorden das melancholische Lied:

„Und der Hans schleicht umher, Trübe Augen, blasse Wangen . . ."

Vor einigen Monaten safs sie noch hier im Kreise dieser Zigeunerbande.

„Wann, zum Teufel, wird denn der Champagner aufgefahren?"

„Das ist gut, das ist sehr gut." — Winiarski setzte sich neben Czerkaski. — „Aber warum hast du dieses Stück ein Drama genannt?"

„Wie meinst du's?"

„Ein Weib, das von einem zum andern geht, kann doch nicht ein Drama für einen Mann sein, um so weniger für einen Künstler."

„He, Janek, dein Wohl!" Ein Maler ist aufgestanden — „ich bin kein Rednertalent, aber als euer Senior bringe ich das Hoch ex officio und ex amore" — er begann zu stottern — „verzeihen Sie, meine Herren, wenn ich einen Fehler gemacht habe, aber es ist lange her, dafs ich officium dekliniert habe. Also sub testimonio officii bringe ich das Hoch dessen . . . na, zum Teufel, wie soll ich das sagen" . . . er fuhr mit der Hand über seine Glatze . . . „lafst mich einen Augenblick nachdenken, wie ich ihn eigentlich benennen soll . . ."

„Den, Auferstandenen'," flüsterte ihm jemand zu.

„Nein, nein, ich will ihn ganz anders benennen."

„Ich verbiete jegliche Unterbrechung!" murmelte Stasinek.

„Schweig! Flachskopf! Ha, ha, schaut nur hin, der reine Plachs."

Die ganze Gesellschaft sang lachend im Chor:

„Das macht die Liehe und der Suff, Die regt den Menschen uff!"

„Zur Sache! Zur Sache!" rief jemand aus der Ecke.

Jetzt endlich hatte der Maler zu Ende gebracht und schrie mit vollem Hals:

„Also derohalber, weil der Herrgott Himmel und Erde schuf und das Meer, in diesem wiederum Salzheringe, ergo trinke ich das höchste Hoch auf das Wohl dessen, der etwas wert ist. Fertig! Schlufsl Amen taterka! Adoratus, pluscatus, glorificatus, rybatus, beatus, trinkatus!"

Alle waren erstaunt über die Rede des Malers, der bisher nie zwei Worte zusammenkoppeln konnte, und schrien feuchtfröhlich: „Schistum, quastum, omladinum, salvatorem, Hoch!''

„Hola ho!" brüllte Stasinek, den schon die weinschwangere Luft betrunken machte.

Es entstand eine erregte Stimmung. —

Ein Wirrwarr von Stimmen, Lachen, Zanken, dann wieder ernste Diskussionen . . .

„Eigentlich bin ich erstaunt, dafs diese zügellose Bande unserer Künstler so gut erzogen ist — eine ganz nette Gesellschaft," flüsterte Stasinek seinem Nachbar, einem jungen Dichter, zu.

„Du bist ein Esel," erwiderte mürrisch dieser, der offenbar wieder in Selbstmordgedanken verfiel. —

„Siehst du, es ist doch eine andere Sache," sprach Winiarski zu Czerkaski, „die Griechen hatten ein grofses Wunder: den Chor; ja, ja, den Chor! Unserer dummen demokratischen Kunst ist der Chor verloren gegangen . . . Man mufs ihn von neuem auf die Bühne bringen . . ."

„Und wozu soll sich dieser Chor hin und her schleppen wie ein drehkrankes Schaf. Die Franzosen haben einen solchen Chor in Gestalt eines idiotischen Raisoneurs, der sich überall hineinlistet; er erscheint auf der Bühne und verschwindet, wozu und wofür?"

„Nein, nein, so habe ich es nicht gemeint! Man mufs den Chor mit dem Drama selbst so innig verbinden, dafs er mit ihm verwächst und in ihm einen wirklichen, aus der innersten Tiefe der Seele dargestellter Menschen geschöpften Anteil nimmt . . . Man sieht es zuweilen bei Maeterlinck — aber es kommt so aufdringlich ans Tageslicht, und fortwährend der unausstehliche Fingerzeig: ,Achtung! Jetzt kommt das Unglück!'"

„Einen Walzer, Stasinek, einen Walzer!"

Stasinek setzte sich an das Klavier und fing an, mit stockbesoffenen Händen und grofser Wucht herumzudreschen.

Plötzlich erscholl lautes Gelächter.

Einer von den Malern ahmte im Takte des Walzers einen Jongleur nach, der Billardkugeln in die Luft wirft und dieselben wieder auffängt. Er machte es mit einer solchen Fertigkeit, dafs man wirklich überzeugt war, dafs die Kugeln in die Höhe flogen und wieder aufgefangen wurden. Die Hände des Malers arbeiteten ununterbrochen, kreuzten sich, liefen mit ungeheurer Behendigkeit hin and her; er setzte und hob sich wieder, dann wieder kauerte er zu Boden, seine Augen verfolgten mit angestrengter Aufmerksamkeit die aufgeworfenen und niederfallenden Kugeln. Es schien, als ob der Mensch sich nur im Auge gesammelt hätte, seine Hände liefen und fingen auf mit unfehlbarer Sicherheit.

Czerkaski lachte wie ein Kind. Er folgte mit der gröfsten Aufmerksamkeit den Bewegungen des Malers, seinen Tänzen und seinen Sprüngen . . .

„Wie gut, dafs ich hergekommen bin," flüsterte er Szarski ins Ohr; „das macht das Gehirn frei."

„Spiel, Stasinek, spiel!''

Stasinek war todmüde und betrunken und fing an, auf dem Klavier herumzutasten, aber er konnte nur einzelne Töne aus demselben herauspressen.

„Spiel, Stasinek, spiel!''

Auf diesen donnernden Befehl sehien Stasinek ein wenig nüchtern zu werden und fing von neuem an zu spielen wie ein Irrsinniger —

„Verflucht, eine schwere Mission!"

Aber er spielte, weil er spielen mufste — man terrorisierte ihn. Der Durst war gröfser als seine trunkene Müdigkeit; und die Kosten seines nimmersatten Durstes bezahlten die anderen.

Einer von den jüngsten Dichterspröfslingen des Dichterparnasses fing an, die wütenden Klänge, die unter der Hand des Stasinek erschollen, in Linien zu verkörpern; er heftete an die Wand eine grofse Papierrolle, die ihm schleunigst von dem Gastwirt gereicht wurde, und nun begann ein Malerwalzer.

Stasinek spielte und spielte.

Czerkaski verschwand für einen Augenblick, und wiederum erschien ein Kühler mit fünf Flaschen . . .

„Trinkt, Kinder, trinkt!"

Inzwischen wälzten sich auf dem Papier mit unerhörter Schnelligkeit Linien mit meisterhaft gezeichneten Schlangenwindungen in Kreisen, Spiralen, Parabeln, Hyperbeln; in einigen Minuten fing das Meer an zu wogen und zu branden; nach einigen Sekunden kroch aus dem Gewoge der unglaublichsten Linien und Flecke ein wassertriefender Neptun mit dem Dreizack: und nun wurden einige glänzende, nackte Nymphenleiber sichtbar, die sich um Neptun scharten . . .

„Höre jetzt auf, Stasinek!"

Stasinek pries sein Glück.

Der Maler blieb einen Augenblick vor seinem Werke stehen und sagte:

„C'est pour — épater."

„Le cul de l'humanité!" rief Szarski.

„Das Publikum!" schrie Czerkaski, ziemlich stark angetrunken. „Le cul de l'humanité! Ha, ha, ha! . . ."

„Eigentlich, meine Herren," — Stasinek wiegte fortwährend seinen Flachskopf wie ein Pendel nach beiden Seiten — „ist hier jemand, der mir erklären kann, was das Wort Publikum bedeutet? Wer ist das Publikum, und wo liegt die Stadt Publikum? . . ."

Diesen Worten folgte brüllendes Lachen.

Plötzlich stand Czerkaski auf:

„Meine Herren, ich bitte ums Wort!"

„Der Meister hat das Wort."

„Die Frage des Stasinek war gar nicht so dumm, wie es uns vorkommt. Darüber habe ich lange nachgedacht, bis ich schliefslich unvermutet Antwort bekam in einem Roman von Marquis de Sade . . . Ihr wüfst, dafs ich es gern habe, das Publikum in die höchste Empörung und Schrecken zu versetzen, ganz so, wie einstens Baudelair die ordentlichen Menschen aus der Restauration hinausjagte mit der einen Frage: ,Haben Sie jemals das Gehirn eines neugeborenen Kindes gekostet? Das ist eine wirklich kulinarische Rarität.' Um die Ordentlichen von hier fernzuhalten, verbreitete ich das Gerücht, dafs ich hier schwarze Satansmessen abhalte . . ."

„Ha, ha, ha, ha . . ."

„Meine Herren, darunter leidet am meisten der Meister, das heifst ich, denn ich kam in den Verruf eines Satanisten, eines Halunken, eines Banditen, aber das macht mir nur Vergnügen. In dem allen steckt ein wenig Aufschneiderei, ein wenig Ulk, sehr viel Verachtung, aber alles in allem: pour épater le cul à l'humanité!''

„Zur Sache, zur Sache!"

„Sofort! Seit sieben Jahren habe ich mich vergraben in Studien über die Sekten der Satansanbeter und gewann die Überzeugung, dafs zu ihnen nicht einzelne Individuen gehören, sondern dafs sie gebildet werden von der kompakten Majorität. Nietzsche irrt sehr, wenn er glaubt, dafs er die Umwertung aller Werte vollzogen hat, ha, ha, — das hat bereits der unserseits so verachtete Plebs getan."

Er räusperte sich, trank ein Glas Champagner und sprach weiter.

„Dazumal lebte ein Herr, der Berel hiefs. Er schrieb ein elendes Buch unter dem Titel: Le Lycantrophe, Madame Potiphar', herausgegeben in Paris 1818 in Oktavform. Dort steht geschrieben: Jeder Mensch, der ein wenig Selbstachtung besitzt, mufs zum mindesten einen Band der Schriften des Marquis de Sade in der Tasche herumtragen. Und da ich ein Gentleman bin und vor allen Dingen Bibliophile, habe ich gerade zwei kleine Bände, die ich soeben erstanden habe: Justine ou les malheurs de la vertu, en Hollande, chez les libraires associés 1791, und das Buch ist sehr selten."

Es wurde plötzlich still; alle waren höchst neugierig und horchten auf in gröfster Spannung.

Czerkaski räusperte sich wiederum und zog aus der Tasche seines Überziehers ein kleines Bändchen.

„Wollt ihr wiäseu, was das Publikum ist? Sofort, sofort."

Er durchblätterte das Büchlein.

„Aha, da hab' ich's! Seite 28: Madame Delmonse sagte zu Justine: ,Niemand verlangt von uns die Tugend, nur die Maske der Tugend. Ich bin eine Hure wie Messaline, aber alle glauben oder scheinen zu glauben, dafs ich rein bin wie Lukrezia. Ich bin weit mehr verbissen im Atheismus als Vaninin, aber sie glauben, lächelnd glauben sie, dafs ich fromm bin wie die heilige Therese. Ich bin falsch und hinterlistig wie Tiberius, aber mit schielenden Augen auf den Nachbar behaupten sie, dafs ich wahr und ehrlich bin wie Sokrates. Ein feststehendes Dogma ist es, dafs ich wie Diogenes lebe; aber selbst Apitius würde von mir nur unerhörte Künste der Unzucht, von denen er nicht einmal geträumt hatte, erlernen können. Ich habe mich in den schamlosesten Pfuhl geworfen, ich begehe die ekelhaftesten Verbrechen, ich kaufe und verkaufe Mädchenfleisch, aber frage nur meine Nachbarn und meine Mitmenschen: jeder wird es dir sagen: Madame Delmonse ist ein Engel! Man mufs es sich nur einzurichten wissen.'"

„Publikum, meine Herren, das ist eben diese Madame Delmonse, und die Kupplerin in Diensten der Madame Delmonse, das ist die Presse! . . . Nicht der arme Nietzsche, sondern Madame Delmonse hat alle Werte umgewertet. Sie läfst euch verhungern, auf dem Mist verrecken und baut nach eurem Tode Denkmäler mit der Aufschrift: ,Kameraden, kommet zu mir, die ihr mühselig und beladen seid, ich will euch erquicken.' Sie saugt euer Blut auf; aus dem kostbaren Speicher eurer Seele stiehlt sie das fruchtbarste Korn weg, lebt von ihm, denkt mit deinem Gedanken, erneuert sieh immer wieder mit dem Blut deiner qualvollsten Schmerzen, und dafür wirft sie euch das elende Almosen hin: fünf Pfennige pro Zeile und gewinnt Millionen . . . Meine Herren, ich trinke auf das Wohl der Madame Delmonse! Pereat Nietzsche!"

Man lachte gezwungen auf. Der gespenstische Schatten umfing in seinen Armen die ganze Gesellschaft.

„Ha, ha, ha, fünf Pfennig für die Zeile, drei Pfennig für einen Quadratzentimeter eines Gemäldes, einundeinhalben Pfennig für ein Pfund Lehm."

„Voilà hei, spiel, Stasinek, spiel:

Und der Hans schleicht umher . . ."

Der totgequälte Stasinek mufste sich wieder ans Klavier setzen, aber plötzlich wandte er sich um:

„Eigentlich gebührt dir die Ehre, eine so wahrhaft strikte Definition für das gesamte europäische Publikum gefunden zu haben."

„Und der Hans schleicht umher."

„Ja, ja, was wahr ist, bleibt wahr," murrte ein junger Bildhauer. „Der Gröfste unter uns, Kurzawa, mufste in dem Spiegel seine Muskeln studieren, weil er kein Geld hatte, um sich ein Modell zu beschaffen . . . Madame Delmonse hat ihn totgeschlagen; dieses ehrenwerte Publikum hat ihn totgeschlagen!'' Er schmetterte seine schwielige Faust auf den Tisch.

„Und Podkowinski, um den sich jetzt ganz Europa reifsen würde!" murrte Winiarski. „Jetzt könnt ihr niederträchtigen Hunde warten, bis ein gleicher Künstler geboren wird."

„Donnerwetter, wie der Satanismus blüht!" schrie ein junger Herr im sehr eleganten Anzuge. „Und uns, gerade uns nennt man den Auswurf und Ausschufs der Menschen, Drachen, Satanisten, ha, ha, ha, — deshalb, weil wir zufällig einige Flaschen Champagner leeren. Madame Delmonse zählt unsere Gläser."

„Und der Hans schleicht umher, Trübe Augen, blasse Wangen . . ."

Stasinek erschöpfte jetzt seine letzten Kräfte, und sein Graukopf wackelte immer bedenklicher hin und her.

An der Tür stand ein Mensch, melancholisch, mit tief auf die Brust gesenktem Haupt, das er ab und zu in stiller Resignation wackeln liefs.

Szarski trat an ihn heran.

„Janusch, Janusch, ich habe dir das Klavier verpfändet."

„Ich habe noch eins auf Lager und werde es dir morgen zuschicken."

„Liebst du mir?"

„Ja, ick liebe dir."

„Höre, Janusch, kannst du mir dreifsig Mark pumpen?"

„Ja, ick kann."

„Aber, Janusch, vielleicht kannst du nicht; ich weifs, du kannst es nicht."

„Ich kann, da doch alles sowieso zum Teufel gegangen ist."

„He?"

„Muero porque no muero . . ."

„Was meinst du?"

„Was soll das heifsen? lch sterbe und werde nicht tot."

„Ha, jetzt fange ich an, zu verstehen; das ändert die Sache . . ."

„Janusch, liebst du mir?''

„Ja, ick liebe dir! Hier hast du die dreifsig Mark."

„Ach, du lieber Aagustin, Geld ist hin."