Andy Africa - Stephen Buoro - E-Book

Andy Africa E-Book

Stephen Buoro

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Beschreibung

Der fünfzehnjährige Andrew Aziza, genannt Andy Africa, lebt mit seiner Mutter im Norden Nigerias. Nachts träumt er von Blondinen, tagsüber hängt er mit seinen Jungs ab, schreibt Gedichte und diskutiert mit der schlauen Fatima über Mathematik und Black Power. Auf einer Gemeindefeier verliebt er sich hoffnungslos in das erste weiße Mädchen, das er zu Gesicht bekommt: Eileen. Es knallt, und zwar in alle Richtungen. Während die beiden von Verlaine und Kafka schwärmen, steuert ein gewalttätiger Mob mit Macheten auf die Kirche zu. Stephen Buoro erzählt in seinem funkelnden Debüt von den langen Schatten des Kolonialismus, von Afrofuturismus und Weltliteratur, von einer Jugend voller Hoffnungen und großem Schmerz. Und mittendrin «superhero poet» Andy, der sein Glück sucht: in der Liebe und auf seinem gefährlichen Weg nach Europa.   «Die funkensprühende Dringlichkeit dieser Prosa reißt einen mit, Buoros Sprachbilder sind so lebendig wie die Szenen, die er beschreibt. Sein Roman hat die Kraft, eine ganze Generation von Superhelden zu inspirieren.» The Times

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Seitenzahl: 438

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Stephen Buoro

Andy Africa

Roman

 

 

Aus dem Englischen von Volker Oldenburg

 

Über dieses Buch

Der 15-jährige Andy lebt mit seiner Mutter in Kontagora, Nigeria. Tagsüber hängt er mit seinen Freunden ab, quatscht über Star Wars und YouPorn, nachts fantasiert er von Blondinen und fragt sich, wer wohl sein Vater ist. Wenn er nicht in der Kirche oder Schule ist, schreibt er Gedichte und diskutiert mit der klugen Fatima über Literatur, Mathematik und Afrofuturismus.

Auf einer Gemeindefeier verliebt sich Andy hoffnungslos in das erste weiße Mädchen, das er zu Gesicht bekommt: Eileen. Bei ihrem Kennenlernen knallt es, und zwar in alle Richtungen. Während Andy mit ihr über Kafka diskutiert, stellt sich ein Unbekannter als sein Vater vor – und ein fanatischer Mob steuert mit Macheten auf die Kirche zu.

 

Dieser hinreißende Coming-of-Age-Roman erzählt sehr viel von Tradition und Weltkultur, Abschottung und globaler Verbundenheit. Buoro beschreibt ein Leben zwischen drastischer Armut und großer Hoffnung. Und mittendrin ein junger Held, der sein Glück sucht, sei es in der Liebe, sei es auf dem gefährlichen Weg nach Europa.

Vita

Stephen Buoro wurde 1993 in Nigeria geboren. Er absolvierte ein Studium des Creative Writing an der University of East Anglia mit einem Stipendium der Booker Prize Foundation Scholarship. Gegenwärtig lebt er in Norwich. Andy Africa ist sein Romandebüt.

 

Volker Oldenburg lebt in Hamburg. Er übersetzte unter anderem Colum McCann, Oscar Wilde, T Cooper und Dinaw Mengestu. Für seine Arbeiten wurde er mehrfach ausgezeichnet, zuletzt mit dem Heinrich Maria Ledig-Rowohlt-Übersetzerpreis.

Impressum

Die Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel «The Five Sorrowful Mysteries of Andy Africa» bei Bloomsbury, London.

 

Die Arbeit des Übersetzers am vorliegenden Text wurde vom Deutschen Übersetzerfonds gefördert im Rahmen des Programms NEUSTART KULTUR der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien.

 

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Oktober 2023

Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

«The Five Sorrowful Mysteries of Andy Africa » Copyright © 2023 by Stephen Buoro

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt, jede Verwertung bedarf der Genehmigung des Verlages.

Covergestaltung Anzinger und Rasp, München

Coverabbildung Mayowa Lawal

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

Abhängig vom eingesetzten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

ISBN 978-3-644-01084-0

www.rowohlt.de

 

Alle angegebenen Seitenzahlen beziehen sich auf die Printausgabe.

für meine Mama

ihre fantastischen Geheimnisse

halos

kreisen

um

die köpfe

aller

menschen afrikas

eines tages verschmelzen die halos zu planetenfeuer

dem

HXVX

nicht

standhält

IDie Todesangst im Garten

Definition: Eine Permutation ist die eineindeutige Abbildung einer Menge auf sich selbst.

1

Dear White People,

ich liebe weiße Mädchen. Besonders blonde. Blonde, die einen Pferdeschwanz tragen und einmal in der Woche Zöpfe. Ist das ein Fetisch? Keine Ahnung. Ich bin mir einfach ziemlich sicher, dass ich mal ein weißes Mädchen heirate, ein blondes. Ob ich Schwarze Mädchen hässlich finde? Natürlich nicht. Das hieße ja, Mama wäre hässlich. Und das sagt niemand ungestraft.

Das Problem ist: Ich habe keine Ahnung, wie blonde Mädchen eigentlich sind. Ja, ich habe eine Million Hollywoodfilme auf illegalen DVDs gesehen. Mein Telefon ist eine Datenbank aus Blondtönen, weil ich an keinem Bild von einer Blonden vorbeikomme, ohne es runterzuladen. Ich habe genau zweiundsiebzig blonde Freundinnen auf Facebook. Und abends, wenn alle im Schlafexpress in Richtung Mars fliegen, suche ich auf Pornhub nach blonden Schamhaaren und lege Hand an usw.

Aber ich habe noch nie ein blondes Mädchen in echt gesehen. Das hier ist Afrika. Und der Blondenanteil beträgt hier 0,001 Prozent.

Ich hasse mich dafür, dass ich euch mein 64000-Dollar-Geheimnis verrate. Meine Mama, müsst ihr wissen, ist dunkler, als ihr euch vorstellen könnt. Haut dunkel wie Brombeeren, Hände rau wie Schmirgelpapier, Küsse feucht und kühl wie Lipgloss. Zweimal wurde ihr der Bauch aufgeschnitten: das erste Mal, als Ydna sich weigerte, geboren zu werden, das zweite Mal bei meiner Geburt. Sie haben ihr den Bauch aufgeschnitten, damit ich diese verdammte Welt betreten konnte. Und sagen kann, dass ich auf Blonde stehe! Papa kenne ich nicht. Aber Mama hat mich, solange ich denken kann, mit Liebe überschüttet. Mir Ohrläppchen und Lider abgeschleckt. Und zum Dank sage ich, dass ich lieber Blonde mag. Obwohl ich noch nie einer begegnet bin!

Krass.

Ich meine, ich hasse mich nicht. Aber ihr versteht schon.

Ydna hasst es, wenn ich von blonden Mädchen rede, da bin ich mir sicher. Er kam zwei Jahre vor mir aus Mama. Wie eine Holzfigur. Der offene Mund stumm. Kein Herzschlag in seiner Brust. Ich weiß, dass ich und er irgendwie eins sind. Dass ich einen Blick auf diese Welt warf, sah, wie beschissen sie war, und wieder umkehrte. Jeden Tag fühle ich ihn, um mich, in mir. Seine Wut pulsiert in meinen Adern, sein Atem schäumt unter meiner Haut. Er muss so etwas wie meine andere Seite sein. Weil er mir Sachen über mich erzählt, die ich nicht hören will.

Ich stehe trotzdem auf Blonde. Jede Haarsträhne wie eine lange, süße Sonne. Haare wie Wellenkreise, die einander übers Wasser jagen. Ich schwöre, ich kann in jeder Strähne mein Gesicht sehen. An den meisten Abenden gehe ich hungrig ins Bett. Ich liege auf meiner abgeranzten Matte in unserem abgeranzten Wohnzimmer ohne Strom. Schiebe mit letzter Kraft die Hand in meine Unterhose und denke an blonde Mädchen. Eine friedliche Ruhe strömt dann von meinem Herzen durch meinen Bauch bis zu den Füßen. Und ich bin satt. Schlafe zufrieden ein. Wie ein Junge, der ein Dutzend Cheeseburger verdrückt hat, obwohl ich gar nicht weiß, wie die Dinger schmecken. Ich schlafe in dem Bewusstsein ein, dass die Zukunft mir gehört.

Ein fünfzehnjähriger afrikanischer Ministrant und genialer Dichter, der auf Blonde steht, ist weder ein Krimineller noch ein Rassist noch ein Verräter.

Nur ein lieber, cooler, bedauernswerter afrikanischer Junge.

+

Offenbar stellt Gott meine Schwäche für blonde Mädchen auf die Probe. Denn ausgerechnet jetzt, wo ich überall und immer von ihnen träume, sogar während der Messe, kommt Eileen nach Kontagora. Isaiah erzählt Mama und mir von ihr.

«Sie ist nicht aus Ikeja oder von der Obudu Ranch», sagt er, als wäre Mama und mir entgangen, dass ihr Name ausländisch klingt. «Sondern aus England. Aus Father McMahons Heimat. Sie ist nämlich seine älteste Nichte.»

Das ist typisch für Isaiah mit seinem glänzenden, rasierten Kopf und den dauerroten Augen: jede Menge überflüssige Informationen. Er ist Father McMahons Koch. Dauernd bettelt er beim Father um englische Chips, Zahnpasta, Sahne. Fragt ihn dauernd nach Schnee: «Schmeckt er süß wie Eiscreme? Lecken Hunde ihn auf?»

Er hängt mit übergeschlagenen Beinen in dem Plastikstuhl, den wir Gästen anbieten. Vor ihm auf dem Tisch steht unberührt ein Becher Wasser, eine Fliege umschwirrt den Becher, unschlüssig, weil keine Fanta drin ist. Ein leichter Schweißgeruch trennt Mama und mich. Wir sitzen auf dem Sofa, tun so, als würden wir die Täler und Schluchten darin nicht fühlen oder die Ameise nicht bemerken, die im Zickzack über die Armlehne läuft. Bei der Fußmatte macht sich eine ganze Ameisenflotte an einer toten Küchenschabe zu schaffen. Sie ziehen und treten. Rufen fluchend nach Verstärkung. Wenn Mama die Ameisen sieht oder, noch schlimmer, die Schabe, klatscht sie mir auf den Rücken, weil ich das Wohnzimmer nicht ordentlich gefegt habe.

Es ist Sonntag. Wir sind gerade zurück von der Messe, uns brennt von der brutzelnden gelben Sonne noch der Nacken. Mama hasst Sonntage. Da muss sie das Fotostudio schließen und verdient kein Geld. Weil jeder in der Stadt, sogar die Imame in unserer Straße, erwartet, dass sie den siebten Tag heiligt.

In unserem Viertel gibt es wie in den meisten Vierteln der Stadt Kirchen und Moscheen. Manche waren mal Läden und haben noch die alten Fenstergitter und Regale, andere sind in dunklen, stickigen ehemaligen Lagerhallen. Wir hören die Gemeinde der Soul-of-Christ-Church beim A-cappella-Gesang. Sie singen Bass und Sopran, rufen schreiend wie Almajirai die Erzengel Michael und Uriel an, das Himmelstor zu öffnen und Feuer herabzuschicken, Afrika mit Gottes Gnade zu überschütten. Bei ihnen wird weder geklatscht noch getanzt, und Musikinstrumente gibt es auch keine. Weil all das ins Höllenfeuer führt. Weil Christus und seine Jünger nicht geklatscht oder auf der Gitarre geklimpert haben, weil Gott nicht tanzt. Ich frage mich, ob Christus und seine Zwölf auch mit so hungrigen, hilflosen Stimmen a cappella gesungen haben, ob Christi Stimmlage Bass war und Judas’ Falsett.

Wir hören Trommelwirbel und den Makossa-Chor, der vom apostolischen Glauben singt, die Leadsängerin stößt das «Devil shame on you» hervor wie eine Mutter, die ihren missratenen Sohn anspuckt, mit ihrem kalten Speichel all die verschwendete Liebe, all das verschwendete Herzblut zurückfordert. Wir spüren die Ekstase der Backgroundsänger, die Erregung der Gemeinde.

Isaiah fächelt sich mit dem Liedblättchen vom heutigen Gottesdienst Luft zu. «Sie ist sehr weiß, müsst ihr wissen», sagt er und guckt dabei extra für uns mehrmals auf die rostige Armbanduhr, die Father McMahon ihm geschenkt hat. «Total weiß, so wie Kreide. Ganz anders als Father McMahon, den unsere böse Sonne zum roten Mann gemacht hat.»

Er streicht den Kragen seines englischen Polohemds mit dem London Eye auf der Brust glatt. Nimmt das Bein vom Knie, beugt sich vor.

«Und sie hat langes Haar. Wie Weißgold. Im Ernst.» Seine großen Augen glänzen, als könnte er ihre Haare stehlen und reich damit werden. «Die Farbe heißt blond. Oder Platin? Egal, sie ist jedenfalls ein gutes Mädchen. Wie alle Weißen hat sie Geschenke aus England mitgebracht. Stellt euch vor, meine Kleine hat ein Stoffkaninchen bekommen. Und ich dieses Hemd. Ein guter Mensch, ich sag’s euch. Wie alle Weißen.»

Sein Blick schnellt von mir zu seinem Nokia und wieder zurück. Durchdringend. Die Augen röter denn je.

«Was guckst du mich so an, Junge?», sagt er. «Ich bin nicht sie, weißt du?»

Mama lacht. Ihre vom Palmöl fleckigen Zähne blitzen auf. «Da musst du dir keine Sorgen machen, Bro Isaiah.» Sie klopft mir auf die Schulter. «Andrew mè heiratet mal ein Mädchen, das so Schwarz ist wie ich. Nicht wahr, Andy?»

Sie zwinkert mir zu.

Ich ringe mir ein Lächeln ab. Aber das leichte Funkeln in ihren Augen verrät mir, dass ihr Lachen nur Show ist, dass sie nicht daran glaubt, dass ich mal ein Mädchen wie sie heirate.

Mein Blick wandert. Das Schränkchen aus poliertem Holz. Darauf der Fernseher. Im Glas unsere verkleinerten Spiegelbilder. Daneben der Tischkalender mit dem Foto von Father Achis Priesterweihe – er zwischen schwebenden goldenen Kelchen, die Handflächen gottesfürchtig zusammengepresst wie eine Flamme. Dann: der Riss in der blauen Wand, das Kreuz mit dem bleichen Jesus, aus dessen Händen, Füßen und Seiten hellrotes Blut tropft.

Oft denke ich, dass Mama gar nicht meine richtige Mutter ist, weil ich so gar nichts von ihr habe. Ihre Haut sieht für mich so schwarz aus wie Kohle, meine mehr schokoladenfarben. Ihre Augen sind dunkelgrau, meine braun. Sie hat Grübchen, ich habe hohe Wangenknochen. Sie liebt es, in den Spiegel zu gucken und zu fotografieren; ich meide Spiegel und verstecke mich bei Gruppenfotos ganz hinten. Sie summt Lieder, ich höre weg. Ich checke in Filmen blonde Mädchen ab, sie befiehlt mir, jeden Film auszustellen, in dem auch nur ein blonder Junge auftaucht.

Vielleicht bin ich wie Papa. Verdammt, ich will endlich wissen, wer er ist.

seine staubigen füße

seine dröhnende stimme

seine hand auf meiner schulter

Aber Mama weigert sich standhaft, auch nur ein Wort über ihn zu verlieren.

Was soll’s, es interessiert mich nicht, wen ich in ihrer Fantasie mal heirate. Die Unbekannte in der Gleichung ist, dass sich hier in Kontagora ein blondes Mädchen aufhält, sogar ein plantinblondes, wenn man Isaiah glauben soll. Eine Marilyn Monroe, die nicht weiß, wie es ist, wenn dir ständig Moskitos ins Ohr summen, dir das Blut raussaugen und rote Schwellungen auf der Haut hinterlassen. Eine Prinzessin Diana, die noch nie um Mitternacht vor Hunger aufgewacht ist. Eine Taylor Swift, die noch nie einen Stromausfall erlebt hat.

«Und sie ist sehr groß», fährt Isaiah fort. «Ich meine, richtig groß. Viel größer als unser Andy Boy, obwohl die beiden gleich alt sind. Sie ist so groß wie ihr Onkel. Sie sieht aus wie eine Sportlerin. Wie ein Model.»

Mama lässt mit einem lauten Plopp eine Kaugummiblase platzen, wie die Nutten, die vor ihrem Studio rumhängen. «Das liegt an dem vielen Gemüse, das die Weißen essen», sagt sie nickend. Sie klopft mir auf die Schulter. «Keine Sorge, Andrew mè. Eines Tages bist du so groß wie sie. Größer.»

Ich rücke ein Stück zur Seite, sinke in ein noch tieferes Tal. Ich wollte, sie hätte das nicht gesagt, das mit dem Gemüse, meine ich. Was für Gemüse meint sie überhaupt? Bei solchen Sprüchen denke ich sofort an Mama 2. Mama 2 würde nie so etwas sagen.

«Father McMahon gibt heute Abend ein riesiges Fest für sie. Mit Grillhühnchen, Sprite und so weiter. Und du sollst Fotos machen», sagt Isaiah zu Mama.

Ihre Miene hellt sich schlagartig auf. Obwohl Father McMahon wie alle Weißen einen Haufen Kameras besitzt, engagiert er sie für alle seine Veranstaltungen als Fotografin. Er handelt nicht mit ihr, wie wir Schwarzen es machen. Sie schlägt sogar jedes Mal dreitausend Naira oder so auf den Betrag drauf, den sie ihm für ihre Dienste in Rechnung stellt, und Father McMahon bezahlt trotzdem. «In seinem Land sind die Dinge nicht so billig», sagt sie dann lachend auf Ososo. «Außerdem sind die Weißen so reich, dass sie sich den Hintern mit Geld abwischen können.» Wenn ich nicht mit ihr lache, ernte ich jedes Mal einen strengen Blick und fake schnell ein Kichern.

Wenn sie in meinem Beisein eine Rechnung schreibt, gucke ich schnell woandershin. Sie hält den Stift ganz unten, mit höchster Konzentration, ihre Adern treten hervor, als würde sie eine Operation durchführen. Ihre Handschrift ähnelt, um ehrlich zu sein, den Fußabdrücken eines scharrenden Huhns, man kann sie kaum lesen. Mama 2 dagegen schreibt so leserlich und schön wie Hillary Clinton. Und trotzdem, wenn ich Mamas unbeholfene Schreibversuche sehe, ist da etwas, das mir den Atem nimmt, mir einen Stich in die Brust versetzt.

Isaiah steht auf. Auf dem Weg zur Tür schlägt er sich auf den glänzenden Schädel.

«Das Wichtigste hab ich mal wieder vergessen», sagt er. «Father McMahon lädt euch hungrige Messdiener zu Eileens Party ein.»

Mama zieht die Brauen hoch, weil er mich hungrig genannt hat, aber sie sagt nichts.

«Für euch Jungs gibt’s Hühnerfüße, Cabin Biscuits und Super D. Komm in deinen besten Sachen, Andy. Am besten im Sonntagsanzug.»

+

Jetzt spiegeln sich nur noch Mama und ich im Fernseher. Sie gähnt, ihre Grübchen werden tiefer. Bis auf den Wrapper mit dem Muster aus tausend grünen, gelben, roten Quadraten, den sie sich um die Brust gewickelt hat und der ihr bis zu den Knien reicht, ist sie nackt. Sie gähnt noch mal. Der Knubbel, der das Tuch zusammenhält, löst sich. Sie öffnet es – ich erhasche einen Blick auf den faltigen Ansatz ihrer Brüste, die traurig herunterhängen wie zwei leere Fäustlinge –, streicht es glatt, bindet es unter der Achsel zu einem neuen Knubbel. Ihr Unterrock schaut hervor. Sie schiebt ihn unter den Stoff. Sie hat an diesem Wochenende ihre beiden schwarzen BHs nicht gestopft. Das macht sie eigentlich fast jedes Wochenende, mit Nadel und weißem oder gelbem Garn. Keine Ahnung, warum sie nie schwarzes nimmt. Warum will sie unbedingt die Fäden sehen?

Ich stelle mir ständig ihr anderes Ich vor: Mama 2, die sie sein würde, wenn sie nicht auf diesem beschissenen Kontinent geboren wäre. Mama 2 muss ihre BHs nicht stopfen. Ihr Schrank ist voll damit. Sie trägt auch keine Wrapper, sondern Plisseekleider mit Blumenmuster in Grün oder Pfirsichgelb. Im Unterschied zu Mama, die den Finger zu Hilfe nimmt, wenn sie in der Bibel liest, und jedes Wort langsam und manchmal falsch mitspricht, ist Mama 2 Ärztin oder Anwältin, besitzt einen Range Rover, trägt eine Brille und liest jede Woche ein Buch. Sie wohnt in einer Großstadt in Amerika oder Europa, glaubt nicht an Geister, riecht nicht muffig oder nach Schweiß. Ihre Stimme ist ruhig und lustig, und manchmal benutzt sie Wörter mit vielen Silben oder Ausdrücke wie «gewissermaßen».

Mama hat ihr Kaugummi ausgekaut. Sie beugt sich vor, drückt es auf den Couchtisch, lehnt sich zurück, legt den Kopf auf die Sofalehne, schließt die Augen. Ihre Lippen sind voll, schwer, lebendig, wie schwarze Blütenblätter. Ihre Cornrows sind lang und dicht; graue Strähnen schauen aus der dunklen Masse hervor, wogen bei jeder Kopfbewegung wie Ähren im Wind.

Das ist meine Mama:

die göttin

die ich sein will

und nicht sein will

 

der keim

meiner

scham

 

die spirale

meiner

ängste

Ich will etwas zu ihr sagen. Mir fällt nichts ein. Ich verspüre ein merkwürdiges Bedürfnis, mit ihr zu reden, die Verpflichtung, ihre Hand zu halten. Sie ist ganz nah. Nur eine halbe Armlänge trennt uns. Ihre Adern quellen mir entgegen. Ihr Atem pfeift in meinem Ohr. Und doch ist sie so weit weg.

Je älter ich werde, desto weniger scheinen wir miteinander zu reden. Ich erinnere mich noch an die sonnengelben Tage, als wir nach dem Regen zusammen Sandburgen bauten … duftende Blätter, glitzernde Steine … als sie laut auflachte, wenn ich sie an den Seiten kitzelte, kreischte, ich solle aufhören, und doch wollte, dass ich weitermachte. Die stillen Augenblicke, in denen sie mir mit wissendem Lächeln in die Augen sah und mich mit ihren Grübchen einsaugte … in denen ich beim Kreisen um ihre Falten die Wörter fand, die sie nicht aussprechen konnte: Wörter ohne Schreibweise, ohne Sound.

In Zeiten wie diesen, im Epizentrum von langen Schweigepausen wie diesen, denke ich an Ydna. Und vermisse ihn. Versuche, die Zeit bis zu dem Moment zurückzuverfolgen, als das Schweigen begann. Als es plötzlich da war. Wie ein Pilz, der aus dem Boden schießt. Einfach so.

+

Wenn du jünger bist, bist du näher dran an der Welt der Ungeborenen, an der Welt der kürzlich Verstorbenen. Früher waren Ydna und ich ein und dasselbe. Bei Tag waren wir konzentrische Kreise, nachts Fraktale. Er war mein Kumpel, mein Schatten. Das war vor meinem achten Geburtstag. Er hatte lange, dünne Dreadlocks. Trug gerne gelbe Hemden mit blauem Kragen und roten Blumen vornedrauf. Ich spürte ihn überall. Seinen zischenden Atem an meinem Ohr, wenn ich den Abwasch erledigte oder Matheaufgaben löste, seinen Blick, der mich verfolgte, wenn ich mit anderen Kids aus dem Viertel Fußball spielte. Nachts flüsterten Ydna und ich im Dunkeln. Wir flüsterten, nachdem Mama und ich das Ave-Maria und Unter deinem Schutz und Schirm gebetet hatten, nachdem sie sich vergewissert hatte, dass ich unter ihrem alten Wrapper sicher vor den Moskitos war, die Augen geschlossen, mein Atem ruhig.

Ydna und ich unterhielten uns über Bäume, über den höchsten, den er im Traum erklommen hatte, über die Süßigkeiten, die Okey genascht hatte, über das kleine, obdachlose Mädchen mit den sandigen, verfilzten Haaren, das er einsam am Fluss hatte sitzen sehen. Ich erzählte ihm von meinen Vogelträumen und von meiner Angst vor Schlangen und Juju. Ich träumte ständig von Vögeln. Großen. Mit grünen Augen. Vögel, die weder sangen noch schrien. Warum habe ich nie von Schafen, Löwen oder Schlangen geträumt, sondern immer nur von Vögeln, Vögeln, die in Bäumen leben?

Ydna saß immer bei mir auf der Matte. Wir atmeten im selben Rhythmus. Er stützte den Kopf auf die Handfläche, sah mich aufmerksam an. Ich starrte an die regenfleckige Decke. Ich konnte die drachenförmigen Flecken im Dunkeln nicht sehen, aber ich stellte sie mir vor, machte sie lebendig. Seine Finger und Zehen waren still, seine Seele nahm jedes meiner Worte auf. Sein Atem roch nach Minze oder taubedeckten Blättern; mein Atem roch nach Eba und Egusi.

Jede Nacht flüsterten wir, bis die Hähne krähten.

Alles änderte sich, als ich acht wurde, als ich Matrix und Superman und Spider-Man sah und Ydna davon erzählte. Mauern und Berge und Schwarze Löcher wuchsen zwischen uns. Unüberwindbar. Zerstörerisch. Alles änderte sich, als ich Ydna erzählte, dass ich sein wollte wie Neo. Wie Clark Kent, wie Peter Parker. Dass ich anders sein wollte.

Dass ich weiß sein wollte.

Weil:

  nur weiße menschen

konnten

  die zeit einfrieren

konnten

  gedanken lesen &

  kugeln aufhalten

konnten

  fliegen

«Ydna, nur Weiße können fliegen!»

 

Er schwieg. Zeigte keine Reaktion. Ich wiederholte den Satz. Immer wieder, immer lauter. Eine Träne lief mir über die Wange, an meinem Ohr hinunter. Und weiter, bis ich sie auf die Matte platschen hörte. Er sah nicht einmal weg, als ich mich zu ihm umdrehte, als ich seinen Zeh berührte. Ich wusste, dass die Berge zwischen uns größer geworden waren, weil er plötzlich aufstand und sagte, er sei müde, er müsse jetzt gehen, obwohl wir noch nicht mal eine Stunde geflüstert hatten.

Am nächsten Tag sah ich Ydna nicht.

Auch nicht am übernächsten.

Oder eine Woche später.

Die Regenzeit kam. Die Wasserfluten rochen nach Fisch. Sahen aus wie Fische, als sie vom Himmel prasselten, als sie stiegen, als sie davoneilten. Nachts auf meiner Matte starrte ich aus dem Fenster, suchte in jedem Regentropfen nach Ydna.

Mein Bruder. Der mir mit dem Zeh in die Seite stupste. Dessen Zähne im Dunkeln leuchteten, wenn er in das Brot biss, das ich jeden Tag für ihn aufhob. Ich hob weiter Brot für ihn auf, obwohl ich wusste, dass es am nächsten Morgen hart sein würde. Aber er sollte wenigstens frisches Brot haben. Mein Ydna liebte frisches Brot.

Meine Vogelträume hörten auf.

Einige Monate später kam er endlich. Es war Nacht. Ich lag auf meiner Matte, glühend heiß von der Malaria. Er kam, nachdem Mama in ihr Zimmer gegangen war, nachdem sie mich angefleht hatte, nicht zu sterben, nachdem sie Gebete zum heiligen Michael und zum heiligen Mulumba und zum seligen Tansi gestammelt hatte. Er kam ins Zimmer, dämpfte das Licht der Petroleumlampe, damit ich ihn besser sehen konnte. Er sagte nicht viel. Er sagte nur: «Na, Andy?», setzte sich auf das verschlissene Sofa (das hatte er noch nie gemacht), wackelte mit dem Fuß, schlug die Ferse immer wieder gegen das Sofa, sodass mir der Kopf noch mehr wehtat. Aber das machte mir nichts aus, im Gegenteil. Ich stand auf. Verscheuchte die Malaria.

«Wie geht’s, Bro?», sagte ich.

«Gut», sagte er.

«Ich mag deine Dreads. Wirklich.»

«Okay.»

«Bist du auf den Baum geklettert?»

«Nein.»

«Warum nicht?»

Stille.

Ich spürte, wie er mit sich rang, ob er mit mir reden sollte. Seine Augen wehrten meine bittenden Blicke ab. Seine Augen: dunkel, wässrig, bewegt. In ihnen erspähte ich das komplizierteste Puzzle, das ich je gesehen hatte. Jeder Puzzlestein war mikroskopisch klein, formlos. Jeder enthielt Fische, Vögel, Berge, Satelliten, Lichtgeschwindigkeit, Lichtjahre, ein Lexikon voll Infos.

Aber ich war nicht darin.

Er beugte sich vor, räusperte sich, öffnete die großen Lippen. Dann stand er auf und ging. Seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen.

So oft will ich Ydna sagen, dass es nicht leicht ist zu leben. (Warum sonst hat er sich der Geburt verweigert und ist zurückgegangen?) Tod und Sterben sind einfach. Sogar langweilig. Das Leben ist schwer. Und sinnlos. Das Leben hebt Berge, ohne sie zu berühren, löscht Vulkane ohne einen einzigen Tropfen Spucke. Das Leben wacht auf und findet Haken in deinem Herzen. Wenn du sie entfernst, stirbst du. Wenn du sie stecken lässt, stirbst du auch. Am Ende bohrst du dir immer mehr Haken ins Herz, damit du am Leben bleibst.

Aber Ydna will nichts davon hören. Ich weiß, dass er auf taub schaltet, weil ich seine Gedanken belausche und in meinem Tagebuch festhalte. Er wirft mir vor, ich würde das Leben leben, das eigentlich ihm gehört. Behauptet, er wäre umgekehrt, um zu verschnaufen, um sich in Mamas Gebärmutter zu stärken, seine Muskeln für diese Welt zu stählen. Doch als er bereit war, als er in Mamas Gebärmutter spähte, stellte er fest, dass sie voll war, neun-Monate-voll. Also versuchte er, mich dorthin zurückzudrängen, woher ich gekommen war, damit seine Seele in meinen Körper schlüpfen und geboren werden konnte. Aber ich wehrte mich. Wegen unseres Kampfes konnte Mama mich nicht auf normalem Weg zur Welt bringen, mussten die Ärzte ihr den Bauch aufschneiden, um mein verfluchtes Ich zu holen. Wegen unseres Kampfes setzten die Nichtskönner ihre Schnitte an den falschen Stellen und zerstörten Mamas Organe, sodass sie jetzt weder Frau ist noch Mann.

Ich bin mir sicher, dass ich Ydna noch etwas bedeute. Und zwar, weil ich, seit ich daran denke, meine Finger in blondem Haar zu vergraben, seit ich über HXVX nachdenke, seit meine Mathelehrerin Zahrah aus der Sahara zurückgekehrt ist, mehrmals gespürt habe, dass er mich heimlich beobachtet. Er späht durch die Gardinen, tarnt sich als Windzug, damit ich ihn nicht bemerke. Seine Stimme sickert in meinen Kopf, wiederholt Gedichte und Redewendungen, gibt sie als Ohrwürmer aus. Oft will ich ihn deswegen zur Rede stellen. Aber ich lasse es. Ich habe Angst, ihn dadurch noch weiter von mir fortzutreiben. Von meinen Horizonten, von meinen abgeschlossenen beschränkten Intervallen.

+

Ich bin am Brunnen unserer Siedlung, Wasser für Mama holen. Ich lasse den Guga hinunter, bis ich merke, dass er auf Wasser stößt, halte eine halbe Minute das Seil, damit er vollläuft. Über mir: Wolken wie Tänzerinnen an blauem Himmel. Keine Vögel. Das Sonnenlicht auf meinem Nacken wie ein Dampfbügeleisen. Die böse gelbe Sonne macht uns immer dunkler, anstatt unsere Haut mit ihrer Farbe anzumalen.

«Allahu akbar!», tönt der Gebetsruf von der Moschee hinter unserem Haus. Ein Hahn antwortet mit einem Kikeriki. Die kegelförmigen Lautsprecher anderer Moscheen in der Nähe gehen knisternd an. Grelles Pfeifen schneidet sich durch die Stille. «Allahu akbar! Allahu akbar. Ash-hadu alla ilaha illallah.»

In unserer Stadt gibt es an jeder Ecke eine Moschee. Tatsächlich ist Kontagora, wie fast der gesamte Norden, zu über siebzig Prozent muslimisch. Auf den Straßen laufen Frauen in wallenden Tschadors, Männer in Dschallabijas und mit Hulas. Junge Christinnen, die Hosen, kurze Röcke oder tief ausgeschnittene Oberteile tragen, werden von muslimischen Jugendlichen verfolgt, geschlagen, und ihnen wird die Kleidung zerschnitten. Mama und ich sind aus Ososo im Süden, wo die Leute überwiegend Christen sind und Mädchen ohne Probleme Hosen tragen können.

Ich ziehe den Guga hinauf, gieße das Wasser in einen blauen Eimer, auf dem ein Sticker mit Chioma und Isaiah klebt. Als der Eimer voll ist, decke ich den Brunnen mit einem Dachblech ab. Lege einen Autoreifen darauf – das Blech quietscht – und bringe den Eimer zu Mama.

Sie sitzt auf einem niedrigen Hocker vor dem Haus. Vor ihr brennt ein Kohlenfeuer, darauf ein Topf mit Egusi. Sie rührt mit der Schöpfkelle in der Suppe. Obwohl kein Fleisch drin ist, obwohl die Suppe nur aus Egusi-Kernen, Wasserspinat, Maggi und Zwiebeln besteht, strömt dank ihrer Kochkünste der köstliche Duft von Pfeffersuppe aus dem Topf, den man sonst nur in Utia und bei Namensfeiern riecht. Während Mama unermüdlich weiterrührt, verkochen die Egusi-Kerne zu gelben Flecken wie Spiegeleier.

«Hol das Gari, Andrew mè», sagt sie.

Ich nehme die Plastikschüssel neben ihrem Fuß, gehe durchs Wohnzimmer in ihr Zimmer (Matratze, Spiegel, Cremes), das uns auch als Speisekammer dient, und öffne den Sack auf dem Boden. Ich nehme einen Mudu, fülle damit Gari aus dem Sack in die Schüssel. Mama macht Mittag- und Abendessen zusammen, damit sie nicht noch mal kochen muss, wenn wir von Eileens Party wiederkommen. Ich nehme die doppelte Menge Gari, gerade genug, dass wir beide zweimal satt werden. Slim oder Morocca hätten garantiert mehr genommen, für eine Extraportion. Aber ich will nicht riskieren, dass Mama sauer wird.

Manchmal dreht sie durch und geht völlig übertrieben in die Luft. Zum Beispiel an den wenigen Morgen, wenn ich so in meinem Gedankendickicht aus Ydna, blonden Mädchen oder Zahrah versunken bin, dass ich vergesse, sie mit «Guten Morgen, Mama» zu begrüßen. Oder wenn sie mich an den seltenen Tagen, an denen wir Strom haben, dabei erwischt, dass ich mir ansehe, wie Angelina Jolie in knallengen Catsuits Gräber plündert oder wie Richard Gere Julia Roberts aufs Klavier hebt und ihre Brust betatscht. Dann muss ich mich zur Strafe mit ihr aufs Sofa setzen. Sie greift mir in den Nacken, zwingt mich manchmal sogar auf ihren Schoß. Und dann weint sie. Erinnert mich immer wieder daran, dass ich ihr Leben gestohlen habe, dass der Kaiserschnitt sie kaputt gemacht hat.

«Andrew mè. Ich bin leer. Bin weder hier noch dort. Niemand will mich.»

Einmal, vor Jahren, war ich so blöd zu antworten: «Ich will dich, Mama.» Sie gab mir eine Ohrfeige. Stieß mich von ihrem Schoß, sodass ich kopfüber aufs Sofa fiel.

Hatte ich sie an ihre Männer erinnert? Ich weiß, dass sie mehr als einmal verheiratet war, aber wie oft, will sie mir nicht sagen. Wenn mir der Gedanke durch den Kopf schießt, dass Mama mit zwei, drei, vielleicht sogar vier Männern zusammen war, weiß ich meistens nicht, wohin mit mir. Wenn die Bilder von ihren Händen auf Mamas Körper aufblitzen, will ich irgendwohin springen, irgendwo hinein, einfach weg. Um mich davon abzuhalten, brülle ich meine verfluchten Neuronen an, sie sollen die Fresse halten, sich an all das erinnern, was Mama für mich getan hat, an die vielen schlaflosen Nächte, die sie im Studio verbringt, an die Beleidigungen, die angepisste Kunden ihr entgegenschleudern.

Wenn ich Beef mit Mama habe, wende ich mich in meinem Tagebuch an Ydna. Er sorgt dafür, dass ich mich wieder mit ihr versöhne. Erzählt mir etwas Lustiges über sie, das ich noch nicht weiß, zum Beispiel, wie sie ihre Zahnlücke bekommen hat. Manchmal schwindelt er mich sogar an. Er sagt, die meisten Mütter würden nicht von ihren Kindern träumen, Mama dagegen träume oft von mir. Ich weiß, dass das gelogen ist. Aber ich glaube ihm.

Ich stelle mich neben sie, warte, dass sie mir das Gari abnimmt. Slim oder Morocco hätten ihren Mamas die Schüssel vor die Füße geworfen und wären wieder ins Wohnzimmer gestürzt, um weiter auf ihren Telefonen zu zocken. Aber das traue ich mich nicht. Mama legt die Kelle auf einen Teller, nimmt mir die Schüssel ab.

«Ògbò, Andrew mè», sagt sie.

Manchmal tut Mama mir leid, und ich wünsche mir, dass sie asap jemanden findet. Einige ihrer männlichen Kunden tuscheln über ihre «schönen Beine» und ihren «geilen Arsch», aber keiner scheint daran interessiert zu sein, einen Schritt weiterzugehen. Nur drei haben in den letzten fünf Jahren mehr von ihr gewollt. Die ersten beiden lösten sich nach wenigen Tagen wieder in Luft auf. Aber während ihrer Super Bowls mit Mama schenkten sie ihr Ohrringe, Panties oder zu kleine Schuhe. Von morgens bis abends setzte sie ein falsches Lächeln auf, trug Lidschatten, roten Lippenstift und figurbetonte Kleider, um wie Ende zwanzig auszusehen. Doch als die Männer weg waren, wurde sie wieder zu der seufzenden, ungeschminkten, angegrauten Frau, die sie ist.

Nur Mr Cosmas war anders. Er war Fotograf wie Mama. Seine Frau war einige Jahre zuvor gestorben. Er kam oft in ihr Studio, und Mama und er unterhielten sich stundenlang über Objektive, Kamerazubehör und die Vorzüge von Film gegenüber der digitalen Fotografie. Er sagte, Mama wäre die beste Fotografin, der er je begegnet sei.

Aus irgendeinem Grund lehnte es Mama ab, sich für ihn zu schminken, die Haare zu färben oder enge Kleider anzuziehen. Mr Cosmas besuchte sie trotzdem weiter. Sie aßen zusammen Popcorn, erzählten sich Witze, und Mama lachte viel und sah tatsächlich aus wie ein Mädchen in den Zwanzigern. Sie roch nicht mehr muffig, in ihrem Essen tauchten spektakuläre neue Aromen auf, und abends sang sie Whitney Houston. Wochen später, Mr Cosmas war noch immer nicht verschwunden, lud sie ihn zu uns nach Hause ein. Er schenkte mir Bücher und Fußballtrikots, wir redeten über Messi und Ronaldo.

Alles änderte sich an dem Abend, als sie ihn mit in ihr Schlafzimmer nahm. Es dauerte höchstens fünf Minuten. Er kam aus dem Zimmer, verließ das Haus, und seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen.

In den ersten Tagen nach Mr Cosmas’ Abgang ging Mama nicht in ihr Studio. Sie blieb den ganzen Tag im Bett, und ich machte Feuer, kochte Frühstück und Abendessen, brachte es ihr ans Bett. Ein paarmal fragte ich sie, was zwischen ihnen vorgefallen war, aber natürlich erzählte sie mir nichts. Vielleicht hatte sie ihm von dem verpfuschten Kaiserschnitt erzählt.

Mama gibt getrocknete Chilis in die Suppe. Rührt im Uhrzeigersinn, dann andersrum. Sie lächelt mich an.

«Riecht total lecker, Ma», sage ich.

«Danke», sagt sie.

«Ich wünschte, ich könnte so gut kochen wie du.»

«Wirklich? Willst du nicht versuchen, noch besser zu sein?»

«Aber Ma, ich will doch kein Profikoch werden.»

«Darum geht es nicht.»

«Sondern?»

«Du musst ein toller Koch werden, damit du Fatima, oder welches Mädchen du auch immer heiratest, mit schmackhaftem Essen verwöhnen kannst.»

«Sehr witzig, Ma.»

«Findest du? Mir wäre es nun mal lieber, du bist der Koch in der Familie. Und nicht deine Frau.»

«Wirklich?»

«Natürlich. Wir Frauen sind keine Dienerinnen oder Sklavinnen mehr. Die Zeiten sind vorbei.»

«Aber kochen ist doch keine Sklavenarbeit.»

«Du bist kein Mädchen. Du kannst das nicht verstehen.»

«Aber für Mr Cosmas hast du diese Dinge auch getan.»

«Was für Dinge?»

«Du hast für ihn gekocht. Sogar ein paarmal seine Sachen gewaschen.»

«Das ist was anderes.»

«Wieso ist das was anderes?»

Sie seufzt. Ich weiß, dass jetzt eine Minipredigt kommt. Bei aller Schweigsamkeit lässt sie keine Gelegenheit aus, mütterliche Lebensweisheiten von sich zu geben.

«In Wahrheit, Andrew mè, sind die Frauen meiner Generation immer noch Sklavinnen. Leider. Wir können nichts dagegen tun. Entweder wir entscheiden uns, Sklavinnen zu sein, oder wir entscheiden uns, nicht zu existieren. Das ist die einzige Wahl, die wir haben. Das Schlimmste ist, wir müssen Sklavinnen sein, um Liebe zu bekommen. Sosehr wir uns auch anstrengen: Ohne Liebe können wir nicht leben. Wenn wir lieben, fühlen wir uns weniger wie Sklavinnen.» Sie gibt eine Kelle Wasser in den Topf. «Eure Generation ist anders. Ihr habt Computer, Smartphones. Ihr geht zur Schule. Heute müssen sich zwei junge Leute nicht mehr persönlich begegnen, um sich ineinander zu verlieben. Mädchen können alle möglichen Männer kennenlernen und sich den aussuchen, den sie haben wollen. Wenn es in eurer Generation trotzdem weiter so viel Gewalt gibt wie in unserer, ist die Menschheit nicht mehr zu retten.»

Eine junge Hausa klopft ans Tor. «Assalamu alaikum.» Unser Tor ist eigentlich nur eine winzige Eisentür, die Klopfgeräusche verstärkt, statt die Hühner draußen zu halten. Aber das Mädchen hämmert nicht dagegen wie die meisten anderen. Sie zählt ihre Waren auf: frische Tomaten, Kuka, Busheshen Kubewa. Ich kann sie nicht sehen, aber ich fühle die Ungeduld in ihrer Stimme, den sehnlichen Wunsch, ihre Sachen asap loszuwerden. Wenn sie bei Einbruch der Dunkelheit mit unverkaufter Ware nach Hause kommt, versohlt ihre Mama ihr den Hintern, weil sie gebummelt und an nicht genug Türen geklopft hat.

«Allah ya kawo kasuwa», sagt Mama.

«Amin», murmelt das Mädchen enttäuscht und geht weiter.

«Also, Mama …», sage ich.

«Was?», sagt sie.

«Was ist mit Mr Cosmas?»

«Was soll mit ihm sein?»

«Ich wollte nur wissen, ob du noch von ihm hörst.»

Sie schweigt. Ich weiß, dass sie nichts sagen wird. Und fühle mich mies, weil ich in ihren Wunden stochere.

«Nein.» Sie steht auf. «Ich habe nichts von ihm gehört.»

Sie kocht Wasser auf, gießt es in einen großen Mörser, gibt das Gari dazu, deckt den Mörser für fünf Minuten zu, summt dabei Into Your Sanctuary, nickt, zupft mir ein Staubkorn aus dem Haar, stampft die Gari-Wasser-Mischung zu Eba, schneidet es in ovale Küchlein, wickelt sie in Folie, legt sie in den Wärmebehälter, schickt mich los, um Mörser und Stößel abzuwaschen. Ich meckere nicht, obwohl Eba an Oberflächen, besonders an Holz, haftet wie Sekundenkleber.

Wir gehen zum Essen ins Wohnzimmer. Die Tür steht so weit offen, wie es die Scharniere zulassen. Die sanft wehende cremefarbene Gardine taucht den Raum abwechselnd in Licht und Schatten. Mama setzt sich auf den Fußboden, stellt die Edelstahlschalen mit Eba und Egusi zwischen die gespreizten Beine. Sie isst gerne auf dem Fußboden. Das erinnert sie an ihre Kindheit, als die Welt sich noch normal drehte, sagt sie. Dass Essen besser schmeckt, je näher man der Erde ist.

Sie taucht den Finger in die gelbe Suppe. Führt ihn zum Mund. Lässt ihn dort eine geschlagene Minute verweilen. Sie nickt. Bittet mich, ihr aus dem Tonkrug Trinkwasser zu holen.

Ich gehe in ihr Zimmer. Hole das Wasser. Im Juni sind nur Dinge, die man in Tongefäßen aufbewahrt, sicher vor der Wahnsinnshitze.

Sie trinkt von dem kalten Wasser. «Danke.»

Ich setze mich aufs Sofa, versinke in einem Tal älter und tiefer als Mamas Grübchen. Ich stelle meine Schalen auf den Couchtisch, fange an zu essen. Ich lasse mir Zeit. Rolle das Eba zu kleinen Bällchen. Kaue geräuschlos, weil Mama mir zusieht. Verscheuche eine Fliege. Stelle mir vor, wie Pizza schmeckt. Wie in Tomaten und Curry getunktes Brot? Überlege, ob ich Pommes mit Ketchup mögen würde, ob es zwischen Lasagne und Käsemakkaroni überhaupt einen Unterschied gibt. Nach ein paar Bissen lobe ich das Essen.

«Schmeckt großartig, Ma.»

Aber das genügt nicht. Ich muss ausführen, wieso und weshalb. So lobt man Mamas Küche. Also füge ich hinzu:

«Mir gefällt, dass die Zwiebeln und der Wasserspinat noch leicht roh sind. Das gibt dem Egusi eine superangenehme Würze. Und die Konsistenz ist so cremig!»

Mama grinst. «Abi? Danke, Andrew mè. Guten Appetit.»

Sie zeigt ihre Zahnlücke, die ihr ein alter Baba für zweihundert Naira gemacht hat. Ydna sagt, die Zahnlücke lässt sie jünger wirken, verleiht ihr ein sexy Lächeln. Da ist irgendwie was dran, obwohl ich jedem, der es wagt, Mama sexy zu nennen, mich eingeschlossen, eine reinhauen würde.

Einmal hat Mama das Essen versaut. Ich kam so genervt aus der Schule, dass ich ihr, als ich mich hinsetzte und probierte, die Wahrheit sagte, die ganze Wahrheit: Die Suppe sei versalzen und wässrig wie ein Fluss, und Fleisch wäre auch keins drin.

Mama sah mich nur an. Ein langes, lautes, wütendes Starren. Ich erblickte ihre Kindheit darin, als sie barfuß, nur mit einem Wrapper bekleidet, in den Wald ging, sich auf dem Rückweg mit einem Stapel Brennholz auf dem Kopf die Schienbeine zerschrammte und die Zehen blutig stieß; die zahllosen Morgen, an denen sie aus der Schule gejagt wurde, weil sie das Schulgeld nicht zahlen konnte oder einfach weil sie ein Mädchen war. Sie strich sich die Cornrows glatt, ohne den Blick von mir abzuwenden. Während ich mit stockendem Atem dasaß, außerstande zu blinzeln, außerstande, ihrem Blick auszuweichen, betete ich zu sämtlichen Heiligen, dass Mama mich nie wieder so ansehen würde.

Mama lächelt zufrieden über mein kulinarisches Urteil. «Andrew mè, ich glaube, es ist Zeit, dass du das eine oder andere über Mamas Beruf lernst. Ein paar Stunden im Studio nach Schulschluss? Abgemacht? Du bist ja jetzt erwachsen.»

Früher habe ich sie oft im Studio besucht. Half ihr beim Putzen, machte Besorgungen. Aber vor ungefähr zwei Jahren erteilte sie mir Hausverbot.

Ihr Studio befindet sich in einem kleinen Ladengeschäft in der Sharp Corner Road, kurz vor der scharfen Kurve, die schon viele das Leben gekostet hat. Glory Bright Photos steht in schwarzer Kursivschrift über der Glastür. In der Tür hängen Fotos, die Kunden nicht bezahlen wollten: halbnackte, heulende Babys auf Sofas, tanzende Mamas in Bubas und mit Geles, Neubauten mit in der Sonne leuchtenden, bunten Dächern. Die Kids von den staatlichen Schulen bleiben auf dem Heimweg oft davor stehen, kratzen sich die sandigen Haare, die schorfige Kopfhaut.

Gegenüber dem Studio ist das Queens Palace Guest Inn, eines der größten Bordelle in unserer Stadt. Fünfzehnjährige Mädchen und fünfzigjährige Frauen stolzieren in winzigen Miniröcken und BHs umher, rufen Jungs und alten Männern zwischen hupenden Autos und Motorrädern auf Pidgin zu: «Bobo, you no wan fuck?» Weder unserer korrupten Polizei noch unseren heiligen Scharia-Gerichten noch unseren frommen Geistlichen gelingt es, dieses Sodom zu schließen. Das Queens Palace ist völlig anders als jedes Bordell, das ihr kennt, falls ihr schon mal in einem gewesen seid. Durch eine graue Metalltür gelangt man in einen großen Hof mit Zimmern zu allen Seiten. Jedes Zimmer hat nur ein winziges Fenster, um die Sünden zu verbergen. Tropfende Kondome quellen aus den Mülltonnen. Die schweren Parfüms der Nutten betäuben deinen Geruchssinn.

In Mamas Studio liegt ein roter Teppich, darauf steht alles, was sie braucht: Lampen, Blitze, Sofa, Hocker, Klappstuhl. Von der Decke hängen weiße, schwarze und rote Vorhänge, die bei Aufnahmen als Hintergrund dienen. Dahinter befindet sich die Tür zur Dunkelkammer, in der sie früher Schwarzweißfotos entwickelt hat. Seit dem Tod der Schwarzweißfotografie lässt sie ihre Fotos bei Bob Shege in der Lagos Road (brausender Verkehr, Shop an Shop) entwickeln, die in ihrem Labor die knackigsten Farbabzüge der Stadt machen.

Mama erteilte mir Studioverbot, weil eines Nachmittags, als ich nach der Schule schläfrig aufs Mittagessen wartete, eine Nutte so Mitte zwanzig hereinkam, um sich fotografieren zu lassen. Sie trug Stöckelschuhe, Sport-BH, Strumpfhose, aber kein Höschen. Während Mama das Licht setzte und den besten Hintergrund auswählte, bewegte sich die Nutte in meine Richtung. Sie tippte geistesabwesend auf ihrem Huawei. Bei jedem Schritt zwinkerte mir ihre Pussy zu.

Als sie meinen Blick bemerkte, lachte sie auf und rief auf Pidgin: «You dey look my vajajay.» Sie drehte sich prustend zu Mama um. «Dein Junge will ficken. Er will ficken. Ich helf ihm dabei.»

Sie schlug Mama einen Tauschhandel vor: Für drei Fotos würde sie mir eine Stunde ihrer Zeit schenken. «Ich kenn mich aus mit dem Entjungfern von Jungs.»

Mama bat sie, zu gehen.

Die Nutte lachte: «War doch nur’n Witz, Mann.»

Mama blieb standhaft.

«Ich geh nirgends hin. Bis ich meine Fotos hab.»

Mama forderte sie erneut auf zu gehen und nannte sie Satan.

Die Nutte verpasste Mama eine Ohrfeige.

Mama ließ die Kamera fallen. Die Adern an ihren Armen und ihrem Hals quollen hervor, als sie die Nutte mit geballter Kraft packte und nach draußen stieß, wo beide zu Boden gingen und sich im Sand wälzten.

Männer scharten sich um sie.

Die Nutte stand auf. Zerriss Mamas Kleid. Ihren BH. Mamas Brüste sprangen heraus.

zwei

schlaffe

sonnen

 

zwei

schwarze

sonnen

Die Männer pfiffen. Glotzten lüstern.

Ich stand einfach da. Wie angewurzelt. Nutzlos. Ein halber Mann.

Mama stand auf. Bedeckte sich mit den sandigen Händen. Ging zurück zum Studio. Als sie bei der Tür war, sprang die Nutte nach vorne und schlug ihr auf den Hintern. Nannte sie Prostituierte. Rief, dass sie mit ihrem dicken Arsch dreimal so viel verdienen könnte wie mit dem Studio.

Die Männer lachten.

Ich konnte sie an diesem Tag nicht ansehen.

Auch nicht am nächsten.

Oder in den Wochen danach.

ich

 trat

  ins

   dunkel

 

   sie

   stürzte

   ins

   dun-

   k

   e

   l

Ein Abgrund tat sich in meiner Kehle auf. Ich konnte nicht mehr mit ihr reden. Meine Wörter fielen schreiend ins Nichts. Das Nichtgesagte rüttelte mich nachts aus dem Schlaf. Ich rang nach Atem. Fand bloß kreischende Stille.

Nach dem Gebet wünschte ich ihr nur guten Morgen und, wenn ich aus der Schule kam, guten Abend.

Sie sah ihre Füße an, wenn sie mit einem mürrischen «Wie geht es dir?» antwortete, ohne meinen Namen zu sagen. Sie starrte auf ihren Teller, wenn sie mich bat, ihr Wasser zu holen, wenn sie sich bedankte.

Eines Nachts wachte ich keuchend auf der kalten Matte auf. Merkwürdige, heisere Laute drangen aus ihrem Zimmer. Sie weinte.

2

Mama will etwas sagen, aber sie lässt es. Sie lächelt. Diese Grübchen machen mich fertig. Diese Grübchen, die zu Augen werden. Wenn sie lächelt, hat sie vier Augen. Zwei oben, zwei unten. Zwei glänzende, zwei dunkle. Voll, hohl. Ihre Grübchen sind:

ein

tunnel

der mir

für immer verschlossen bleibt

Mein Samsung piept. Eine Nachricht von Morocca:

was geht, werdna. slim und ich holen dich asap ab. wir müssen das weiße chick auschecken. wette dein schwanz tropft schon wegen ihr. c ya

Mama und ich waschen uns in einer großen Schüssel die Hände. Trocknen sie an einem Handtuch ab. Ich bringe Schüssel und Schalen in den kleinen Raum, in dem wir Töpfe, Teller und kaputtes Zeug wie mein Fahrrad aufbewahren. Spinnweben zittern an der Decke. Ein dicker Gecko klebt an der unverputzten Wand, den Schwanz geschwungen zu einem C.

Mama hat mir das Rad vor acht Jahren geschenkt, nach meiner Erstkommunion. Die Schulleiter der Model und der Muazu School hatten sie engagiert, um Fotos bei den Abifeiern zu machen, ein Job, für den andere Fotografen einen Haufen Schmiergeld hinlegen müssen. Ich nahm sie zum Dank nicht mal in den Arm. Ich stieg einfach aufs Rad und heizte wie ein Wahnsinniger durchs Viertel. Sprang über Pissebäche aus Badezimmern und Toiletten. Wich Plastiktüten und gluckenden Hennen aus. Riss die Hände nach oben, schrie Wörter, die nur ich verstand. Bolzende Kids blieben stehen. Sie sahen mir zu, die Hände in die Hüften gestemmt, die nackten Oberkörper glänzend von Schweiß, ihre Blicke tödliche Avada Kedravas. Das war mir egal, weil:

der wind

pfiff mir versprechen

ins ohr

Fünf Minuten später humpelte ich nach Hause zu Mama, mit blutenden Händen und Knien. Mehrere Speichen waren unter dem Gelächter der Nachbarschaftskinder gebrochen. Sie streckten mir die schmutzigen Zungen raus, meckerten wie geile Ziegenböcke, dass ich mir hoffentlich alle Zähne ausgeschlagen hätte.

Ydna kam aus dem Lachen gar nicht mehr raus, als ich ihm davon erzählte. Jede Nacht wollte er die neusten Fahrradabenteuer hören, ob ich gestürzt war, wie viele blaue Flecken ich mir schon geholt hatte. Ich beschrieb ihm die neuen Stunts, die ich mir beigebracht hatte. Erzählte ihm, dass ich jetzt freihändig rückwärtsfahren konnte. Dass ich zu einem fliegenden Vogel wurde, wenn ich meinen Lieblingstrick machte: nur auf dem Hinterrad zu fahren, das Vorderrad hoch über meinem Kopf. «Cool», sagte er. Eines Nachmittags ritzte ich mit einem Schlüssel seinen Namen ins hintere Schutzblech. Als Slim und Morocca es sahen, löcherten sie mich, ihnen zu verraten, was das Wort bedeutet. Sie überließen mir sogar ihr Popcorn. Ich aß es ganz langsam, um sie auf die Folter zu spannen, leckte mir genüsslich die Lippen, lachte sie aus. Als es ihnen zu blöd wurde und sie mir Schläge androhten, erzählte ich ihnen, dass es sich um ein Geheimnis zwischen mir und jemand anderem handelte. «Hast du etwa ’ne Freundin?», fragten sie, neidisch, weil ich vor ihnen die hüpfenden Dinger an einem Babe anfassen durfte. Als ich Ydna davon erzählte, von seinem Namen auf dem Schutzblech, sprang er lachend durchs Zimmer, zog mich an den Ohren, den Haaren, an der Nase, duckte sich vor meinen Schlägen weg. Ich hatte ihn noch nie so übermütig, so glücklich erlebt.

Sein Name ist auf dem Schutzblech nicht mehr zu sehen. Ich muss erst den Staub und die Spinnweben wegwischen. Das Rad lehnt an der Wand. Platte Reifen. Zerfetzter Sattel. Verstaubte Reflektoren. Es gehört jetzt den Spinnen. Sie benutzen es pausenlos, spinnen sich von Netz zu Netz. Sie nehmen alles in Beschlag, überdauern alles, saugen aus den Dingen die darin verborgenen Erinnerungen. Unvorstellbar, dass ich mal auf so einem winzigen Rad gefahren bin.

Als Schüssel und Schalen abgespült sind, gehe ich zurück, bleibe in der Tür zum Wohnzimmer stehen. Mama sitzt noch auf dem Boden, auf dem Schoß ein aufgeschlagenes Fotoalbum. Als sie mich bemerkt, blättert sie schnell die Seite um, die sie sich angesehen hat. Die Seite mit meinen Kinderfotos. Ich stehend in T-Shirt und Jeans, im Hintergrund Big Ben. Ich sitzend, barfuß, obenrum nackt, mit ihrer Rubinkette um den Hals, mein Afro ein federnder Garten, mein Finger zeigt auf die Kamera, auf sie, auf dich.

Sie überblättert schnell das Foto von ihrer Mama, das sie vor vielen Jahren gemacht hat. Eine zerbrechliche Frau auf einem Hocker, mit Spitzenbluse und Gele, auf dem Schoß eine Handtasche. Sie blickt in die Kamera, ledrige Haut, Mona-Lisa-Lächeln, hellwache Augen, in denen sich das Blitzlicht spiegelt.

Mama entscheidet sich für die Fotos ihrer Geschwister und Cousinen. Ich kenne ihre Namen und weiß, in welchen Städten sie wohnen, aber ich bin ihnen nie begegnet. Auch ihre Mama habe ich nie kennengelernt. Mama ist nie mit mir in Ososo, unserer Heimatstadt, gewesen, wo ihr Großvater angeblich ein stattliches zweistöckiges Haus gebaut hat. Dort hatte sie mehrere Fehlgeburten, verbrachte die meiste Zeit im Bett und dachte daran, sich etwas anzutun. Eines Morgens, behauptet sie, als sie ganz kurz davor war, sei ich ihr im Geiste erschienen. Ich hätte gesagt, sie soll sich die Tränen abwischen, dass alles gut werde, dass ich bald bei ihr sein würde.

Sie erzählt oft und gerne von dem Haus. Es hat über zwanzig Zimmer, sagt sie, eine Holztreppe und im Obergeschoss hölzerne Stützbalken. Weil es damals noch keinen Beton gab, verwendete man in Ososo für mehrstöckige Häuser Okpakpaholz:

«Unsere Väter haben sogar riesige Brücken aus Okpakpa gebaut. Die Brücken konnten Pick-ups tragen. Sogar zwei Lastwagen. Nebeneinander.»

Spätestens bei der Lastwagengeschichte kommen mir immer Zweifel. Sie könnte auch behaupten, dass Okpakpaholz Zauberkräfte hat oder unser Vibranium ist. Das wäre der bessere Weg, um eine Lüge wahrer, bekömmlicher zu machen.

Aber das Abgedrehteste, was sie mir über das Haus meines Urgroßvaters erzählt hat, ist die Geschichte mit den Gräbern. Sie behauptet, im Haus befänden sich über fünfzig Gräber. Die meiner Urgroßeltern und ihrer Geschwister. Die meines Großvaters, seiner Geschwister, Cousins und Cousinen. Das Grab von Ydna. In Ososo, sagt sie, gebe es keinen Friedhof.

«Die Toten werden in ihren Wohn- oder Schlafzimmern begraben, und wenn alle Zimmer voll sind, in den Vorgärten. Die Angehörigen graben ein tiefes Loch in den Fußboden und betten sie darin zur letzten Ruhe. Das Grab wird zementiert. Solange der Zement noch feucht ist, werden die Namen und Lebensdaten hineingeschrieben. Das ist das einzige Zeichen, dass dort jemand liegt. In Ososo sitzen, schlafen und essen wir jeden Tag auf Gräbern.»

Das ist einfach nur insane. Wenn sie von den Gräbern erzählt, werfe ich ab und zu ein «Wirklich?» oder «Ernsthaft?» dazwischen. Obwohl sie die Details jedes Mal verändert, widerspricht sie sich nie. Die Geschichte ist jedes Mal neu und alt, frisch und abgegriffen, wie ein altes Buch.

Oft frage ich mich, wo genau Ydna begraben ist. Ob er im Wohnzimmer oder im Vorgarten liegt. Ob neben seinem Kopf eine Blume wächst.

«Früher gab es mal einen Friedhof», erzählt Mama dann irgendwann. «Aber es wurden nur wenige Leute dort beerdigt. Nur solche, deren Geister bei Nacht zu Kerzenflammen wurden. Die durch den Ort streiften und die Arbeiter erschreckten, die von den Farmen kamen. Leute, deren Geister mit Messern und Töpfen warfen, die jede Nacht ihre Familien aufweckten.»

Hin und wieder hält sie inne, sieht mich eindringlich an, beobachtet meine Reaktion. «Weil kaum jemand auf dem Friedhof liegt», fährt sie schließlich fort, «hat die Stadt daraus einen Marktplatz gemacht. Einen Marktplatz! Mit Ständen aus Okpakpa und Stroh, wo die Ososos gelbes Gari, Fisch und Palmöl verkaufen, wo –» Dann verstummt sie mitten im Satz und schüttelt seufzend den Kopf. «Warum glaubst du mir nie?»

Wenn ich sie bitte, mit mir nach Ososo zu fahren, tut sie jedes Mal so, als hätte sie mich nicht gehört, oder wechselt das Thema.

Genau wie früher, wenn ich sie nach Papa fragte. Das war sogar noch schlimmer. Sie verstummte, wenn ich sie bedrängte, wich meinem Blick aus, obwohl wir eben noch zusammen gelacht und uns gegenseitig aufgezogen hatten. Sie kaute Kaugummi, obwohl sie gar keinen im Mund hatte. Log oder kam mit irgendwelchen durchsichtigen Ausreden, aber ich glaubte ihr nie.

Eines Abends, ein paar Wochen, nachdem sie mir das Fahrrad geschenkt hatte, lag ich ihr wieder wegen Papa in den Ohren.

Sie verstummte.

«Wer ist er, Mama?»

Sie kaute auf dem nicht vorhandenen Kaugummi herum.

«Wo ist er?»

Sie lachte leise. Schlug die Beine übereinander. Verstummte wieder.

«Wann lerne ich ihn endlich kennen?»

Sie seufzte.

Dann stand sie auf, ging in ihr Zimmer. Legte meine Klamotten zusammen, packte sie in meine Ghana-Must-Go-Tasche, zog den Reißverschluss zu. Sie schleppte die Tasche ins Wohnzimmer. Nahm meine Hand, ohne mich anzusehen.

«Komm», sagte sie.

«Wo wollen wir denn hin?», sagte ich.

Wir gingen zum Tor. Sie ließ meine Hand los. Warf mir die Tasche vor die Füße. Öffnete das Tor.

Sie drehte sich um, ging zurück zum Haus. Ihre Flip-Flops machten klatschende Geräusche.

«Mama!», schluchzte ich.

«Geh und such deinen Papa», sagte sie.

Sie ging hinein, schloss die Tür hinter sich ab.

Es wurde schon dunkel. Ein Stern durchstach den Himmel, zwinkerte mir zu.

+

Ich bin in ihrem Zimmer. Öffne die Ghana Must Go, hole mein Jordan-T-Shirt und die Jeans heraus. Werfe mich in Schale. Zwänge mich in meine Adidas. Das sind die einzigen Designer-Klamotten, die ich habe. Ich trage sie nur an besonderen Sonntagen, zum Beispiel wenn ich Ministrantendienst habe. Obwohl ich Spiegel nicht ausstehen kann, gucke ich in Mamas runden Wandspiegel. Ich befühle mein einziges Barthaar am Kinn. Lächle. Keine Ahnung, warum. Vielleicht, weil ich hoffe, dass Eileen in Ohnmacht fällt, wenn sie meine breiten Schultern in dem Jordan-T-Shirt sieht, wenn sie mir in die braunen Augen guckt. Nicht mal Zahrah kann meinen Augen widerstehen. Einmal hielt sie mitten im Unterricht inne und sagte laut: «Andrew Aziza, hör auf, mich so anzusehen!» Die ganze Klasse drehte sich kichernd zu mir um, im Glauben, ich hätte meine Seele an sie verloren, wäre in meiner Boxershorts gekommen.

Ich höre Slim und Morocca in der Ferne lachen und streiten. Ich schließe die Ghana Must Go, stelle sie vorsichtig neben den Gari-Sack in die Ecke, gehe ins Wohnzimmer.