Angeklagte Nr. 9 - J.M. Müller - E-Book

Angeklagte Nr. 9 E-Book

J.M. Müller

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Beschreibung

Angeklagte Nr. 9 Die "Hyäne von Auschwitz" im Kreuzverhör Die KZ-Aufseherin Irma Grese war die Jüngste Kriegsverbrecherin, die 1945 im Bergen-Belsen Prozess zum Tode durch den Strang verurteilt wurde. Gerade sie erregte weltweites Aufsehen, weil die ihr zur Last gelegten Verbrechen, die Brutalität und Grausamkeit, ihr Sadismus gegenüber den Häftlingen im krassen Widerspruch zu ihrer Erscheinung standen. Sie hatte viele Namen: "Hyäne von Auschwitz," "Höllenengel" oder "Queen of Belsen." Und ihr Ankläger sagte über sie im Prozess: "Und es gibt keine einzige Grausamkeit, die in diesem Lager stattgefunden hat, für die sie nicht als Verantwortliche bekannt war. Sie nahm regelmäßig an der Selektion für die Gaskammer teil, strafte willkürlich, und als sie nach Belsen kam, fuhr sie genau so fort." In dieser Dokumentation begeben wir uns auf eine Spurensuche in alten Akten und Archiven und beleuchten die 243 Tage des Jahres 1945, von der Befreiung des KZ Bergen-Belsen bis hin zur Hinrichtung der Täter in Hameln. Wir begleiten Grese durch den gesamten Prozess bis an den Galgen, schauen uns die Zeugenaussagen an, lesen, was die Presse schrieb, entdecken wenig bis kaum Bekanntes, korrigieren Irrtümer und tauchen direkt ein in das Geschehen, wenn wir der Befragung und dem Kreuzverhör der Angeklagten Nr. 9 folgen.

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75 Jahre nach dem ersten NS-Kriegsverbrecher-Prozess in Deutschland: Ein Blick in alte Akten und Archive. Dokumentation.

Die KZ-Aufseherin Irma Grese war die jüngste Kriegsverbrecherin, die 1945 im ersten Bergen-Belsen-Prozess zum Tode durch den Strang verurteilt wurde. Besonders sie erregte weltweites Aufsehen, weil die ihr zur Last gelegten Verbrechen, die Brutalität und Grausamkeit, ihr Sadismus gegenüber den Häftlingen im krassen Widerspruch zu ihrer Erscheinung standen. Sie hatte viele Namen: „Hyäne von Auschwitz“, „Höllenengel“ oder „Queen of Belsen“. Und ihr Ankläger sagte über sie im Prozess: „Und es gibt keine einzige Grausamkeit, die in diesem Lager stattgefunden hat, für die sie nicht als Verantwortliche bekannt war. Sie nahm regelmäßig an der Selektion für die Gaskammer teil, strafte willkürlich, und als sie nach Belsen kam, fuhr sie genau so fort.“ In dieser Dokumentation begeben wir uns auf eine Spurensuche in alten Prozessakten und Archiven und beleuchten die 243 Tage des Jahres 1945, von der Befreiung des KZ Bergen-Belsen bis hin zur Hinrichtung der Täter in Hameln. Wir begleiten Grese und die anderen Hauptangeklagten der so genannten „Belsen-Gang“, wie die internationale Presse die Beschuldigten gerne nannte, durch den gesamten Prozess bis zur Hinrichtung. Wir schauen uns die Zeugenaussagen an, lesen, was die Prozessbeobachter schrieben, entdecken wenig bis kaum Bekanntes, korrigieren Irrtümer und tauchen direkt ein in das Geschehen, wenn wir der Befragung und dem Kreuzverhör der Angeklagten Nr. 9 folgen.

14. Juli 2020, J.M. Müller

Inhaltsangabe

Lebensdaten

Die Befreiung des KZs Bergen-Belsen

Die Prozessvorbereitungen

Der Prozess

Angeklagte Nr. 9 – Irma Grese im Kreuzverhör

Das Urteil

Hinrichtung in Hameln

Schlussakkord

Anmerkungen

Lebensdaten

Am 07.Oktober 1923 wurde Irma (Irmgard Ilse Ida Grese) in Wrechen, einem kleinen Dorf in der mecklenburgischen Provinz, geboren. Ihre Eltern waren Alfred Anton Albert Grese (*1899) und Berta Wilhelmine Grese, geborene Winter (*1904). Irma war das drittälteste von fünf Kindern und hatte noch die Schwestern Lieschen (*1921) und Helene (*1926) sowie die Brüder Alfred (*?) und Otto (*1929). Der strenge Vater stand im Dienste des dortigen Gutsherren und kümmerte sich um das liebe Vieh, trieb es auf die Weiden und melkte es. Eine Fotografie aus dem Jahr 1935 zeigt die kleine zwölfjährige Irma im Kreise ihrer Schulklasse. Dabei lächelte sie und trug ein Kleid, und ihre blonden Haare hatte sie zu zwei Zöpfen zusammengebunden. Die Familie war nicht wohlhabend, doch litt sie auch keine Not, und so kann man sich vorstellen, dass die Kindheit im schönen mecklenburgischen Land, mit den Wiesen, den Tieren, den Wäldern und Seen angenehm und beschaulich war. Dem Journalisten Vincent Evans vom Daily Express verdanken wir diverse Anekdoten aus Irmas Kindheitstagen. Evans war während des Belsen-Prozesses in Lüneburg und sprach dort mit Familienangehörigen von Grese, die aus Mecklenburg angereist waren. Er schickte seinem Joumalistenkollegen Paul Holt einen langen Brief mit seinen Ergebnissen, der sie am 16. November im Daily Express unter dem Titel: „How did Irma Grese get like this?“ veröffentlichte. Wir erfahren dort, dass die kleine Irma ihr Kleidchen und ihre Brosche liebte, und dass sie sehr empfindsam war. Als sich eines Tages ihr Bruder Otto beim Spielen an der Lippe schnitt und es zu bluten begann, da weinte die kleine Irma ganz fürchterlich, weil sie den Anblick nicht ertragen konnte. Doch gab es eine weitere, ganz andere Seite von ihr, denn sie soll auch ein kleines herrisches Kind gewesen sein, dass die schwachen und wehrlosen kleinen Mädchen in ihrer Umgebung rigoros unterdrückte. Im Prozess sagte später Irmas Schwester Helene über sie: „Irma hat in der Schule nie den Mut gehabt, sich zu hauen. Wenn jemand anfangen wollte, ist sie immer weggerannt.“ (Dieser Satz der Schwester würde noch eine erhebliche Rolle im Prozessverlauf spielen.) 1936 beging die Mutter Berta Selbstmord, indem sie Salzsäure trank, die damals zur Reinigung verwendet wurde. Grund dafür war wohl, dass der Ehemann ein Verhältnis hatte. Mit zunehmendem Alter verspürte Irma den Wunsch, sich dem Bund Deutscher Mädel anzuschließen, das war der weibliche Zweig der Hitlerjugend, in den Mädchen in einem Alter von 14 bis 18 Jahren eintreten konnten. Das jedoch hatte der Vater ihr rigoros verboten. 1939 heiratete Vater Alfred erneut, und zwar eine Witwe, die vier Kinder mit in die gemeinsame Ehe brachte. Später zeugten sie noch eine Tochter. Vom Frühling bis zum Winter 1938 arbeitete Irma im Rahmen des so genannten „Landjahres“ in einer Molkerei in Fürstenberg, danach in einem Geschäft in Lychen. Ab 1939 war sie im angesehenen SS- Sanatorium in Hohenlychen, dass von Karl Franz Gebhardt1 geleitet wurde, angestellt. Nach eigenen Angaben arbeitete sie dort als Hilfsschwester. Dem Personalbuch des Sanatoriums nach soll sie dort jedoch als Zimmermädchen eingestellt gewesen sein.2 Im Oktober des Kriegsjahres 1940 feierte Irma zum letzten Mal zu Hause ihren Geburtstag. Sie wurde 17, und es gab für sie eine schöne Familienfeier. Nach einem aufwendigen Abendessen sang die Familie alte deutsche Lieder, und Irma war an diesem Abend fröhlich und glücklich wie ein kleines Kind. In dieser Nacht sang und tanzte sie unaufhaltsam und umarmte liebevoll ihre Familie. Etwa sechs Monate später, im März 1941, wurde sie aus ihrer Anstellung in Hohenlychen entlassen. Warum weiß man nicht, das wurde in der Familie nie besprochen. Diese familiären Informationen stammen ebenfalls aus dem Artikel von Paul Holt. Bis zum Juni 1942 arbeitete sie, durch Vermittlung der Arbeitsagentur, erneut in einer Molkerei. Am 1. Juni 1942 meldete sie sich freiwillig zum Dienst im SS- Gefolge und wurde im KZ Ravensbrück zur Aufseherin ausgebildet. Im März 1943 wurde Grese nach Auschwitz versetzt, wo sie diverse Positionen durchlief. Am 22. Januar 1944 unterzog sie sich im SS-Krankenhaus in Auschwitz einer Syphilisuntersuchung, bei der aber nur eine Angina festgestellt wurde.

Dokumente belegen, dass sie am 22. Januar 1944 eine Blutprobe abgab, die auf Syphilis untersucht wurde. Angewendet wurde die so genannte Wassermann-Reaktion. Dabei handelt es sich um eine Untersuchungsmethode zum Nachweis von Antikörpern im Serum bei Syphilis (Dieses Verfahren wurde im Jahr 1906 von dem deutschen Immunologen und Bakteriologen August Paul von Wassermann erstmals veröffentlicht.) Am 23. und 25. folgten, laut Dokument, weitere Krankenhausbesuche. In einem Interview vom 11. Juni 1990 sprach die Auschwitz-Überlebende Magda Blau, geborene Hellinger, über Irma Grese. Sie berichtete, dass „Der Engel des Todes", wie sie Grese nannte, ein sehr ausschweifendes Sexualleben innerhalb des Konzentrationslagers pflegte und Beziehungen zu männlichen und weiblichen Häftlingen unterhielt.

Im Mai 1944 rollten die so genannten „Ungarn-Transporte“ an. Zu dieser Zeit unterstanden ihr im C-Lager von Auschwitz-Birkenau bis zu 30000 weibliche Häftlinge. Im Januar 1945 wurde sie ins Stammlager versetzt, wo ihr zwei Blöcke mit männlichen Arbeitskommandos unterstanden. Am 19. Januar erfolgte, auf Grund der heranrückenden Roten Armee, die Evakuierung von Auschwitz in das KZ Ravensbrück, und im März erreichte sie mit einem Häftlingstransport das KZ Belsen, wo sie als Arbeitsdienstführerin eingesetzt wurde. Die Befreiung des Lagers durch die britische Armee geschah am 15. April und etwa zwei Tage später wurde die noch vorhandene Wachmannschaft vor Ort festgenommen. Am 23. April verstarb dann ihr Freund, SS-Oberscharführer Franz Wolfgang (Hatzi) Hatzinger, an Typhus. Am 17. Mai wurden die Gefangenen von Belsen in das Gefängnis von Celle überführt, am 13. September erfolgte die Verlegung in das Lüneburger Gefängnis. Der Prozess wurde gegen insgesamt 45 Personen3 geführt, von denen 16 Männer der SS angehörten, 16 Frauen vom so genannten SS-Gefolge waren, sowie 13 Funktionshäftlinge. Ranghöchste Offiziere waren der SS-Hauptsturmführer und Lagerkommandant von Bergen-Belsen Josef Kramer4, Nr. 1, sowie der SS-Hauptsturmführer und Lagerarzt Dr. Fritz Klein5, Nr. 2. Kramer und den anderen Beschuldigten wurden Kriegsverbrechen in Auschwitz und Bergen-Belsen vorgeworfen. Der Prozess begann in Lüneburg am 17. September in der eigens dafür umgebauten Turnhalle, in der Lindenstraße 30. Im Verlauf der Verhandlung erweckte Irma Grese, Nr. 9, weit mehr öffentliches Interesse weltweit als ihre ranghöheren Vorgesetzten. Das hing damit zusammen, dass die gegen sie erhobenen Vorwürfe, die Grausamkeit, der Sadismus und die Brutalität, mit der sie Häftlinge behandelt haben soll, im deutlichen Widerspruch zu ihrem ansprechenden Erscheinungsbild standen. Ein Journalist schrieb: »... Jedenfalls aber ist sie hübscher als die übrigen weiblichen Angeklagten, und der Kontrast zwischen der hübschen Larve und den finsteren Beschuldigungen mag manches Interesse gerade auf sie gezogen haben ...“6

Am 26. und 27. Oktober musste schließlich Grese, die wie alle anderen Angeklagten auf unschuldig plädierte, vor dem Gerichtshof aussagen und sich dem Kreuzverhör stellen. Am 17. November wurde sie mit zehn weiteren Angeklagten zum Tode verurteilt. Ein Gnadengesuch von ihr an Feldmarschall Montgomery wurde innerhalb von 48 Stunden eingereicht und am 7. Dezember7 abgelehnt. Am 11. Dezember wurden die elf Verurteilten nach Hameln überstellt. Am 13. Dezember erfolgte die Hinrichtung durch den Strang, ihr Tod wurde auf 10.03 Uhr datiert. Grese und zwölf weitere an diesem Tag hingerichtete Kriegsverbrecher wurden im Innenhof des Gefängnisses begraben und 1954 anonym auf den Friedhof Wehl umgebettet.

Die Befreiung des Konzentrationslagers Bergen-Belsen

Von 1936 an wurde in Bergen für die Wehrmacht ein Truppenübungsplatz errichtet, an dessen Randgebiet für die eingesetzten Arbeiter Holzbaracken gebaut wurden. Ab 1939 nutzte die Wehrmacht diese Baracken zunächst, um dort französische und belgische Kriegsgefangene zu internieren. Nach dem Überfall auf die Sowjetunion 1941 erfolgte eine Vergrößerung des Lagers, bis zu 21000 Gefangene aus der Sowjetunion wurden dort eingesperrt, von denen etwa 14000, meist an Hunger, Kälte oder Krankheit, starben. Im Jahr 1943 übernahm die SS einen Teil des Lagers, und funktionierte es als Aufenthaltslager um für so genannte Austauschjuden. Dabei handelte es sich um jüdische Häftlinge, die gegen internierte Deutsche im Ausland eingetauscht werden sollten. Später wurde das Lager auch für weitere Häftlingsgruppen genutzt. Kranke und arbeitsunfähige Männer und Frauen aus anderen Konzentrationslagern wurden dort untergebracht, und die Lagerbedingungen verschlechterten sich massiv. Ab Frühling 1945 wurden aus frontnahen Konzentrationslagern zehntausende Häftlinge in das Lager Bergen-Belsen überführt, es herrschten katastrophale Haftzustände. Die Folge waren Hunger, Durst, Seuchen, Fälle von Kannibalismus, tausendfaches Sterben. Dr. Klein, dem man im Prozess unter anderem vorwarf, dass er an Selektionen für die Gaskammer beteiligt war, soll in jenen Tagen zu seinem Lagerkommandanten Josef Kramer gesagt haben, dass die Briten sie an die Wand stellen würden, wenn sie sähen, was im Lager passierte. Und nachdem der SS-Lagerbesatzung bewusst war, dass die britische Armee in Kürze das KZ Belsen erreichen würde, bemerkten die Häftlinge plötzlich einige Veränderungen. So trug der Lagerarzt Klein auf einmal eine Rotkreuz-Binde, und die Schläge der Wachen wurden deutlich weniger.

Die KZ-Überlebende Ärztin Ada Bimko sagte am 21. September 1945 vor dem Militärgerichtshof in Lüneburg aus, dass plötzlich zwei volle Magazine mit Medikamenten, Verbandstoff und Instrumenten aufgemacht wurden, von deren Existenz vorher niemand etwas gewusst hatte. Auch banden sich die SS-Wachen neuerdings weiße Binden um den Arm und es wurde eine Abordnung zu den Briten geschickt, um die Übergabe des Gefangenenlagers an die Alliierten zu besprechen. Die Arbeitsdienstführerin Irma Grese, Nr. 9, soll kurz vor der Lagerbefreiung noch versucht haben, so berichtete eine Überlebende, sich bei den Häftlingen einzuschmeicheln und sich unter sie zu mischen (siehe Seite 27). Andere SS-Leute verschwanden stattdessen einfach heimlich über Nacht.

Ein britischer Feldwebel berichtete8, wie er mit seinem Panzer am 15. April auf das Konzentrationslager Belsen vorrückte. An der Straße dorthin standen Warnschilder mit der Aufschrift „Achtung Typhus!“, und etwa zwei Kilometer vom Lager entfernt, traf er auf zwei Soldaten, die eine weiße Fahne schwenkten. Als sie das Lager erreichten, wurden sie schon von einer Gruppe Offiziere erwartet, und ein vierschrötiger großer Soldat in Tarnjacke stellte sich als Lagerkommandant Josef Kramer vor. Auffällig war, dass dieser bullige Mann eine sehr hohe Frauenstimme hatte, die so gar nicht zu ihm passen sollte. Das Lagertor wurde geöffnet und Kramer begleitete die Briten hinein. Beidseitig der Lagerstraße standen hinter Stacheldrahtzäunen die ausgezehrten Häftlinge in ihren gestreiften Häftlingsanzügen, die im Lageijargon „Zebrakleidung“ genannt wurde.9 Viele konnten sich kaum mehr auf den Beinen halten, andere winkten zu und riefen: „God save the king.“ Plötzlich brachen Tumulte aus, mit Stöcken ausgestattete Häftlinge versuchten, andere Häftlinge in die Baracken zu treiben, und Wachen schossen in die Luft, als Häftlinge versuchten, die Küche zu stürmen. Wochenlang vor der Befreiung erhielten die Häftlinge nur Steckrübensuppe, die letzten drei Tage gar nichts mehr. Wasser, so fern man es als trinkbar bezeichnen möchte, gab es seit eineinhalb Tagen nicht mehr. Die Wasserversorgung war eh katastrophal, die Wasserbecken waren verdreckt, in einem fand sich sogar ein Leichnam. An diesem Tag entdeckte die britische Armee mehrere Tausend unbestattete Leichen und Zehntausende todkranke Menschen. Auch in den Tagen nach der Befreiung, trotz sofortiger Hilfe durch Ärzte und Pflegepersonal, starben weitere Häftlinge. Insgesamt sind im KZ Bergen-Belsen aufgrund der Haftbedingungen um die 52 000 Menschen zu Tode gekommen. In der Nacht des 15. April schnappten sich einige Häftlinge Irma Grese, schleppten sie zur Latrine, und drückten ihren Kopf dann kräftig in diese Latrine hinein.10

Am 17. April sah der Journalist Paul Holt Irma Grese zum ersten Mal und berichtete später davon in der Ausgabe des Daily Express vom 16. November. Der Journalist wurde in ein Gebäude geführt, das zu einem improvisierten Gefängnis umgebaut wurde. In einer kleinen Zelle befand sich Grese mit fünf weiteren SS-Aufseherinnen. Grese, so berichtete Holt, trug eine dunkle Reithose und lehnte sich, tief und schwer atmend, an die Zellenwand. Vor den eingesperrten Frauen stand ein junger Franzose in seinem gestreiften blau-weißen Häftlingsanzug, als plötzlich eine Gruppe bewaffneter britischer Offiziere eintrat. Der Franzose, er war als politischer Häftling im Lager eingesperrt gewesen, brüllte die ehemaligen Aufseherinnen an: „Aufstehen!... Stillgestanden!... Nicht an die Wand anlehnen!“ Die Offiziere staunten nicht schlecht, als sie das sahen. Und der Franzose schrie nun die sechs Frauen fast hysterisch an: „Ihr seid nicht die Herren, die Briten sind jetzt die Herren in diesem Lager.“ Die Offiziere konnten es kaum glauben, als sie sahen, wie die deutschen Frauen sich von dem ehemaligen Häftling sagen ließen, was sie zu tun hätten, und folgsam stellten sie sich aufrecht hin. Da die Offiziere bewaffnet waren, gingen die Aufseherinnen wohl davon aus, dass man sie nun an die Wand stellen wollte. Und Holt schrieb in seinem Artikel, dass Grese mürrisch aussah, in diesem Augenblick aber gefasst wirkte. Am 23. und 24. April nahmen die Briten umfangreiche Film- und Tonaufnahmen im Lager auf. Ehemalige Häftlinge kamen zu Wort und auch ihre Peiniger mussten vor der Kamera Rede und Antwort stehen. Auf unzähligen Filmrollen wurde das gesamte Grauen festgehalten (Im Jahr 2014 erschien die Dokumentation „German Concentration Camps Factual Survey,“ in der Teile dieses Materials zu sehen sind, und die ich an dieser Stelle einmal erwähnen möchte). Wegen der Seuchengefahr wurde am 21. Mai das Lager von den Briten komplett abgebrannt.

Die Prozessvorbereitungen

Ein königlicher Erlass an Generalfeldmarschall Montgomery berechtigte ihn, Militärgerichtshöfe zur Aburteilung von Kriegsverbrechern einzurichten. Das Gesetz, auf das die Anklage sich stützte, war internationales Völkerrecht. Zwölf englische und ein polnischer Offizier, allesamt Juristen, vertraten die insgesamt 45 Angeklagten. Den Vorsitz des Gerichtshofes hatte Generalmajor Bemey-Picklin. Ihm zur Seite saßen vier weitere Richter und ein Berater, Richter Stirling, der in Gesetzes- und Verfahrensfragen unterstützend zur Seite stand. Der Ankläger war Oberst Backhouse, der die Kriegsverbrechen-Abteilung bei der Staatsanwaltschaft der Rheinarmee leitete. Die Anklage lautete auf Tötung eines britischen Marinesoldaten, der auf unbekannte Weise ins Lager kam, auf die Tötung fünf weiterer, namentlich bekannter und einer großen Zahl namentlich nicht bekannter Angehöriger alliierter Staaten. Außerdem wurde Anklage erhoben wegen der Misshandlung von Angehörigen alliierter Nationen in nicht mehr feststellbarem Ausmaß. Die Tötung deutscher Häftlinge ist nicht Bestandteil des Verfahrens gewesen. Das Urteil konnte auf Tod durch Erschießen oder den Strang, lebenslängliches Gefängnis und Konfiskation des Eigentums lauten. Das Urteil bedurfte der Bestätigung des Gerichtsherren, wie der Neue Hannoversche Kurier vom 18. September 1945 seine Leser informierte.

Der Prozess in Lüneburg war der erste Kriegsverbrecher-Prozess nach Beendigung des 2. Weltkrieges auf deutschem Boden und sorgte für weltweites Aufsehen (Engl.: Belsen Trial – Trial against Josef Kramer and 44 others). Reporter aus aller Welt kamen nach Lüneburg, um über den Prozess zu berichten, und kurz vor Prozessbeginn war es kaum mehr möglich, im beschaulichen Lüneburg auch nur ein freies Hotelzimmer zu bekommen. Als Verhandlungsort für die des öffentlichen Prozesses wählte man die große städtische Turnhalle in der Lindenstraße 30, die ausreichend Platz bot, zunächst aber umfangreich umgebaut werden musste. Die bereits vorhandene umlaufende Galerie wurde mit Tribünen versehen, die 400 Personen fassen konnte. An den Längsseiten der Turnhalle wurden Sitzreihen für die Richter, Verteidiger, Zeugen und Journalisten aufgestellt, an den Säulen befanden sich Schilder, auf denen stand: „ALL PERSONS WILL STAND WHEN THE COURTS ENTERS.“ Die Angeklagten saßen in drei Reihen an der Schmalseite, ihre Sitze waren, wie ein gut unterrichteter Reporter wusste, mit Stroh gepolstert, und hinter ihnen befanden sich Militärpolizisten. Auf Grund der baulichen Begebenheiten befanden sich einige ge Pfeiler zwischen den Sitzplätzen der Angeklagten, die die Galerie abstützten. Ein Prozessfoto belegt, dass die Angeklagte Klara Opitz, Nr. 35, direkt hinter einem solchen Pfeiler saß und von dem Geschehen vor sich wohl kaum etwas sehen konnte. Der Boden war mit grauen Läufern ausgelegt, und an einer Seite befand sich ein großer schwarzer Vorhang mit einer Leinwand. Die Eingänge waren mittels Holzverschalungen voneinander getrennt, die Warteräume der Angeklagten separat gehalten. Ein langer geschlossener Gang führte von ihren Räumen direkt in den Gerichtssaal. Beleuchtet wurde der Saal mit etwa 20 Flutlichtern, die aus dem Lager Belsen stammten. Es gab für die Zuschauer Toiletten und einen Auskunftsschalter, Garderoben, einen Aufbewahrungsraum für Gepäckstücke, und man stellte auch Telefonzellen für die Berichterstatter auf. Es sollte ein öffentlicher Prozess werden, zu dem nicht nur Beamte, Sachverständige und Zeugen Zutritt hatten, sondern auch die zivile Öffentlichkeit, die nach Erhalt einer Einlasskarte der Verhandlung folgen konnte (Lüneburger Post vom 14. September 1945). Oberbürgermeister und Bürgermeister wurden täglich von Hunderten Bürgern regelrecht überlaufen, die eine Einlasskarte beantragen wollten. Das 1935 eröffnete Gefängnis am Markt in Lüneburg erhielt ebenfalls aufwendige Umbaumaßnahmen, um die Angeklagten aufnehmen zu können. Soweit es möglich war, wurden die bisherigen Häftlinge umquartiert, und die Sicherheitsmaßnahmen drastisch erhöht. So wurden die Zellentüren mit Sichtfenstem ausgestattet, damit man die Angeklagten permanent beobachten konnte. Das Lüneburger Gefängnis galt als modern, es war sauber, der Zellenboden bestand aus Linoleum, ein Spülklosett und fließendes Wasser waren vorhanden. Die Häftlinge erhielten gute Matratzen und Decken in sauberen Überzügen. Die Zellenfenster wurden mit undurchsichtigem Mattglas versehen, und nur am oberen Ende konnte das Tageslicht ungehindert eintreten. Wollte ein Häftling aus dem Fenster schauen, so hätte er wohl den Stuhl auf den Tisch stellen und hochklettem müssen. Morgens gab es Kaffeeersatz und Brot zum Frühstück. Mittags Eintopf mit so viel Fleisch, wie es die vorhandenen Rationen zuließen. Am Abend erhielten die Häftlinge Suppe und Brot oder Brot mit Käse und Wurst. Dazu gab es Tee.

In einigen Publikationen ist noch immer zu lesen, dass die Angeklagten bis zu ihrer Verurteilung im Gefängnis von Celle eingesessen hätten. Das ist falsch! Denn am Morgen des 13. Septembers wurden die Angeklagten, darunter 19 Frauen, in Celle in drei große LKWs gesetzt und unter starker gepanzerter Bewachung ins Lüneburger Gefängnis überführt, wie unter Anderem in der Lüneburger Post vom 14. September 1945 steht.

Nach einer kurzen medizinischen Untersuchung wurden die Angeklagten auf ihre Zellen verteilt und warteten darauf, dass ihnen der Prozess gemacht werden würde. Es war geplant, täglich von 10 Uhr bis 17 Uhr zu verhandeln, und die Prozessdauer wurde auf zwei bis drei Wochen angesetzt. Am Ende wurden es zwei Monate. Einer der Hauptgründe dafür war, dass die Verhandlung mehrsprachig geführt wurde. Der Prozess wurde auf Englisch geführt und ins Deutsche und Polnische übersetzt. Die Antworten wiederum ins Englische. Daraus entstanden überaus lange Verzögerungen. Nicht zuletzt auch deshalb, weil es immer wieder zu Fehlübersetzungen kam, die erst revidiert werden mussten, doch dazu kommen wir später. Allmorgendlich und abends versammelte sich eine ungeheure Menschentraube vor dem Gefängnis in Lüneburg, um einen Blick auf die Angeklagten zu erhaschen.11

Das Medieninteresse für die 21-jährige Grese stieg im Verlauf der Verhandlungstage mehr und mehr. So schrieb ein Reporter der Lüneburger Post am 14. September: „Das ist verständlich, weil es allzu nahe liegt zu fragen, wieso eine hübsche Frau mit ebenmäßigen Zügen in die Gesellschaft Kramers kommt und als Hüterin eines Abgrundes auftreten konnte, dessen Enthüllung eine ganze Welt entsetzte ... Von Auschwitz her ist sie vielen Häftlingen in Erinnerung als die Bestaussehendste der weiblichen Wachen.“ Der Verhandlungsablauf war klar gegliedert. Nach Verlesung der Anklage würde als Erstes die Zeugenvernehmung durch den Ankläger stattfinden. Anschließend würde die Verlesung der schriftlichen Zeugenaussagen erfolgen. Danach kämen die Sachverständigen und Zeugen der Verteidigung zu Wort. Die Anhörung der Beschuldigten war der nächste Punkt, gefolgt von den Schlussplädoyers von Anklage und Verteidigung sowie der abschließenden Urteilsverkündung. Wir verfolgen den Prozess mit Blickwinkel auf die Angeklagte Nr. 9, aber wir schauen bei unserer Recherche auch immer wieder nach links und rechts über den Tellerrand, denn wir können den Einzelnen nicht ohne sein Umfeld betrachten. Und im Verlauf der Anhörungen werden wir immer wieder aufs Neue feststellen, dass die Beschuldigten ihre Verantwortung auf Vorgesetzte schoben, lediglich Befehlen folgten, ihre Beteiligung kleinredeten, immer wieder Erinnerungslücken hatten, vieles gar nicht wussten, sie sich auch für nichts interessierten, sie eh keine Kenntnis hatten oder sie auch überhaupt gar nicht anwesend waren. Diese Antworten bekam man noch in vielen nachfolgenden Kriegsverbrecher-Prozessen zu Gehör, und wir vernehmen sie auch heute noch. Irma Grese wurde am 16. und 17. Oktober vor dem Gerichtshof befragt und mit den gegen sie erhobenen Anschuldigungen und Zeugenaussagen konfrontiert. Diese Aussagen wurden dem Gericht in wochenlangen Verhandlungstagen vorgetragen. In dieser Dokumentation beschränken wir uns deshalb auch so weit wie möglich nur auf die Zeugenaussagen des Prozesses, die sich auf Grese beziehen. Manche dieser Aussagen nahmen bis zu zwei Tage in Anspruch, so dass sie hier in zusammengefasster Form wiedergegeben werden. Die Vernehmung Greses steht hier, bis auf wenige Kürzungen, in kompletter Länge.

Der Prozess

Am 17. September (1. Prozesstag) füllte sich so gegen neun Uhr langsam die umgebaute Turnhalle. Einzeln wurden die Angeklagten in den Saal geführt und an ihren Platz gebracht. Jeder von ihnen trug ein großes weißes Schild auf der Brust mit seiner Nummer drauf, so dass man sie leichter unterscheiden und ansprechen konnte. Verteidiger, Dolmetscher, jeder Akteur nahm nach und nach die vorgesehene Position ein. Pünktlich um zehn Uhr trat das Gericht ein und die Anwesenden erhoben sich. Während der Vorsitzende Richter, wie auch die anderen Juristen des Militärgerichtshofes, in Uniform erschienen, war der Berater Stirling in zivil, mit schwarzem Talar und weißer Perücke gekleidet. Ein Journalist schrieb, dass man den Angeklagten die Blässe und die Angst ansah, und ihre Augen nervös flackerten. „Nur Kommandant Josef Kramer trägt die Maske einer kalten Ruhe zur Schau, welche die Brutalität dieses breitflächigen, grobknochigen Gesichts, in dem die Augen fast in den Höhlen verschwinden, noch deutlicher macht.“12 Auch die 21-jährige Irma Grese wirkte unruhig an jenem Morgen. Ein anwesender Journalist notierte: „Ihr an sich wohlgeformtes Gesicht mit dem blonden Haar hat etwas blässlich Schwammiges, die Lippen sind messerscharf, und die kalten wasserblauen Augen blicken düster und beklommen.13 Rechts von ihr saß Hertha Ehlert, Nr. 8.14 Die große stämmige Frau brach schon im Vorfeld mehrmals zusammen und musste wiederholt aufgerichtet werden. Zwei Angeklagte waren krank und fehlten an jedem Tag. Der Vorsitzende erlaubte dann, dass die anwesenden Film- und Bildreporter eine viertel Stunde lang ihrer Arbeit nachgehen konnten, viele von den Bildern würden um die Welt gehen. Danach begann die Verhandlung und Richter Stirling verlas die Anklage. Zunächst wurden sie beschuldigt, ein Kriegsverbrechen begangen zu haben, da sie in Auschwitz und Bergen-Belsen zwischen dem 1. Oktober 1942 und dem 30. April 1945, als sie zum Stammpersonal des Lagers Bergen-Belsen gehörten und für das Wohlergehen der Inhaftierten verantwortlich waren, Gesetze des Rechts und des Krieges verletzt hatten. Als Stirling die Angeklagten fragen wollte, ob sie sich schuldig oder nicht schuldig bekennen, gab es eine kleine Unterbrechung, da einige Verteidiger verlangten, dass die Vorgänge in Auschwitz in einem separaten Verfahren zu klären seien. Der Ankläger sah dafür keine Notwendigkeit, das Gericht ließ das Verfahren weiterlaufen, versprach aber, dass man einen Sachverständigen für internationales Kriegsrecht aus London konsultieren würde. Nach der Mittagspause wurden die beiden Anklagepunkte verlesen.15 Erstens wurde ihnen vorgeworfen, dass sie sich in Belsen zusammentaten, um den Tod von zwei Briten, von denen einer aus Honduras stammte, den Tod von zwei Ungarn, einem Franzosen, einem Holländer, einem Belgier und einem Italiener zu verursachen. Und zweitens hätten einige von ihnen auch in Auschwitz ähnliche Taten begangen. Jeder Angeklagte wurde zu beiden Punkte befragt, ob er schuldig oder nicht schuldig sei, und alle gaben zu Protokoll, dass sie nicht schuldig seien.