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Leben um jeden Preis?
Juni 2012. Das Gericht verurteilt einen 26-jährigen Mann zu drei Jahren Gefängnis. Er tötete seine Mutter, die seit sieben Jahren im Wachkoma in einem Pflegeheim lag. Ein Drama, das so nicht hätte passieren dürfen. Im Stich gelassen von der Gesellschaft und von der Politik, traf der Sohn eine unwiderrufliche Entscheidung. Wie konnte es dazu kommen?
Martina Rosenberg erzählt die authentische Geschichte eines Sohnes, der dem Leiden seiner Mutter nicht mehr tatenlos zusehen konnte – und sie stellt die Frage: Wollen wir in einer Gesellschaft leben, die mitfühlende Angehörige zu Straftätern macht?
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Seitenzahl: 215
Martina Rosenberg
Anklage:
Sterbehilfe
Machen unsere Gesetze Angehörige zu Straftätern?
1. Auflage
Copyright © 2015 by
Verlagsgruppe Random House GmbH, München
Umschlaggestaltung: www.buerosued.de, München
Satz: KompetenzCenter, Mönchengladbach
ISBN: 978-3-641-15579-7
www.blanvalet.de
Für alle Angehörigen von schwerst- und todkranken Menschen, die trauern, leiden, hadern, wütend sind, aufgeben und dann doch wieder Mut fassen.
Möge dieses Buch und die Geschichte dafür sorgen, dass sie in Zukunft mehr Unterstützung und Verständnis erfahren.
Ihre
Martina Rosenberg
1.
Langsam, sehr langsam fährt der ICE in den Bahnhof ein. Ich stehe an der Tür und schaue in ein wildes Schneetreiben. Obwohl es schon Mitte März ist, will der Winter nicht enden. »Trostlos« ist das Wort, das mir durch den Kopf schießt. Wie ist es, wenn man nicht durch ein Zugfenster sieht, sondern durch vergitterte Fenster?
Meine Gedanken wandern zu dem geplanten Besuch in der Justizvollzugsanstalt. Gleich werde ich durch eine schwere Eisentür gehen und mich einem Sicherheitscheck unterwerfen müssen. Wie sich das wohl anfühlt? Wird bestimmt nicht so schlimm werden, denke ich mir.
Die Bremsen quietschen. Mit einem Ruck kommt der Zug zum Stehen. Ich packe meinen Koffer und öffne beherzt die Tür. Zielstrebig folge ich den Schildern zum Hauptausgang des Bahnhofs und laufe zum Taxistand.
»Sie wissen, wie’s zur JVA geht?«, frage ich einen Taxifahrer.
»Ja, glaub schon«, antwortet er mürrisch. »Oft war ich da aber noch nicht.«
Beinahe hätte ich ihm geantwortet: Ich noch gar nicht. Aber ich ignoriere seinen fragenden Blick und hieve meinen Koffer in sein Auto. Geht ihn ja auch nichts an, was ich da mache.
Ich steige ein, und der Wagen fährt los. Ich verspüre wenig Lust, mich zu unterhalten, und checke meine Mails auf dem Smartphone. Im Auto herrscht Stille.
Es dauert nicht lange, da hält der Fahrer es nicht mehr aus. »Besuchen Sie jemanden?«, fragt er betont locker.
»Ja!«, antworte ich einsilbig und tippe weiter auf meinem Handy herum.
Mehr muss er nun wirklich nicht wissen. Obwohl ich ihn nicht ansehe, nehme ich aus den Augenwinkeln wahr, dass er mich immer wieder verstohlen anstarrt.
Seit Wochen fiebere ich auf diesen Besuch hin, um endlich zu erfahren, wer der junge Mann ist, der seine Mutter aus Liebe getötet hat. Sie war mehr als sieben Jahre zuvor durch einen Reitunfall so stark verletzt worden, dass sie ins künstliche Koma versetzt wurde, später lag sie dann im Wachkoma. Der Sohn konnte laut Zeitungsberichten ihr Leiden nicht mehr ertragen und erlöste sie seinen eigenen Worten nach davon.
Wie geht es dem jungen Mann heute? Jetzt, da er seine Strafe absitzen muss. Sein Anwalt spricht von einem in sich gekehrten Menschen, der keinen Kontakt zu anderen sucht. Werde ich ihn erreichen? Wird er mit mir sprechen wollen? Wenn ja, was hat er zu sagen?
Ich erinnere mich noch gut an den Tag, als ich im Radio vom Urteilsspruch der Richter erfuhr. Drei Jahre wegen Totschlags – ein Urteil, das Signalwirkung haben sollte. Es ging mir einfach nicht aus dem Kopf, wie es zu einem solchen Strafmaß kommen konnte. Seit diesem Tag beschäftigt mich die Frage, wieso die Gesellschaft einen Menschen, dem ein derartiges Unrecht widerfährt, im Stich lässt. Was läuft da schief? Man muss die Geschichte öffentlich machen.
Diese Gedanken habe ich dem jungen Mann in einem Brief übermittelt und auf einen Besuchstermin gehofft. Bisher hat er alle Journalistenbesuche abgelehnt. Ich war unglaublich gespannt, wie er reagieren würde. Und tatsächlich erreichte mich vor vier Wochen eine Antwort. Er ist nicht abgeneigt, mich zu treffen.
Ich denke an meine eigene Geschichte – ich habe meine Eltern über Jahre zu Hause gepflegt. Ich weiß, wie stark der Druck für Angehörige werden kann, wenn sie das Leiden Tag für Tag ansehen und nichts tun können. So stark, dass sie den Tod als gnädig empfinden.
War das in diesem Fall ebenso?
»Sie sind wohl nicht aus dieser Gegend?« Der Taxifahrer reißt mich aus meinen Gedanken.
»Nein«, antworte ich kurz angebunden.
Ich mag mich jetzt nicht unterhalten. Stattdessen lasse ich meinen Blick nach draußen wandern. Wir entfernen uns vom Zentrum der Stadt. Man sieht kaum noch Häuser, schließlich nur noch Felder und Wiesen rechts und links der Schnellstraße. Dann endlich wird die Haftanstalt sichtbar. Mir jagt es einen Schauer über den Rücken. Hinter hohen Mauern und Zäunen ragen mehrere schmucklose rote Ziegelsteingebäude auf. Wie viele Menschen hier wohl eingesperrt sind?
Schnell zahle ich den Taxifahrer. Ich steige aus, nehme mein Gepäck aus dem Kofferraum und eile zum Eingang der JVA. Mir wurde mitgeteilt, dass ich mich eine halbe Stunde vor der Besuchszeit einzufinden habe. Nur nichts falsch machen. Wer weiß, was sonst passiert? Nicht auszudenken, wenn ich den ganzen Weg umsonst gemacht hätte.
Eine schwere Eisentür wird geöffnet, kurze Zeit später stehe ich auch schon am Besucherempfang. Eine überraschend freundliche Justizbeamtin erklärt mir den Ablauf.
»Waren Sie schon einmal bei uns?«, fragt sie.
»Nein«, antworte ich.
Ein wenig zu schnell kommt die Antwort, wie ich selbst bemerke. So als ob ich klarstellen wollte, dass ich noch nie mit einem Straftäter in Berührung gekommen bin.
Wieso ist mir das eigentlich so wichtig?
»Sie dürfen nichts mitnehmen in den Besucherraum«, erklärt die Beamtin trocken. »Nur ein wenig Kleingeld, um am Automaten Getränke, Süßigkeiten oder Tabakwaren zu kaufen.«
Jetzt erst wird mir bewusst, wie sehr die Menschen hier isoliert sind. Von wegen einen selbst gebackenen Kuchen mitbringen, wie ich mir das überlegt hatte! Nichts, aber auch gar nichts darf von draußen hier hineingebracht werden.
Es ist wie am Flughafen. Jeder Besucher der Vollzugsanstalt hat sich einer Personenkontrolle zu unterziehen, die in der Regel mittels Detektor, Handsonde und Abtasten durchgeführt wird. Meine Schuhe werden auf einem Fließband durchleuchtet, die Habseligkeiten und das Gepäck in einen Spint geschlossen.
Mit mir sind noch andere Besucher hier, die auf ihre Freunde oder Angehörigen warten. Aber ich bin so mit mir beschäftigt, dass ich sie jetzt erst richtig wahrnehme. Ein gut angezogener junger Mann wird gerade kontrolliert. Er macht einen sehr gepflegten Eindruck. Ob er Anwalt ist?
Nachdem ich meine Schuhe wieder anziehen darf, gehe ich beherzt zur nächsten Tür, die laut Schild zum Besucherraum führt. Ein kurzer Ruck, und mir wird klar, dass auch diese verschlossen ist. Ich drehe mich um und blicke in grinsende Gesichter.
»Tut mir leid«, versuche ich die peinliche Situation zu retten. »Da habe ich mich mal wieder selbst überholt.«
»Immer mit der Ruhe«, meint ein Beamter gelassen und drückt lässig auf einen Knopf.
»Das ist eine Schleuse«, erklärt mir eine nette Frau, vermutlich ebenfalls eine Besucherin. »Die geht erst auf, wenn die Tür hinter uns verschlossen ist.«
»Aha«, erwidere ich dümmlich grinsend.
Was für ein Aufwand!, denke ich, wage aber nicht, die Frage zu stellen, warum das eigentlich nötig ist. Mittlerweile hat sowieso schon jeder mitbekommen, dass ich noch nie hier war.
Als sich die Tür öffnet, sehe ich dann den Besucherraum, in dem ich schon erwartet werde. Ein junger Mann steht an einem Tisch und blickt in meine Richtung. Als er mich entdeckt, kommt er mir entgegen und gibt mir dann höflich die Hand. Das muss Jan sein.
»Hallo«, sagt er und lächelt mich an.
»Hallo«, erwidere ich. »Schön, dass wir uns kennenlernen.«
Nachdem wir uns bekannt gemacht haben, setzen wir uns an einen Tisch. Um uns herum sitzen einige Leute an Tischen und unterhalten sich leise flüsternd miteinander. Ich schaue verstohlen herum und mustere die anderen Häftlinge. Was ist wohl passiert, dass sie hier eingesperrt sind?, geht mir durch den Kopf. Was haben sie für eine Lebensgeschichte? An einem Tisch sitzen ganz offensichtlich Eltern, die ihren Sohn besuchen. Es sind vorwiegend Frauen, vermutlich Freundinnen oder Ehefrauen, die hier mit den Inhaftierten reden. Die Atmosphäre in diesem Raum ist bedrückend.
Ich reiße mich von dem Anblick los und wende mich Jan zu.
Mir sitzt ein höflicher, zurückhaltender junger Mann mit blonden Haaren gegenüber. Es ist nicht schwer, mit ihm ins Gespräch zu kommen. Er wirkt aufgeräumt und überlegt genau, bevor er etwas sagt. Ich spüre schon nach kurzer Zeit, dass er eigentlich nicht hierhergehört.
Das erste Treffen soll ein gegenseitiges Kennenlernen sein. Im Laufe der Unterhaltung stelle ich Jan meine Idee vor. Ich bin so betroffen von seiner Geschichte, dass ich ein Buch darüber schreiben möchte. Jan reagiert positiv auf meinen Vorschlag. Er kennt mein vorheriges Buch und weiß, wer vor ihm sitzt. Vielleicht fühlt er sich ja ein wenig mehr von mir verstanden. Ich frage, ob ich ein Aufzeichnungsgerät benutzen darf. Das würde es für mich etwas einfacher machen. Jan ist einverstanden.
Als wir uns verabschieden, sagt Jan: »Wenn ich mit der Veröffentlichung meiner Geschichte etwas bewirken kann, will ich das tun.«
»Ob wir das schaffen, weiß ich nicht«, entgegne ich, »aber wir werden es versuchen.«
Ich fahre nachdenklich ins Hotel, zufrieden damit, wie unser erstes Treffen gelaufen ist, und erleichtert, wie offen sich Jan mir gegenüber gibt. Schon bald werde ich noch einmal hierherkommen. Dann nehme ich mir vierzehn Tage Zeit – für Gespräche mit Jan und mit den Menschen, die seiner Mutter und ihm nahegestanden haben.
Einige Wochen später ist es so weit. Ich fahre, nun mit meinem Privatwagen, wieder zu Jan. Mein Hund begleitet mich auf der Reise. Dieses Mal berührt mich das Prozedere der Besucherkontrolle schon nicht mehr so sehr. Und nach einer kurzen Begrüßung beginnt Jan gleich zu erzählen.
• • •
Mit einem lauten Knall fällt die Tür hinter Jan ins Schloss. Er zuckt zusammen und hofft, seine Mutter nicht geweckt zu haben. Immerhin hat sie eine lange Nachtschicht hinter sich, und er will auf keinen Fall, dass sie aufwacht. Katharina ist Krankenschwester und hat ihre Ausbildung während der Schwangerschaft mit ihm begonnen. Sie ist es gewöhnt, auch in schwierigen Lebenssituationen einen Weg für sich und ihren Sohn zu finden. Die ersten Jahre als junge Mutter waren für Katharina nicht einfach. Das weiß Jan. Die meiste Zeit war sie mit ihm allein und auf sich gestellt.
Während er sich vom Haus entfernt, wirft Jan noch einmal einen Blick nach oben. Bewegt sich da was am Fenster? Nein. Glück gehabt, denkt er. Nichts zu sehen. Seine Schritte werden immer schneller. Jan ist acht Jahre alt und geht in die zweite Klasse der Dorfgrundschule. Er freut sich schon auf den Tag, denn heute darf er über ein Erlebnis einen Aufsatz schreiben. Er weiß schon ganz genau, was er schreiben will. Überhaupt fällt Deutsch ihm leicht, was er von dem Fach Mathematik nicht behaupten kann.
In der ersten Klasse hat er einen Aufsatz geschrieben, seinen ersten übrigens, da haben alle gelacht. Wie war das noch mal? Ach ja, sie sollten drei Sätze über das Klima schreiben. Er wollte besonders eifrig sein und hat sich große Mühe gegeben. Er hat das Blatt verwahrt: Eisbären sind fom aussterben bedrot. Eis Scholen werden geschmolzen wegen wamenklima. Ab sofort benuzen wir kein klima mehr.
Jeder Erwachsene hat sich darüber totgelacht. Anfangs fand er es auch noch lustig, dann aber fing er an, sich zu ärgern.
Heute will er einen Aufsatz schreiben, über den keiner mehr lacht. Er will gelobt werden. Das Thema weiß er auch schon. Denn letzte Woche war er mit einem Freund unterwegs. Sie sind von Tür zu Tür gegangen, haben geklingelt und gerufen: »WuteWute geben.« Das ist ein alter Brauch in seiner Heimatgemeinde, und er ist endlich alt genug, um dabei sein zu dürfen. Die Erwachsenen geben den Kindern Süßigkeiten. Wenn sie aber auf Junggesellen treffen, dann werden sie mit Stöcken verfolgt. Das war für Jan und seinen Freund Mario natürlich ein aufregendes Ereignis. Sie sind um ihr Leben gelaufen, als plötzlich hinter einem Haus mehrere junge Männer hervorkamen – mit Stöcken in der Hand. Lauf, Mario!, hat er geschrien. Beinahe wäre ihm noch die Brille davongeflogen, so sehr musste er rennen. Mit einer Hand musste er sie an der Nase festhalten.
Als er zu Hause ankam, war er völlig außer Atem. Er setzte sich auf die Stufen und versuchte erst einmal, wieder Luft zu bekommen. Auf keinen Fall wollte er so aufgeregt und verschwitzt ins Haus gehen und dem Spott der Erwachsenen ausgesetzt sein.
Jan will also über diesen Tag schreiben. Gleich in der ersten Stunde haben sie Deutsch bei Frau Bergfeld. Er mag sie ganz besonders gern, weil sie immer so nett zu ihm ist. Eine ganze Seite hat er mit seiner schönsten Schrift geschrieben und bekommt schon ein erstes Lob, als er der Lehrerin das Blatt gibt.
»Toll, Jan. Du hast dir ja richtig Mühe gegeben!«, sagt sie.
Jan grinst stolz und voller Freude, sagt aber nichts. Er ist ein bisschen verlegen.
Verstohlen sieht er sich im Klassenzimmer um. Ob Nele das auch mitbekommen hat? Nele sitzt zwei Bänke hinter Jan. Sie fängt seinen Blick auf und lächelt. Hurra, jubelt Jan innerlich. Er will Nele so gern zur Freundin haben. Mit ihr kann er tolle Staudämme bauen. Er muss sie unbedingt fragen, ob sie am Nachmittag Zeit für ihn hat.
Nach Schulschluss nimmt er seinen ganzen Mut zusammen und schlendert betont lässig an ihr vorbei.
»Hey, Nele!«, sagt er.
Sie hebt den Kopf. »Ja?«
»Wollen wir heute einen …«
RUMS! Jan bekommt von hinten einen Schubs und landet völlig unvorbereitet auf dem Boden. Bevor er aufstehen kann, sieht er Bernd davonlaufen. Mann, ist das peinlich, denkt Jan. Sogar seine Brille ist heruntergefallen. Wie schrecklich!
Ohne einen weiteren Blick auf Nele zu werfen, steht er auf und rennt nach Hause. Im Vorbeieilen hört er die Mädchen hinter sich kichern. So eine Gemeinheit von Bernd. Jan will ihm das auf alle Fälle heimzahlen. Nun muss er heute allein spielen. So viele Freunde hat er hier nicht, denn Jan wohnt erst seit einem Jahr an diesem Ort. Kurz vor der Einschulung ist er mit seiner Mutter hergezogen.
Anfangs wohnte der Freund seiner Mutter noch mit im Haus. Jan mochte ihn. An den Wochenenden unternahmen sie gemeinsame Spaziergänge. So wie eine richtige Familie. Der Freund hatte eine Tochter, die zwei Jahre älter war als Jan. Doch mit Männern hat seine Mutter kein Glück. Als seine Mutter und ihr Freund sich trennten, war Jan ziemlich traurig.
Nein, ich weine nicht, hatte er Katharina versprochen, als sie ihm eines Nachmittags von der Trennung der beiden erzählte.
Brauchst du auch nicht. Wir haben doch uns, hatte sie gesagt und ihn fest in den Arm genommen.
Eigentlich war Jan zum Heulen zumute. Aber er schaffte es, sich zusammenzureißen und tapfer zu lächeln.
Katharina ist für Jan mehr als nur eine Mutter. Sie ist sein Sonnenschein und Lebensmittelpunkt. Sie schimpft kaum, wenn er mal verdreckt heimkommt. Da hat er schon ganz andere Schimpftiraden von Müttern mitbekommen. Sie ist immer da, was er von vielen Menschen, denen er in seinem Leben begegnet ist, nicht behaupten kann. Schon von klein auf hat er mit Verlusten fertigwerden müssen. Sein leiblicher Vater kam bei einem Arbeitsunfall ums Leben. Damals war Jan fünf Jahre alt. Jan musste so fest weinen, dass er Kopfweh bekam. Schon da verstand er, dass er jetzt keinen Vater mehr haben wird.
Seit der Freund seiner Mutter ausgezogen ist, wohnen Katharina und Jan wieder allein in dem großen Haus. Für Jan stellt das aber kein Problem dar. Er liebt den Ort, den Bach, der am Haus vorbeifließt, und ein klein wenig liebt er auch Nele.
Aber für heute will er lieber nicht mehr an sie denken. Auf dem Nachhauseweg schluckt er ein paar Tränen hinunter. Nur noch ein paar Schritte, und schon ist er an seiner Haustür angekommen. Wahrscheinlich ist er das Kind mit dem kürzesten Schulweg im Ort. Zwischen der Schule und seinem Zuhause liegt nur ein Wohnhaus. Besonders stolz ist er darauf, dass er einen Schlüssel hat.
Letztens, er holte gerade Mario zum Spielen ab, sprach ihn die Mutter eines Klassenkameraden an.
»Ach, du hast einen Schlüssel?«, fragte sie.
»Ja!«, antwortete er ganz stolz. »Meine Mama arbeitet als Krankenschwester und ist mittags nicht immer da.«
Wieso guckt sie mich nur so mitleidig an?, dachte Jan.
»Dann bist du aber oft allein, oder?«, meinte die Frau.
»Das macht mir nichts«, entgegnete er trotzig.
Mehr wollte Jan damals nicht dazu sagen. Zum Glück kam Mario gerade aus dem Haus. Wieso Erwachsene immer alles mies machen müssen, dachte er noch, bevor er mit dem Freund zum Bach lief.
Als er die Haustür aufschließt, versucht er ganz leise zu sein. Seine Mutter schläft natürlich noch nach der langen Nacht im Krankenhaus, das Essen steht für ihn im Kühlschrank bereit. Katharina bereitet oft das Mittagessen für ihren Sohn vor. Jan starrt in den offenen Kühlschrank. Der Teller mit den Nudeln ist nicht zu übersehen. Schon wieder Nudeln. Er hat gar keine Lust darauf. Gestern gab es auch schon Nudeln. Heute zwar in einer anderen Variante, aber trotzdem.
Die Kühlschranktür fällt zu, ohne dass Jan etwas herausgenommen hat. Er öffnet die Schublade des Küchenschranks, schnappt sich seine Lieblingskekse und schlendert in sein Zimmer. Er wirft den Schulranzen auf das Bett und greift nach seinem Gameboy. Da er heute keine Spielverabredung hat, kann er genauso gut zu Hause bleiben. Morgen wird er einen neuen Versuch mit Nele wagen.
Jan bewohnt mit seiner Mutter ein Haus. Es stand länger leer, weswegen der Besitzer es zu einem guten Preis vermietet hat. Jan hat sogar zwei Zimmer zur Verfügung. Eines davon hat er sich als Spielzimmer hergerichtet, in dem anderen schläft er.
Jetzt liegt er rücklings auf seiner Couch, den Gameboy hält er in den Händen. Jan spielt wahnsinnig gern damit, er nutzt jede Gelegenheit dazu. Seine Mutter Katharina hat stets ein Auge darauf, dass er nicht den ganzen Tag vor dem kleinen Monitor verbringt. Sie findet das auf Dauer zu eintönig. Jan hingegen findet andere Sachen viel eintöniger – Mathematik zum Beispiel. Er kann die Sorge seiner Mutter nicht verstehen.
Kaum denkt er an seine Mutter, geht auch schon die Tür auf, und sie steht im Türrahmen.
»Hallo, Jan«, sagt sie und geht zum Fenster, um die Vorhänge zu öffnen. »Wieso lässt du das Licht nicht herein?«, fragt sie. »Liegst hier im Dunklen herum!«
Jan erwidert, ohne aufzusehen, die Begrüßung und spielt weiter.
»Könntest du mal das Ding aus der Hand legen?«, bittet ihn Katharina.
Aber Jan reagiert nicht.
»Jan!«, versucht Katharina es erneut.
Dieses Mal in einem etwas strengeren Ton. Jan will auf keinen Fall Ärger und bricht sein Spiel unwillig ab.
»Ja, was denn?«, fragt er genervt.
»Warum hast du nicht gegessen? Es stehen doch Nudeln für dich im Kühlschrank.«
Jan versteht schon, dass es für seine Mutter nicht immer einfach ist, allem gerecht zu werden. Und sie weiß, wie schwierig es für ihn ist, sich das Essen selbst zu machen mit erst acht Jahren. Regelmäßiges Essen ist ihr aber wichtig, weshalb sie ihm nichts durchgehen lassen will. Doch nicht immer kann sie sich bei ihm durchsetzen. So wie heute zum Beispiel. Ein Blick genügt, und sie weiß, dass Jan Kekse gegessen hat.
Katharina verdreht zwar die Augen, ist aber anscheinend zu müde, um ihm eine Standpauke zu halten. Da hat er noch mal Glück gehabt. Die Nachtschicht war sicher anstrengend, weshalb sie kurzerhand entscheidet einzulenken.
»Komm mit in die Küche. Wir essen gemeinsam was. Okay?«
Jan geht gern mit, denn er will seiner Mutter von dem Aufsatz und dem Lob erzählen. Die peinliche Sache auf dem Schulhof und seine heimliche Liebe zu Nele verschweigt er lieber. Mütter müssen nicht alles wissen.
Während sich die beiden am Küchentisch über den Tag unterhalten, kann Katharina ein Gähnen nicht unterdrücken. Trotz ihrer Müdigkeit und trotz der Tatsache, dass kürzlich erneut eine Beziehung in die Brüche gegangen ist, scheint sie jedoch guter Dinge zu sein. Katharina ist kein Typ, der zurückschaut. Sie blickt nach vorn und plant immer wieder Überraschungen für ihren Sohn.
Sie sitzen sich in der Küche am Tisch gegenüber, als Katharina strahlend herausplatzt: »Übrigens Jan, ich habe tolle Neuigkeiten!«
Jan reißt die Augen auf. »Echt? Was denn?«, fragt er.
»Wir fahren in den Ferien nach Mallorca. Wir können mal Urlaub gebrauchen. Findest du nicht auch?«
Jan springt vom Stuhl auf. »Ja! Yippie!«, ruft er. »Wir fahren nach Mallorca.«
»Weißt du eigentlich, wo das liegt?«, fragt Katharina.
»Ne, mir egal«, schreit Jan und tanzt wie wild in der Küche umher.
Es ist ihm völlig egal, wo Mallorca liegt. Hauptsache Urlaub mit seiner Mutter. Jan war noch nie im Urlaub. Und jetzt darf er ganz allein mit ihr fahren.
Katharina hat die Tickets bereits besorgt und ein kleines Hotel ausgesucht. Schon bald soll es losgehen. Der Urlaub wird ihnen guttun. So können sich beide auf die neue Lebenssituation einstellen.
2.
Ich lege meine Notizen zur Seite, die ich mir bei meinem letzten Gespräch mit Jan gemacht habe, und schaue aus dem Fenster meines Hotels. Was es wohl für ein Kind bedeutet, wenn es mehrmals eine männliche Bezugsperson verliert?
Auch wenn er darüber mit mir nicht ausführlicher sprechen will, bin ich fest davon überzeugt, dass Jan nach dem zweiten Verlust einer Vaterfigur etwas zurückhaltender mit seinen Gefühlen umgegangen ist. Immer wieder lässt er sich auf einen vermeintlichen Vater ein, dann verschwindet dieser erneut aus seinem Leben.
Jans leiblicher Vater war dreißig Jahre alt, als sein Sohn zur Welt kam. Die Beziehung zu ihm war nicht sehr eng, da das Verhältnis zwischen Katharina und seinem Vater sehr schlecht war. Trotzdem war er doch ein Vater, der durch seinen tödlichen Unfall keine Chance mehr hatte, seiner Vaterrolle nachzukommen. Aber auch für Jan gab es keine Chance mehr, eine Beziehung zu seinem leiblichen Vater aufzubauen.
Umso schöner, wie warmherzig Jan von seiner Mutter erzählt. Sie hat immer versucht, das Beste aus ihrem Leben zu machen, hat ihm stets das Gefühl gegeben, dass sie für ihn da ist. Besonders die Urlaubsreise nach Mallorca ist Jan in guter Erinnerung geblieben.
• • •
»Mama, Mama! Ich seh schon was!«, ruft Jan aufgeregt.
Seit sie gestartet sind, haftet seine kleine Nase am Fenster des Flugzeuges. Jede Bewegung und Veränderung wird von ihm staunend zur Kenntnis genommen. Katharina sitzt neben Jan und versucht, ein Buch zu lesen. Auch sie ist aufgeregt und freut sich riesig auf ihren Urlaub. Jans Begeisterung ist ansteckend. Liebevoll beobachtet sie, wie er alles lebhaft kommentiert.
Endlich auf Mallorca angekommen, fahren sie mit einem kleinen Bus über holprige Straßen zu ihrem Hotel. Spannende zwei Wochen liegen vor den beiden. Sie besichtigen die Insel mit einem Mietwagen oder mit dem Bus. Manchmal liegen sie auch einfach nur faul am Strand herum. Jan baut Sandburgen und genießt das freie Leben mit seiner Mutter. Ein Highlight für Jan in diesem Urlaub ist die Fahrt mit der Kutsche durch Cala Millor. Fasziniert schaut er auf die zwei Pferde, die brav die Kutsche ziehen.
»Jan, du musst dir die Stadt ansehen«, meint seine Mutter.
Aber Jan hat nur Augen für die Pferde. Ob sie wohl genug Wasser bekommen bei der Hitze? Und ob die vielen Leute auf der Kutsche nicht zu schwer sind für sie?
Die Faszination für Pferde scheint in der Familie zu liegen. Katharina war als Kind begeisterte Reiterin. Mit zehn Jahren besaß sie schon ihr eigenes Pferd, um das sie sich täglich kümmern musste.
Aber Jan denkt auch an seine zwei Katzen zu Hause. »Mama, unsere Katzen könnten die Kutsche nicht ziehen, oder?«
Katharina lacht. »Nein, sie sind ja keine Lasttiere«, erwidert sie.
»Was sind Lasttiere?«, fragt Jan.
»Das sind Tiere, die Lasten ziehen können.«
»Aber was sind dann Katzen?«
Jan lässt nicht locker. Nur weil Pferde Lasttiere sind, müssen sie doch nicht so schwitzen.
»Katzen sind Haustiere. Sie machen den Menschen Freude«, erklärt Katharina.
Schon seit Jan denken kann, leben Katzen bei der Familie. Er ist mit ihnen aufgewachsen, und er liebt sie. Oft liegt eine der Katzen in seinem Bett oder auf der Couch in seinem Zimmer.
Jan gibt sich mit der Antwort seiner Mutter zufrieden. Sie fahren die Küstenstraße entlang, und er kann die Lichter, die sich im Meer spiegeln, sehen und das bunte Treiben im Städtchen. Er kuschelt sich an seine Mutter und ist glücklich.
So glücklich wie nie wieder im Leben.
Einige Tage später stürmt Jan aufgeregt ins Hotelzimmer. »Mama! Mama! Du musst dir unbedingt meine Sandburg mit Wassergraben ansehen!«, ruft er und bleibt dann irritiert stehen. Seine Mutter liegt weinend auf dem Bett. »Mama, was ist los?« Sein Gesicht verfinstert sich. Er will nicht, dass seine Mutter weint.
»Meine EC-Karte funktioniert nicht. Was sollen wir denn machen ohne Geld?«, erwidert sie verzweifelt.
Katharina erzählt, dass sie nur schnell am Geldautomaten Geld abheben wollte, aber der wollte ihre Karte nicht akzeptieren. Dann ist sie zum nächsten Automaten gelaufen und wieder zum nächsten, und immer erschien der gleiche Text auf dem Display: Diese Karte ist nicht funktionsfähig.
Was für ein schreckliches Gefühl, plötzlich ohne Geld dazustehen, und dann auch noch in einem fremden Land. Hat womöglich das Krankenhaus vergessen zu überweisen? Oder ist die Karte defekt?
Hemmungslos weinend liegt die Mutter da. So klein Jan auch ist, er spürt, dass es nicht nur wegen des Geldes ist, auch wegen all der schwierigen Dinge, die die letzten Jahre über sie hereingebrochen sind. Katharina fühlt sich alleingelassen.
Jan steht da mit seinem kindlich zornigen Gesicht. Er ist entsetzt über die traurige Mutter.
»Wer war das?«, fragt er. »Wer hat deine Karte kaputt gemacht?« Rasch greift er zu seiner Wasserpistole, rennt ins Bad, um sie zu füllen, und steht nun kampfbereit vor Katharina. »Den mach ich fertig!«, ruft er.
Katharina muss lachen. »Du kleine Kämpfer meinst wirklich, du könntest mich mit der Wasserpistole retten?«
Ja! Jan jubelt innerlich. Er hat es geschafft, dass seine Mutter wieder bessere Laune bekommt.
»Du hast recht, Jan«, sagt sie entschlossen. »Weinen hilft nicht. Wir müssen etwas unternehmen.«
Sie nimmt ihren Sohn in den Arm, und gemeinsam gehen sie in die Stadt zu einer großen Bank. Dort stellt sich heraus, dass die EC-Karte nur verschmutzt war.
»Gott sei Dank!«, ruft Katharina, als der Geldautomat endlich Geld ausspuckt. »Jetzt haben wir uns aber ein Eis verdient.«
Der Eissalon liegt direkt am Meer, und Jan verschlingt ein Bananensplit mit viel Schokoladensoße.
»Danke, Jan!«, sagt Katharina liebevoll. »Du bist mein kleiner Retter.«
3.