Anstößige Bilder - Michael Hutter - E-Book

Anstößige Bilder E-Book

Michael Hutter

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Beschreibung

Die Kunst der Mehrdeutigkeit "Nach einer logischen Sekunde der Anarchie stellt sich unaufhaltsam Ordnung wieder her, und die Frage kann nur sein, ob die Entwicklung kontrolliert werden kann." (Niklas Luhmann) Dieses Motto stellt Michael Hutter seiner systemtheoretisch basierten umfassenden Untersuchung der Entstehung und Eskalation des Skandals um die 15. Ausgabe der Kasseler Kunstschau im Jahr 2022 voran. Die Antisemitismusvorwürfe gegenüber Mitwirkenden und Organisatoren haben zu einer materialreichen Debatte darüber geführt, ob die beanstandeten Bildwerke intendierte antisemitische Botschaften enthielten oder ob auch andere Deutungen plausibel sind. Michael Hutters Studie verfolgt die Vorgeschichte der vier anstößigen Fälle in den kulturhistorischen Kontexten des Israel-Palästina-Konflikts, des indonesischen Freiheitskampfes und der judäo-christlichen europäischen Geschichte. Die vielbeachteten Deutungsdebatten, die der Skandal um die documenta fifteen medial ausgelöst hat, werden in unterschiedlichen "Gesellschaftskampfspielen" rekonstruiert: in den Leitmedien der politischen Öffentlichkeit, in den Diskursen der Kunstwelt, im Streit um alternative Wirtschaftsformen und in diversen Disziplinen der Sozialwissenschaft. Das Buch ist ein starkes Plädoyer für die Relevanz von Mehrdeutigkeit in einer multipolaren Weltgesellschaft. Der Autor: Michael Hutter, Dr. rer. pol.; Ökonom und Soziologe; Studium an der University of Washington in Seattle und Habilitation an der LMU München; 1987–2007 Leitung des Lehrstuhls für »Theorie der Wirtschaft und ihrer gesellschaftlichen Umwelt« an der Universität Witten/Herdecke; 2008–2014 Direktor der Abteilung »Kulturelle Quellen von Neuheit« am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) und Professor für »Wissen und Innovation« am Institut für Soziologie der Technischen Universität Berlin; heute Professor Emeritus am WZB.

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Seitenzahl: 431

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Carl-Auer

Michael Hutter

Anstößige Bilder

Gesellschaftskampfspiele um den documenta-fifteen-Skandal

2025

Mitglieder des wissenschaftlichen Beirats des Carl-Auer Verlags:

Prof. Dr. Dr. h. c. Rolf Arnold (Kaiserslautern)

Prof. Dr. Wolf Ritscher (Esslingen)

Prof. Dr. Dirk Baecker (Dresden)

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Prof. Dr. Kersten Reich (Köln)

Prof. Dr. Michael Wirsching (Freiburg)

Dr. Rüdiger Retzlaff (Heidelberg)

Prof. Dr. Jan V. Wirth (Meerbusch)

Umschlaggestaltung: B. Charlotte Ulrich

Umschlagfoto: Michael Hutter

Satz: Drißner-Design u. DTP, Meßstetten

Printed in Germany

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Leck

Erste Auflage, 2025

ISBN 978-3-8497-0587-9 (Printausgabe)

ISBN 978-3-8497-8536-9 (ePUB)

© 2025 Carl-Auer-Systeme Verlag

und Verlagsbuchhandlung GmbH, Heidelberg

Alle Rechte vorbehalten

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

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Carl-Auer Verlag GmbH

Vangerowstraße 14 • 69115 Heidelberg

Tel. +4962216438-0 • Fax +4962216438-22

[email protected]

Inhalt

1 Eine kurze Geschichte des documentafifteen-Skandals

2 Der Skandal als natürliches Experiment

Einordnung in eine Theorie ernster Gesellschaftskampfspiele

Der Anfang: ein Zug im Weltkunstspiel

Der Resonanzraum des Skandals: eine Vorschau

I Die vier Fälle, in ihren drei kulturhistorischen Kontexten

3 Der Palästina-Israel-Konflikt erzeugt seine Bilder

Die Geschichten der drei anstößigen Werkserien

Archives des luttes des femmes en Algérie

Subversive Film

The Question of Funding

My home is your acre. Die Geschichte eines Territorialkonflikts

4 Bildfindungen und -erfindungen im indonesischen Straßenkampf

Das Banner von Taring Padi: Entstehung, Inhalt und Wirkung

500 Jahre Machtspiele im Nusantara-Archipel

5 Europas jüdisch-christliche Gesellschaftsgeschichte – im Zeitraffer

1500 v.Chr.–70n. Chr.: Von Abraham bis zur Eidgenossenschaft Juda

70 n. Chr.–1812: Das Wunder der unzerstörbaren Netzwerkgesellschaft

1812–2022: Antisemitismus, vor und nach dem Holocaust

Israelkritik und Antisemitismus in den drei Kulturkreisen

Deutscher staatlicher Umgang mit Antisemitismus

II Resonanzen des Skandals in den Gesellschaftskampfspielen

6 Resonanzen im deutschen politischen Meinungsspiel

Wie der politische Spielstand korrigiert wird

Phase 1: Vor der Ausstellung (17.5.2019–17.6.22)

Phase 2: Der Scherbenhaufen (18.6.–16.7.22)

Zwischenbetrachtung: Rote und blaue Taktiken

Phase 3: Ausweitung der Kampfzone (17.7.–30.9.22)

Zwischenbetrachtung: Machtverschiebungen

Phase 4: Der Nachhall (1.10.22–1.4.24)

Schlussbetrachtung: Die Documenta als Werkzeug

7 Resonanzen im globalen und im nationalen Kunstspiel

Das Spiel der kollektiv geteilten Fiktionen

Resonanzen bis Ende 2022

Nationale Resonanz

Zwei Feuilletonbeiträge

Drei Kunstzeitschriften

Anglo-amerikanische Resonanz

Resonanzen nach 2022

Der Abschlussbericht

Vier Mitproduzent:innen im Gespräch

Stimmen aus vier Feldern, inner- und außerhalb der Produktion

Vier Rückblicke beteiligter Kollektive

Schlussbetrachtung: Neue Spielräume

8 Resonanzen im lokalen und im globalen Wirtschaftsspiel

Kampfebenen und -linien im Ressourcenspiel

Das Unternehmen: die »gGmbH«

Die Unternehmung: »Lumbung One«

Anti-Kapitalismus: Kunst als Widerstand und als Kritik

Schlussbetrachtung: Schwache Irritationsspuren

9 Resonanzen im eigenen, dem Wissenschaftsspiel

Ist das wahr?

Antisemitismusforschung

Regionale Kulturwissenschaften

Rechtswissenschaft

Kommunikationswissenschaften

Kunstwissenschaft

Gesellschaftswissenschaft

10 Einige Folgen und eine Schlussbetrachtung

Wie ging es weiter?

Schlussbetrachtung

Danksagung

Abbildungsverzeichnis

Literatur

Über den Autor

1 Eine kurze Geschichte des documentafifteen-Skandals

»Nach einer logischen Sekunde der Anarchie stellt sich unaufhaltsam Ordnung wieder her, und die Frage kann nur sein, ob die Entwicklung kontrolliert werden kann.«

Niklas Luhmann

Auch die Weltkunst hat ihre Olympischen Spiele, sie hat dafür sogar zwei Formate. Das ältere ist das Format der Biennalen in Venedig. Seit 1895 werden dort im zweijährigen Abstand internationale Kunstausstellungen organisiert. Nach dem Vorbild der Weltausstellungen folgt die Auswahl der gezeigten Werke über Länderpavillons, mit jeweils eigenen Selektionsverfahren. Seit 1993 wird ein Chefkurator, oder eine Chefkuratorin, bestellt, der oder die neben den Länderausstellungen eine Ausstellung mit eigener Themenstellung ausrichten darf. Diese Neuerung hat mit dem Erfolg der Documenta zu tun, eines zweiten Ausstellungsformats, das 1955 in Kassel initiiert wurde, sehr rasch internationale Beachtung fand und 1972 dem Ausstellungsmacher Harald Szeemann die Bühne bot, um das Konzept der Themenausstellung durch einen allein verantwortlichen Kurator mit großem Erfolg, und unter heftiger Kritik, umzusetzen. Wenn auch die documenta-Ausstellungen seit 1972 nur alle fünf Jahre stattfinden, so ist dieses Konzept nicht nur in Venedig aufgegriffen worden, sondern auch von den zahlreichen kleineren Biennalen, die inzwischen rund um den Erdball veranstaltet werden.1

Während Venedig eine der glanzvollsten Stadtgeschichten Europas aufweist und durch seine Lagunenlage einen einzigartigen Architekturkomplex entwickelt hat, blieb Kassel über Jahrhunderte hinweg landgräflich-hessische Residenzstadt, in der allein einige barocke Platzanlagen und Gebäude architektonischen Ehrgeiz erkennen lassen. Einer dieser Bauten ist das Fridericianum, erstes öffentlich zugängliches Museum in Europa und nach seinem Bauherrn, Landgraf Friedrich II. von Hessen, benannt. In den zerbombten Ruinen des Museums organisierten Arnold und Marlou Bode 1955 die erste »Documenta« als Nebenbühne einer Bundesgartenschau. Trotz der Reizlosigkeit einer kriegszerstörten Provinzstadt nahe der innerdeutschen Grenze erwies sich das Ausstellungsformat als tauglich, um insbesondere die nordamerikanischen Neuheiten der New York School und der Pop-Art in Szene zu setzen. Mit Szeemanns documenta V war die Reputation der Serie als »Weltkunstmuseum der 100 Tage« etabliert. Wenn auch die darauffolgenden Editionen eher deutsche Schwerpunkte und mit Joseph Beuys einen besonders deutschen Künstlerstar hatten, so stieg das internationale Interesse dennoch ständig an. Catherine David (1997) und Okwui Enwezor (2002) sorgten mit ihren Konzeptionen dafür, dass die Documenta erneut an Strahlkraft gewann: David öffnete die Ausstellung für Kunsttheorie, und Enwezor verband sie mit dem Kunstgeschehen außerhalb des etablierten Kunstmarkts. Tausende von Journalisten, aus Europa, aus Nordamerika und zunehmend auch aus Asien berichteten, und die Zuschauerzahl näherte sich der Millionengrenze. Nun brachten nicht mehr prestigereiche Kurator:innen das Ansehen nach Kassel, sondern die documenta bot die Gelegenheit, international Beachtung und Anerkennung zu bekommen. Als Kurator Adam Szymczyk 2017 eine eintrittsfreie Zweitausstellung in Athen veranstaltete, wurde diese kuratorische Geste, deklariert als Zeichen der Solidarität mit dem griechischen Volk, im Kunstdiskurs gewürdigt, auch wenn die Gesellschafter der veranstaltenden gemeinnützigen GmbH vier Millionen Euro Schulden abzutragen hatten.2

Auf diesem Hintergrund fiel es dem Aufsichtsrat der Gesellschaft nicht schwer, prestigereiche Größen aus der internationalen Kunstwelt in die Findungskommission für die Kuration der 15. Edition zu berufen. Sechs Museumdirektoren und -direktorinnen von drei Kontinenten, ein Dokumentarfilmer aus Indien und eine frühere documenta-Kuratorin trafen die Wahl. Das Ergebnis war für diejenigen, die Spielformate wie die Venedig-Biennale und die documenta-Ausgaben beobachten und gelegentlich auch daran teilnehmen, nicht überraschend. Im aktuellen Kunstdiskurs werden Arbeiten geschätzt, die politisches Engagement transportieren, die nicht von individuellen Personen geschaffen wurden, und die aus Weltgegenden stammen, die im abendländisch dominierten Kunstbetrieb bislang ignoriert wurden. Das Kollektiv ruangrupa3 erfüllte alle drei Kriterien. Die Gruppe von etwa fünfzehn Künstlern und Kuratorinnen ist seit 2000 in und um Jakarta aktiv, und versteht künstlerische Arbeit als gemeinsam betriebene, politisch wirksame Kulturarbeit in den armen Bevölkerungsgruppen der indonesischen Hauptstadt. 2016 hatte das Kollektiv bereits das Kunstfestival Sonsbeek’16:transACTION in Arnheim kuratiert.

Die Gruppe aus dem Morgenland enttäuschte die Erwartungen der Juroren nicht, denn ruangrupa machte sich daran, ihr eigenes Konzept unter den Bedingungen der Kasseler Ausstellung umzusetzen – auch als dazu die Einschränkungen der deutschen Coronamaßnahmen kamen. Zwei Strategien setzten konträr zu den gebräuchlichen Praktiken an. Die erste verallgemeinerte den Zusammenhang eines Kollektivs auf alle beteiligten Kunstgruppen, und darüber hinaus auf verschiedenste Gruppen und Vereine der Zivilgesellschaft in Kassel. Diese lumbung genannte Praktik des Gesprächs und der gemeinsamen Entscheidung sollte erkennen lassen, dass künstlerische Werke die Summe der Beiträge von Vielen sind. Die zweite Strategie teilte das Verfügungsrecht über das Budget der Kuratoren unter 67 teilnehmenden Mitgliedern und Künstler:innen auf. Diese verwendeten einen Großteil ihres Budgets, um weitere Künstlerkollektive einzuladen. Auf diese Weise trugen etwa 1.500 Personen im Verlauf der 100 Tage zu der Ausstellung bei. Diese Beiträge waren aber nicht dafür gedacht, in konventioneller Weise präsentiert und von den Besuchenden bei ihrem Rundgang beobachtet, eingeschätzt und kommentiert zu werden. Die Beiträge waren vielmehr Dokumentationen bisheriger, früherer Arbeit. In vielen Fällen zeigten auch Kunstobjekte solche Arbeit beispielhaft, aber konsequenter umgesetzt wurde die Konzeption in Archiven. Solche Materialsammlungen wurden in unterschiedlichen Formaten zugänglich gemacht, in Vitrinen und Videos, in Mappen und in Installationen. Für die europäisch geschulten Ausstellungsbesucher:innen war damit eine doppelte Hürde errichtet. Weder waren sie in die Gespräche der lumbung-Gemeinde eingebunden, noch waren sie darauf vorbereitet, sich in Archive einzuarbeiten, von deren Inhalt sie beim Versuch, Dutzende von Spielstätten während weniger Tage oder gar Stunden zumindest zu durcheilen, nur einen oberflächlichen, vorbeihuschenden Eindruck bekommen konnten.

Die Kritik an der Nominierung von ruangrupa setzte mit der Bekanntmachung im November 2019 ein. Man stellte erst den künstlerischen Rang von Kollektiven prinzipiell in Frage, dann deren Kompetenz zur Gestaltung einer Weltausstellung, und mutmaßte politische Absichten, mit denen das Kuratorenteam und die eingeladenen Kunst- und Kulturkollektive handeln würden. Konkret ging es bei diesen Mutmaßungen um Positionierungen zum Israel-Palästina-Konflikt. Die Ausgangsvermutung war, dass ein Kollektiv aus einem asiatischen, durch den Islam geprägten Land Werke zulassen werde, deren Botschaften Zweifel an der Existenzberechtigung des Staates Israel schüren könnten. Als Test wurde von den Kritikern die Nähe zur Netzwerkorganisation BDS gesetzt. Seit der Bundestag im Mai 2019 in einer Resolution BDS-Unterstützung als generell antisemitisch erklärt hatte, war in Deutschland eine ausführliche und sehr kontrovers geführte Debatte zur Wertung von BDS-Nähe gelaufen. Ziel des BDS-Netzwerks ist es, den Staat Israel zum Ende seiner Besatzungspolitik zu zwingen, und Palästinensern gleiche Bürgerrechte zu gewähren. Deshalb organisiert BDS Aufrufe, Israel und seine Institutionen zu (B)oykottieren, zu (D)e-investieren und zu (S)anktionieren. Unscharf bleibt, ob damit von den Unterstützenden des Netzwerks auch ein Ende des Staates Israel gewollt ist.

Nachdem die Kraft solcher Aufrufe im Prestige und in der Anzahl der Unterzeichner:innen liegt, verknüpft eine jede dieser Aktionen Unterstützer mit sehr unterschiedliche Meinungen. Deshalb kann »Nähe zum BDS« belegt werden durch das Unterzeichnen von BDS-Aufrufen, und »antisemitische Gesinnung« bewiesen durch Hinweis auf andere Unterzeichner, die Israels Existenzrecht offen bestreiten. Als die Vorwürfe und deren Zurückweisungen heftiger wurden, sollte das Verhältnis des Postkolonialismus zum Antisemitismus im Mai im Rahmen einer Diskussionsreihe thematisiert werden. Nach öffentlicher Kritik des Zentralrats der Juden in Deutschland an der Ausgewogenheit der eingeladenen Positionen wurde die Reihe abgesagt.

Als die Eröffnung der Ausstellung unmittelbar bevorstand, verlagerte sich die Suche nach Indizien für Antisemitismus und Israelfeindlichkeit auf die gezeigten Arbeiten. Im Dachgeschoss eines Altbaus in Bahnhofsnähe stellte das palästinensische Kollektiv Eltiqa unter anderem eine Serie von Collagen aus, die Fotoaufnahmen der Israelischen Verteidigungsstreitkräfte (IDF) mit Ausschnitten aus kunsthistorisch kanonisierten Werken unter dem Titel Guernica Gaza kombinierten. Die so geäußerte Kritik an der Besatzungspolitik wurde als einseitig abgelehnt, weil sie nicht auf den Terror der Hamas verweist, und als NS-Vergleich, weil israelische Militäroperationen in Gaza mit deutschen Luftangriffen im spanischen Unabhängigkeitskrieg verglichen werden.

Am 18. Juni 2022 wurde die documenta fifteen von Bundespräsident Steinmeier eröffnet. Steinmeier nutzte die Gelegenheit, um von höchster politischer Stelle vor unangemessener Kritik am Staat Israel, sowie vor allen Formen der Herabwürdigung von Juden zu warnen. Die Grenzen der Kunstfreiheit lägen da, wo die Existenz Israels in Frage gestellt sei. Nach der Eröffnung begaben sich die Ehrengäste zum Empfang in das Hallenbad Ost, in dem das indonesische Künstlerkollektiv Taring Padi Arbeiten aus den vergangenen 25 Jahren präsentierte.

Seit der Stadtgestaltung im Barock ist der Friedrichsplatz Kassels zentraler Ort, auch wenn heute eine vierspurige Durchgangsstraße den südlichen, in die Karlsaue übergehenden Teil abtrennt. Dort stellten Taring Padi eines ihrer großen Banner auf. Am darauffolgenden Wochenende sollte das Banner, zusammen mit hunderten, in den Vormonaten geschaffenen Pappfiguren, Teil eines »Re-enactment« werden, bei dem die Zuschauer:innen dieser Aktion einen Eindruck bekommen würden von der Atmosphäre der studentischen Demonstrationsumzüge, die Ende der 1990er Jahre Indonesiens langsame Hinwendung zu demokratischen Herrschaftsformen befördert hatten. Das Banner hatte jahrelang im Depot gelegen und erwies sich als schadhaft, außerdem war das bereitgestellte Gerüst zu schmal. Erst am Abend des 18. Juni, nachdem Ehrengäste und Journalisten abgereist waren, war das Banner People’s Justice aufgehängt.

Noch am selben Tag wurden zwei antisemitisch lesbare Bildelemente in der Gesamtkomposition von etwa 300 Figuren entdeckt. Am Morgen des 19. Juni erreichte Taring Padi diese Nachricht. In Absprache mit der Generaldirektorin wurde das Banner am Tag darauf mit schwarzer Folie verhüllt. Taring Padi sahen darin eine Verwandlung des Werks in ein »Monument of Mourning«, der Trauer darüber, dass ihnen die Entscheidung zur Verhüllung ohne weitere Diskussion aus der Hand genommen war. Der rasch anschwellende Chor empörter Stimmen aus der überregionalen Presse, aus einschlägigen Blogs und aus der Kulturpolitik, veranlasste den Aufsichtsrat der gGmbH, das Banner sofort entfernen zu lassen. Am 22. Juni stand nur noch das leere Gerüst. Das Festival wurde abgesagt. Die Reproduktionen der beiden Bildelemente waren freilich in der Welt. Dabei wurden nicht nur visuelle Wiedergaben der zwei anstößigen Ausschnitte, sondern vor allem sprachliche Umschreibungen für den »Mossad-Mann mit Schweinsgesicht« und den »Juden mit Raffzähnen« verwendet.4

Mit den zwei Bildelementen in People’s Justice konnte nun der Nachweis antisemitischer Gesinnung bei Kuratoren und Kollektiven viel klarer und direkter geführt werden. Es war nicht mehr nötig, darüber zu richten, welche Form der Kritik am Verhalten israelischer Sicherheitskräfte noch zulässig ist, denn in den beiden Figuren war die bildhafte Herabwürdigung von Juden »eindeutig«, wie immer wieder betont wurde. Zudem wiesen die ungewöhnlichen Begleitumstände – die Wahl des zentralen Standorts, die verzögerte Hängung – darauf hin, dass hier absichtlich Judenhass verbreitet wurde. Die Entfernung des Banners war deshalb noch nicht ausreichend. Die Forderungen reichten vom Abbruch der Ausstellung über den Rücktritt der Generaldirektorin bis zum Rücktritt der Bundeskulturministerin.

Der Verweis der Geschäftsführung und einiger Kommentatoren auf die Kunstfreiheit wurde beiseite gewischt. Den Entschuldigungen von Seiten der Kuratoren und der Taring-Padi-Mitglieder wurde die Ernsthaftigkeit abgesprochen. Sie hatten erklärt, von der antisemitischen Lesart der beiden Bildelemente selbst überrascht gewesen zu sein. Der mutmaßlich für die beiden Figuren verantwortliche Künstler war verstorben, man bedaure die so ausgelösten, für jüdische Menschen besonders schmerzhaften Empfindungen. Die intendierte Botschaft des Bildes sei, im Kontext der indonesischen Demokratiebewegung, eine ganz andere gewesen, nämlich Protest gegen militärische Gewalt und gegen kommerzielle Ausbeutung. Tatsächlich ließ sich in den zahlreichen von Taring Padi mitgebrachten Werken kein weiterer Hinweis auf antisemitische Botschaften finden.5

Mitte Juli trat die Generaldirektorin zurück, der ehemalige Geschäftsführer der Bundeskulturstiftung übernahm. Im Verlauf der Ausstellung tauchten zwei weitere Fälle auf, in denen antisemitische Gesinnung unterstellt wurde. Ende Juli wurden im Archiv einer algerischen Zeitschrift für Frauenrechte Karikaturen von israelisch-jüdischen Soldaten entdeckt, und im September forderte das inzwischen eingesetzte »Gremium zur fachwissenschaftlichen Begleitung«, dass Tokyo Reels – eine Sammlung palästinensischer Propagandafilme aus den 1980er Jahren, die das belgisch-palästinensische Kollektiv Subversive Film gesammelt und restauriert hatte – zu entfernen oder zumindest ausführlich zu kontextualisieren sei. Zu diesem Zeitpunkt waren die Positionen aber bereits weit auseinandergetrieben. Die Mitglieder der Findungskommission veröffentlichten ein Statement, in dem sie den Kritikern der Kuratoren unterstellten, mithilfe des Antisemitismusvorwurfs von legitimer Kritik an israelischer Politik ablenken zu wollen. Die Kuratoren, und mit ihnen die Künstler:innen, die sich ebenfalls als Teil der veranstaltenden lumbung community verstanden, fühlten sich nicht ernstgenommen und für unmündig gehalten. Sie erklärten sich diese Abwertung mit rassistischem Überlegenheitsdünkel. Das Statement »We are sad, we are angry« vom 10. September, unterzeichnet von 109 Teilnehmer:innen, wies die Forderung nach Kontextualisierung der Propagandafilme als Zensur zurück und verwahrte sich insbesondere gegen den Vorwurf des Fachgremiums, man habe eine »anti-zionistische, antisemitische und antiisraelische Stimmung« gefördert. Im Gegenteil, eine derartige Stimmung sei erst durch die konstruierten, ständig wiederholten Anschuldigungen heraufbeschworen worden. Das Existenzrecht Israels wird klar bestätigt: »The question is not Israel’s right to exist, the question is how it exists.«6

In den Monaten nach dem Ende der documenta fifteen wurden, etwa in Amsterdam und in Hamburg, Kolloquien angesetzt, in denen die Ereignisse und ihre Kontexte, vor allem die Geschichte der indonesischen Revolution und die des Antisemitismus in Europa, thematisiert wurden. Anfang Februar 2023 veröffentlichte das fachwissenschaftliche Gremium seinen Abschlussbericht, in dem die schon im September formulierte Kritik ausführlich belegt wurde. Im November trat die für die 16. Edition ausgewählte Findungskommission zurück, nachdem ihrem indischen Mitglied vorgeworfen worden war, einen antisemitischen BDS-Aufruf unterzeichnet zu haben. Anfang Juli 2024 wurde eine neue Findungskommission präsentiert.

Diese Schilderung des Verlaufs der Ereignisse ist grob und unvollständig. Sie dient vor allem dazu, den Stellenwert des »Moments der Anarchie« hervorzuheben. Zweifellos hätten auch ohne die zwei Figuren in People’s Justice Vorwürfe der überzogenen Israelkritik und des Antisemitismus die Ausstellung begleitet. Aber erst die Kombination von Zeitpunkt, Ort und einfacher sprachlicher Beschreibung der anstößigen Figuren beförderte den Skandal in die Sphäre der deutschlandweiten Presseöffentlichkeit und der internationalen Berichterstattung. Der »Moment der Anarchie«7 dauerte im Fall der d158 drei Tage – vom 18. bis zum 20. Juni –, während denen unklar war, wie mit dem Werk umgegangen werden würde. Dann war das Banner entfernt und die Deutungshoheit über People’s Justice, zumindest im deutschsprachigen Raum, gewonnen. Die zwei entdeckten Bildelemente waren moralisch empörend, alle Erklärungen und Entschuldigungen waren haltlos, naiv oder hinterlistig.

»Momente der Anarchie«, in denen gültige Regeln des angemessenen Verhaltens verletzt werden, werden in der Kunstwelt seit gut einem Jahrhundert absichtlich geschaffen. Nach einem Skandal, provoziert oder ausgelöst durch eine eher zufällige Konstellation verschiedenster Faktoren, wird entlang neuer Ordnungskriterien selektiert, was als wertvoll oder wertlos oder gar empörend gilt. Im vergangenen Jahrhundert beschränkte sich die gewollte Grenzüberschreitung der »Avantgarde« auf Konventionen innerhalb der Kunstwelt, aber seitdem Kunstwerke wirtschaftliche und politische Verhältnisse zu ihrem Inhalt machen, können sie auch in diesen Welten Irritationen auslösen. Im Fall des documenta-fifteen-Skandals erreichten die Schockwellen auch Wissenschaftler:innen, die mit der Methodik ihrer jeweiligen Disziplin das Ereignis und seine Folgen zu erklären suchen. Diese Studie ist Teil der gesellschaftswissenschaftlichen Reaktion auf die Irritation, die der Skandal ausgelöst hat.

So könnte, in der Reflexion über den Skandal, das gegenseitige Unverständnis als Pluralität von Sinnzuschreibungen verstanden und dadurch fassbarer und diskutierbarer gemacht werden. Die Pluralität bezöge sich nicht nur auf die im globalen Nordwesten praktizierte funktionale Differenzierung in der Gesellschaft, sondern auf die Differenz zu Gesellschaften, deren Entwicklung anders verlaufen ist. Das könnte zu einer Umgangsweise mit Sinndifferenzen führen, bei der die eigene, hegemoniale Weltbeschreibung nicht mehr als Maß aller Dinge gilt. Dazu braucht es aber mehr theoretisches Rüstzeug als allein die Rede von Momenten der Anarchie in einer Welt pluraler Sinnzuschreibungen.

  1 Vgl. Green and Gardner (2016).

  2 Die Geschichte der Bedeutungsgewinne der documenta-Serie habe ich genauer untersucht in Hutter (2022).

  3 Der Name verbindet die Wörter ruang (Raum/Zimmer) und rupa (Erscheinung/Gestalt).

  4 Dazu viel ausführlicher in den späteren Kapiteln.

  5 Die Intensität, mit der die Suche nach weiteren Belegen betrieben wurde, zeigt der Fall des Banners All mining is dangerous. In dessen Figurentableau wurde die traditionell islamische Kopfbedeckung einer der Ausbeuterfiguren irrtümlich für eine Kippa gehalten. Dazu mehr in Kapitel 4.

  6 https://www.e-flux.com/notes/489580/we-are-angry-we-are-sad-we-are-tired-we-areunited-letter-from-lumbung-community [07.08.2024].

  7 Luhmann benutzte die Formulierung 1975 in einem Vortrag zu »Strukturveränderungen durch Interaktionen« (Luhmann 2011, S. 12).

  8 Ich verwende die Bezeichnung »d15« als neutrale Kennzeichnung einer Edition in der Ausstellungsserie »documenta«. Dagegen ist documenta fifteen eine Marke, die die d15 gegenüber den Vorgänger- und Folgeeditionen einzigartig macht. In Zitaten wird die jeweils verwendete Schreibweise beibehalten.

2 Der Skandal als natürliches Experiment

Einordnung in eine Theorie ernster Gesellschaftskampfspiele

Die Darstellung des Stroms der Mitteilungen, der Ereignisse und der Handlungen, die mit dem d15-Skandal zu tun hatten, ist skizzenhaft geblieben. Diejenigen, die ihre eigene Erinnerung an und Meinung zu den Ereignissen haben, könnten abschätzen, welche Wertung der Ereignisse meine Auswahl verrät. Gleichwohl, das Konfliktereignis ist als ein Ganzes umrissen. Einzelne seiner Episoden und Dimensionen werden im Folgenden noch genauer untersucht werden.

Ich werde den Skandal als ein »natürliches Experiment« betrachten. Natürliche Experimente werden in den Sozialwissenschaften verwendet, wenn gesellschaftliche Vorgänge zu komplex und zu langwierig sind, als dass man sie unter naturwissenschaftlichen Laborbedingungen replizieren könnte. Man sucht also nach Brüchen in der historischen Entwicklung, bei denen sich eine relevante Randbedingung veränderte, wie etwa in der deutschen Geschichte durch den Fall der Mauer. Aber auch kleinere Konfliktereignisse haben Auswirkungen. Durch sie werden soziale Zusammenhänge, die im alltäglichen Lauf der Kommunikation ungesagt bleiben, nicht nur zur Sprache, sondern sogar in Schriftform gebracht. Der d15-Skandal hat eine solche Flut von schriftlichen Äußerungen generiert. Deshalb eignet er sich als natürliches Experiment.

Jedes Experiment braucht eine Theorie, in deren Kategorien das gewonnene Material sinnvoll interpretiert werden kann. Ich verwende dazu – mit einigen Erweiterungen – die soziologische Systemtheorie. In diesem Beobachtungsraster ist Gesellschaft ein ständiger Strom von Kommunikationsereignissen, oder Mitteilungen. In dem Strom ereignen sich Verknüpfungen von Mitteilungen, in denen eine je eigene Logik und eine autonome Vorstellung von Wert Gültigkeit hat. Die so gebildeten Sinnwelten nannte Luhmann »Funktionssysteme«, ich habe dafür den Begriff der »ernsten Gesellschaftsspiele« vorgeschlagen.1

Die Vermutung, dass sich im Zuge der Evolution Verdichtungen gesellschaftlicher Kommunikation gebildet haben, innerhalb derer nach eigenen Wertvorstellungen miteinander umgegangen wird, hatte schon Max Weber formuliert. Er erwähnt 1920 in der »Zwischenbetrachtung« seiner Religionssoziologie sechs solche »Wertsphären«,2die er auch »Sphären der Weltablehnung« nennt, denn in ihnen gelten die sphäreninternen Werte mehr als die der Restgesellschaft. Ähnlich eigengesetzlich sind die »Spielfelder« konzipiert, die Pierre Bourdieu identifiziert hat.3 Er unterscheidet das dominante Feld der politökonomischen Macht von den Feldern der Kunst und der Wissenschaft, auf denen um Selbstbestimmtheit gekämpft wird. Auf diesen beiden Feldern spielen die Akteure um Einsätze, deren Wert ihnen im Zusammenhang der Spielregeln des eigenen Spiels vermittelt wird. Niklas Luhmann löste die Beobachtung von den menschlichen Akteuren und konzentrierte sich auf die Wahrnehmungsformen, die es ermöglichen, dass im Fluss der Kommunikation ein Sinn und ein Gefühl von Geschlossenheit entsteht, von Differenz zu einer Außenwelt. Das geschieht schon in einfachen Unterhaltungen, ist als Mitgliedschaft stabilisiert in Organisationen, und wird ermöglicht durch den Einsatz von »symbolisch generalisierten« Medien, mit denen, beispielsweise, religiös, wirtschaftlich oder erotisch kommuniziert wird.4 Auf allen drei Ebenen erfüllt das Geschehen die Definition eines Spiels: Spieler, die mit unterschiedlichen Fähigkeiten und Ressourcen ausgestattet sind, kämpfen nach meist informellen und impliziten Regeln um einen Einsatz, um das, »was auf dem Spiel steht.« Das Ergebnis der Kämpfe in jeder Spielrunde ist unsicher – genau das macht den Reiz des Spiels aus – und äußert sich affektiv in Jubel oder Enttäuschung. Spiele sind selbstorganisierend, denn ihr Ablauf ergibt sich situativ aus der Gesamtkonstellation der Mitspielenden. Spiele verändern sich im Lauf der Zeit, sowohl durch Regeländerungen und neue Spielzüge von innen als auch unter dem Druck durch Irritationen von außen, meist aus anderen ernsten Spielen der Gesellschaft.

Es ist hilfreich, zwischen »lustigen« und »ernsten« Spielen zu unterscheiden. Lustige Spiele haben Anfang und Ende, und beide werden, ebenso wie die Einsätze, von den Mitspielern bestimmt. Die inhärente Unsicherheit über das Ergebnis einer Spielrunde dient der Unterhaltung, das Spiel fesselt die Mitspielenden, beim Publikumssport sogar Millionen von Beobachtern. Das sind die Spiele, mit denen der Begriff »Spiel« gängigerweise assoziiert wird und die Johan Huizinga als wohl erster in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung erkannt und in ihren Eigenschaften bestimmt hat.5Die ernsten Spiele dagegen haben keinen Anfang und kein Ende, man wird in sie hineingeboren, wie man in die lokalen Sprachspiele hineingeboren wird,6und sie werden in eine den Spielern unbekannte Zukunft hinein weitergespielt. In diesen großen, Jahrhunderte überspannenden Wertspielen treten Spieler auf, die mit unterschiedlichem, oft über Generationen akkumuliertem Wertkapital ausgestattet sind, und die ihr eigenes Interesse am Spielgewinn durch Allianzen mit Verbündeten fördern und durch Kämpfe – mit unsicherem Ausgang – gegen Widersacher durchsetzen. Deshalb sind die ernsten Spiele Kampfspiele, in denen ständig um Siege gerungen und über Regelverletzungen gestritten wird.

Die ernsten Spiele sind historisch so erfolgreich gewesen, weil sie dabei helfen, sich in einer Gesellschaft über existentielle Probleme des Zusammenlebens zu verständigen. Dieses Zusammenleben ist ständig von natürlichen und von menschlichen Kräften bedroht, die für alle zugänglich und beobachtbar sind und von unzugänglichen Kräften, die in der Vorstellung, der Imagination, den Illusionen der Mitspieler existieren. Auch wenn die Forschungslage an diesem Punkt noch keine abschließende Deutung erlaubt, so scheinen sich in der Weltgesellschaft ernste Spiele rund um vier existentielle Probleme entwickelt zu haben, jeweils von ihrer zugänglichen und ihrer unzugänglichen Seite: Wer hat die sichtbare und wer die unsichtbare Macht? Wie wird bei Konflikten entschieden, was richtig ist, im öffentlichen und im familiären Raum? Was gilt als wertvoll, in messbaren Einheiten, oder nach gefühlsmäßigen Qualitätskriterien? Was ist wahr, in der beobachtbaren Welt und in der sich selbst beobachtenden Welt des Denkens? Die Antworten, die in den Spielen auf diese Fragen gefunden werden, ergeben auf der zugänglichen Seite rationalen Sinn, sie gelten als vernünftig und beständig. Auf der unzugänglichen Seite ergeben sie emphatischen Sinn, sie sind begeisternd und flüchtig.7

Ernste Spiele simulieren im Einsatz ihrer spezialisierten Medien die jeweilige Problemlage. Schon prähistorische nomadische und saisonal sesshafte Gesellschaften operierten in zwei Sinnwelten: einer, in der die Machtverhältnisse in der diesseitigen und einer zweiten, in der die Einflüsse aus einer jenseitigen Welt untereinander verhandelt werden. Die erste entwickelte sich weiter zur dynastischen Herrschaft, gestützt durch das Medium des Glaubens an die Gottgewolltheit dieser Lösung. Im vergangenen Jahrtausend haben sich, zuerst in Europa, weitere ernste Spiele ausdifferenziert: Das Spiel des Rechts, mit seiner Inszenierung von Urteilssprüchen, während im Medium der familiären Liebe entschieden wird, wer bei Tod und Krankheit für wen zu sorgen hat. Kreditgeld, das Wertmedium der Wirtschaft, wird zwar schon seit der Antike verwendet, aber erst mit der Neuzeit, also seit dem 16. Jahrhundert, wird die Leistung, eine Gesellschaft mit Waren zu versorgen, auch in den schon etablierten ernsten Spielen anerkannt. Ähnliches gilt für die Spiele der Musik, Bild- und Wortkunst, in denen Werke entstehen, denen eine emphatische Qualität zugesprochen wird. Die Produktion fiktiver Welten und ihr Wert wurden nur zögerlich »ernst« genommen, und ist noch heute umstritten. Noch später setzte sich durch, über die Phänomene der physischen und psychischen Welt im Medium der Wahrheit, mit festen Prüfungsregeln, zu kommunizieren. Die zugängliche Welt wird erst seit einigen hundert Jahren in den Disziplinen der Naturwissenschaft erforscht, während die Versuche, in die unzugängliche Welt des Denkens einzudringen, in den zahlreichen Disziplinen der Geistes-, Kultur- und Gesellschaftswissenschaften8 stattfinden, die oft noch heute in einer »philosophischen Fakultät« vereint sind.9 Jedes dieser ernsten Spiele, über die sich unsere Gesellschaft mit Herrschaft, Regeln, Kredit und Wahrheiten versorgt, hat im Lauf der Jahrhunderte eigene Institutionen und Organisationen entwickelt, in denen ihre zukünftige Spielerelite ausgebildet wird. Das wird dadurch erleichtert, dass wichtige, also in den einzelnen Spielen hoch gewertete Ereignisse sehr konzentriert an wenigen spezialisierten Orten stattfinden, meist in Städten, in denen Parlamente, Kirchen, Gerichte, Warenbörsen, Museen und Universitäten den Rahmen für die nächsten Spielrunden bieten.

Diese Gesellschaftsspiele, in denen um ganz unterschiedliche Einsätze gespielt wird, geraten mit ihren Spielzügen auch aneinander und ineinander. Die Spieler kombinieren in ihren Mitteilungen untereinander die Werte verschiedener Spiele – sie spielen beispielsweise gleichzeitig auf dem politischen, künstlerischen und wissenschaftlichen »Klavier«. Das wird in den Spielen oft als Störung registriert, und Praktiken der Abwehr werden eingesetzt. Aber Irritationen, wahrgenommen als Gefühle der Verwunderung – möglicherweise gesteigert zur Empörung – oder der Bewunderung für einen gelungenen Spielzug, treiben die Spieler zum Handeln und werden so Teil der Evolution des eigenen Spiels, und der Ko-Evolution unserer weltweiten Gesellschaft.10

Diesen Gesellschaftstyp verbreiteten europäische Entdecker, Eroberer und Siedler:innen auch auf anderen Kontinenten. Lokale Gesellschaften wurden umstandslos überzogen mit den Wertlogiken der militärischen Eroberung, der christlichen Erlösung, des Goldmaßstabs, der Eigentumsnormen, der Monogamie, der Wahrheitsfindung, und der künstlerischen Repräsentation dieser Werte. Die älteren Zivilisationen des globalen Nordostens – in China, Korea und Japan – konnten sich lange abschotten und bewahrten so ihre eigenen, stärker hierarchischen Spielvarianten, denn auch dort waren Umgangsweisen mit den vier Grundproblemen entwickelt worden. Historisch gewachsene Spieleformen überlebten aber nicht nur dort, sondern auch in den europäisch kolonisierten und erzogenen Gesellschaften. Die jeweils Indigenen lernten die Verständigung mit Gesprächspartnern aus dem globalen Nordwesten, aber sie behielten im engeren Familien-, Verwandtschafts- und Freundesverkehr Versionen ihres traditionellen Glaubens, ihrer Machtordnung und ihrer Austauschbeziehungen zwischen Gemeinschaften ihrer Gesellschaft bei.

Wenn Spieler:innen nicht nur auf fremde, irritierende Spielzüge in der eigenen Gesellschaft treffen, sondern auch auf solche mit fremden historischen Spieleerfahrungen, dann potenzieren sich die Möglichkeiten der Irritation. Eine solche Konstellation hatte sich im Sommer 2022 in Kassel aufgebaut. Sie kam nach dem 20. Juni zur Entladung.

Der Anfang: ein Zug im Weltkunstspiel

Kunstwerke versetzen durch Worte, Bilder und Klänge Kommunizierende in die Lage, eine gemeinsame Wirklichkeit auch da zu erzeugen, wo Wirklichkeit unzugänglich ist. Die von Kunstwerken erzeugte Wirklichkeit findet im Bewusstsein der Kommunizierenden statt, und sie verbleibt (genauer: verbleicht) dort. Sie ist zwar für alle anderen unzugänglich, aber doch ähnlich erfahrbar.11 Die Sinnhaftigkeit dessen, was sich in der Kommunikation mit Kunstwerken ereignet, ist deshalb nicht so konkret, so beständig und so universal wie beim Einsatz von Macht, Recht, Geld oder Wahrheit. Sie ist flüchtig, singulär und affektiv – das singulär Neue scheint nur flüchtig auf, aber wenn es bemerkt wird, begeistert es, oder es wird emphatisch abgelehnt.12

Seit dem späten 20. Jahrhundert verwenden Kunstschaffende für ihre Werke immer häufiger Material, das seine Bedeutungen über kunstfremden »Gehalt« erreicht.13 Gehaltsästhetische Werke wählen ihre Elemente aus dem breiten Repertoire an bereits vorhandenen visuellen Formen. Die Werkformen werden entgrenzt, deshalb dominieren Installationen, multimediale Arbeiten und Performances. Damit die Betrachtenden den ausgewählten Gehalt erkennen können, müssen die Werke auf das ernste Spiel verweisen, in das durch den künstlerischen Spielzug interveniert wird. Werke, die ihren Sinn aus politischen Spielen beziehen, nehmen meistens Bezug auf die Verfehlungen und Ungerechtigkeiten, selten auf die Wohltaten der Mächtigen. Dabei bleibt in vielen Werken ununterscheidbar, ob die Techniken der Bildkünste, vom Holzschnitt bis zum Videoclip, eingesetzt werden, um politisch Handelnde außerhalb der staatlichen Institutionen, sogenannte »Aktivisten«, mit Propagandamaterial zu versorgen, oder ob politische Problemlagen und Konfliktlinien den Gehalt für eine ästhetische Wirklichkeitskonstruktion liefern. Je expliziter die kritisierten Spieler und ihre Praktiken benannt werden, desto heftiger setzen sich die Angegriffenen zur Wehr. Der »Angriff« in Form eines Kunstwerks macht zwar nur emphatisch Sinn, er hat keine Entsprechung in der materiellen Logik der Gewalt. Aber aus der Irritation könnten Affekte entstehen, die in politische Gewalt umschlagen.

Als sich die (im globalen Kunstspiel) renommierten Mitglieder der Findungskommission für die d15 darauf verständigten, die Gestaltung Kuratoren und Künstlern zu überlassen, die die politische Dimension des Zusammenlebens als »Gehalt« ihrer Arbeiten betrachten, folgten sie dieser Strömung der politisch aktivistischen Kunst. In einer zweiten Brechung sollten kollektiv organisierte Künstler aus einem außereuropäischen Kunstspiel für Irritationen im hegemonialen westlichen Kunstspiel sorgen. Die Wahl fiel auf das Kunstkollektiv aus Jakarta. Deren gestalterischer Zugriff würde die Grenze überschreiten zwischen der Welt der Kunst im indonesischen Archipel, und der Kunstwelt des globalen Nordwestens, in der sich eine Ausstellung, die alle fünf Jahre in Kassel stattfindet, die Reputation erworben hat, wegweisende neue Entwicklungen im globalen Kunstspiel vorzustellen.14

Missverständnisse, Versäumnisse und vor allem Streit über den künstlerischen Wert des Ausstellungskonzepts und der ausgestellten Werke waren in jeder Documenta-Edition vorgekommen. Keine dieser Auseinandersetzungen war in ihrer Heftigkeit und in ihrer Beachtung durch die deutschsprachige Öffentlichkeit vergleichbar mit dem d15-Skandal. Das lag daran, dass die d15, angelegt als ein Spielzug, der politische Konflikte ästhetisch wahrnehmbar machen sollte, auch Mittel in einem andauernden Konflikt des deutschen Politikspiels werden konnte.

Der Resonanzraum des Skandals: eine Vorschau

Der Entstehungszusammenhang und der Verlauf des Bündels von Irritationen, das später den Namen »documenta-fifteen-Skandal« bekam, wird im Folgenden mit Hilfe des im »natürlichen Experiment« gesammelten Materials rekonstruiert. Dieses Material bildet den Resonanzraum, in dem unzugängliche, affektiv erfahrene Irritationen beobachtbar und beschreibbar werden.

Im ersten Teil werden die Geschichten von drei Politikspielen, eingebunden in ihre kulturhistorischen Kontexte, erzählt. Zwei Machtspiele, beide in einer bald hundertjährigen Ausdehnung, kamen in den anstößigen Bildern vor, und erhielten deshalb die meiste Aufmerksamkeit: der Konflikt15 um die Macht im Mandatsgebiet Palästina und der Widerstand gegen die Suharto-Diktatur in Indonesien. Als die Werke in Kassel ausgestellt wurden, trat ein dritter, deutscher politischer Konflikt dazu: Im Land der organisierten Judenvernichtung, in dem die Unterstützung israelischer Politik zur Staatsräson gehört, wurde die gültige Grenze zwischen Israelkritik und Judenfeindlichkeit verschoben. In den Kapiteln 3 und 4 werden erst die jeweils anstößigen Fälle genauer beschrieben, dann wird die Entwicklung der Politikspiele in den beiden Konfliktregionen geschildert. Kapitel 5 rekonstruiert das Aufkommen von Antijudaismus und Antisemitismus als Teil unserer judäo-christlichen europäischen Geschichte. Im zweiten Teil richtet sich die Beobachtung auf die Resonanz16der Irritation durch den Skandal im deutschen politischen Spiel, aber auch in drei anderen ernsten Gesellschaftsspielen. Zuerst geht es, in Kapitel 6, um den Verlauf im Spiel der deutschen politischen Meinung, dokumentiert durch Textbeiträge, die seit Anfang 2022 in Zeitungen und Blogs erschienen sind. In Zwischenbetrachtungen werden eingesetzte Taktiken im Kampf gegen unerwünschte Irritation aufgezeigt. Kapitel 7 resümiert die Wertungen der Ausstellung durch Experten im Kunstspiel. Die legen gänzlich andere Kriterien an und erwähnen die Irritation im politischen Spiel nur peripher. Kapitel 8 thematisiert die Irritation für das Unternehmen documenta und Museum Fridericianum gGmbH, für die 100-Tage-Unternehmung d15 – mit ihrem Anspruch, durch gemeinwirtschaftliche Selbstorganisation, alternativ wirtschaften zu können –, und für die Möglichkeiten der Visualisierung »kapitalistischer« Ausbeutung im Wirtschaftsspiel. Kapitel 9 beobachtet schließlich die Resonanz in verschiedenen Disziplinen des Wissenschaftsspiels. »Ist der Vorwurf wahr?«, wurden Antisemitismus- und Kulturforscher:innen von allen Seiten gefragt, »Dürfen die das?«, fragte die politische Amtsträgerin einen renommierten Rechtswissenschaftler. »Was bedeutet das Ganze?«, fragten sich Autor:innen der Kommunikationswissenschaften. Hier schließt die vorliegende Studie an.

  1 In Hutter (2015a) werden Beispiele der wechselseitigen Irritation von Spielzügen in den »ernsten Spielen« Kunst und Wirtschaft seit der Renaissance präsentiert.

  2 Weber (1920) unterscheidet die religiöse, ökonomische, politische, ästhetische, erotische und intellektuelle Sphäre.

  3 Besonders klar ist folgende Stelle: »Beim Spiel zeigt sich das Feld (d. h. Spielraum, Spielregeln, Einsätze usw.) eindeutig, wie es ist, nämlich als willkürliche und künstliche soziale Konstruktion.« (Bourdieu 1999, S. 123).

  4 Luhmann nennt alle drei dieser sich selbst reproduzierenden Kommunikationsmuster »soziale Systeme«, er unterscheidet Interaktions-, Organisations- und Funktionssysteme. Siehe Luhmann (1997).

  5 Unter den vielen bemerkenswerten Beobachtungen in Homo Ludens reflektiert die folgende auch Aspekte des Skandals: »Der Spielverderber ist etwas völlig anderes als der Falschspieler. Dieser gibt vor, das Spiel zu spielen. Zum Schein respektiert er den Zauberkreis des Spiels. Die Spielgemeinschaft vergibt ihm seine Sünde leichter als dem Spielverderber, der ganz eigentlich ihre Welt verdirbt.« (1933/2023, S. 26). Während er im Homo Ludens noch Spiel von Ernst unterscheidet, löst er in einer Rede aus dem Jahr der Veröffentlichung den Gegensatz auf: »[...] oh Widerspruch, das Spiel muss Ernst sein, um Spiel zu sein!« (1933/2023, S. 245).

  6 »We dwell in language as we do in society or history; it preexists us and constitutes us down to our very unconscious.« (de Duve 1996, S. 24).

  7 Diese theoretische Setzung stützt sich wesentlich auf Lehmann (2006b). Siehe dazu ausführlicher Hutter (2020), wo die Gegenüberstellung der vier Spielepaare erläutert wird. Siehe auch seine revidierte Fassung in Lehmann (2025).

  8 Logischerweise sind die Gesellschaftswissenschaften gespalten. Auf der einen Seite wird beobachtbares soziales Verhalten mit quantitativen Methoden der Naturwissenschaft beforscht, auf der anderen Seite werden singuläre Kreationen und Ereignisse beobachtet und dann in emphatisch überzeugender Weise vergleichend gewertet. Auf dieser zweiten Seite spielt diese Studie mit.

  9 Dem Kenner der soziologischen Systemtheorie mag auffallen, dass einige der von Luhmann designierten Funktionssysteme nicht auftauchen. Presse-, Gesundheits- und Bildungs-»wesen« sind in meiner Theorieversion Felder, die von spezialisierten Organisationen bespielt werden.

 10 Vgl. dazu meine Studien zur Ko-evolution von Wirtschaft und Kunst in Hutter (2015b).

 11 Deshalb ist nie zu verhindern, dass in Kunstwerken Bedeutungen entdeckt werden, die von den Produzierenden nicht erwartet, geschweige denn intendiert wurden: »Man kann als Betrachter, ohne den Kontakt zu den Formentscheidungen des Künstlers zu verlieren, zu ganz anderen Urteilen, Bewertungen, Erlebnissen kommen, als der Künstler sich vorgestellt hatte.« (Luhmann 1995, S. 124).

 12 »Anstößige Bilder« haben Kunsthistorikerinnen schon 2014, in Vorbereitung eines Themenbandes, zum Gegenstand gemacht. Siehe Kruse, Meyer und Korte (2018), insbesondere Kruse (2018), die am Beispiel von Chris Ofili’s The Holy Virgin Mary zeigt, wie Medienaufmerksamkeit fragwürdige Werke stark (»powerful«) macht. Sie zitiert ausführlich aus Bernhard Waldenfelds »Sinne und Künste im Wechselspiel« (2010).

 13 Harry Lehmann übernimmt den Gehaltsbegriff von Adorno und nennt die konzeptionelle Form dieser Phase der Kunstspielentwicklung »Gehaltsästhetik« (2016). Mehr dazu in Kapitel 9.

 14 Zur Geschichte der documenta-Serie gibt es eine umfangreiche Literatur, siehe Hutter (2022).

 15 Konflikte sind psychische oder soziale Prozesse, bei denen die Konfliktparteien ihre Behauptungen gegenseitig verneinen. Solche Behauptungen können sich auf moralische Werte, Sachen, Territorien oder auf Wirklichkeitskonstruktionen beziehen. Beendet sind sie erst, wenn der Verlierer die Lösung nicht verneint. Dazu ausführlich Simon (2018, S. 220–235).

 16 Der Begriff der Resonanz wird hier zur Beschreibung meist schriftlich geäußerter Reaktionen auf das irritierende Ereignis verwendet – nicht als »Zustand der Relationalität mit der Welt und ihren Dingen, der echte und tiefgreifende Erfahrungen« zulässt, wie das Hartmut Rosa (2019) vorgeschlagen und Eva Stubenrauch formuliert hat. Vgl. https://www.zflprojekte.de/zfl-blog/2022/09/20/eva-stubenrauch-die-krise-der-zeitdiagnostik-reckwitz-rosa-und-die-gesellschaftstheorie-der-gegenwart/ [26.01.2025].

I Die vier Fälle, in ihren drei kulturhistorischen Kontexten

3 Der Palästina-Israel-Konflikt erzeugt seine Bilder

Die Anstoß erregenden Bildwerke sind in zwei unterschiedlichen kulturellen Konfliktregionen entstanden. Der erste Konflikt hat einen geografischen Rahmen, der vom Libanon bis Algerien reicht, der zweite Konflikt den seinen zwischen Java und Australien. Während das indonesische Banner aus dem zweiten Konflikt stammt, beziehen sich drei Werkgruppen auf den ersten Konflikt: Die Karikaturen in der Palästina-Ausgabe von Présence des femmes entstanden um 1970, sie wurden 1988 in Algier zweitveröffentlicht; die von Subversive Film präsentierten Filme sind nach 1970 gedreht und nach 1982 in Beirut gesammelt worden; die Serie der Fotocollagen von al-Hawajri entstanden um 2010 in Gaza. Die in so unterschiedlichen Medien geschaffenen Werke sind also Dokumente aus drei historischen Phasen des Israel-Palästina-Konflikts. In diesem Kapitel wird die Geschichte dieses politischen Konflikts im Dreieck Algier-Beirut-Gaza als Entstehungszusammenhang für die drei Werkserien erzählt.

Die Geschichten der drei anstößigen Werkserien

Erst werde ich die Inhalte der drei Werkgruppen genauer beschreiben. Dabei tauchen ganze Ketten von Verweisen auf Ereignisse, Personen und Organisationen auf, die ihrerseits Erklärungen benötigen. Einige Erklärungen folgen dann im Zusammenhang einer Geschichte des Palästina-Israel-Konflikts, seit seinen Anfängen im späten 19. Jahrhundert.

Archives des luttes des femmes en Algérie

Das 2019 gegründete Frauen-Kollektiv Archives des luttes des femmes en Algérie präsentierte im Rahmen der Fridskul – einer Übertragung von ruangupas Kunstschule Gudskul in Jakarta in den Kontext der d15 – Videos, Fotos und Zeitschriften der algerischen Frauenbewegung aus den Jahren 1988-93. Darunter war eine Ausgabe der Zeitschrift Présence des femmes, die vom Kollektiv Atelier de réflexion sur les femmes algeriennes (ARFA) 1988 herausgegeben war. Die Ausgabe erschien aus Anlass der »Unabhängigkeitserklärung« durch den Palästinensischen Nationalrat, verkündet in Algier am 15.11.1988.1 Unter dem Titel »Es schlägt die Stunde der Rückkehr« wird der israelisch-palästinensische Konflikt durch einen weiteren archivarischen Rückgriff thematisiert. Das Heft enthält Texte und Zeichnungen, die im palästinensischen Exildiskurs Beachtung erfahren hatten. Anstoß erregten eine Zeichnungsserie und eine Karikatur.2 Die Zeichnungen des syrischen Künstlers Burhan Karkoutly waren 1969 als Buchillustration von Kanafanis Die Kinder des Ghassan Kanafani erschienen. Kanafani ist immer noch einer der bekanntesten palästinensischen Schriftsteller. Er war gleichzeitig Sprecher der Popular Front for the Liberation of Palestine (PFLP). 1972 starb er, zusammen mit seiner siebzehnjährigen Nichte, in Beirut durch eine Autobombe.

Thema seines sehr erfolgreichen Kinderbuchs ist die Vertreibung einer palästinensischen Familie im Zuge der israelischen Staatsgründung 1948, und die Rückkehr von Vater und Sohn als Freiheitskämpfer. Dabei wird auf historisch belegte Massaker zionistischer Milizen Bezug genommen. Die Soldatenfiguren in den Zeichnungen sind durch den Davidstern markiert, ihre Gesichter sind zu Schädeln reduziert. In der letzten Zeichnung springt der junge Kämpfer auf eine Sonne zu, in deren Kreis die Konturen Palästinas – symbolisiert durch kufiyah-artige Rauten – erkennbar sind. Kalafani, Karkoutly und den Akteuren, die dafür sorgten, dass die Zeichnungen im Fridericianum zu finden waren, wurde israelbezogener Antisemitismus vorgeworfen.

Weiteren Anstoß gab eine Karikatur von Naji al-Ali (1938–87), um 1980 entstanden. Naji al-Ali, geboren 1936 in Palästina, flüchtete zehnjährig mit seiner Familie in das Lager Ain Al-Hilweh im Libanon.3 Er war berüchtigt für seinen provozierenden Stil, in dem er Missstände quer zum politischen Spektrum thematisierte, und berühmt für die Schöpfung von »Handala«, der Silhouette eines Flüchtlingskindes, das beständig Richtung Palästina schaut. Die zur Ikone aufgebaute Kinderfigur steht »emblematisch für die Ansprüche von rund fünf Millionen Palästinenser*innen, die als Nachkommen der ursprünglich 700.000 Vertriebenen beziehungsweise Geflüchteten einen dauerhaften Flüchtlingsstatus reklamieren.«4

In dem fraglichen Bild ist Handala am rechten Rand einer Szene zu sehen, in der eine große, langhaarige Frau ihr Knie in den Schritt eines kleinen Soldaten rammt, der durch den Davidstern als Israeli und durch Physiognomie und Haltung als Jude gekennzeichnet ist. Die Sprechblase über Handala sagt: »Widerstand im Westjordanland«.5 Links von der Kampfszene symbolisieren ineinander gestellte Fußsohlen den Beischlaf, also die Komplizenschaft, arabischer »Systeme der Kapitulation« mit Israel. Als anstößig galt dem Fachgremium die Bildbotschaft der Opferrolle Palästinas gegenüber dem Täter Israel, und die Verwendung semitisch konnotierter Körpermerkmale, weil sie durch ihre Verwendung in deutschnationalen und nationalsozialistischen Karikaturen der 1930er Jahre antijüdisch codiert sind.

Subversive Film

Auf der Webseite der Sharjah Art Foundation,6 die den Beitrag von Subversive Film mitgefördert hat, findet sich folgender Eintrag:

»Established by Nick Denes, Reem Shilleh and Mohanad Yaqubi, Subversive Film is a cinema research and production collective that aims to cast new light upon historic works related to Palestine and the region, engender support for film preservation and investigate archival practices and effects. Among their many projects are the digital reissuing of previously overlooked films, the curating of rare film screening cycles and the subtitling of rediscovered films.«

Nick Denes hat 2011 am Goldsmiths College in London zur Geschichte des Zionismus promoviert, heute ist er Co-Directory der Palestine Film Foundation, die das jährliche London Palestine Film Festival veranstaltet. Reem Shilleh ist seine Co-Direktorin, und die Ehefrau von Mohana Yaqubi, Filmemacher, -produzent und -historiker, sowie Dozent an der Kunstakademie Gent. Auf der Universitätswebseite wird konkreter formuliert, dass der Sammlungsfokus von Subversive Film auf »militant film« liegt, also auf filmischen Praktiken, die dafür gemacht waren, den selbsterklärten Freiheitskampf des palästinensischen Volkes zu unterstützen.

Für den d15-Auftritt hatte das Kollektiv ein Konvolut von zwanzig 16-mm-Filmen ausgewählt, die durch eine besondere Geschichte miteinander verbunden sind. Das Konvolut war Mohana Yaqubi anvertraut worden, als er einen seiner eigenen Filme in Tokio vorstellte. Die Studentin Aoe Tanami, die mit dem japanischen Palästina-Solidaritäts-Netzwerk in Kontakt stand, hatte sie aufbewahrt, nachdem das lokale Büro der PLO Ende der 80er Jahre geschlossen wurde – deshalb der Name Tokyo Reels.7 Einige der Filme waren 1982 aus Beirut gebracht worden, nachdem die PLO ihre Organisation als Folge der israelischen Libanon-Invasion nach Tunis und Algier verlagern musste. Dazu kamen Filme mit Bezug zum Israel-Palästina-Konflikt, die japanisch untertitelt oder von Japanern produziert worden waren. Das erhaltene Material wurde von Yaqubi und Shilleh digitalisiert und Englisch untertitelt. In einem eigenen Film, Reel 21 aka Restoring Solidarity, montiert Yaqubi Ausschnitte aus diesen Filmen, und unterhält sich im Off mit seiner Frau über die ausgewählten Szenen. Die Filme wurden schon vor Ausstellungsbeginn auf einem viertägigen Festival im Gloria-Kino gezeigt. Programme mit zwei bis drei Filmen, plus Reel 21, waren dann einmal wöchentlich zu sehen. Alle Filme liefen in Endlosschleife im hintersten Bereich des Hübner-Areals, einem aufgelassenen Industriegebäude im Osten von Kassel. Zudem fand Mitte August ein akademisches Symposium zu aktivistischer Filmarchivarbeit statt. Um Proteste zu vermeiden, stellten die Teilnehmer:innen hinter verschlossenen Türen ihre eigenen Forschungsprojekte vor.8

Von den 20 Filmen sind 3 aus den 60er, 14 aus den 70er Jahren und 3 aus dem Jahr 1982. Die frühesten drei sind harmlose Promotionsfilme. Die Filme aus den 70er Jahren können grob in drei Kategorien eingeteilt werden: Vier davon erzählen fiktive Geschichten, die von der Vertreibung oder von Flüchtlingskindern handeln. Vier weitere haben besondere Ereignisse zum Thema: Land Day (1977) dreht sich um die Feiern zum Gedenktag der Vertreibung im Jahr 1977; Kuneitra: Death of a City (1974) dokumentiert den Zustand der Stadt im Süden Syriens, die von der israelischen Armee bei ihrem Rückzug 1973 dem Erdboden gleichgemacht wurde; Kufr Sabra (1975) handelt von einer Schlacht in der Nähe dieses Dorfes im Südlibanon; Scenes of Occupation from Gaza (1973) wurde von einem französischen Team gedreht und kommentiert von Mustafa Abu Ali, bekannter Filmemacher und Gründer des Palestine Film Unit, »the first filmic arm of the Palestinian revolution«, wie Yaqubi formuliert.9 Bei den sechs weiteren Filmen ist The War in Lebanon (1976), der den Krieg um Beirut 1975-76 zum Thema hat, besonders bemerkenswert. Als Folge des Kriegs zerfiel die Stadt in einen östlichen Teil, der von der Koalition des pan-arabischen und sozialistischen Mouvement National Libanais kontrolliert, und einen westlichen Teil, der von der christlichen, nationalistisch-bürgerlichen Falange beherrscht wurde. Der Film, gedreht vom Palestine Film Institute, nimmt die Position der »linken« Koalition ein, zu der sich auch die PLO bekannte.

Die drei 1982 gedrehten Filme haben die israelische Invasion zum Thema. Lebanon 1982: UNRWA Emergency Operation wurde vom UN-Hilfswerk UNRWA (United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees in the Near East) in Auftrag gegeben und dokumentiert die Rettungsaktionen nach dem Überfall auf die Flüchtlingslager Sabra und Shatila. Beirut 1982 wurde vom japanischen Regisseur Ryuichi Hirokawa gedreht. Hirokawa stellt seine Perspektive auf das Leben der Palästinenser in Beirut nach den Massakern dar. Die Schuld daran wird den israelischen Streitkräften zugewiesen. Im Film Why? der deutschen Dokumentarfilmerin Monica Maurer wird – folgt man dem Fachgremium – die These vertreten, »die israelische Invasion im Südlibanon habe dem Ziel gedient, durch eine ›Genozidpolitik‹ die amerikanische und israelische Vorherrschaft im Nahen Osten zu etablieren«.10

Das Projekt von SF umfasst »militant movies«, also Propagandafilme, die einseitig und zugespitzt die Weltsicht der PLO in den Jahren zwischen ihrer Vertreibung aus Jordanien 1971 und ihrer Vertreibung aus Beirut 1982 kommunizieren. Sie ermuntern zum bewaffneten Befreiungskampf. Für das gesamte Konvolut Tokyo Reels gilt, was das British Film Institute für den Film Kuneitra anmerkt: »By its very nature, the film is not sympathetic to the Israelis«.11Yaqubi und Shilleh stellen ihre aufwendige Archivarbeit unter das Motto der »Solidarisierung«, erwecken aber bei vielen Beobachtern den Eindruck, dass sie »eine neue Unterstützerwelle für Palästinenser initiieren möchten.«12

In dem kurzen Text zu Tokyo Reels im documenta-fifteen -Handbuch wird erwähnt, dass Yaqubi vor der Begegnung mit der Studentin den »Agit-Prop-Experimentalfilmer und Mitglied der 1988 aufgelösten Roten Armee«, Masao Adachi, getroffen hatte. Adachis Reputation unter revolutionär gesinnten Filmern, aber auch unter westlichen Filmwissenschaftlern, ist sehr hoch. Sie geht zurück auf seine innovativen filmischen und theoretischen Arbeiten in den 1960er Jahren. Unzufrieden mit seiner passiven Rolle siedelte er 1971 in den Libanon über und schloss sich der Japanischen Roten Armee (JRA) an. Die JRA war wie die deutsche RAF »ein Zerfallsprodukt der Studentenbewegung der 1960er Jahre«.13 Die etwa zwei Dutzend Mitglieder, die zum Kampf gegen den US-Imperialismus im Nahen Osten aufbrachen, wurden wohlwollend von der örtlichen PFLP aufgenommen. Bei den Attacken auf Flugzeuge, die deren Anführer Wadi Haddad plante und operativ leitete, waren nicht-arabische Akteure unauffälliger. Haddad wählte drei Japaner aus, um 1972 am Flughafen Lod (später Ben-Gurion) das erste Selbstmord-Attentat ausführen zu lassen.14Einer der drei Angreifer, die 26 Passagiere in der Ankunftshalle ermordeten, überlebte, kam 1985 durch einen Gefangenenaustausch frei und kehrte in den Libanon zurück. Adachi wurde 2000 nach Japan abgeschoben. Sein erster Film nach der Rückkehr, Prisoner/Terrorist (2007), handelt vom Schicksal dieses Kampfgefährten. Der Hinweis im Handbuch auf den Besuch Yaqubis bei Adachi, Zeichen der Wertschätzung für den Filmpionier und Weltrevolutionär, machte es leicht, die Tokyo Reels argumentativ mit dem Massaker in Tel Aviv zu verknüpfen.

The Question of Funding

The Question of Funding war eines von neun Kollektiven, das ruangrupa schon im Sommer 2020 aufgefordert hatte, am Konzept der d15 mitzuarbeiten. Allerdings war damals noch vom Khalid Sakakini Cultural Center (KSCC) die Rede. Der Namenswechsel wurde gleich zu Beginn der Kampagne gegen die Kuratoren und diejenigen, die sie ausgewählt hatten, als Beleg dafür interpretiert, dass man den Einfluss von Sakakini – einem radikalarabischen Gelehrten mit ähnlichen Vorstellungen von Kulturerziehung wie Rudolf Steiner –, nach dem das Kulturzentrum in Ramallah benannt ist, verschleiern wollte. Tatsächlich ist der Zusammenhang etwas komplexer.15

2015 wurden dem KSCC die Geldmittel internationaler Förderinstitutionen erheblich gekürzt. Daraufhin übernahm Yazan Khalili die Leitung des Zentrums. Khalili war zu diesem Zeitpunkt bereits einer der renommiertesten palästinensischen Künstler. Studiert hatte er am Goldsmiths College, mit Eyal Weizman. Von der Architektur kommend, verwenden seine vielbeachteten Fotoarbeiten oft bauliche Strukturen, wie Häuserreihen oder Beleuchtungsanlagen. Die bekommen dann in der Bearbeitung eine politische Interpretation, denn Khalili begreift seine gesamte Arbeit als Beitrag zum palästinensischen Widerstand. Teil dieses Widerstands ist der Versuch, den Finanzkreislauf palästinensischer Kulturinstitutionen abzukoppeln von den Entscheidungsgremien westlicher Stiftungen und NGOs ebenso wie vom Kunstmarkt, über den ökonomisch erfolgversprechende Kunstwerke »extrahiert« werden. Dieses spezielle Projekt zur »Question of Funding« betrieb Khalili mit einigen Künstlerkollegen weiter, nachdem er 2019 Ramallah verlassen hatte. Als 2020 das KSCC unter Khalilis Nachfolgerin die Einladung von ruangrupa ablehnte, firmierte Khalili, dessen Beitrag der Grund der Einladung gewesen war, unter der neu geschaffenen Bezeichnung The Question of Funding (TQoF). Zu den weiteren Mitgliedern dieser Gruppe wurden keine Angaben gemacht, aber es ist anzunehmen, dass Lara Khaldi, Direktorin des KSCC von 2011–13 und eine der fünf Personen im künstlerischen Team der d15, dazu gehört. Yazan Khalidi war also nicht nur Sprecher, sondern auch Entscheidungszentrum des Kollektivs, und er war darüber hinaus ein wichtiger Ideengeber für die wirtschaftliche Dimension des Lumbung-Prinzips.

TQoF brachte vier Projekte auf die d15. Das erste war die Initiierung von aka, einem losen Netzwerk lokaler Kulturinitiativen. Treffpunkt war ein leerstehender Altbau in Bahnhofsnähe, eine frühere Weinhandlung, die als Clublocation diente, und in deren Räumen auch die Künstlergruppe Eltiqa ausstellen durfte, die von TQoF eingeladen worden war. Die Mitglieder von Eltiqa sind seit über zwanzig Jahren in Gaza aktiv. An ihrem Beispiel sollte verdeutlicht werden, mit welchen Schwierigkeiten ein von internationalen Geldmitteln abgeschnittenes Künstlerkollektiv zurechtkommen muss. »In this sense, inviting Eltiqa to be part of TQoF was crucial to learn from, in order to disseminate their knowledge and expertise in working together and inventing their own economic model in one of the most unstable environments in the world«.16 Khalili interpretierte die Einladung als »research project«, in dem sich ökonomische und politische Fragen stellen lassen. Derartige Fragen bestimmen auch das dritte Projekt, in dem vier Bücher präsentiert wurden, in denen Kinder mit Themen von Arbeit, Produktion, Ressourcen und Wertschöpfung vertraut gemacht werden. Zwei davon sind von Khalili geschrieben, alle vier hat er mitgestaltet. Das vierte Projekt ist das ambitionierteste: Unter dem Namen »Dayra« wird eine Geldform propagiert, die den lokalen Wirtschaftskreislauf von internationalen Währungen abkoppeln soll.

Die Webseite der d15 informiert: »Eltiqa is formed by a group of seven artists: Mohammed al- Hawajri, Mohamed Abusal, Dina Matar, Rauf Alajouri, Raed Issa, Mohammed Dabous, and Sohail Salem who also have their individual art artistic practices to sustain along with the platform for younger artists they have created.« Werke von fünf Künstler:innen der Gruppe waren ausgestellt. Al-Hawajris Serie von Fotocollagen mit dem Titel Guernica Gaza war diejenige, die Anstoß erregte, zum einen wegen der Kombination der beiden Städtenamen, zum anderen wegen der Verknüpfung von ikonischen Bilddetails aus der europäischen Kunstgeschichte des 19. Jahrhunderts mit israelischen Verteidigungskräften und -anlagen.

Guernica, nahe Bilbao in den Bergen gelegen, ist der historische Ort der baskischen Volksversammlung. Dort steht die Eiche, unter der seit Jahrhunderten getagt wird. 1936 hatte die baskische nationale Bewegung in Spanien ein Autonomiestatut mit der Zentralregierung ausgehandelt, aber die Revolte der Generäle, unter Francos Führung, beendete solche Unabhängigkeitsbestrebungen. General Franco schlug Guernica, Symbolstadt der Basken, als Ziel einer Bombardierungsattacke der »Legion Condor« vor, »wobei die deutsche Versuchsstaffel unter Wolfram von Richthofen [...] seit November 1936 damit beschäftigt war, in Andalusien systematisch mit Bomben und Wurftechniken zu experimentieren und deren Wirkung auf unterschiedliche Ziele zu analysieren«.17