ANTHROPOLIS - Roland Schimmelpfennig - E-Book

ANTHROPOLIS E-Book

Roland Schimmelpfennig

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Beschreibung

Roland Schimmelpfennig wirft einen modernen Blick auf die Antike und auf die großen griechischen Tragödien von Aischylos, Sophokles und Euripides. Seine Übersetzungen sind von sprachlich unvergleichlicher Klarheit, seine Überschreibungen radikal, seine neuen Texte führen die Leser und das Theaterpublikum zurück zu den Ursprüngen des europäischen Theaters. Und ganz nebenbei schließt Roland Schimmelpfennig mit seiner eigenen Version des »Laios« eine zweitausendfünfhundert Jahre alte Lücke.  In »Anthropolis. Ungeheuer. Stadt. Theben.« sind die Neuübersetzungen, Überschreibungen und Neudichtungen »Dionysos«, »Laios«, »Ödipus«, »Iokaste« und »Antigone« zu finden.

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Seitenzahl: 345

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Roland Schimmelpfennig

ANTHROPOLIS

Ungeheuer. Stadt. Theben.

 

 

Biografie

 

 

Roland Schimmelpfennig, geboren 1967 in Göttingen, ist Autor, Regisseur und vor allem einer der meistgespielten Gegenwartsdramatiker Deutschlands. Er studierte, nach einem längeren Aufenthalt als Journalist in Istanbul, Regie an der Otto-Falckenberg-Schule in München. Seither schreibt er Theaterstücke für große Häuser wie das Deutsche Theater Berlin, das Burgtheater Wien, das Residenztheater München und das Schauspielhaus Hamburg – aber auch für internationale Bühnen in Stockholm, Kopenhagen, Toronto oder Tokio. Seine Theaterstücke – darunter auch vielgespielte Texte für das Kinder und Jugendtheater – werden immer wieder mit Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem renommierten Mülheimer Dramatikerpreis.

Roland Schimmelpfennig lebt in Berlin.

 

Weitere Informationen zu Roland Schimmelpfennig:

www.fischer-theater.de

Inhalt

Prolog

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

Dionysos

[Personenverzeichnis]

[Anfang]

Laios

1.1

1.2

1.3

1.4

2.1

2.2.1

2.2.2

2.3

3.1

3.2.1

3.2.2

3.3.1

3.3.2

4.1

Ödipus

[Personenverzeichnis]

[Anfang]

Haus der Dunkelheit

[Anfang]

Iokaste

[Personenverzeichnis]

1.1

1.2

1.3

1.4

1.5.1

1.5.2

1.5.3

1.5.4

1.6

1.7

1.8

1.9

1.10

1.11.1

1.11.2

1.11.3

1.12

1.13

1.14

1.15

1.16.1

1.16.2

1.16.3

1.16.4

1.16.5

2.1

2.2

2.3

3.1.1

3.1.2

3.2

3.3

3.4

3.5.1

3.5.2

3.5.3

3.6.1

3.6.2

3.7

3.8

3.9

3.10

3.11

3.12

4.1

4.2.1

4.2.2

4.3

4.4

4.5

5.1.1

5.1.2

5.1.3

5.1.4

5.2

5.3

5.4.1

5.4.2

5.4.3

5.4.4

5.5

5.6

Antigone

[Personenverzeichnis]

[Anfang]

Epilog

[Anfang]

[Nachwort]

Anfänge

Der Mythos Theben

Prolog

Dionysos

Wir müssen leider draußen bleiben

Laios

Ödipus

Iokaste

Antigone

[Vita von Sybille Meier]

Uraufführungsdaten

Weitere Publikationen von Roland Schimmelpfennig

Prolog

Roland Schimmelpfennig

Eine Gruppe von Männern und Frauen.

Die Gruppe wendet sich an das Publikum.

1.

EINE FRAU

 

Das Meer –

 

Über dem Meer

die Sonne –

 

EIN MANN

Felsen,

ein Strand.

 

EIN ANDERER MANN

Hinter der Küste

eine Ebene.

EINE ANDERE FRAU

Es ist heiß.

 

EIN MANN

Staub.

Steine.

Von der Sonne verbranntes Gras.

 

EIN ANDERER MANN

Das Meer ist ruhig.

Das Licht

glitzert auf dem Wasser.

 

EINE FRAU

Die Sonne –

 

das Glitzern –

 

Der Strand.

 

EINE ANDERE FRAU

Der Horizont.

 

EINE WEITERE FRAU

Das Geräusch der Wellen.

 

Die Hitze.

 

Pause.

 

EIN MANN

Ein einzelnes Moped

knattert die staubige Küstenstraße entlang.

EINE FRAU

Im Norden,

nicht weit von hier,

liegt Sidon.

Tyros

liegt etwas weiter südlich.

 

EINE ANDERE FRAU

Im Westen –

im Westen liegt nichts als der Horizont,

das Wasser.

 

Pause.

 

EIN MANN

Im Osten

hinter der Küste

die Ebene.

 

EIN ANDERER MANN

Eine Straße.

EINE FRAU

Eine Stromleitung.

EIN MANN

Ein nie fertig gebautes Haus.

EINE FRAU

Eine Rinderherde.

EINE ANDERE FRAU

Ein Hund bellt.

EINE FRAU

In der Ferne

ein Kraftwerk,

Fabriken.

EIN MANN

Ein Mann treibt eine Rinderherde durch die Ebene.

EINE FRAU

Die Luft flirrt in der Hitze.

 

EIN MANN

Welle für Welle bricht sich an dem Strand.

 

EINE FRAU

Stimmen.

EINE ANDERE FRAU

Eine Gruppe von jungen Mädchen.

EIN MANN

Lachen.

EINE FRAU

Lachende junge Mädchen

oder junge Frauen.

EINE ANDERE FRAU

Fünf beste Freundinnen.

EIN MANN

Fünf junge Mädchen

laufen lachend über den Strand.

 

EINE FRAU

Eine der jungen Frauen

trägt ein gewickeltes Kleid.

EINE ANDERE FRAU

Das ist Europa.

EINE WEITERE FRAU

Europa ist die Tochter des Königs,

Agenor.

 

EIN MANN

Die Rinderherde,

die jetzt langsam näher kommt –

 

Ein Hirte singt monoton vor sich hin.

 

EIN ANDERER MANN

Ein Hirte

treibt die Rinder vor sich her –

kaum zu erkennen

in der flirrenden Hitze –

die Silhouette des Mannes

scheint mit der Luft

fast zu verschmelzen.

 

EIN MANN

In der Herde

ein weißer Stier.

EINE FRAU

Groß, weiß –

 

EIN MANN

Das gibt’s doch nicht,

sagt eines der Mädchen.

 

Seht ihr das?

So einen Stier

habe ich noch nie gesehen.

EINE FRAU

Was für ein schönes Tier –

EINE ANDERE FRAU

Wie der schaut.

 

Wie der dich anschaut,

sagt eines der Mädchen zu Europa.

EINE WEITERE FRAU

Ich glaube,

der Stier ist verliebt in dich,

sagt eine von Europas Freundinnen.

Der ist verliebt, seht euch das an!

EIN MANN

Gelächter.

DIE FRAU

Doch, schau doch, schau doch mal,

wie der dich ansieht!

 

EIN MANN

Hab keine Angst,

sagt Europa zu dem Stier –

EINE FRAU

Hab keine Angst –

komm her –

EIN MANN

Hab keine Angst –

EINE FRAU

Du siehst schön aus –

EINE WEITERE FRAU

Du bist wunderschön.

EINE FRAU

Der Stier zittert.

EIN MANN

Europa streicht mit der Hand

über die Stirn des Stiers,

und dann beginnt sie,

das Tier mit allem,

was sie an dem Strand finden kann,

zu schmücken –

EIN ANDERER MANN

Muscheln, Seetang –

EINE FRAU

Sie läuft eilig hin und her,

zwischen den Felsen

findet sie sogar

ein paar kleine Blumen

und windet sie um die Hörner des Stiers.

EINE ANDERE FRAU

Europa lacht.

EINE WEITERE FRAU

Europa lachte.

 

EIN MANN

Und der Stier,

weiß, groß –

EINE FRAU

Dieses Tier,

von dem niemand wusste, woher es kam,

oder was es in Wahrheit war,

lagerte zu Europas Füßen,

als ob es sagen wollte:

Steig auf.

EIN MANN

Steig auf.

EINE FRAU

Und sie stieg auf.

EIN MANN

Europa stieg auf den Stier.

EINE FRAU

Komm, trag mich nach Hause.

EINE ANDERE FRAU

Na, los. Hüh!

EIN MANN

Gelächter.

EINE ANDERE FRAU

Aber der Stier

trug Europa nicht nach Hause.

EINE WEITERE FRAU

Der Stier erhob sich.

EINE FRAU

Hoppla!

EINE ANDERE FRAU

Und dann lief der Stier

in die sich an dem Strand brechenden Wellen.

 

EIN MANN

Der Stier schwamm mit Europa auf dem Rücken

hinaus auf das hohe Meer –

 

und er kam nicht zurück.

Er schwamm immer weiter,

zum Horizont, nach Westen.

 

EINE FRAU

Mit der einen Hand

hält sich Europa

an einem Horn des Stieres fest,

und mit der anderen

versucht sie verzweifelt,

ihr Kleid zusammenzuhalten,

durch das der Wind fährt,

auf dem offenen Meer,

EINE ANDERE FRAU

sie dreht sich noch zurück zur Küste,

und dann reißt ihr der Wind das Kleid davon.

 

Der Wind reißt Europas Kleid davon.

 

EINE FRAU

Sie schreit.

Sie schreit,

so laut sie kann.

2.

EIN MANN

Der König, Agenor, Europas Vater,

schickte in tiefem Schmerz seine drei Söhne

auf die Suche nach der geraubten jungen Frau.

Kommt nicht ohne das Kind zurück,

sagte er, kommt ohne eure Schwester

nicht zurück.

 

EIN ANDERER MANN

Jeder der Brüder

nahm einen anderen Weg über das Meer,

EINE FRAU

und keiner der drei Brüder fand sie.

 

EIN MANN

Einer dieser Brüder hieß Kadmos.

EIN ANDERER MANN

Kadmos ging schließlich,

nach jahrelanger, vergeblicher Fahrt,

nach Norden, und dort sagte ihm Pythia,

die Priesterin des Apollon,

das Orakel von Delphi: Gib auf.

Hör auf zu suchen.

Weder den Stier noch das Mädchen

wirst du jemals finden.

 

EINE FRAU

Gib auf.

Hör auf zu suchen.

 

EINE WEITERE FRAU

Treib eine Kuh vor dir her –

EINE ANDERE FRAU

Treib eine Kuh vor dir her,

so lange, bis sie zusammenbricht,

und dort, an der Stelle,

gründest du eine Stadt.

 

Pause.

 

EIN MANN

Ununterbrochen

trieb Kadmos die Kuh voran,

EIN ANDERER MANN

Tag und Nacht

trieb Kadmos das Tier vorwärts,

 

Ein Hirte singt monoton vor sich hin.

 

in der Mittagshitze,

in der Dämmerung

und bei Nacht,

und dann brach die Kuh schließlich,

am dritten Tag, erschöpft zusammen.

 

EIN WEITERER MANN

Tag und Nacht

trieb Kadmos das Tier vorwärts,

 

Ein Hirte singt monoton vor sich hin.

 

in der Mittagshitze,

in der Dämmerung

und bei Nacht,

und dann brach die Kuh schließlich,

am dritten Tag, erschöpft zusammen.

 

EINE FRAU

Das keuchende,

sterbende Tier.

Steine, Geröll,

und Erde,

gleichzeitig staubig

und schwer,

Lehm.

Wind.

Wüstes Land.

 

EINE ANDERE FRAU

Da war eine Quelle.

Da war ein Fluss.

EIN MANN

Da waren ein Mann

und eine Frau.

 

EINE FRAU

Und der Mann

war gleichzeitig ein Drache.

EIN MANN

Und die Frau war unsichtbar.

EINE FRAU

Der Drache und Kadmos kämpften –

EIN MANN

und Kadmos kam in diesem Kampf

beinah ums Leben.

 

EINE FRAU

Nimm einen Stein –

EINE ANDERE FRAU

nimm einen Stein, sagte die Frau,

unsichtbar, unhörbar,

nimm diesen Stein –

 

EIN MANN

– und mit dem Stein

zertrümmerte Kadmos

den Kopf des Drachens.

 

EINE FRAU

Die unsichtbare Frau sagte:

Brich die Zähne heraus.

EINE ANDERE FRAU

Brich der Bestie

die Zähne aus dem Kopf

und säe sie aus –

 

wie Korn –

EIN MANN

Und Kadmos brach die Zähne

aus dem Kopf des Drachens,

und dann säte er sie aus,

wie Korn, und der Mann,

der Mann an der Quelle,

am Beginn des Flusslaufs,

der Mann, oder der Gott,

der auch der Drache gewesen war,

gleichzeitig,

sah Kadmos dabei zu.

 

Jemand sät Korn.

 

Dafür wirst du mir dienen,

sagte er,

acht Jahre lang

wirst du mir dafür dienen,

und dann gebe ich dir

meine Tochter zur Frau.

 

EIN ANDERER MANN

Und aus den ausgesäten Zähnen

wuchsen Männer,

EINE FRAU

und diese Männer,

nackt,

neugeboren,

brachten sich gegenseitig um,

EINE ANDERE FRAU

sie brachten sich gegenseitig um,

mit bloßen Händen,

alle,

bis nur noch fünf von ihnen

übrig waren.

 

EINE WEITERE FRAU

Und mit diesen fünf Männern

gründete Kadmos

die Stadt Theben.

Kadmeia.

3.

EINE FRAU

Wisst ihr,

was das ist?, sagt Kadmos

zu den fünf nackten Männern.

 

Wisst ihr,

was das ist?

 

Das ist Kupfer –

EIN MANN

und das:

Das ist Kohle,

und das,

das ist Erz,

das kommt aus der Kruste der Erde,

das war einmal flüssig,

stellt euch das einmal vor,

EINE FRAU

und aus Erz und Kohle

wird Eisen.

EIN ANDERER MANN

Daraus macht man Nägel,

Schrauben, Werkzeuge,

EIN WEITERER MANN

Räder, Maschinen,

EINE FRAU

Waffen.

EINE ANDERE FRAU

Das –

das ist Silber,

EIN MANN

und das,

das ist Gold,

EIN ANDERER MANN

das benutzt man zum Handeln,

damit wird man reich.

Wer reich ist, hat Macht,

und diese Stadt

wird mächtig sein.

 

Pause.

 

EIN MANN

Es entstehen Straßen,

zuerst staubig,

dann gepflastert

und später geteert.

 

EINE FRAU

Es werden Brunnen gegraben

und Häuser gebaut.

Es wird um die Stadt

eine Mauer gezogen,

und diese Mauer wird später einmal

sieben Tore haben.

 

EIN MANN

Und wisst ihr, was das ist?,

sagt Kadmos zu den fünf Männern,

 

das –

das ist Musik.

 

EINE FRAU

Kadmos spielt auf einer Flöte.

 

Jemand spielt auf einer Flöte.

 

EIN MANN

Wie schön,

sagen die fünf Männer.

Wie wunderschön.

Das ist,

als ob das Nichts atmen könnte.

 

Wie wunderschön.

 

Pause.

 

EINE FRAU

Straßen,

Marktplätze,

Waren,

die von weit her

in die Stadt kommen,

und Waren, die durch die sieben Tore

die Stadt verlassen –

 

EIN MANN

Und das,

was ist das?

EINE FRAU

Das?

Das ist das Wichtigste –

 

das sind Buchstaben.

Das ist Schrift.

EIN MANN

Schrift?

EINE FRAU

Ratlosigkeit.

EIN MANN

Schrift,

was soll das sein?

 

EINE ANDERE FRAU

Die fünf Männer

lernen Buchstabieren,

EIN MANN

mit Mühe E –

EIN ANDERER MANN

U –

EIN WEITERER MANN

R –

EIN MANN

A –

nein,

O – oder?

O oder A?

EINE FRAU

O –

EIN MANN

O –

EIN ANDERER MANN

P –

EIN WEITERER MANN

A –

 

EIN MANN

An einer weißen Hauswand

steht in roten Buchstaben

EUROPA,

EINE FRAU

Europa.

 

Die Farbe trocknet in der Sonne,

verblasst,

EINE ANDERE FRAU

und später wäscht sie dann der Regen ab.

EIN MANN

Oder das Haus brennt ab.

EINE FRAU

Oder es wird abgerissen,

weil hier jetzt

eine Tankstelle entstehen soll.

 

EIN MANN

Verkehr,

Motoren,

Handel,

Geschäfte,

EIN ANDERER MANN

Plakate,

Werbung,

Versprechungen,

EINE FRAU

Angebot und Nachfrage,

steigende und sinkende Preise,

EINE ANDERE FRAU

leuchtende Schriftzüge,

Kinos,

Theater,

Boulevards,

EINE WEITERE FRAU

die Stadt bei Nacht

ein Lichtermeer

hinter hohen Mauern,

EINE FRAU

der Schein der Lichterstadt

bei Nacht am Himmel,

EIN MANN

Fabriken,

Maschinen,

die nie stillstehen,

 

Rotation,

Rauch, Dampf,

 

ein Zug

fährt durch die Stadt,

unterirdisch,

EINE FRAU

Schulklassen auf Exkursion,

die Kinder

rennen durch ein Museum,

 

Büsten,

Gipsabdrucke,

Marmor,

 

auf einem Stier aus Stein

sitzt eine Frau

und dreht sich um,

EIN MANN

Wohin schaut sie?

EINE FRAU

Mit der einen Hand

hält sich Europa

an einem Horn des Stiers fest,

und mit der anderen

versucht sie verzweifelt

ihr Kleid zusammenzuhalten,

durch das der Wind fährt,

auf dem offenen Meer,

ihr Mund ist aufgerissen –

 

Der Wind reißt Europas Kleid davon.

 

EINE ANDERE FRAU

der Stier aus Stein,

aus Marmor,

verwandelt sich in einen Mann

und vergewaltigt sie

drei Jahre lang –

EINE WEITERE FRAU

oder

der Stier verwandelt sich in einen Adler,

und der Adler und das Mädchen lieben sich,

sie leben fern der Städte,

jahrelang, glücklich,

versteckt, hoch oben in den Bergen Kretas.

4.

EIN MANN

Die fünf Männer sagen:

Wir kommen aus dem Nichts.

EIN ANDERER MANN

Wir wissen nichts.

EIN MANN

Angeblich wuchsen wir

aus Zähnen,

EIN WEITERER MANN

aber wie soll das gehen?

Das kann nicht sein,

EIN ANDERER MANN

das kann einfach nicht sein –

EIN MANN

An was

sollen wir glauben?

Und was wird aus uns?

EIN ANDERER MANN

An was sollen wir glauben,

und was wird aus uns werden?

 

Was sollen wir tun?

Was ist richtig?

Was ist falsch?

Und wer bestimmt unser Schicksal?

EINE FRAU

Wer kennt die Zukunft?,

fragen die fünf Männer.

EIN MANN

Jemand muss doch die Zukunft kennen!

 

Pause.

 

EINE ANDERE FRAU

Die Zukunft –

 

die Zukunft kennt keiner.

Niemand.

 

Es gibt sie nicht –

und deshalb muss man sie erfinden.

 

EIN MANN

Glaube.

Angst.

Aberglaube.

 

EINE FRAU

Vorhersagungen.

Prophezeiungen.

Prognosen.

 

EINE ANDERE FRAU

Radio,

Zeitungen,

Nachrichten,

Bildschirme.

5.

EIN MANN

Fließende Aktienkurse,

fallend und steigend.

EIN WEITERER MANN

Banken,

Geld,

Wettbüros,

Spielhallen,

Bordelle.

EIN ANDERER MANN

Ein Altar.

 

EIN MANN

Sirenen.

Stehender Verkehr.

EINE FRAU

Kräne,

Hochhäuser,

EIN MANN

das große Stadion,

EINE FRAU

Elektrizität,

Scheinwerfer,

Blitzlichter,

Musik.

 

EINE ANDERE FRAU

Gleichzeitig,

vor der Stadt,

draußen,

außerhalb der hohen Mauern:

EIN MANN

Kraftwerke,

Hochöfen.

Schmorender Müll,

Elektroschrott,

schwarzer Rauch.

Über Nacht gebaute Siedlungen.

Wellblech, Sperrholz.

Krankheiten,

Enge.

 

Pause.

 

EINE FRAU

Oben,

über den Dächern der Stadt,

auf einer weißen Terrasse,

eine Hochzeit,

wie versprochen.

EINE ANDERE FRAU

Kadmos

heiratet Harmonia,

die Tochter des Mannes

damals an den Quellen des Flusslaufs,

 

die Tochter des Mannes,

der angeblich gleichzeitig

ein Drache war –

oder ein Gott oder beides.

EIN MANN

Nach acht Jahren

ist es so weit,

es ist Hochzeit,

EINE FRAU

und alle sind gekommen,

um mit dem Brautpaar zu feiern:

Der Himmel,

die Erde,

das Meer,

EIN MANN

die Liebe,

die Schönheit,

die Eifersucht,

EINE FRAU

der Tod und die Fruchtbarkeit,

das Licht, die Dunkelheit,

der Mond,

die Weisheit, der Krieg,

EIN MANN

der Frieden,

Handel und Diebstahl,

das Feuer,

das Vergessen

EINE FRAU

und das Erinnern

und die Hoffnung.

EINE ANDERE FRAU

An diesem Abend

über der leuchtenden Stadt

sitzen sie zum letzten Mal

alle gemeinsam an einem Tisch –

danach nie wieder mehr.

 

Gesang.

6.

EIN MANN

Später an jenem Abend,

nach dem Fest, geht ein Mann

alleine durch die Stadt.

Er trägt einen Schleier

oder eine Maske

oder ein Gesicht,

das nicht das seine ist,

denn jeder, der sein wirkliches Gesicht sieht,

verbrennt.

 

An einer Ecke kauft der Mann

von einem Blinden

Zigaretten und die Abendzeitung.

EINE FRAU

Der Blinde

tastet nach der Hand des Mannes,

und dann sagt er:

Heute in neunzehn Jahren

wirst du dich verlieben.

 

Und dann wird die Frau, die du liebst,

in Flammen aufgehen, verbrennen –

 

und du wirst euren Sohn gebären.

 

So wird es sein.

 

EIN MANN

Der Mann läuft weiter

durch die Stadt bei Nacht,

allein,

 

EINE FRAU

und dann sieht er,

 

auf den Tag genau

neunzehn Jahre später,

 

auf einem Platz neben einem Brunnen

in einer Gruppe von Freundinnen und Freunden

eine junge Frau,

die ihn an ein Mädchen erinnert,

das er einmal gekannt hatte,

vor langer Zeit,

Europa.

EINE ANDERE FRAU

Er geht auf die Gruppe zu,

fragt nach Feuer,

und das Lächeln der jungen Frau

bricht für immer sein Herz.

 

Eine Frau gibt einem Mann Feuer.

 

EIN MANN

Wie heißt du, fragt der Mann.

Semele, sagt sie.

Und das ist meine Schwester, Agaue.

 

EINE FRAU

Ich heiße Semele,

und wie heißt du?

EINE ANDERE FRAU

Ich – sagt der Mann,

EIN MANN

Ich –

EINE FRAU

Ich bin –

EIN MANN

Ich bin –

EINE ANDERE FRAU

und dann spricht der Mann nicht weiter.

 

EINE FRAU

Ich verliebte mich in einen –

Ich weiß nicht, in wen ich mich verliebte –

 

Und er verliebte sich in mich,

das ging so schnell –

 

Wir mussten beide lachen,

so schnell ging das.

Das war wie ein Blitz.

 

Ein Mann nimmt die Hand einer Frau.

 

Stell dir vor,

wir hätten ein Kind,

sagte ich zu ihm.

 

Sie lacht. Er lächelt.

 

Das habe ich wirklich gesagt,

stell dir vor,

wir würden ein Kind bekommen,

du und ich.

 

EIN MANN

Semele – die junge Frau hieß Semele.

EINE FRAU

Und sie stand da an dem Abend auf dem Platz

mit ihren Freundinnen und Freunden,

und mit ihren drei Schwestern,

Agaue, Ino und Autonoë –

EINE ANDERE FRAU

Semele, Agaue, Ino und Autonoë,

das waren die vier Töchter des Kadmos

und der Harmonia,

EIN MANN

Prinzessinnen –

EIN ANDERER MANN

Richtige Prinzessinnen,

die Prinzessinnen von Theben –

Die treffen sich manchmal

in den warmen Sommernächten

mit ihren Freundinnen und Freunden

auf dem großen Platz,

und da rauchen sie heimlich

und reden über –

EINE FRAU

Und dann kommt ein Mann,

eines Abends,

den hier noch nie jemand zuvor gesehen hat,

und fragt Semele nach Feuer.

 

Einfach so.

 

EINE ANDERE FRAU

Und ein paar Wochen später ist sie schwanger.

 

Lange Pause.

 

EINE FRAU

Vater –

ich bin schwanger.

 

Pause.

 

Aber das Kind ist nicht von irgendwem,

das Kind ist von Zeus.

Also von Gott.

EIN MANN

Sie sagt, das Kind sei von Zeus.

EINE ANDERE FRAU

Klar –

klar ist das Kind von Zeus,

was soll sie auch sonst sagen.

EINE WEITERE FRAU

Nur dass das Kind natürlich nicht von Zeus ist,

sondern von irgendeinem Typen,

der sich wichtigmacht

und der sein Gesicht nicht zeigt,

und sie glaubt den Schwachsinn auch noch –

falls sie sich das Ganze

nicht selbst ausgedacht hat –

EINE ANDERE FRAU

und jetzt sollen die Geschichte alle glauben,

Entschuldigung,

geht’s noch,

als Nächstes schwimmt dann ein Stier vorbei –

EIN MANN

Na ja – die fünf Männer,

die fünf Männer,

die aus den Drachenzähnen gewachsen waren,

sagen, na ja –

EINE FRAU

Warum zeigt er denn nicht

sein wahres Gesicht,

dein angeblicher Gott,

woher willst du denn wissen,

wer das ist,

wenn du ihn nicht sehen kannst –

EIN ANDERER MANN

Die fünf Männer sagen,

was kann man wissen,

was muss man glauben,

wir wissen doch gar nicht,

woher wir kommen, woher

sollen wir denn wissen,

was richtig ist

und was falsch ist

und was wahr ist und was nicht –

das ist so schwierig,

eine Welt aus nichts als Zweifel

stürzt in sich selbst zusammen,

aber eine Welt, die nur

aus blindem Glauben besteht,

tut es auch –

und das eine führt ja dann zum nächsten

und immer so weiter und weiter,

ist Glauben ein Glück

oder eine Gefahr,

und können Götter überhaupt

mit Menschen Kinder kriegen,

ganz allgemein gefragt,

und was ist mit Fortpflanzung im Speziellen,

ist Fortpflanzung Fortschritt,

Sicherung des Fortbestands

der eigenen Art

oder deren Vernichtung,

und dann, dann flattert einem

so ein Katalog ins Haus,

oder es gibt ihn jetzt

nur noch online,

weil die von dem Katalog

jetzt alles besser machen wollen,

vielleicht wollen sie aber

auch nur Geld sparen,

die Frage aber bleibt dieselbe:

Ist das Sofa

mauve oder lila oder braun,

und müsste es nicht eine Instanz geben,

die uns von all diesen Fragen befreit?

Aber welche? Die Kunst?

Ist die Kunst frei

oder trägt sie Verantwortung?

Und was ist der Auftrag der Politik?

Hat Politik überhaupt

einen moralischen Auftrag?

Soll sie diesen Katalog

ermöglichen

oder sollte sie ihn nicht besser

verhindern?

Und welchen Auftrag

hat der Katalog selbst?

Was ist denn mehr wert:

der Markt

oder die Würde

oder das Leben?

Was brauchen wir?

Was brauchen wir wirklich?

Und was müssen wir wissen?

Sind wir glücklicher, wenn wir wissen,

ob das Sofa mauve oder lila ist

oder braun mit einem Stich ins –

wie heißt die Farbe? –

könnte auch Flieder sein.

Oder Lavendel??

Was ist Wohlstand?

Macht Wohlstand uns glücklich,

und, nächste Frage,

welchen Stellenwert

hat denn das persönliche Glück,

ist Wohlstand das höchste aller Güter,

und falls nein, was ist es dann?

Die Freiheit?

Angenommen, es gäbe Antworten

auf diese Fragen,

oder zumindest

an Wahrheit grenzende Überzeugungen

im Allgemeinen,

darf man lügen, um diese zu vertreten,

wenn sie doch wahr sind?

Ja oder nein?

Ist Gewalt zur Durchsetzung

dieser Wahrheiten oder Überzeugungen

erlaubt oder nicht

oder zerstört Gewalt am Ende auch das,

was es bewahren wollte?

 

Verzweifelte Pause.

 

Was darf man sagen?

Was darf man nicht sagen?

Was muss man benennen, aussprechen,

weil es da ist

und weil es immer da sein wird,

gerade, wenn man es nicht benennt?,

und was darf man nicht benennen,

weil es nur dadurch, dass man es benennt,

weiter in der Welt ist?

EINE FRAU

Und meine Schwester sagte,

der Vater dieses Kindes,

das ist ein Mann,

wie jeder andere,

nur dass du sein Gesicht nicht kennst.

Woher willst du wissen,

wer das ist,

das könnte sonst wer sein.

 

Pause.

 

EINE ANDERE FRAU

Einer, der rumfährt.

Ein Bauzimmermann, vielleicht.

Oder ein Schauspieler

oder ein Starkstromtechniker

vom Tourneetheater.

 

Oder vom Rummel.

 

EINE FRAU

Komm, Liebster,

sagt die junge, schwangere Frau

zu dem Vater ihres Kindes.

Komm.

Komm, zeig mir,

wer du wirklich bist,

komm, zeig mir dein Gesicht –

und er sagt, das geht nicht,

das geht nicht,

du würdest es nicht überleben,

du würdest verbrennen –

nein, sagt die Frau,

das würde ich nicht,

ich trage doch unser Kind

in mir, wie könnte mich da

dein Anblick töten –

 

Pause.

 

EINE ANDERE FRAU

Ein Gewitter ist aufgezogen.

Wind.

Ein Blitz.

EINE WEITERE FRAU

Oder ein Kurzschluss.

EINE FRAU

Feuer.

 

EINE ANDERE FRAU

Die Mutter

und das noch ungeborene Kind

werden vollkommen verbrannt,

da bleibt nichts übrig

außer Asche,

und von dem Vater

keine Spur –

 

und nun soll dies

ein Gott gewesen sein,

und eine ganze Stadt

soll das auch noch glauben,

 

der Gott, dieser Gott

habe sich der Schwangeren

in seiner wahren Gestalt gezeigt,

und diese Gestalt

sei so strahlend hell gewesen,

noch heller als die Sonne,

so dass Semele bei seinem Anblick verbrannte,

das Kind aber

in ihr,

das hätten entweder Zeus selbst

oder Hermes, der Götterbote,

aus dem Körper seiner verbrennenden Mutter gerettet,

und dann habe Zeus dieses Kind

in seinen eigenen Schenkel

eingenäht, um es vor dem eifersüchtigen Blick

seiner Frau, Hera, zu verstecken,

und so habe der Gott sein Kind

selbst ausgetragen,

was dessen Namen erklärt:

Dionysos, der zweimal geborene,

einmal geboren werden

war wohl nicht genug,

es muss schon zweimal sein,

aufgezogen wurde der junge, neue Gott dann

von – darüber gehen die Meinungen, natürlich, auseinander – später, halbwüchsig oder volljährig,

suchte er sich dann einen göttlichen Aufgabenbereich, oder wie heißt das,

ein Betätigungsfeld,

das war, kurz zusammengefasst, alles,

was mit Alkohol,

Feiern

und Ficken zu tun hat,

ein Konzept, das letztlich nichts anderes ist,

als eine maskuline Unterwerfungsphantasie

in der Verkleidung eines neuen Kultes,

bei dem Frauen begeistert

nackt durch Wälder rennen.

 

Diesen Quatsch

braucht niemand,

und wir müssen uns das

auch nicht ständig mehr anhören.

Bloß weil Semele

sich von irgendeinem Durchreisenden

schwängern ließ,

müssen wir jetzt nicht

alles glauben und uns

vor diesem Hirngespinst

in den Staub werfen.

Dafür

ist in dieser Stadt kein Platz.

Weg damit,

das muss weg.

So schwach ist die Stadt nicht,

die Kadmos gründete,

dass sich ein Parasit

künstlich geschaffener Bedürfnisse

hier einfressen kann.

Diesem Biest begegnen wir

wie der Mensch dem wilden Tier

in der Arena:

Das Tier ist die Dunkelheit,

schnaubend, ungestüm und blind,

der Mensch dagegen,

der Mann, der dem Tier entgegentritt,

ist die Lichtgestalt der Ordnung,

und wir alle wissen,

wie dieser Kampf endet:

Das Tier wird sterben,

und der Mensch wird leben.

Es gibt keinen neuen Gott,

der neue Glaube

an Rausch und Fleisch

ist hiermit abgesagt.

Dionysos

Euripides / Roland Schimmelpfennig

DIONYSOS

CHOR DER MÄNADEN

TEIRESIAS, ein Seher

KADMOS

PENTHEUS

EIN HIRTE

EIN MANN

AGAUE

DIONYSOS

Jetzt bin ich endlich hier, in Theben,

ich, Dionysos, der Sohn des Zeus,

den Semele, König Kadmos’ Kind,

hier zur Welt brachte –

in einem Blitz aus Feuer.

Als Gott in der Gestalt eines Menschen

stehe ich hier; meine Mutter,

die der Blitz tötete, liegt hier begraben,

hier sind die Trümmer ihres Hauses;

die Glut raucht heute noch, Jahre später,

als ewiges Zeichen dafür,

wie sehr Hera meine Mutter hasste.

Kadmos machte den Ort zum Heiligtum,

und ich ließ die Stelle zum Schutz

mit wildem Wein zuwachsen.

 

Ich komme aus Lydien und Phrygien,

von dort zog ich durch das Reich der Perser,

ich sah die hohen Mauern Baktras

in der Sonne leuchten,

ich zog im Schnee

durch das kalte Land der Meder

und durch das blühende Arabien,

mein Weg ging durch ganz Asien –

dort türmen sich an den Küsten

die Städte hoch und höher

und in den Straßen wimmelt es von Menschen aller Völker.

Hinter mir liegt eine unsichtbare Spur:

Überall auf dem Weg

habe ich meine Feste eingeführt,

die Musik, den Gesang, die Trommeln, die Tänze –

und jetzt werde ich auch hier in Griechenland

den Menschen zeigen, was ich bin:

ein neuer Gott!

 

Theben: Der ganzen Stadt warf ich ein Hirschfell um

und gab ihr meinen Efeustab, den Thyrsos –

die Stadt kreischt, sie jubelt.

Ich nehme Theben als erste Stadt in Griechenland,

weil die Schwestern meiner Mutter

nicht aufhören zu behaupten,

ich, Dionysos, sei nicht der Sohn des Zeus;

Semele sei von einem Menschen verführt

und geschwängert worden –

dass Zeus der Vater sei, habe sich Kadmos ausgedacht,

und wegen dieser Lüge habe Zeus

Semele mit dem Blitz getötet.

Als Erstes habe ich die Schwestern meiner Mutter

aus der Stadt gejagt,

sie sind jetzt oben in den Bergen – blind vor Wahnsinn.

Danach trieb ich jede einzelne Frau in Theben

aus ihrem Haus und hinauf in die Berge.

Oben auf den Felsen und in den Wäldern

lebt jetzt ein ganzer Schwarm von Frauen

zusammen mit Kadmos’ Töchtern,

und alle sind wahnsinnig, irre, außer sich.

Ich, der Sohn des Zeus und der Semele,

werde mich zur Verteidigung der Ehre meiner Mutter

als Gott den Menschen offenbaren –

auch gegen den Willen dieser Stadt.

 

Kadmos hat inzwischen seine Macht

an den Sohn einer seiner anderen Töchter abgegeben,

Pentheus, und Pentheus will gegen mich kämpfen,

gegen mich, den Gott,

er betet nicht zu mir und bringt mir keine Opfer,

aber ich werde ihm und jedem in dieser Stadt beweisen,

was ich bin.

Sollten die Thebaner versuchen,

die Bacchen mit Gewalt aus den Bergen

zurück in die Stadt zu bringen, kommt es

zwischen ihnen

und mir und den Mänaden

zum Kampf.

Erst wenn ich hier gesiegt habe,

werde ich weiterziehen

von Stadt zu Stadt.

 

Ihr Frauen, meine Begleiterinnen, Mänaden,

ihr habt mit mir Lydiens Schutz,

den heiligen Tmolos, verlassen,

ihr habt mich auf dem langen Weg durch die Fremde

von Stadt zu Stadt und von Fest zu Fest begleitet,

schlagt die Trommeln,

die ich mit der Mutter der Götter, Rhea, in Phrygien erfand,

hier vor dem Königspalast des Pentheus,

die Stadt des Kadmos soll sie hören!

Ich gehe zu den Bacchen in die Berge

und feiere mit ihnen in den Schluchten des Kithairon.

Ab.

CHOR

zieht auf Wir kommen von weit her,

aus Asien,

und vom heiligen Tmolos,

wir feiern

Dionysos,

Bromios,

den lärmenden Gott,

erschöpft und glücklich,

feiern wir

erschöpft und glücklich

Bacchos,

Dionysos,

Bromios,

den lärmenden Gott.

 

Wer ist in den Straßen?

Wer ist in den Straßen?

Wer ist noch in den Häusern?

Jeder von euch,

ihr alle,

tretet zur Seite und schweigt,

denn wir singen,

wir singen,

um unseren Gott zu loben,

Dionysos,

Bromios,

den lärmenden Gott.

 

Wer wäre nicht glücklich,

der sich uns anschließt,

glücklich, voll Freude,

wer wäre nicht glücklich,

der in den Bergen

den Gott und die Mutter der Götter,

Rhea, Kybele,

mit dem Efeustab feiert.

 

Bacchen,

ihr Frauen,

Bacchen,

bringt den Gott heim,

bringt den lärmenden Sohn

des Zeus endlich heim,

nach Griechenland

und seinen Straßen und Plätzen.

 

Seine Mutter verbrannte, schwanger

in dem Blitz, den Zeus schickte,

aber Zeus nahm den Sohn

und trug ihn versteckt

unter goldenem Schmuck

in seinem eigenen Schenkel

heimlich unter den Augen Heras

und brachte ihn

dann zur Welt,

einen Gott

mit den Hörnern eines Stiers.

Er setzte ihm Schlangen auf den Kopf,

und deshalb tragen auch die Mänaden

Schlangen im Haar.

 

Theben, Semeles Stadt,

schmück dich im Rausch

mit Efeu,

schmück dich mit den Zweigen

der Eiche und der Tanne.

Zieh das gefleckte Hirschfell über,

nimm die heiligen Efeustäbe,

die Zeichen des Gottes.

 

Alles wird tanzen,

erreicht erst der lärmende Gott die Berge,

wo der Schwarm der Frauen,

die Dionysos aus den Häusern Thebens getrieben hat,

im Wahnsinn schon auf ihn wartet.

 

In den Bergen

Lydiens und Phrygiens

greift er sich nach dem Tanzen und Singen

einen Rehbock im Sprung,

er sitzt dann

auf dem Waldboden,

das Hirschfell um die Schultern,

und isst das rohe Fleisch

und trinkt das Blut des Tiers.

Und dann quillt Milch aus der Erde,

dann strömen aus der Erde

Wein und Honig,

Dampf steigt aus der Erde

wie syrischer Weihrauch.

Aber dann will der Gott weiterziehen,

er steckt eine brennende Fackel

auf seinen Efeustab

und ruft:

Auf mit euch, Bacchen, auf, auf,

schlagt die Trommeln,

tanzt und singt für Dionysos,

den lärmenden Gott!

Und erschöpft und glücklich

wie Kinder tanzen die Bacchen weiter.

 

TEIRESIAS

tritt auf Ist wer am Tor? Kadmos soll kommen,

Agenors Sohn, der aus Sidon hierherkam

und Theben gründete.

Einer soll gehen und ihm melden,

dass Teiresias gekommen ist!

Warum ich hier bin, weiß er:

Er und ich, ich, der Alte,

und er, der Greis, werden Bänder

um unsere Stäbe binden

und uns Hirschfelle umwerfen

und uns Kränze aus Efeu auf den Kopf setzen.

KADMOS

Mein weiser Freund,

ich höre dich,

und ich folge dir:

So wie du trage ich

das Hirschfell und den Efeustab,

ich werde den Sohn meiner Tochter, Dionysos,

so gut ich noch im Alter kann, als Gott feiern.

Wo soll ich tanzen? Wo soll ich die Füße heben

und die grauen Haare schütteln?

Teiresias, du sollst mich führen,

der Blinde führe den Greis,

denn du kennst den Weg,

du weißt, wohin es geht.

Unermüdlich werde ich bei Tag und Nacht

mit dem Efeustab auf die Erde stampfen –

wie wunderbar, ich fühle mich

plötzlich so jung –

TEIRESIAS

So wie ich –

ich bin auch wieder jung

und will Tag und Nacht tanzen.

KADMOS

Sollen wir mit einem Wagen ins Gebirge fahren?

TEIRESIAS

Nein, das würde dem Gott sicher nicht gefallen.

KADMOS

Dann laufen wir, ich leite dich.

TEIRESIAS

Der Gott wird uns beiden den Weg schon zeigen.

KADMOS

Sind wir die einzigen Männer in ganz Theben, die für Dionysos tanzen?

TEIRESIAS

Ja, wir sind die einzigen mit Verstand, der Rest ist dumm.

KADMOS

Warten wir nicht länger – leg deine Hand auf meine Schulter.

TEIRESIAS

Hier – nimm meine Hand.

KADMOS

Kein Mensch darf einen Gott missachten.

TEIRESIAS

Kein Mensch darf sich über einen Gott erheben.

Keine noch so scharfsinnige Vernunft

widerlegt den Glauben unserer Väter und Vorväter –

er ist so alt wie die Zeit selbst.

Was soll daran falsch sein,

dass ich trotz meines Alters

mit Efeu in den Haaren

zum Tanzen gehe.

Nein: Der Gott schließt keinen aus,

die Jungen nicht und nicht die Alten,

jeder soll den Gott feiern – ohne Unterschied.

KADMOS

Teiresias, du siehst das Sonnenlicht nicht –

Aber dafür kann ich dir sagen,

was ich sehe –

da kommt Echions Sohn, Pentheus,

an den ich den Thron weitergab,

er ist in Eile, aufgeregt – was hat er?

Pentheus tritt auf.

PENTHEUS

Ich war außerhalb der Stadt,

als ich davon Bericht bekam,

was für ein Wahnsinn sich hier plötzlich abspielt.

Alle Frauen haben ihre Häuser und die Stadt verlassen,

angeblich von Dionysos dazu angetrieben,

und jetzt irren sie in den Bergen durch die Wälder

und feiern tanzend den neuen Gott,

den es bis vor kurzem noch gar nicht gab,

Dionysos, wer immer das auch sein soll –

 

Sie trinken krügeweise Wein,

und dann machen manche von ihnen

es einfach heimlich am Rand der sogenannten Feier

wie Tiere unter freiem Himmel

mit irgendwelchen Männern.

Sie tun so, als wären sie Mänaden,

von ihrem Gott begeisterte Bacchen,

in Wahrheit geht es hier aber um Aphrodite,

und nicht um Bacchos.

Die, die wir schon kriegen konnten,

haben wir gefesselt und eingesperrt,

und die anderen – darunter

die Schwestern Ino, Autonoë und Agaue,

die Frau des Echion, meine eigene Mutter –

werden wir auch noch aus den Bergen treiben

und in Eisen legen und so

dieses irre Bacchos-Fest beenden.

 

Es heißt, ein Fremder sei in der Stadt,

ein Beschwörer aus Lydien,

der angeblich Zauberkräfte hat,

mit schönem langen Haar und schwarzen Augen

mit dem tiefen Blick der Aphrodite.

Unter dem Vorwand,

sie noch in die heiligen Festbräuche des Dionysos

einweisen zu müssen, soll er Tag und Nacht

mit jungen Frauen verbringen!

Sitzt der erst fest unter dem Dach meines Palasts,

hat es mit dem Gestampfe

und dem Schütteln der Haare ein Ende:

Ich werde ihm den Kopf abschlagen!

Er behauptet tatsächlich,

Dionysos sei ein Gott,

den Zeus in seinem Schenkel versteckt gehalten habe,

dabei hat Zeus in Wahrheit

das Kind und seine Mutter

mit seinem Blitz vernichtet,

weil sie behauptet hatte,

Zeus sei der Vater ihres Kindes.

Was für eine Lüge –

dafür lasse ich ihn hängen,

egal, wer er ist.

 

Und hier: noch ein Wunder!

Teiresias, der blinde Zeichenleser

in einem Hirschfell,

und daneben der Vater meiner Mutter –

lächerlich –, und beide schwingen

in Verzückung den Efeustab des Bacchos!

Vater! Ich schäme mich, Euch so zu sehen –

habt Ihr trotz Eures Alters

nicht einen letzten Rest von Verstand?

Willst du so mit dem Efeu rumlaufen?

Großvater, leg lieber den Stock weg –

Du, Teiresias, du hast ihm das eingeredet,

du willst nur deshalb hier den neuen Gott durchsetzen,

weil Vogelschau und Brandopfer dein Geschäft sind,

du lebst davon.

Wärst du nicht so alt, ließe ich dich fesseln

und zu den eingesperrten Bacchen bringen,

weil du hier irre Bräuche einführst!

Das sind keine heiligen Feiern mehr,

bei denen sich Frauen betrinken.

CHOR

Geh nicht zu weit –

Freund, hast du keine Ehrfurcht

vor den Göttern,

vor Kadmos,

der die aus der Erde gewachsenen Männer säte,

dein eigner Vater gehörte dazu, Echion,

willst du wirklich

deine eigene Familie beleidigen?

TEIRESIAS

Du redest viel, und was du redest,

klingt klug und vernünftig,

aber was du sagst, ist in Wahrheit hohl,

in deinen Worten steckt

kein Funken Verstand,

und ein Mann mit Macht und Mut und Kraft,

aber ohne Verstand, schadet der Stadt.

Der neue Gott, den du lächerlich machen willst,

wird groß und mächtig werden –

so groß und mächtig,

dass ich es nicht in Worte fassen kann.

 

Nichts ist wichtiger für den Menschen,

als das Brot, das Demeter, die Erde, ihm gibt:

– und der Wein, den Dionysos erfand.

Der Wein lässt uns den Tag vergessen,

die Mühe und die Qual,

er bringt uns Schlaf und hilft

in der Verzweiflung.

Du verspottest den Gott, du lachst,

weil es heißt, er sei im Schenkel des Zeus versteckt gewesen.

Ich will dir sagen, wie es war:

Als Zeus Dionysos aus dem Blitz gerettet hatte

und ihn als seinen Sohn auf den Olymp brachte,

forderte Hera das Kind für sich,

um es vom Himmel zu stürzen und zu töten.

Aber Zeus täuschte sie, wie es nur ein Gott kann:

Er riss einfach ein Stück aus dem Äther

und formte es so wie das Kind.

Dieses Stück gab er Hera als Geschenk –

und schützte so Dionysos vor Heras Zorn und Hass.

Daraus entstand später eine Verwechslung

oder ein Wortspiel – eine Umdeutung:

Aus dem Geschenk für Hera

wurde der Schenkel –

daher die Geschichte.

 

Dieser Gott lässt im Rausch

in die Zukunft sehen,

Betrunkene werden zu Sehern,

dieser Gott ist überall,

sogar im Krieg, wenn ganze Heere

plötzlich vor der Schlacht

vor Angst in alle Richtungen davonlaufen,

das ist nichts anderes als dionysischer Wahnsinn.

 

Du wirst es noch

mit eigenen Augen erleben,

wie dieser Gott in Delphi

auf den Felsen steht

und dann mit Fackeln von Berg zu Berg zieht,

ganz Griechenland wird ihn anerkennen und zu ihm beten.

Pentheus, glaub mir, hör mir zu:

Denk nicht, dass deine Macht

von irgendeiner Bedeutung wäre.

Du denkst, du wärst mächtig,

aber du täuschst dich.

Öffne das Land

für diesen Gott,

bring ihm Opfer,

schmück dein Haar mit Efeu

und tanz mit!

Und was die Frauen angeht:

Wer sich nicht verführen lassen will,

wird es auch nicht tun,

aber wenn es geschieht,

liegt es nicht an Dionysos und seinen Feiern.

Du hörst selbst gern,

wenn das Volk vor dem Palast

den Namen Pentheus ruft –

genau so, wie Dionysos sich gerne feiern lässt.

Kadmos, über den du dich lustig machst,

und ich werden jetzt

mit Efeu in den Haaren tanzen gehen,

ein Paar Greise, ja,

aber wir werden tanzen!

Ich werde dir nicht folgen

und gegen einen Gott kämpfen;

dein Wahnsinn ist durch kein Mittel zu heilen.

CHOR

Nur die Greise sind in dieser Stadt klug genug,

den großen, lärmenden Gott anzubeten –

KADMOS

Mein Sohn,

Teiresias warnt dich zu Recht,

komm mit uns,

stell dich nicht gegen einen Gott,

du hältst dich für klug, aber du siehst nichts,

du verlierst den Boden unter den Füßen.

 

Selbst wenn er kein Gott ist –

warum sollten wir ihn nicht so nennen?

Was wäre daran so schlimm?

Und wenn es wahr wäre?

Dann ist Semele

die Mutter eines Gottes –

was für eine Ehre

für unsere ganze Familie.

 

Denk an Aktaions bitteres Ende:

Die scharfen Hunde,

die er selbst gezüchtet hatte,

rissen ihn im Wald auf der Jagd in Stücke,

weil er behauptet hatte,

er sei ein besserer Jäger als Artemis –

 

So ein Ende sollst du nicht finden –

Komm, ich mache dir einen Kranz aus Efeu,

ich schmücke dich,

lass uns zusammen den Gott feiern.

PENTHEUS

Fass mich nicht an!

Geh doch und tanz

für deinen Bacchos,

mich kannst du mit deinem Wahnsinn nicht anstecken!

Er aber, der dich angesteckt hat,

wird dafür bezahlen!

 

Ich lasse alles niederreißen und zerstören:

Der Sitz, von dem aus

der blinde Seher den Vogelflug beobachtet,

wird umgestürzt,

alles wird umgedreht,

was unten war, wird oben liegen,

was oben war, wird unten liegen,

kein Stein wird auf dem anderen bleiben,

und die Gebetsfahnen zerreißen wir

und streuen sie in den Wind.

Das wird dir weh tun!

 

Geht in die Stadt und sucht den Fremden,

der sich wie eine Frau anzieht –

er hat diesen Wahnsinn hierhergetragen

und unsere Frauen damit angesteckt,

bringt ihn dann gefesselt hierher,

ich werde ihn steinigen lassen.

In Theben werden die Bacchosfeiern

für ihn bitter enden.

Pentheus ab.

TEIRESIAS

Du Wahnsinniger! Du ahnst nicht,

was du sagst – jetzt hast du

endgültig den Verstand verloren.

Beten wir, Kadmos, dass der Gott

nicht ihn und die Stadt hart bestraft!

 

Komm, stütz dich auf deinen Efeustab,

du hältst dich an mir fest,

und ich mich an dir –

nicht, dass zwei Alte stürzen,

das wäre schlimm.

Feiern wir den Sohn des Zeus.

Man muss kein Seher sein,

um vorauszusagen,

dass Pentheus großes Unglück

über dein Haus bringen wird, Kadmos.

Das folgt einfach aus dem,

was er tut.

Dumm, wie er ist,

redet er dumm.

CHOR

Das alles führt

zu einem bitteren Ende.

Wer mehr will,

als er kann,

wird niemals glücklich.

Das Leben

ist zu kurz;

sehen wir,

was der Tag bringt –

wer mehr will,

sieht nicht,

was vor ihm liegt.

 

Auf Kypros

wäre ich jetzt gern,

auf der Insel

der Aphrodite,

oder in Paphos,

im fruchtbaren Delta

des großen Flusses

aus der unbekannten Weite,

oder in Pieria

an den Hängen des heiligen Olympos –

dahin bring mich,

lärmender, umherziehender Gott,

dahin bring mich,

dort wäre ich gern,

denn dort

sind die Bacchen

und ihre Tänze willkommen.

Auftritt Pentheus, Dionysos, ein Mann.

EIN MANN

mit dem gefesselten Dionysos Wir sind zurück, Pentheus,

zusammen mit der Beute,

die wir jagen sollten –

wir waren erfolgreich.

Er hat sich nicht gewehrt,

und er versuchte nicht zu fliehen,

er hielt sogar freiwillig seine Hände hin

und lachte, als wir ihn fesselten und wegbrachten,

er machte es uns mehr als leicht.

Ich schämte mich, als ich ihn trotzdem fesselte, und sagte:

»Fremder, ich setze dich nicht fest,

weil ich es will,

sondern weil Pentheus es so befiehlt –«

 

Aber die Frauen, die du eingesperrt hattest,

die Bacchen,

sind alle fort, sie sind weg.

Sie ziehen frei und ohne Fesseln

tanzend über die Wiesen

wieder zurück in die Berge

und loben laut Dionysos, ihren Gott.

Die Ketten an ihren Füßen

fielen von selbst ab,