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Roland Schimmelpfennig wirft einen modernen Blick auf die Antike und auf die großen griechischen Tragödien von Aischylos, Sophokles und Euripides. Seine Übersetzungen sind von sprachlich unvergleichlicher Klarheit, seine Überschreibungen radikal, seine neuen Texte führen die Leser und das Theaterpublikum zurück zu den Ursprüngen des europäischen Theaters. Und ganz nebenbei schließt Roland Schimmelpfennig mit seiner eigenen Version des »Laios« eine zweitausendfünfhundert Jahre alte Lücke. In »Anthropolis. Ungeheuer. Stadt. Theben.« sind die Neuübersetzungen, Überschreibungen und Neudichtungen »Dionysos«, »Laios«, »Ödipus«, »Iokaste« und »Antigone« zu finden.
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Seitenzahl: 345
Roland Schimmelpfennig
Ungeheuer. Stadt. Theben.
Roland Schimmelpfennig, geboren 1967 in Göttingen, ist Autor, Regisseur und vor allem einer der meistgespielten Gegenwartsdramatiker Deutschlands. Er studierte, nach einem längeren Aufenthalt als Journalist in Istanbul, Regie an der Otto-Falckenberg-Schule in München. Seither schreibt er Theaterstücke für große Häuser wie das Deutsche Theater Berlin, das Burgtheater Wien, das Residenztheater München und das Schauspielhaus Hamburg – aber auch für internationale Bühnen in Stockholm, Kopenhagen, Toronto oder Tokio. Seine Theaterstücke – darunter auch vielgespielte Texte für das Kinder und Jugendtheater – werden immer wieder mit Preisen ausgezeichnet, u. a. mit dem renommierten Mülheimer Dramatikerpreis.
Roland Schimmelpfennig lebt in Berlin.
Weitere Informationen zu Roland Schimmelpfennig:
www.fischer-theater.de
Prolog
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
Dionysos
[Personenverzeichnis]
[Anfang]
Laios
1.1
1.2
1.3
1.4
2.1
2.2.1
2.2.2
2.3
3.1
3.2.1
3.2.2
3.3.1
3.3.2
4.1
Ödipus
[Personenverzeichnis]
[Anfang]
Haus der Dunkelheit
[Anfang]
Iokaste
[Personenverzeichnis]
1.1
1.2
1.3
1.4
1.5.1
1.5.2
1.5.3
1.5.4
1.6
1.7
1.8
1.9
1.10
1.11.1
1.11.2
1.11.3
1.12
1.13
1.14
1.15
1.16.1
1.16.2
1.16.3
1.16.4
1.16.5
2.1
2.2
2.3
3.1.1
3.1.2
3.2
3.3
3.4
3.5.1
3.5.2
3.5.3
3.6.1
3.6.2
3.7
3.8
3.9
3.10
3.11
3.12
4.1
4.2.1
4.2.2
4.3
4.4
4.5
5.1.1
5.1.2
5.1.3
5.1.4
5.2
5.3
5.4.1
5.4.2
5.4.3
5.4.4
5.5
5.6
Antigone
[Personenverzeichnis]
[Anfang]
Epilog
[Anfang]
[Nachwort]
Anfänge
Der Mythos Theben
Prolog
Dionysos
Wir müssen leider draußen bleiben
Laios
Ödipus
Iokaste
Antigone
[Vita von Sybille Meier]
Uraufführungsdaten
Weitere Publikationen von Roland Schimmelpfennig
Roland Schimmelpfennig
Eine Gruppe von Männern und Frauen.
Die Gruppe wendet sich an das Publikum.
EINE FRAU
Das Meer –
Über dem Meer
die Sonne –
EIN MANN
Felsen,
ein Strand.
EIN ANDERER MANN
Hinter der Küste
eine Ebene.
EINE ANDERE FRAU
Es ist heiß.
EIN MANN
Staub.
Steine.
Von der Sonne verbranntes Gras.
EIN ANDERER MANN
Das Meer ist ruhig.
Das Licht
glitzert auf dem Wasser.
EINE FRAU
Die Sonne –
das Glitzern –
Der Strand.
EINE ANDERE FRAU
Der Horizont.
EINE WEITERE FRAU
Das Geräusch der Wellen.
Die Hitze.
Pause.
EIN MANN
Ein einzelnes Moped
knattert die staubige Küstenstraße entlang.
EINE FRAU
Im Norden,
nicht weit von hier,
liegt Sidon.
Tyros
liegt etwas weiter südlich.
EINE ANDERE FRAU
Im Westen –
im Westen liegt nichts als der Horizont,
das Wasser.
Pause.
EIN MANN
Im Osten
hinter der Küste
die Ebene.
EIN ANDERER MANN
Eine Straße.
EINE FRAU
Eine Stromleitung.
EIN MANN
Ein nie fertig gebautes Haus.
EINE FRAU
Eine Rinderherde.
EINE ANDERE FRAU
Ein Hund bellt.
EINE FRAU
In der Ferne
ein Kraftwerk,
Fabriken.
EIN MANN
Ein Mann treibt eine Rinderherde durch die Ebene.
EINE FRAU
Die Luft flirrt in der Hitze.
EIN MANN
Welle für Welle bricht sich an dem Strand.
EINE FRAU
Stimmen.
EINE ANDERE FRAU
Eine Gruppe von jungen Mädchen.
EIN MANN
Lachen.
EINE FRAU
Lachende junge Mädchen
oder junge Frauen.
EINE ANDERE FRAU
Fünf beste Freundinnen.
EIN MANN
Fünf junge Mädchen
laufen lachend über den Strand.
EINE FRAU
Eine der jungen Frauen
trägt ein gewickeltes Kleid.
EINE ANDERE FRAU
Das ist Europa.
EINE WEITERE FRAU
Europa ist die Tochter des Königs,
Agenor.
EIN MANN
Die Rinderherde,
die jetzt langsam näher kommt –
Ein Hirte singt monoton vor sich hin.
EIN ANDERER MANN
Ein Hirte
treibt die Rinder vor sich her –
kaum zu erkennen
in der flirrenden Hitze –
die Silhouette des Mannes
scheint mit der Luft
fast zu verschmelzen.
EIN MANN
In der Herde
ein weißer Stier.
EINE FRAU
Groß, weiß –
EIN MANN
Das gibt’s doch nicht,
sagt eines der Mädchen.
Seht ihr das?
So einen Stier
habe ich noch nie gesehen.
EINE FRAU
Was für ein schönes Tier –
EINE ANDERE FRAU
Wie der schaut.
Wie der dich anschaut,
sagt eines der Mädchen zu Europa.
EINE WEITERE FRAU
Ich glaube,
der Stier ist verliebt in dich,
sagt eine von Europas Freundinnen.
Der ist verliebt, seht euch das an!
EIN MANN
Gelächter.
DIE FRAU
Doch, schau doch, schau doch mal,
wie der dich ansieht!
EIN MANN
Hab keine Angst,
sagt Europa zu dem Stier –
EINE FRAU
Hab keine Angst –
komm her –
EIN MANN
Hab keine Angst –
EINE FRAU
Du siehst schön aus –
EINE WEITERE FRAU
Du bist wunderschön.
EINE FRAU
Der Stier zittert.
EIN MANN
Europa streicht mit der Hand
über die Stirn des Stiers,
und dann beginnt sie,
das Tier mit allem,
was sie an dem Strand finden kann,
zu schmücken –
EIN ANDERER MANN
Muscheln, Seetang –
EINE FRAU
Sie läuft eilig hin und her,
zwischen den Felsen
findet sie sogar
ein paar kleine Blumen
und windet sie um die Hörner des Stiers.
EINE ANDERE FRAU
Europa lacht.
EINE WEITERE FRAU
Europa lachte.
EIN MANN
Und der Stier,
weiß, groß –
EINE FRAU
Dieses Tier,
von dem niemand wusste, woher es kam,
oder was es in Wahrheit war,
lagerte zu Europas Füßen,
als ob es sagen wollte:
Steig auf.
EIN MANN
Steig auf.
EINE FRAU
Und sie stieg auf.
EIN MANN
Europa stieg auf den Stier.
EINE FRAU
Komm, trag mich nach Hause.
EINE ANDERE FRAU
Na, los. Hüh!
EIN MANN
Gelächter.
EINE ANDERE FRAU
Aber der Stier
trug Europa nicht nach Hause.
EINE WEITERE FRAU
Der Stier erhob sich.
EINE FRAU
Hoppla!
EINE ANDERE FRAU
Und dann lief der Stier
in die sich an dem Strand brechenden Wellen.
EIN MANN
Der Stier schwamm mit Europa auf dem Rücken
hinaus auf das hohe Meer –
und er kam nicht zurück.
Er schwamm immer weiter,
zum Horizont, nach Westen.
EINE FRAU
Mit der einen Hand
hält sich Europa
an einem Horn des Stieres fest,
und mit der anderen
versucht sie verzweifelt,
ihr Kleid zusammenzuhalten,
durch das der Wind fährt,
auf dem offenen Meer,
EINE ANDERE FRAU
sie dreht sich noch zurück zur Küste,
und dann reißt ihr der Wind das Kleid davon.
Der Wind reißt Europas Kleid davon.
EINE FRAU
Sie schreit.
Sie schreit,
so laut sie kann.
EIN MANN
Der König, Agenor, Europas Vater,
schickte in tiefem Schmerz seine drei Söhne
auf die Suche nach der geraubten jungen Frau.
Kommt nicht ohne das Kind zurück,
sagte er, kommt ohne eure Schwester
nicht zurück.
EIN ANDERER MANN
Jeder der Brüder
nahm einen anderen Weg über das Meer,
EINE FRAU
und keiner der drei Brüder fand sie.
EIN MANN
Einer dieser Brüder hieß Kadmos.
EIN ANDERER MANN
Kadmos ging schließlich,
nach jahrelanger, vergeblicher Fahrt,
nach Norden, und dort sagte ihm Pythia,
die Priesterin des Apollon,
das Orakel von Delphi: Gib auf.
Hör auf zu suchen.
Weder den Stier noch das Mädchen
wirst du jemals finden.
EINE FRAU
Gib auf.
Hör auf zu suchen.
EINE WEITERE FRAU
Treib eine Kuh vor dir her –
EINE ANDERE FRAU
Treib eine Kuh vor dir her,
so lange, bis sie zusammenbricht,
und dort, an der Stelle,
gründest du eine Stadt.
Pause.
EIN MANN
Ununterbrochen
trieb Kadmos die Kuh voran,
EIN ANDERER MANN
Tag und Nacht
trieb Kadmos das Tier vorwärts,
Ein Hirte singt monoton vor sich hin.
in der Mittagshitze,
in der Dämmerung
und bei Nacht,
und dann brach die Kuh schließlich,
am dritten Tag, erschöpft zusammen.
EIN WEITERER MANN
Tag und Nacht
trieb Kadmos das Tier vorwärts,
Ein Hirte singt monoton vor sich hin.
in der Mittagshitze,
in der Dämmerung
und bei Nacht,
und dann brach die Kuh schließlich,
am dritten Tag, erschöpft zusammen.
EINE FRAU
Das keuchende,
sterbende Tier.
Steine, Geröll,
und Erde,
gleichzeitig staubig
und schwer,
Lehm.
Wind.
Wüstes Land.
EINE ANDERE FRAU
Da war eine Quelle.
Da war ein Fluss.
EIN MANN
Da waren ein Mann
und eine Frau.
EINE FRAU
Und der Mann
war gleichzeitig ein Drache.
EIN MANN
Und die Frau war unsichtbar.
EINE FRAU
Der Drache und Kadmos kämpften –
EIN MANN
und Kadmos kam in diesem Kampf
beinah ums Leben.
EINE FRAU
Nimm einen Stein –
EINE ANDERE FRAU
nimm einen Stein, sagte die Frau,
unsichtbar, unhörbar,
nimm diesen Stein –
EIN MANN
– und mit dem Stein
zertrümmerte Kadmos
den Kopf des Drachens.
EINE FRAU
Die unsichtbare Frau sagte:
Brich die Zähne heraus.
EINE ANDERE FRAU
Brich der Bestie
die Zähne aus dem Kopf
und säe sie aus –
wie Korn –
EIN MANN
Und Kadmos brach die Zähne
aus dem Kopf des Drachens,
und dann säte er sie aus,
wie Korn, und der Mann,
der Mann an der Quelle,
am Beginn des Flusslaufs,
der Mann, oder der Gott,
der auch der Drache gewesen war,
gleichzeitig,
sah Kadmos dabei zu.
Jemand sät Korn.
Dafür wirst du mir dienen,
sagte er,
acht Jahre lang
wirst du mir dafür dienen,
und dann gebe ich dir
meine Tochter zur Frau.
EIN ANDERER MANN
Und aus den ausgesäten Zähnen
wuchsen Männer,
EINE FRAU
und diese Männer,
nackt,
neugeboren,
brachten sich gegenseitig um,
EINE ANDERE FRAU
sie brachten sich gegenseitig um,
mit bloßen Händen,
alle,
bis nur noch fünf von ihnen
übrig waren.
EINE WEITERE FRAU
Und mit diesen fünf Männern
gründete Kadmos
die Stadt Theben.
Kadmeia.
EINE FRAU
Wisst ihr,
was das ist?, sagt Kadmos
zu den fünf nackten Männern.
Wisst ihr,
was das ist?
Das ist Kupfer –
EIN MANN
und das:
Das ist Kohle,
und das,
das ist Erz,
das kommt aus der Kruste der Erde,
das war einmal flüssig,
stellt euch das einmal vor,
EINE FRAU
und aus Erz und Kohle
wird Eisen.
EIN ANDERER MANN
Daraus macht man Nägel,
Schrauben, Werkzeuge,
EIN WEITERER MANN
Räder, Maschinen,
EINE FRAU
Waffen.
EINE ANDERE FRAU
Das –
das ist Silber,
EIN MANN
und das,
das ist Gold,
EIN ANDERER MANN
das benutzt man zum Handeln,
damit wird man reich.
Wer reich ist, hat Macht,
und diese Stadt
wird mächtig sein.
Pause.
EIN MANN
Es entstehen Straßen,
zuerst staubig,
dann gepflastert
und später geteert.
EINE FRAU
Es werden Brunnen gegraben
und Häuser gebaut.
Es wird um die Stadt
eine Mauer gezogen,
und diese Mauer wird später einmal
sieben Tore haben.
EIN MANN
Und wisst ihr, was das ist?,
sagt Kadmos zu den fünf Männern,
das –
das ist Musik.
EINE FRAU
Kadmos spielt auf einer Flöte.
Jemand spielt auf einer Flöte.
EIN MANN
Wie schön,
sagen die fünf Männer.
Wie wunderschön.
Das ist,
als ob das Nichts atmen könnte.
Wie wunderschön.
Pause.
EINE FRAU
Straßen,
Marktplätze,
Waren,
die von weit her
in die Stadt kommen,
und Waren, die durch die sieben Tore
die Stadt verlassen –
EIN MANN
Und das,
was ist das?
EINE FRAU
Das?
Das ist das Wichtigste –
das sind Buchstaben.
Das ist Schrift.
EIN MANN
Schrift?
EINE FRAU
Ratlosigkeit.
EIN MANN
Schrift,
was soll das sein?
EINE ANDERE FRAU
Die fünf Männer
lernen Buchstabieren,
EIN MANN
mit Mühe E –
EIN ANDERER MANN
U –
EIN WEITERER MANN
R –
EIN MANN
A –
nein,
O – oder?
O oder A?
EINE FRAU
O –
EIN MANN
O –
EIN ANDERER MANN
P –
EIN WEITERER MANN
A –
EIN MANN
An einer weißen Hauswand
steht in roten Buchstaben
EUROPA,
EINE FRAU
Europa.
Die Farbe trocknet in der Sonne,
verblasst,
EINE ANDERE FRAU
und später wäscht sie dann der Regen ab.
EIN MANN
Oder das Haus brennt ab.
EINE FRAU
Oder es wird abgerissen,
weil hier jetzt
eine Tankstelle entstehen soll.
EIN MANN
Verkehr,
Motoren,
Handel,
Geschäfte,
EIN ANDERER MANN
Plakate,
Werbung,
Versprechungen,
EINE FRAU
Angebot und Nachfrage,
steigende und sinkende Preise,
EINE ANDERE FRAU
leuchtende Schriftzüge,
Kinos,
Theater,
Boulevards,
EINE WEITERE FRAU
die Stadt bei Nacht
ein Lichtermeer
hinter hohen Mauern,
EINE FRAU
der Schein der Lichterstadt
bei Nacht am Himmel,
EIN MANN
Fabriken,
Maschinen,
die nie stillstehen,
Rotation,
Rauch, Dampf,
ein Zug
fährt durch die Stadt,
unterirdisch,
EINE FRAU
Schulklassen auf Exkursion,
die Kinder
rennen durch ein Museum,
Büsten,
Gipsabdrucke,
Marmor,
auf einem Stier aus Stein
sitzt eine Frau
und dreht sich um,
EIN MANN
Wohin schaut sie?
EINE FRAU
Mit der einen Hand
hält sich Europa
an einem Horn des Stiers fest,
und mit der anderen
versucht sie verzweifelt
ihr Kleid zusammenzuhalten,
durch das der Wind fährt,
auf dem offenen Meer,
ihr Mund ist aufgerissen –
Der Wind reißt Europas Kleid davon.
EINE ANDERE FRAU
der Stier aus Stein,
aus Marmor,
verwandelt sich in einen Mann
und vergewaltigt sie
drei Jahre lang –
EINE WEITERE FRAU
oder
der Stier verwandelt sich in einen Adler,
und der Adler und das Mädchen lieben sich,
sie leben fern der Städte,
jahrelang, glücklich,
versteckt, hoch oben in den Bergen Kretas.
EIN MANN
Die fünf Männer sagen:
Wir kommen aus dem Nichts.
EIN ANDERER MANN
Wir wissen nichts.
EIN MANN
Angeblich wuchsen wir
aus Zähnen,
EIN WEITERER MANN
aber wie soll das gehen?
Das kann nicht sein,
EIN ANDERER MANN
das kann einfach nicht sein –
EIN MANN
An was
sollen wir glauben?
Und was wird aus uns?
EIN ANDERER MANN
An was sollen wir glauben,
und was wird aus uns werden?
Was sollen wir tun?
Was ist richtig?
Was ist falsch?
Und wer bestimmt unser Schicksal?
EINE FRAU
Wer kennt die Zukunft?,
fragen die fünf Männer.
EIN MANN
Jemand muss doch die Zukunft kennen!
Pause.
EINE ANDERE FRAU
Die Zukunft –
die Zukunft kennt keiner.
Niemand.
Es gibt sie nicht –
und deshalb muss man sie erfinden.
EIN MANN
Glaube.
Angst.
Aberglaube.
EINE FRAU
Vorhersagungen.
Prophezeiungen.
Prognosen.
EINE ANDERE FRAU
Radio,
Zeitungen,
Nachrichten,
Bildschirme.
EIN MANN
Fließende Aktienkurse,
fallend und steigend.
EIN WEITERER MANN
Banken,
Geld,
Wettbüros,
Spielhallen,
Bordelle.
EIN ANDERER MANN
Ein Altar.
EIN MANN
Sirenen.
Stehender Verkehr.
EINE FRAU
Kräne,
Hochhäuser,
EIN MANN
das große Stadion,
EINE FRAU
Elektrizität,
Scheinwerfer,
Blitzlichter,
Musik.
EINE ANDERE FRAU
Gleichzeitig,
vor der Stadt,
draußen,
außerhalb der hohen Mauern:
EIN MANN
Kraftwerke,
Hochöfen.
Schmorender Müll,
Elektroschrott,
schwarzer Rauch.
Über Nacht gebaute Siedlungen.
Wellblech, Sperrholz.
Krankheiten,
Enge.
Pause.
EINE FRAU
Oben,
über den Dächern der Stadt,
auf einer weißen Terrasse,
eine Hochzeit,
wie versprochen.
EINE ANDERE FRAU
Kadmos
heiratet Harmonia,
die Tochter des Mannes
damals an den Quellen des Flusslaufs,
die Tochter des Mannes,
der angeblich gleichzeitig
ein Drache war –
oder ein Gott oder beides.
EIN MANN
Nach acht Jahren
ist es so weit,
es ist Hochzeit,
EINE FRAU
und alle sind gekommen,
um mit dem Brautpaar zu feiern:
Der Himmel,
die Erde,
das Meer,
EIN MANN
die Liebe,
die Schönheit,
die Eifersucht,
EINE FRAU
der Tod und die Fruchtbarkeit,
das Licht, die Dunkelheit,
der Mond,
die Weisheit, der Krieg,
EIN MANN
der Frieden,
Handel und Diebstahl,
das Feuer,
das Vergessen
EINE FRAU
und das Erinnern
und die Hoffnung.
EINE ANDERE FRAU
An diesem Abend
über der leuchtenden Stadt
sitzen sie zum letzten Mal
alle gemeinsam an einem Tisch –
danach nie wieder mehr.
Gesang.
EIN MANN
Später an jenem Abend,
nach dem Fest, geht ein Mann
alleine durch die Stadt.
Er trägt einen Schleier
oder eine Maske
oder ein Gesicht,
das nicht das seine ist,
denn jeder, der sein wirkliches Gesicht sieht,
verbrennt.
An einer Ecke kauft der Mann
von einem Blinden
Zigaretten und die Abendzeitung.
EINE FRAU
Der Blinde
tastet nach der Hand des Mannes,
und dann sagt er:
Heute in neunzehn Jahren
wirst du dich verlieben.
Und dann wird die Frau, die du liebst,
in Flammen aufgehen, verbrennen –
und du wirst euren Sohn gebären.
So wird es sein.
EIN MANN
Der Mann läuft weiter
durch die Stadt bei Nacht,
allein,
EINE FRAU
und dann sieht er,
auf den Tag genau
neunzehn Jahre später,
auf einem Platz neben einem Brunnen
in einer Gruppe von Freundinnen und Freunden
eine junge Frau,
die ihn an ein Mädchen erinnert,
das er einmal gekannt hatte,
vor langer Zeit,
Europa.
EINE ANDERE FRAU
Er geht auf die Gruppe zu,
fragt nach Feuer,
und das Lächeln der jungen Frau
bricht für immer sein Herz.
Eine Frau gibt einem Mann Feuer.
EIN MANN
Wie heißt du, fragt der Mann.
Semele, sagt sie.
Und das ist meine Schwester, Agaue.
EINE FRAU
Ich heiße Semele,
und wie heißt du?
EINE ANDERE FRAU
Ich – sagt der Mann,
EIN MANN
Ich –
EINE FRAU
Ich bin –
EIN MANN
Ich bin –
EINE ANDERE FRAU
und dann spricht der Mann nicht weiter.
EINE FRAU
Ich verliebte mich in einen –
Ich weiß nicht, in wen ich mich verliebte –
Und er verliebte sich in mich,
das ging so schnell –
Wir mussten beide lachen,
so schnell ging das.
Das war wie ein Blitz.
Ein Mann nimmt die Hand einer Frau.
Stell dir vor,
wir hätten ein Kind,
sagte ich zu ihm.
Sie lacht. Er lächelt.
Das habe ich wirklich gesagt,
stell dir vor,
wir würden ein Kind bekommen,
du und ich.
EIN MANN
Semele – die junge Frau hieß Semele.
EINE FRAU
Und sie stand da an dem Abend auf dem Platz
mit ihren Freundinnen und Freunden,
und mit ihren drei Schwestern,
Agaue, Ino und Autonoë –
EINE ANDERE FRAU
Semele, Agaue, Ino und Autonoë,
das waren die vier Töchter des Kadmos
und der Harmonia,
EIN MANN
Prinzessinnen –
EIN ANDERER MANN
Richtige Prinzessinnen,
die Prinzessinnen von Theben –
Die treffen sich manchmal
in den warmen Sommernächten
mit ihren Freundinnen und Freunden
auf dem großen Platz,
und da rauchen sie heimlich
und reden über –
EINE FRAU
Und dann kommt ein Mann,
eines Abends,
den hier noch nie jemand zuvor gesehen hat,
und fragt Semele nach Feuer.
Einfach so.
EINE ANDERE FRAU
Und ein paar Wochen später ist sie schwanger.
Lange Pause.
EINE FRAU
Vater –
ich bin schwanger.
Pause.
Aber das Kind ist nicht von irgendwem,
das Kind ist von Zeus.
Also von Gott.
EIN MANN
Sie sagt, das Kind sei von Zeus.
EINE ANDERE FRAU
Klar –
klar ist das Kind von Zeus,
was soll sie auch sonst sagen.
EINE WEITERE FRAU
Nur dass das Kind natürlich nicht von Zeus ist,
sondern von irgendeinem Typen,
der sich wichtigmacht
und der sein Gesicht nicht zeigt,
und sie glaubt den Schwachsinn auch noch –
falls sie sich das Ganze
nicht selbst ausgedacht hat –
EINE ANDERE FRAU
und jetzt sollen die Geschichte alle glauben,
Entschuldigung,
geht’s noch,
als Nächstes schwimmt dann ein Stier vorbei –
EIN MANN
Na ja – die fünf Männer,
die fünf Männer,
die aus den Drachenzähnen gewachsen waren,
sagen, na ja –
EINE FRAU
Warum zeigt er denn nicht
sein wahres Gesicht,
dein angeblicher Gott,
woher willst du denn wissen,
wer das ist,
wenn du ihn nicht sehen kannst –
EIN ANDERER MANN
Die fünf Männer sagen,
was kann man wissen,
was muss man glauben,
wir wissen doch gar nicht,
woher wir kommen, woher
sollen wir denn wissen,
was richtig ist
und was falsch ist
und was wahr ist und was nicht –
das ist so schwierig,
eine Welt aus nichts als Zweifel
stürzt in sich selbst zusammen,
aber eine Welt, die nur
aus blindem Glauben besteht,
tut es auch –
und das eine führt ja dann zum nächsten
und immer so weiter und weiter,
ist Glauben ein Glück
oder eine Gefahr,
und können Götter überhaupt
mit Menschen Kinder kriegen,
ganz allgemein gefragt,
und was ist mit Fortpflanzung im Speziellen,
ist Fortpflanzung Fortschritt,
Sicherung des Fortbestands
der eigenen Art
oder deren Vernichtung,
und dann, dann flattert einem
so ein Katalog ins Haus,
oder es gibt ihn jetzt
nur noch online,
weil die von dem Katalog
jetzt alles besser machen wollen,
vielleicht wollen sie aber
auch nur Geld sparen,
die Frage aber bleibt dieselbe:
Ist das Sofa
mauve oder lila oder braun,
und müsste es nicht eine Instanz geben,
die uns von all diesen Fragen befreit?
Aber welche? Die Kunst?
Ist die Kunst frei
oder trägt sie Verantwortung?
Und was ist der Auftrag der Politik?
Hat Politik überhaupt
einen moralischen Auftrag?
Soll sie diesen Katalog
ermöglichen
oder sollte sie ihn nicht besser
verhindern?
Und welchen Auftrag
hat der Katalog selbst?
Was ist denn mehr wert:
der Markt
oder die Würde
oder das Leben?
Was brauchen wir?
Was brauchen wir wirklich?
Und was müssen wir wissen?
Sind wir glücklicher, wenn wir wissen,
ob das Sofa mauve oder lila ist
oder braun mit einem Stich ins –
wie heißt die Farbe? –
könnte auch Flieder sein.
Oder Lavendel??
Was ist Wohlstand?
Macht Wohlstand uns glücklich,
und, nächste Frage,
welchen Stellenwert
hat denn das persönliche Glück,
ist Wohlstand das höchste aller Güter,
und falls nein, was ist es dann?
Die Freiheit?
Angenommen, es gäbe Antworten
auf diese Fragen,
oder zumindest
an Wahrheit grenzende Überzeugungen
im Allgemeinen,
darf man lügen, um diese zu vertreten,
wenn sie doch wahr sind?
Ja oder nein?
Ist Gewalt zur Durchsetzung
dieser Wahrheiten oder Überzeugungen
erlaubt oder nicht
oder zerstört Gewalt am Ende auch das,
was es bewahren wollte?
Verzweifelte Pause.
Was darf man sagen?
Was darf man nicht sagen?
Was muss man benennen, aussprechen,
weil es da ist
und weil es immer da sein wird,
gerade, wenn man es nicht benennt?,
und was darf man nicht benennen,
weil es nur dadurch, dass man es benennt,
weiter in der Welt ist?
EINE FRAU
Und meine Schwester sagte,
der Vater dieses Kindes,
das ist ein Mann,
wie jeder andere,
nur dass du sein Gesicht nicht kennst.
Woher willst du wissen,
wer das ist,
das könnte sonst wer sein.
Pause.
EINE ANDERE FRAU
Einer, der rumfährt.
Ein Bauzimmermann, vielleicht.
Oder ein Schauspieler
oder ein Starkstromtechniker
vom Tourneetheater.
Oder vom Rummel.
EINE FRAU
Komm, Liebster,
sagt die junge, schwangere Frau
zu dem Vater ihres Kindes.
Komm.
Komm, zeig mir,
wer du wirklich bist,
komm, zeig mir dein Gesicht –
und er sagt, das geht nicht,
das geht nicht,
du würdest es nicht überleben,
du würdest verbrennen –
nein, sagt die Frau,
das würde ich nicht,
ich trage doch unser Kind
in mir, wie könnte mich da
dein Anblick töten –
Pause.
EINE ANDERE FRAU
Ein Gewitter ist aufgezogen.
Wind.
Ein Blitz.
EINE WEITERE FRAU
Oder ein Kurzschluss.
EINE FRAU
Feuer.
EINE ANDERE FRAU
Die Mutter
und das noch ungeborene Kind
werden vollkommen verbrannt,
da bleibt nichts übrig
außer Asche,
und von dem Vater
keine Spur –
und nun soll dies
ein Gott gewesen sein,
und eine ganze Stadt
soll das auch noch glauben,
der Gott, dieser Gott
habe sich der Schwangeren
in seiner wahren Gestalt gezeigt,
und diese Gestalt
sei so strahlend hell gewesen,
noch heller als die Sonne,
so dass Semele bei seinem Anblick verbrannte,
das Kind aber
in ihr,
das hätten entweder Zeus selbst
oder Hermes, der Götterbote,
aus dem Körper seiner verbrennenden Mutter gerettet,
und dann habe Zeus dieses Kind
in seinen eigenen Schenkel
eingenäht, um es vor dem eifersüchtigen Blick
seiner Frau, Hera, zu verstecken,
und so habe der Gott sein Kind
selbst ausgetragen,
was dessen Namen erklärt:
Dionysos, der zweimal geborene,
einmal geboren werden
war wohl nicht genug,
es muss schon zweimal sein,
aufgezogen wurde der junge, neue Gott dann
von – darüber gehen die Meinungen, natürlich, auseinander – später, halbwüchsig oder volljährig,
suchte er sich dann einen göttlichen Aufgabenbereich, oder wie heißt das,
ein Betätigungsfeld,
das war, kurz zusammengefasst, alles,
was mit Alkohol,
Feiern
und Ficken zu tun hat,
ein Konzept, das letztlich nichts anderes ist,
als eine maskuline Unterwerfungsphantasie
in der Verkleidung eines neuen Kultes,
bei dem Frauen begeistert
nackt durch Wälder rennen.
Diesen Quatsch
braucht niemand,
und wir müssen uns das
auch nicht ständig mehr anhören.
Bloß weil Semele
sich von irgendeinem Durchreisenden
schwängern ließ,
müssen wir jetzt nicht
alles glauben und uns
vor diesem Hirngespinst
in den Staub werfen.
Dafür
ist in dieser Stadt kein Platz.
Weg damit,
das muss weg.
So schwach ist die Stadt nicht,
die Kadmos gründete,
dass sich ein Parasit
künstlich geschaffener Bedürfnisse
hier einfressen kann.
Diesem Biest begegnen wir
wie der Mensch dem wilden Tier
in der Arena:
Das Tier ist die Dunkelheit,
schnaubend, ungestüm und blind,
der Mensch dagegen,
der Mann, der dem Tier entgegentritt,
ist die Lichtgestalt der Ordnung,
und wir alle wissen,
wie dieser Kampf endet:
Das Tier wird sterben,
und der Mensch wird leben.
Es gibt keinen neuen Gott,
der neue Glaube
an Rausch und Fleisch
ist hiermit abgesagt.
Euripides / Roland Schimmelpfennig
DIONYSOS
CHOR DER MÄNADEN
TEIRESIAS, ein Seher
KADMOS
PENTHEUS
EIN HIRTE
EIN MANN
AGAUE
DIONYSOS
Jetzt bin ich endlich hier, in Theben,
ich, Dionysos, der Sohn des Zeus,
den Semele, König Kadmos’ Kind,
hier zur Welt brachte –
in einem Blitz aus Feuer.
Als Gott in der Gestalt eines Menschen
stehe ich hier; meine Mutter,
die der Blitz tötete, liegt hier begraben,
hier sind die Trümmer ihres Hauses;
die Glut raucht heute noch, Jahre später,
als ewiges Zeichen dafür,
wie sehr Hera meine Mutter hasste.
Kadmos machte den Ort zum Heiligtum,
und ich ließ die Stelle zum Schutz
mit wildem Wein zuwachsen.
Ich komme aus Lydien und Phrygien,
von dort zog ich durch das Reich der Perser,
ich sah die hohen Mauern Baktras
in der Sonne leuchten,
ich zog im Schnee
durch das kalte Land der Meder
und durch das blühende Arabien,
mein Weg ging durch ganz Asien –
dort türmen sich an den Küsten
die Städte hoch und höher
und in den Straßen wimmelt es von Menschen aller Völker.
Hinter mir liegt eine unsichtbare Spur:
Überall auf dem Weg
habe ich meine Feste eingeführt,
die Musik, den Gesang, die Trommeln, die Tänze –
und jetzt werde ich auch hier in Griechenland
den Menschen zeigen, was ich bin:
ein neuer Gott!
Theben: Der ganzen Stadt warf ich ein Hirschfell um
und gab ihr meinen Efeustab, den Thyrsos –
die Stadt kreischt, sie jubelt.
Ich nehme Theben als erste Stadt in Griechenland,
weil die Schwestern meiner Mutter
nicht aufhören zu behaupten,
ich, Dionysos, sei nicht der Sohn des Zeus;
Semele sei von einem Menschen verführt
und geschwängert worden –
dass Zeus der Vater sei, habe sich Kadmos ausgedacht,
und wegen dieser Lüge habe Zeus
Semele mit dem Blitz getötet.
Als Erstes habe ich die Schwestern meiner Mutter
aus der Stadt gejagt,
sie sind jetzt oben in den Bergen – blind vor Wahnsinn.
Danach trieb ich jede einzelne Frau in Theben
aus ihrem Haus und hinauf in die Berge.
Oben auf den Felsen und in den Wäldern
lebt jetzt ein ganzer Schwarm von Frauen
zusammen mit Kadmos’ Töchtern,
und alle sind wahnsinnig, irre, außer sich.
Ich, der Sohn des Zeus und der Semele,
werde mich zur Verteidigung der Ehre meiner Mutter
als Gott den Menschen offenbaren –
auch gegen den Willen dieser Stadt.
Kadmos hat inzwischen seine Macht
an den Sohn einer seiner anderen Töchter abgegeben,
Pentheus, und Pentheus will gegen mich kämpfen,
gegen mich, den Gott,
er betet nicht zu mir und bringt mir keine Opfer,
aber ich werde ihm und jedem in dieser Stadt beweisen,
was ich bin.
Sollten die Thebaner versuchen,
die Bacchen mit Gewalt aus den Bergen
zurück in die Stadt zu bringen, kommt es
zwischen ihnen
und mir und den Mänaden
zum Kampf.
Erst wenn ich hier gesiegt habe,
werde ich weiterziehen
von Stadt zu Stadt.
Ihr Frauen, meine Begleiterinnen, Mänaden,
ihr habt mit mir Lydiens Schutz,
den heiligen Tmolos, verlassen,
ihr habt mich auf dem langen Weg durch die Fremde
von Stadt zu Stadt und von Fest zu Fest begleitet,
schlagt die Trommeln,
die ich mit der Mutter der Götter, Rhea, in Phrygien erfand,
hier vor dem Königspalast des Pentheus,
die Stadt des Kadmos soll sie hören!
Ich gehe zu den Bacchen in die Berge
und feiere mit ihnen in den Schluchten des Kithairon.
Ab.
CHOR
zieht auf Wir kommen von weit her,
aus Asien,
und vom heiligen Tmolos,
wir feiern
Dionysos,
Bromios,
den lärmenden Gott,
erschöpft und glücklich,
feiern wir
erschöpft und glücklich
Bacchos,
Dionysos,
Bromios,
den lärmenden Gott.
Wer ist in den Straßen?
Wer ist in den Straßen?
Wer ist noch in den Häusern?
Jeder von euch,
ihr alle,
tretet zur Seite und schweigt,
denn wir singen,
wir singen,
um unseren Gott zu loben,
Dionysos,
Bromios,
den lärmenden Gott.
Wer wäre nicht glücklich,
der sich uns anschließt,
glücklich, voll Freude,
wer wäre nicht glücklich,
der in den Bergen
den Gott und die Mutter der Götter,
Rhea, Kybele,
mit dem Efeustab feiert.
Bacchen,
ihr Frauen,
Bacchen,
bringt den Gott heim,
bringt den lärmenden Sohn
des Zeus endlich heim,
nach Griechenland
und seinen Straßen und Plätzen.
Seine Mutter verbrannte, schwanger
in dem Blitz, den Zeus schickte,
aber Zeus nahm den Sohn
und trug ihn versteckt
unter goldenem Schmuck
in seinem eigenen Schenkel
heimlich unter den Augen Heras
und brachte ihn
dann zur Welt,
einen Gott
mit den Hörnern eines Stiers.
Er setzte ihm Schlangen auf den Kopf,
und deshalb tragen auch die Mänaden
Schlangen im Haar.
Theben, Semeles Stadt,
schmück dich im Rausch
mit Efeu,
schmück dich mit den Zweigen
der Eiche und der Tanne.
Zieh das gefleckte Hirschfell über,
nimm die heiligen Efeustäbe,
die Zeichen des Gottes.
Alles wird tanzen,
erreicht erst der lärmende Gott die Berge,
wo der Schwarm der Frauen,
die Dionysos aus den Häusern Thebens getrieben hat,
im Wahnsinn schon auf ihn wartet.
In den Bergen
Lydiens und Phrygiens
greift er sich nach dem Tanzen und Singen
einen Rehbock im Sprung,
er sitzt dann
auf dem Waldboden,
das Hirschfell um die Schultern,
und isst das rohe Fleisch
und trinkt das Blut des Tiers.
Und dann quillt Milch aus der Erde,
dann strömen aus der Erde
Wein und Honig,
Dampf steigt aus der Erde
wie syrischer Weihrauch.
Aber dann will der Gott weiterziehen,
er steckt eine brennende Fackel
auf seinen Efeustab
und ruft:
Auf mit euch, Bacchen, auf, auf,
schlagt die Trommeln,
tanzt und singt für Dionysos,
den lärmenden Gott!
Und erschöpft und glücklich
wie Kinder tanzen die Bacchen weiter.
TEIRESIAS
tritt auf Ist wer am Tor? Kadmos soll kommen,
Agenors Sohn, der aus Sidon hierherkam
und Theben gründete.
Einer soll gehen und ihm melden,
dass Teiresias gekommen ist!
Warum ich hier bin, weiß er:
Er und ich, ich, der Alte,
und er, der Greis, werden Bänder
um unsere Stäbe binden
und uns Hirschfelle umwerfen
und uns Kränze aus Efeu auf den Kopf setzen.
KADMOS
Mein weiser Freund,
ich höre dich,
und ich folge dir:
So wie du trage ich
das Hirschfell und den Efeustab,
ich werde den Sohn meiner Tochter, Dionysos,
so gut ich noch im Alter kann, als Gott feiern.
Wo soll ich tanzen? Wo soll ich die Füße heben
und die grauen Haare schütteln?
Teiresias, du sollst mich führen,
der Blinde führe den Greis,
denn du kennst den Weg,
du weißt, wohin es geht.
Unermüdlich werde ich bei Tag und Nacht
mit dem Efeustab auf die Erde stampfen –
wie wunderbar, ich fühle mich
plötzlich so jung –
TEIRESIAS
So wie ich –
ich bin auch wieder jung
und will Tag und Nacht tanzen.
KADMOS
Sollen wir mit einem Wagen ins Gebirge fahren?
TEIRESIAS
Nein, das würde dem Gott sicher nicht gefallen.
KADMOS
Dann laufen wir, ich leite dich.
TEIRESIAS
Der Gott wird uns beiden den Weg schon zeigen.
KADMOS
Sind wir die einzigen Männer in ganz Theben, die für Dionysos tanzen?
TEIRESIAS
Ja, wir sind die einzigen mit Verstand, der Rest ist dumm.
KADMOS
Warten wir nicht länger – leg deine Hand auf meine Schulter.
TEIRESIAS
Hier – nimm meine Hand.
KADMOS
Kein Mensch darf einen Gott missachten.
TEIRESIAS
Kein Mensch darf sich über einen Gott erheben.
Keine noch so scharfsinnige Vernunft
widerlegt den Glauben unserer Väter und Vorväter –
er ist so alt wie die Zeit selbst.
Was soll daran falsch sein,
dass ich trotz meines Alters
mit Efeu in den Haaren
zum Tanzen gehe.
Nein: Der Gott schließt keinen aus,
die Jungen nicht und nicht die Alten,
jeder soll den Gott feiern – ohne Unterschied.
KADMOS
Teiresias, du siehst das Sonnenlicht nicht –
Aber dafür kann ich dir sagen,
was ich sehe –
da kommt Echions Sohn, Pentheus,
an den ich den Thron weitergab,
er ist in Eile, aufgeregt – was hat er?
Pentheus tritt auf.
PENTHEUS
Ich war außerhalb der Stadt,
als ich davon Bericht bekam,
was für ein Wahnsinn sich hier plötzlich abspielt.
Alle Frauen haben ihre Häuser und die Stadt verlassen,
angeblich von Dionysos dazu angetrieben,
und jetzt irren sie in den Bergen durch die Wälder
und feiern tanzend den neuen Gott,
den es bis vor kurzem noch gar nicht gab,
Dionysos, wer immer das auch sein soll –
Sie trinken krügeweise Wein,
und dann machen manche von ihnen
es einfach heimlich am Rand der sogenannten Feier
wie Tiere unter freiem Himmel
mit irgendwelchen Männern.
Sie tun so, als wären sie Mänaden,
von ihrem Gott begeisterte Bacchen,
in Wahrheit geht es hier aber um Aphrodite,
und nicht um Bacchos.
Die, die wir schon kriegen konnten,
haben wir gefesselt und eingesperrt,
und die anderen – darunter
die Schwestern Ino, Autonoë und Agaue,
die Frau des Echion, meine eigene Mutter –
werden wir auch noch aus den Bergen treiben
und in Eisen legen und so
dieses irre Bacchos-Fest beenden.
Es heißt, ein Fremder sei in der Stadt,
ein Beschwörer aus Lydien,
der angeblich Zauberkräfte hat,
mit schönem langen Haar und schwarzen Augen
mit dem tiefen Blick der Aphrodite.
Unter dem Vorwand,
sie noch in die heiligen Festbräuche des Dionysos
einweisen zu müssen, soll er Tag und Nacht
mit jungen Frauen verbringen!
Sitzt der erst fest unter dem Dach meines Palasts,
hat es mit dem Gestampfe
und dem Schütteln der Haare ein Ende:
Ich werde ihm den Kopf abschlagen!
Er behauptet tatsächlich,
Dionysos sei ein Gott,
den Zeus in seinem Schenkel versteckt gehalten habe,
dabei hat Zeus in Wahrheit
das Kind und seine Mutter
mit seinem Blitz vernichtet,
weil sie behauptet hatte,
Zeus sei der Vater ihres Kindes.
Was für eine Lüge –
dafür lasse ich ihn hängen,
egal, wer er ist.
Und hier: noch ein Wunder!
Teiresias, der blinde Zeichenleser
in einem Hirschfell,
und daneben der Vater meiner Mutter –
lächerlich –, und beide schwingen
in Verzückung den Efeustab des Bacchos!
Vater! Ich schäme mich, Euch so zu sehen –
habt Ihr trotz Eures Alters
nicht einen letzten Rest von Verstand?
Willst du so mit dem Efeu rumlaufen?
Großvater, leg lieber den Stock weg –
Du, Teiresias, du hast ihm das eingeredet,
du willst nur deshalb hier den neuen Gott durchsetzen,
weil Vogelschau und Brandopfer dein Geschäft sind,
du lebst davon.
Wärst du nicht so alt, ließe ich dich fesseln
und zu den eingesperrten Bacchen bringen,
weil du hier irre Bräuche einführst!
Das sind keine heiligen Feiern mehr,
bei denen sich Frauen betrinken.
CHOR
Geh nicht zu weit –
Freund, hast du keine Ehrfurcht
vor den Göttern,
vor Kadmos,
der die aus der Erde gewachsenen Männer säte,
dein eigner Vater gehörte dazu, Echion,
willst du wirklich
deine eigene Familie beleidigen?
TEIRESIAS
Du redest viel, und was du redest,
klingt klug und vernünftig,
aber was du sagst, ist in Wahrheit hohl,
in deinen Worten steckt
kein Funken Verstand,
und ein Mann mit Macht und Mut und Kraft,
aber ohne Verstand, schadet der Stadt.
Der neue Gott, den du lächerlich machen willst,
wird groß und mächtig werden –
so groß und mächtig,
dass ich es nicht in Worte fassen kann.
Nichts ist wichtiger für den Menschen,
als das Brot, das Demeter, die Erde, ihm gibt:
– und der Wein, den Dionysos erfand.
Der Wein lässt uns den Tag vergessen,
die Mühe und die Qual,
er bringt uns Schlaf und hilft
in der Verzweiflung.
Du verspottest den Gott, du lachst,
weil es heißt, er sei im Schenkel des Zeus versteckt gewesen.
Ich will dir sagen, wie es war:
Als Zeus Dionysos aus dem Blitz gerettet hatte
und ihn als seinen Sohn auf den Olymp brachte,
forderte Hera das Kind für sich,
um es vom Himmel zu stürzen und zu töten.
Aber Zeus täuschte sie, wie es nur ein Gott kann:
Er riss einfach ein Stück aus dem Äther
und formte es so wie das Kind.
Dieses Stück gab er Hera als Geschenk –
und schützte so Dionysos vor Heras Zorn und Hass.
Daraus entstand später eine Verwechslung
oder ein Wortspiel – eine Umdeutung:
Aus dem Geschenk für Hera
wurde der Schenkel –
daher die Geschichte.
Dieser Gott lässt im Rausch
in die Zukunft sehen,
Betrunkene werden zu Sehern,
dieser Gott ist überall,
sogar im Krieg, wenn ganze Heere
plötzlich vor der Schlacht
vor Angst in alle Richtungen davonlaufen,
das ist nichts anderes als dionysischer Wahnsinn.
Du wirst es noch
mit eigenen Augen erleben,
wie dieser Gott in Delphi
auf den Felsen steht
und dann mit Fackeln von Berg zu Berg zieht,
ganz Griechenland wird ihn anerkennen und zu ihm beten.
Pentheus, glaub mir, hör mir zu:
Denk nicht, dass deine Macht
von irgendeiner Bedeutung wäre.
Du denkst, du wärst mächtig,
aber du täuschst dich.
Öffne das Land
für diesen Gott,
bring ihm Opfer,
schmück dein Haar mit Efeu
und tanz mit!
Und was die Frauen angeht:
Wer sich nicht verführen lassen will,
wird es auch nicht tun,
aber wenn es geschieht,
liegt es nicht an Dionysos und seinen Feiern.
Du hörst selbst gern,
wenn das Volk vor dem Palast
den Namen Pentheus ruft –
genau so, wie Dionysos sich gerne feiern lässt.
Kadmos, über den du dich lustig machst,
und ich werden jetzt
mit Efeu in den Haaren tanzen gehen,
ein Paar Greise, ja,
aber wir werden tanzen!
Ich werde dir nicht folgen
und gegen einen Gott kämpfen;
dein Wahnsinn ist durch kein Mittel zu heilen.
CHOR
Nur die Greise sind in dieser Stadt klug genug,
den großen, lärmenden Gott anzubeten –
KADMOS
Mein Sohn,
Teiresias warnt dich zu Recht,
komm mit uns,
stell dich nicht gegen einen Gott,
du hältst dich für klug, aber du siehst nichts,
du verlierst den Boden unter den Füßen.
Selbst wenn er kein Gott ist –
warum sollten wir ihn nicht so nennen?
Was wäre daran so schlimm?
Und wenn es wahr wäre?
Dann ist Semele
die Mutter eines Gottes –
was für eine Ehre
für unsere ganze Familie.
Denk an Aktaions bitteres Ende:
Die scharfen Hunde,
die er selbst gezüchtet hatte,
rissen ihn im Wald auf der Jagd in Stücke,
weil er behauptet hatte,
er sei ein besserer Jäger als Artemis –
So ein Ende sollst du nicht finden –
Komm, ich mache dir einen Kranz aus Efeu,
ich schmücke dich,
lass uns zusammen den Gott feiern.
PENTHEUS
Fass mich nicht an!
Geh doch und tanz
für deinen Bacchos,
mich kannst du mit deinem Wahnsinn nicht anstecken!
Er aber, der dich angesteckt hat,
wird dafür bezahlen!
Ich lasse alles niederreißen und zerstören:
Der Sitz, von dem aus
der blinde Seher den Vogelflug beobachtet,
wird umgestürzt,
alles wird umgedreht,
was unten war, wird oben liegen,
was oben war, wird unten liegen,
kein Stein wird auf dem anderen bleiben,
und die Gebetsfahnen zerreißen wir
und streuen sie in den Wind.
Das wird dir weh tun!
Geht in die Stadt und sucht den Fremden,
der sich wie eine Frau anzieht –
er hat diesen Wahnsinn hierhergetragen
und unsere Frauen damit angesteckt,
bringt ihn dann gefesselt hierher,
ich werde ihn steinigen lassen.
In Theben werden die Bacchosfeiern
für ihn bitter enden.
Pentheus ab.
TEIRESIAS
Du Wahnsinniger! Du ahnst nicht,
was du sagst – jetzt hast du
endgültig den Verstand verloren.
Beten wir, Kadmos, dass der Gott
nicht ihn und die Stadt hart bestraft!
Komm, stütz dich auf deinen Efeustab,
du hältst dich an mir fest,
und ich mich an dir –
nicht, dass zwei Alte stürzen,
das wäre schlimm.
Feiern wir den Sohn des Zeus.
Man muss kein Seher sein,
um vorauszusagen,
dass Pentheus großes Unglück
über dein Haus bringen wird, Kadmos.
Das folgt einfach aus dem,
was er tut.
Dumm, wie er ist,
redet er dumm.
CHOR
Das alles führt
zu einem bitteren Ende.
Wer mehr will,
als er kann,
wird niemals glücklich.
Das Leben
ist zu kurz;
sehen wir,
was der Tag bringt –
wer mehr will,
sieht nicht,
was vor ihm liegt.
Auf Kypros
wäre ich jetzt gern,
auf der Insel
der Aphrodite,
oder in Paphos,
im fruchtbaren Delta
des großen Flusses
aus der unbekannten Weite,
oder in Pieria
an den Hängen des heiligen Olympos –
dahin bring mich,
lärmender, umherziehender Gott,
dahin bring mich,
dort wäre ich gern,
denn dort
sind die Bacchen
und ihre Tänze willkommen.
Auftritt Pentheus, Dionysos, ein Mann.
EIN MANN
mit dem gefesselten Dionysos Wir sind zurück, Pentheus,
zusammen mit der Beute,
die wir jagen sollten –
wir waren erfolgreich.
Er hat sich nicht gewehrt,
und er versuchte nicht zu fliehen,
er hielt sogar freiwillig seine Hände hin
und lachte, als wir ihn fesselten und wegbrachten,
er machte es uns mehr als leicht.
Ich schämte mich, als ich ihn trotzdem fesselte, und sagte:
»Fremder, ich setze dich nicht fest,
weil ich es will,
sondern weil Pentheus es so befiehlt –«
Aber die Frauen, die du eingesperrt hattest,
die Bacchen,
sind alle fort, sie sind weg.
Sie ziehen frei und ohne Fesseln
tanzend über die Wiesen
wieder zurück in die Berge
und loben laut Dionysos, ihren Gott.
Die Ketten an ihren Füßen
fielen von selbst ab,