Sie wartet, aber sie weiß nicht, auf wen - Roland Schimmelpfennig - E-Book

Sie wartet, aber sie weiß nicht, auf wen E-Book

Roland Schimmelpfennig

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Beschreibung

Nach dem großen Bühnenerfolg von »Anthropolis« in Hamburg: Der neue Roman von Roland Schimmelpfennig  Ein Soldat kehrt aus dem Krieg zurück und trifft auf dem Rummelplatz eine Frau, für die er einen riesigen gelben Stoffbären schießt. Ein Ehepaar trennt sich, während im Kinderzimmer die gemeinsame Tochter schläft. Später schlägt ein Filmproduzent einer Frau, die ein Mann ist, mit der Faust ins Gesicht. Anderswo küssen sich zwei über den Dächern der Stadt, und einen Kuss lang ist alles gut. Was treibt uns zusammen und immer wieder auseinander? Warum tun wir uns immer wieder so weh? Roland Schimmelpfennig überträgt in seinem neuen Roman Arthur Schnitzlers berühmten »Reigen« in die Gegenwart. In einem berauschenden Tanz der Bilder und Emotionen erzählt er von unserer Sehnsucht und Verlorenheit, von Liebe, Sex und Gewalt und der Flüchtigkeit unseres Glücks.

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Seitenzahl: 223

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Roland Schimmelpfennig

Sie wartet, aber sie weiß nicht, auf wen

Roman

 

 

Über dieses Buch

 

 

Ein Soldat kehrt aus dem Krieg zurück und trifft auf dem Rummelplatz eine Frau, für die er einen riesigen gelben Stoffbären schießt. Ein Ehepaar trennt sich, während im Kinderzimmer die gemeinsame Tochter schläft. Später schlägt ein Filmproduzent einer Frau, die ein Mann ist, mit der Faust ins Gesicht. Anderswo küssen sich zwei über den Dächern der Stadt, und einen Kuss lang ist alles gut. Was treibt uns zusammen und immer wieder auseinander? Warum tun wir uns immer wieder so weh? Roland Schimmelpfennig überträgt in seinem neuen Roman Arthur Schnitzlers berühmten »Reigen« in die Gegenwart. In einem berauschenden Tanz der Bilder und Emotionen erzählt er von unserer Sehnsucht und Verlorenheit, von Liebe, Sex und Gewalt und der Flüchtigkeit unseres Glücks.

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Roland Schimmelpfennig, Jahrgang 1967, ist einer der meistgespielten Gegenwartsdramatiker Deutschlands. Er hat als Journalist in Istanbul gearbeitet und war nach dem Regiestudium an der Otto-Falckenberg-Schule an den Münchner Kammerspielen engagiert. Seit 1996 arbeitet Roland Schimmelpfennig als freier Autor. Weltweit werden seine Theaterstücke in über 40 Ländern mit großem Erfolg gespielt. Im Fischer Taschenbuch Verlag sind erschienen: »Die Frau von früher«, »Trilogie der Tiere«, »Der goldene Drache« und »Anthropolis«. 2016 erschien sein erster Roman »An einem klaren, eiskalten Januarmorgen zu Beginn des 21. Jahrhunderts«, der auf der Shortlist für den Preis der Leipziger Buchmesse stand. Es folgten die beiden Romane »Die Sprache des Regens« (2017) und »Die Linie zwischen Tag und Nacht« (2021). Roland Schimmelpfennig lebt in Berlin.

Inhalt

[Sie wartet]

[Plötzlich erscheint ein Skelett]

[Dai, dai]

[Er könnte ein Freak sein]

[Die Feder des Kolbenfüllers]

[Ich bin eine Katze]

[Überall stehen Bücher]

[Zwischen alten geziegelten Schornsteinen]

[Wie schön deine Schrift ist]

[Er hat kein Auto]

[Sie hatten sich auf einem Volksfest]

[Er streicht mit der linken Hand]

[Es ist dunkel]

[Er hatte das Telefon weggelegt]

[Die Sonne scheint]

[Draußen regnet es]

[Das Telefon unter dem Bett]

Sie wartet, aber sie weiß nicht, auf wen.

Die meisten Leute meiden um diese Uhrzeit den Park.

Es ist eine warme Nacht, Ende Juni.

Der Wind rauscht leise in den alten Bäumen.

Aus der Ferne dringen die Geräusche der Züge und des Straßenverkehrs herüber. Ein Flugzeug überquert am Nachthimmel die Stadt.

Nach Einbruch der Dunkelheit nehmen nur wenige einen der von Laternen gesäumten Wege, um auf die andere Seite des Parks zu kommen, das ist eine Abkürzung vom Hauptbahnhof in den alten Teil der Stadt. Die meisten Leute gehen bei Nacht außen um den Park herum.

Bei Tag ist hier im Sommer viel los. Im Schatten der hohen Bäume spielen Kinder auf den Wiesen, Leute picknicken auf bunten Decken, aus einem kleinen Lautsprecher kommt elektronische Musik, denn irgendjemand hat immer eine Boom-Box dabei, und immer gibt es jemanden, der, etwas abseits, ganz vertieft in einem Buch liest und der die Musik und das Hundegebell und die Rufe der Kinder nicht hört.

Zwei junge Frauen mit kurz geschnittenen Haaren und tätowierten Armen stehen sich gegenüber und bewegen sich wie in Zeitlupe: Tai Chi. Später prusten sie los vor Lachen, sie umarmen sich, küssen sich, eine der beiden lässt sich rückwärts fallen, und dann rollen die beiden Frauen durch das Gras.

Eine libanesische Großfamilie grillt im Schatten einer Baumgruppe.

Ein Frisbee fliegt über das Grün, ein Hund rennt ihm hinterher.

Ein Mann liegt mit geschlossenen Augen unter dem wolkenlosen Sommerhimmel in der Sonne, reglos, für Stunden, bis der Schatten einer Eiche zu ihm herüber gewandert ist.

Die meisten Leute, die bei Nacht durch den Park laufen, haben es eilig. Sie wollen so schnell wie möglich auf die andere Seite. Manchmal patrouillieren Polizisten hier nachts, dann fahren sie zu zweit oder zu dritt in Schrittgeschwindigkeit in einem Streifenwagen auf den beleuchteten Wegen zwischen den Bäumen entlang. Was außerhalb des Lichts der Laternen in der Dunkelheit geschieht, sehen sie nicht.

Im Lichtkreis einer dieser Laternen sitzt Alejandra allein auf einer Bank.

Alejandra hat den Körper eines Mannes, aber jetzt, in dieser Sommernacht, ist sie eine Frau.

Bei Sonnenaufgang wird sich Alejandra zurück in Karim verwandeln. Sie wird sich die hohen Schuhe, die Strümpfe und den engen, kurzen Rock ausziehen, sie wird die Perücke mit den schulterlangen schwarzen Haaren abnehmen und auf einen weißen Styropor-Kopf setzen, der in einer Ecke ihrer Wohnung auf einem kleinen Tisch steht, sie wird das enge Top über den Kopf streifen und sich vor dem Spiegel im Bad abschminken, und schließlich wird Alejandra wieder Karim sein und ins Bett fallen.

Karim lebt seit acht Jahren in dieser Stadt. Als er aus dem Iran hierherkam, sprach er kaum Englisch und kein Deutsch, jetzt spricht er beides fast perfekt. Karim hat eine Sprachbegabung, von der er selbst keine Ahnung hatte, als er aus seiner Heimat geflohen war. Im Augenblick lernt er Spanisch, und danach will er mit Französisch anfangen, das Lernen geht wie von alleine, die Sprachen fliegen ihm zu.

Karim schläft mit Männern und auch mit Frauen, davon lebt er, das ist sein Beruf.

Anders als Karim schläft Alejandra nur mit Männern, und viele davon lernt sie hier im Park kennen, vor allem jetzt im Sommer. Es kann dabei um Geld gehen, aber in vielen Fällen tut es das nicht.

In manchen Nächten kommt niemand – oder es kommt niemand, der sie interessiert oder der sich für sie interessiert. In diesen Nächten sitzt Alejandra für Stunden allein auf immer derselben Bank und lauscht dem Wind in den hohen Bäumen und den anderen Geräuschen des Parks.

Etwas raschelt in dem trockenen Laub unter den Büschen.

Jenseits des Parks am Rand der Ring-Straße kreischen angetrunkene Teenager.

Ein Motorrad fährt an und beschleunigt viel zu schnell, eine Flasche geht irgendwo zu Bruch. Ein Güterzug fährt durch die Stadt.

Vom Bahnhof wehen manchmal die Ansagen aus den Lautsprechern über den Bahngleisen herüber, Ankunft und Abfahrt, Anschlusszüge, Verspätungen, Zugausfälle, Gleisänderungen.

In dieser Nacht lauscht Alejandra nicht den Geräuschen des Parks. In dieser Nacht hört sie über kleine Stöpsel in ihren Ohren laut Musik, sie hört DON’T STOP ME NOW von Queen. DON’T STOP ME NOW, das singt Freddy Mercury, und Mercury bedeutet auf Englisch Quecksilber, das haben Karim und Alejandra gelernt. Mercury ist auch der englische Name eines römischen Gottes, Mercury ist der Gott des Handels und der Reisenden und der Diebe. Für Karim und Alejandra ist er der Gott all jener, die kein Zuhause haben.

 

Als der Song zu Ende ist, holt sie ihr Mobiltelefon aus der Seitentasche ihrer kurzen, weißen Jacke und spielt ihn noch einmal. Alejandra trägt meistens Weiß. Die Jacke ist weiß, das Top ist weiß, der Rock ist weiß, auch die hohen Schuhe.

Karim trägt meistens Schwarz oder Blau, Jeans, Turnschuhe, so etwas in der Art, nichts Besonderes, nichts Auffälliges, Freizeitkleidung, casual wear, ropa de ocio.

Alejandra hört den Song ein zweites Mal, und sie fragt sich, was eine bestimmte Zeile in dem Lied bedeutet: I’m a racing car passing by like Lady Godiva.

Sie sucht mit ihrem Telefon nach dem Begriff Godiva im Internet. Lady Godiva ist im elften Jahrhundert nackt auf einem Pferd durch eine Stadt geritten, liest sie, das war in Coventry, England.

Alejandra sitzt allein am Ende der Parkbank im Schein der Laterne und raucht. Sie denkt an die nackte Frau auf dem Pferd, und sie hört weiter Musik, sonst würde sie die Schritte hören, die langsam näher kommen.

Ein Mann kommt in der Dunkelheit über eine der großen Wiesen des Parks gelaufen. Er kommt aus der Richtung des Bahnhofs. Es scheint, als wolle er das Licht der Laternen an den Wegen vermeiden. Der Mann kommt näher und bleibt dann, außerhalb des Lichtkreises der Laterne, etwa zehn Meter entfernt von Alejandra auf dem Rasen stehen. Alejandra bemerkt ihn erst nach einer Weile. Zuerst ist sie sich nicht sicher, ob da wirklich jemand steht. Sie hebt die Hand über die Augen und senkt sie dann wieder. Ja, da ist jemand. Alejandra macht die Musik aus und nimmt die Kopfhörer aus den Ohren. Ear plugs. Alejandra wartet.

Der Mann tritt schließlich mit einem Schritt aus der Dunkelheit.

Der Mann ist ein Soldat. Er trägt die Tarnuniform der Streitkräfte und schwere Kampfstiefel. Er hat einen vollen Seesack dabei. Auf der Brust und unterhalb der Schultern auf den Ärmeln der Uniform des Soldaten sind verschiedene Abzeichen aufgenäht, darunter die Fahne.

Martin ist zweiunddreißig Jahre alt, auch wenn er älter aussieht. Er ist groß, man sieht ihm an, dass er täglich trainiert, aber er hat keinen Stiernacken. Er ist erst vor wenigen Stunden eingeflogen worden, zusammen mit Hunderten von anderen, vor allem mit vielen Zivilisten – das waren die Letzten, die es rausgeschafft hatten, aus der gefallenen Stadt. Für dich geht es nach Hause, hatte man ihm gesagt.

Vom Flughafen hatte er den Zug genommen. Er war lange an einem Fluss entlanggefahren, und auf den Bergen an den Ufern des Flusses hatte er Weinreben gesehen und manchmal die Überreste von alten Burgen, während es draußen langsam dunkel geworden war, und dann hatte er im Fenster nur noch sein eigenes Spiegelbild im gelben Licht des Zugabteils gesehen.

Als er schließlich den Bahnhof erreicht hatte und aus dem Zug gestiegen war, war es Nacht gewesen. Er hatte nach dem Aussteigen noch lange auf dem Bahnsteig gestanden. Die Türen des Zugs, mit dem er gekommen war, hatten sich wieder geschlossen, und dann war der Zug weitergefahren, während Martin nicht entscheiden konnte, wohin er von dort auf dem Bahnsteig neben den Fahrplänen und den Wagenstandanzeigern gehen sollte. Er hätte irgendjemanden anrufen müssen. Er hätte irgendjemandem Bescheid sagen müssen, dass er zurück war, aber er hatte es nicht getan.

Jetzt steht er auf der Wiese in dem alten Stadtpark am äußersten Rand des gelben Lichtkreises der Laterne.

Er war zuerst instinktiv im Dunkeln stehen geblieben. Er hatte versucht, einen klaren Gedanken zu fassen, so wie er es schon seit Stunden versuchte, aber er hatte keinen klaren Gedanken fassen können.

Die Frau auf der Parkbank hatte eine Hand über ihre Augen gehoben, um zu sehen, wer da in der Dunkelheit stand, aber mit hell und dunkel, mit der Grenze von Licht und Schatten, damit kannte er sich aus, und wer vom Licht ins Dunkel sieht, der sieht so gut wie nichts.

Es hatte gedauert, bevor es ihm gelungen war, den nächsten Schritt zu tun, es war ihm fast unmöglich gewesen, aber schließlich hatte er den Seesack wieder hochgenommen, den er im Gras abgesetzt hatte, los jetzt, los jetzt, beweg dich, einfach nur einen Fuß vor den anderen setzen, das war die Idee gewesen, der Plan, und dann war er aus dem Dunkel herausgetreten.

Nach nur einem Schritt weiß er, dass er nicht mehr weitergehen kann.

Er sieht die rauchende Frau in dem kurzen weißen Rock mit den dunklen schulterlangen Haaren auf der Parkbank. In seinem Kopf rauscht es.

Die Frau sieht ihn an und sagt nichts. Sie betrachtet ihn. Sie fragt sich, was er will.

Schließlich kommt der Soldat auf sie zu, langsam, immer weitergehen, immer weitergehen, bis er sich an das andere Ende der Parkbank setzt. Er zündet sich leicht zitternd eine Zigarette an. Er sieht Alejandra nicht an. Er kann sie nicht ansehen.

Alejandra raucht ebenfalls, und sie sagt eine ganze Weile lang nichts. Beide sehen vor sich hin in die Dunkelheit des Parks, bis Alejandra schließlich das Schweigen bricht.

– Hallo, Seemann, sagt sie.

Der Soldat raucht zitternd weiter, er raucht die Zigarette bis an den Rand des Filters, hallo, Seemann, hat sie gesagt, er hat es gehört, aber er antwortet nicht, er lacht nur kurz auf. Er ist alles andere als ein Seemann.

Er denkt an die Stunden in dem dröhnenden Rumpf des Flugzeugs. Er denkt an die letzten Stunden des Einsatzes, an die Zwischenlandung in Taschkent, Usbekistan, und dann denkt er an die Toten.

Er hat das Gefühl, als ob sich eine Welle über ihn wölbe, eine Welle, die alles zerdrückt, die alles unter ihr zerplatzen lässt in Tausende von Teilen.

Er sieht nach oben. Er sieht von unten in das staubige Laub der Bäume im Schein der Laterne. Er sucht den Himmel, aber die Laterne blendet ihn zu sehr.

– Bist du auf dem Weg nach Hause?, fragt ihn Alejandra.

Der Soldat findet schließlich zwischen den Bäumen über ihm den Himmel, aber da ist nichts als ein schwarzer Schleier.

Bist du auf dem Weg nach Hause?, er hat die Frage gehört, und er würde auf die Frage auch gern antworten, aber er weiß nicht, ob er in der Lage ist zu sprechen, und deshalb antwortet er nicht, er öffnet nur kurz den Mund, und dann schließt er ihn wieder.

– Ja?, fragt ihn die Frau wieder. Gehst du jetzt nach Hause?

Sie deutet auf den Seesack.

– Bist du gerade erst angekommen? Gerade erst zurückgekommen? Ja? Kommst du vom Bahnhof? Nur, dass natürlich am Ende keiner einfach vom Bahnhof kommt, sagt sie dann noch, nach einer kurzen Pause. Keiner kommt vom Bahnhof. Oder alle.

Irgendwann wird er antworten. Irgendeine ihrer Fragen, denkt sie, wird ihn erreichen.

– Warst du lange weg?

Wieder durchquert ein Flugzeug den Nachthimmel. Der Soldat sieht erneut zum Himmel auf, den er nicht sehen kann, und dann wendet er zum ersten Mal kurz den Blick zu der Frau neben ihm, am anderen Ende der Parkbank.

– Bist du lange weg gewesen?, fragt Alejandra wieder.

Der Soldat nickt. Er hat für einen Moment Schwierigkeiten zu atmen, er richtet den Oberkörper auf und krümmt ihn dann zusammen. Er starrt auf den asphaltierten Weg vor sich.

– Lang, ja? Scheiße.

Alejandra zieht an ihrer Zigarette und stößt den Rauch in die Luft.

– Weit weg gewesen?

Da fehlt ein Satzteil, denkt sie, das passiert ihr manchmal. Bist du weit weg gewesen?, muss es heißen.

– Bist du weit weg gewesen? Haben sie dich weit weggeschickt? Kommst du von weit weg?

Der Mann in der Tarnuniform antwortet nicht, aber es bewegen sich seine Lippen. Alejandra weiß, dass es nicht mehr lange dauern wird, bis er etwas sagt. Wenn sie erst einmal den Klang seiner Stimme gehört hat, wird alles einfacher sein, dann wird sie wissen, wer da neben ihr sitzt.

– Wo haben sie dich hingeschickt?

Der Soldat macht eine Kopfbewegung zur Seite.

– Ah, sagt Alejandra, sie macht die Kopfbewegung nach, dahin. Dahin.

Dort, wo seine Kopfbewegung hindeutete, denkt sie, da ist nichts außer der riesigen Baustelle, building site, sitio de construcción, die seit Jahren nicht fertig wird, und eine Tankstelle, petrol station, gasolinera, deren blaues Schild in der Ferne durch das Blattwerk der Bäume leuchtet, aber Alejandra weiß trotzdem, was der Soldat mit der Kopfbewegung meint.

– Sie haben dich in den Krieg geschickt.

Alejandra denkt für einen Moment an ihre Heimat. Sie denkt an einen Freund, genau genommen an einen Freund von Karim, denn Alejandra gab es damals noch nicht, der dort in ihrer Heimat hingerichtet worden war, man hatte ihn an einem Kran, crane, grúa aufgehängt, es war ein entsetzlich qualvoller, langsamer Tod gewesen, und dann hatte man später seinen Körper, body, cuerpo angezündet.

Karim hätte dort genauso sterben können, aber Karim hatte Glück gehabt. Karim war rausgekommen.

– Und? War schlimm?

Natürlich war es schlimm, denkt sie, was für eine schwachsinnige Frage, und außerdem fehlt da wieder ein Wort.

Der Soldat nickt mit dem Kopf, und dann kommen die Tränen. Er beginnt zu weinen.

– Scheiße, sagt Alejandra. Das tut mir leid. Das tut mir wirklich leid.

Der Soldat weint immer heftiger. Er vergräbt sein Gesicht in den Händen.

– Hey, sagt Alejandra. Hey, Seemann.

Sie würde gern dem unbekannten Mann neben ihr helfen. Sie wirft die Zigarette weg und rutscht etwas näher an den Mann heran, aber noch berührt sie ihn nicht. Sie sitzt neben ihm und legt die Hände mit den vielen Ringen in den Schoß ihres weißen kurzen Rocks.

– Nicht weinen. Bloß nicht weinen. Ist doch vorbei. Jetzt ist es doch vorbei.

Sie spricht leise auf den Mann neben ihr ein, der immer heftiger und heftiger weint. Alejandra hat noch nie einen Nervenzusammenbruch gehabt, aber Karim weiß, was das ist. Karim hat schon einmal einen Mann in den Armen gehalten, der nicht aufhören konnte zu weinen, und Karim hat auch selbst schon einen Nervenzusammenbruch gehabt.

– Ist vorbei, sagt Alejandra, es ist vorbei.

Jetzt legt sie für einen kurzen Moment ihre Hand auf die Schulter des Mannes, dann streifen ihre Fingerspitzen seinen Oberarm und seinen Ellbogen, und dann zieht sie die Hand zurück.

– Klar war das schlimm, sagt sie. Aber, hey, vergiss nicht, du musst stolz sein. Du kannst wirklich stolz sein.

Der Soldat sieht mit verweinten Augen Alejandra an.

Er sieht ihr zum ersten Mal wirklich ins Gesicht.

Das, denkt Alejandra, könnte der Moment sein, in dem er es erkennt. Das könnte der Moment sein, in dem er sie schlägt. Es wäre nicht das erste Mal, dass jemand sie schlägt.

Er schlägt sie nicht.

– Ja?, stolz?, fragt Martin, während er wieder vor sich auf den Weg starrt, worauf denn? Worauf sollte ich denn stolz sein?

Seine Stimme ist heller, als sie vermutet hatte, und gleichzeitig ist sie leicht heiser, vermutlich von dem Weinkrampf. Die Stimme des Mannes berührt sie.

– Auf dich, sagt sie, du musst stolz sein auf dich. Du hast uns verteidigt.

– Ist das so?, antwortet der Soldat, und dann lacht er wieder so, wie er gelacht hatte, als Alejandra »Seemann« zu ihm gesagt hatte, bitter, denkt Alejandra, er lacht bitter, das ist das Wort, und auf Englisch heißt es genauso, bitter, und auf Spanisch heißt es amargo, und auf persisch heißt es تلخ.

Wie traurig, denkt sie.

Alejandra sieht in das gequälte Gesicht des Mannes neben ihr. Sie würde dieses Gesicht gerne küssen.

Sie fragt sich, ob er mit ihr schlafen wird, hier, in dem Park, irgendwo etwas abseits, im Dunkeln.

Sie würde gern mit ihm schlafen. Der Wunsch, mit dem weinenden Mann neben ihr zu schlafen, überkommt sie mit einer Heftigkeit, die sie selbst überrascht. Fast muss sie über sich lachen. Fast lacht sie darüber, wie abwegig der Gedanke ist, dass der weinende Mann neben ihr auf der Bank mit ihr Sex haben wollen könnte, warum sollte er.

Ihr fällt das Emoji mit dem weinenden Smiley ein.

Sie denkt an den Smiley, der schallend lacht, den Kopf leicht quer gedreht, schief gelegt, wie heißt das?, denkt sie.

Sie lernt eine Sprache nach der anderen, sie kennt das Wort »Träne« in vier verschiedenen Sprachen, tear, lagrima, اشک.

Ihr fallen oft diese Gesichter ein, die Zeichen, das lachende Gesicht, das Tränen lachende Gesicht, das schief gelegt Tränen lachende Gesicht, das weinende Gesicht, eine Träne läuft aus dem Augenwinkel, und das in Strömen weinende Gesicht.

Diese Zeichen sind Abkürzungen, sie sind das Ende aller Sprachen, denkt sie manchmal, wenn es nur noch Zeichen gäbe, bräuchte niemand mehr Sprachen zu lernen, und dann denkt sie, nein, diese Zeichen sind nicht das Ende, sondern der Anfang aller Sprachen, die Zeichen sind wie jene prähistorischen Malereien an den Höhlenwänden, über die sie neulich etwas im Internet gelesen hat, jedes Zeichen ist ein Anfang, eine Nachricht, eine Botschaft, und es gibt kein Zeichen für das Ende, weil jedes Zeichen gleichzeitig die Nachricht eines Anfangs ist. Die ganze Philosophie ist im Grunde nichts als eine Ansammlung von Zeichen, und der Koran ist es auch und die Bibel auch, das müsste jemand mal alles auf dem Mobiltelefon tippen, wie das wohl aussehen würde, der Koran und die Bibel in Emojis, und dafür würde man dann an einem Kran aufgehängt, denkt sie, aber der Strick würde einem nicht das Genick brechen, sondern er würde einen erwürgen, er würde einem langsam den Hals abschnüren, während die Adern in den Augen platzen. 🤪.

Alejandra würde gerne Karim eine Nachricht schicken, Inhalt: ein weinender und ein schief lachender Smiley.

Sie lehnt sich zurück.

Sie sieht vor sich ins Dunkel und zündet sich eine weitere Zigarette an. Lady Godiva reitet hoch zu Ross an ihr vorbei, nackt. Ihre langen, vollen roten Haare bedecken ihre Brüste. Alejandra ist sich sicher, dass Lady Godiva rotes Haar hatte, dichtes und langes Haar, lang genug, um ihre Brüste zu bedecken, während sie nackt durch die Stadt ritt, um deren Bürger vor den erbarmungslosen Gesetzen ihres Mannes zu retten, das war der Herrscher von Coventry, der Earl of Mercia, Leofric, das hat sie erst vor ein paar Minuten alles nachgelesen, und dann war alles gut geworden, und nur ein einziger Bürger der Stadt hatte heimlich aus dem Fenster geschaut, als sie vorbeigeritten war. Peeping Tom wurde der Mann genannt, und der war dafür blind geworden.

– Überleg mal, sagt Alejandra, wenn ich jetzt da wäre, wo du warst – die würden mich da umbringen. Die würden mir da nicht die Hände abhacken oder irgendwas abschneiden. Die würden mich köpfen. Oder sie würden mich hängen und verbrennen, weißt du?

Sie zieht an ihrer Zigarette und wundert sich, dass ihre Hände plötzlich zittern.

– Was glaubst du, weshalb ich hier bin? Warum ich hergekommen bin? Weil die mich da, wo du warst, umbringen würden – nur, weil ich bin, wie ich bin.

Sie spricht nicht weiter.

Die Geräusche der Nacht in der Stadt dringen durch den Park.

Jemand schiebt klirrend einen Einkaufswagen voller zusammengesammelter Flaschen und Dosen auf der Bahnhofsstraße vorbei, ein Pfandsammler.

Die Äste der alten Bäume wiegen sich leicht im Nachtwind. Manche dieser Bäume sind Hunderte von Jahren alt, und einige von ihnen, die, die näher am Rand der großen Baustelle stehen, sollen bald gefällt werden.

– Was hast du da gemacht?, fragt Alejandra. Was bist du für ein Soldat? Bist du ein Schütze? Du kannst schießen, oder? Bist du ein Scharfschütze?

Sie weiß nicht, wie sie darauf kommt. Vielleicht wegen eines Films, den sie neulich gesehen hat. Gibt es ein Emoji für »schießen«?

Nein. Ja. Es gibt das Symbol eines Pfeils. Es gibt das Symbol eines Bogens.

Es gibt ein Emoji für eine grüne Wasserpistole.

Es gibt kein Symbol für ein Gewehr, aber es gibt das Symbol eines Helms. Es gibt das Symbol eines Krans, an dem etwas hängt, eventuell sind es Stahlträger 🏗️.

Es gibt kein Emoji für eine nackte Frau auf einem Pferd, die eine Stadt rettet.

– Bist du ein Scharfschütze?

Martin antwortet auf ihre Frage nicht, aber er hat aufgehört zu weinen.

Er sitzt reglos da und blickt starr vor sich hin.

– Du bist ein Schütze. Wusste ich es doch, sagt sie. Weiß auch nicht woher, aber irgendwie sieht man dir das an. Vielleicht hab ich auch einfach nur ein gutes Gespür für Leute, keine Ahnung.

Das mit dem »guten Gespür für Leute« ist ein Spruch, Standardprogramm, Repertoire. Anmache, Flirten, Anbahnung von Sex. Karim würde so etwas nicht sagen, obwohl Karim ein ebenso gutes Gespür für Leute hat wie Alejandra, vielleicht sogar ein besseres.

Karim redet nicht so viel, meistens zumindest nicht. Bei Karim sind die Regeln klarer.

– Und? Hast du ein paar von den bösen Männern erwischt? Ja? Ich meine, ich nehme nicht an, dass du auf Frauen und Kinder geschossen hast.

Alejandra redet und redet jetzt, sie redet einfach weiter, und Martin neben ihr starrt weiter vor sich hin. Was er da sieht?, denkt sie. Den Weg. Ein Stück Rasen, Büsche, Bäume. Den Lichtkreis, dahinter das Dunkel. Er sieht dasselbe, was sie fast jede Nacht im Sommer sieht, aber vielleicht sieht er auch etwas vollkommen anderes, etwas, das mit dem Weg und dem Rasen und den Büschen und den Bäumen nichts zu tun hat.

– Obwohl, ich meine, gibt es da überhaupt Frauen?, redet Alejandra weiter, ich meine, klar, gibt es da Frauen, da muss es ja Frauen geben, aber kann man die sehen, oder haben die alle dieses Ding an? Wenn die alle dieses Ding anhaben, diesen Sack – Burka, das Ding heißt Burka, denkt Alejandra, sie weiß, wie das heißt, aber sie benutzt das Wort nicht – also diesen Sack, wenn jemand den anhat, dann weiß man ja gar nicht, wer darunter steckt, da weiß man ja überhaupt nicht, mit wem man es zu tun hat, darunter könnte ja genauso auch ein Mann stecken, oder?

Sie lacht. Sie stellt sich vor, wie sich ein Mann eine Burka überstreift. Wie er aus dem wie vergitterten Sichtfenster des Ganzkörperschleiers schaut, während er, für niemandem als Mann zu erkennen, durch die Straßen einer Stadt läuft, und alle glauben, er sei eine Frau.

Es gibt kein Emoji für eine Burka, aber es gibt ein Emoji für eine Frau, die ihre Haare unter einem Hidschab verborgen hat, die Hautfarbe der Frau kann man ändern.

– Aber, hey, sagt Alejandra und pustet sich ein Haar der Perücke aus dem Gesicht, ein langes schwarzes Haar, stell dir mal vor, da würde es nur Männer geben, nur Männer, ich meine, eigentlich ist es ja auch so, eigentlich gibt es da ja nur Männer, lauter Männer und irgendwelche Lebewesen in Säcken, nur, dass die Männer sich alle gegenseitig umbringen.

Stell dir mal vor, die würden sich nicht alle umbringen – stell dir das mal vor, stell dir mal vor, die würden sich alle lieben. Wenn die ganzen Männer, die sich da umbringen, sich lieben würden, stell dir das mal vor!, das wäre was.

Stell dir mal vor, die würden sich alle ficken.

Sie lacht über ihren eigenen Gedanken.

Sie hat, bevor sie den letzten Satz ausgesprochen hat, kurz überlegt, ob sie das Wort »ficken« benutzen soll – ob sie die Möglichkeit von Sex zwischen zwei Männern in den Raum der Vorstellung stellen soll, hier auf der Parkbank bei Nacht im Sommer.

– Okay, okay, vielleicht nicht ficken. Aber lieben. Sie könnten sich doch irgendwie lieben. Ich meine, vielleicht bringen sich die da nur alle um, weil sie sich nicht lieben dürfen, denn wenn sie sich lieben würden, dann hackt ihnen einer den Kopf ab, oder sie werden aufgehängt und angezündet, aber in Wahrheit stehen die vielleicht alle auf Männer, und weil sie nicht auf Männer stehen dürfen, fangen sie dann an, andere Männer umzubringen. Und Frauen natürlich auch. Und Kinder.

Martin sieht sie nicht an, aber er versucht, ihr zuzuhören. Er hat Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren, aber er hört ihr zu, so gut es geht.

Sie glaubt, in seinem Gesicht so etwas wie ein Lächeln zu erkennen.

– Hitler, sagt sie. Hitler stand doch auf Männer, oder? Klar stand Hitler auf Männer, ganz sicher stand Hitler auf Männer, aber stell dir mal vor, Hitler hätte gesagt, dass er auf Männer steht, dann hätte er sich ja selbst ins KZ stecken müssen, so wie alle anderen Männer, die er da umgebracht hat, weil sie auf Männer standen, das wäre wirklich was gewesen. Hallo, Hitler, ab mit dir in die Gaskammer, auf Befehl des Führers persönlich.

Bei der Vorstellung von Hitler, der sich mit bellender Stimme in ein Vernichtungslager steckt, muss Martin lachen.

– Klar. Klar, sagt er.

– Und diese Kalifen auch, klar, sagt Alejandra, die Kalifen, weißt du, was Kalifen sind, ich weiß es ehrlich gesagt selbst nicht genau, ist auch egal, also diese Kalifen –



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