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Der Duft von Apfelblüten und der Traum von Heimat ...
Die erfolgreiche Bestsellerautorin Katrin Tempel erzählt in ihrem neuen atmosphärischen Generationenroman von drei starken Frauen, die im Schatten einer blühenden Apfelplantage nach Freiheit, Liebe und Heimat suchen.
Nach dem Tod ihrer Mutter kehrt die amerikanische Modedesignerin Karen auf die elterliche Apfelplantage in der Pfalz zurück, um dort das Erbe zu regeln und die letzten alten Bäume zu roden. Dabei werden nicht nur Erinnerungen an ihre eigene bewegte Jugend wach, sondern auch an ihre freiheitsliebende Mutter und ihre Großmutter, die am Ende des Zweiten Weltkrieges mit ein paar kleinen Apfelreisern die Zukunft ihrer Familie vorbestimmte. Als Karen dann auch noch ihre alte Jugendliebe wiedersieht, kann sie sich bald vorstellen, vielleicht doch zu bleiben und nicht nur die alte Apfelplantage wieder aufblühen zu lassen.
»Katrin Tempel verwebt Vergangenes und Zeitgenössisches so gefühlvoll, dass der Leser dieses Buch gar nicht mehr weglegen mag.« Ruhr Nachrichten über »Mandeljahre«
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Für Georg und Emma. Und meine Tante Lucie.
Ohne ihr Schreibtalent und ihre Beobachtungsgabe
würde es dieses Buch nicht geben.
Dieses Werk wurde vermittelt durch die
Autoren- und Projektagentur Gerd F. Rumler (München).
© Piper Verlag GmbH, München 2021
Redaktion: Annika Krummacher
Covergestaltung: u1 berlin / Patrizia Di Stefano
Covermotiv: Trevillion Debra Lill / Trevillion Images; Shutterstock.com
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Cover & Impressum
Teil I
Wachenheim, Gegenwart
Eins
Zwei
Drei
Teil II
Marie
Mandeln, Herbst 1944
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
Sieben
Acht
Teil III
Luzie
Wachenheim, Frühling 1968
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Teil IV
Karen
Wachenheim, Herbst 1985
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
Teil V
Wachenheim, Gegenwart
Eins
Zwei
Drei
Vier
Ein Jahr später
Epilog
Sie sah ihn schon von Weitem.
Der schmale Traktor rumpelte mit seinem Anhänger auf dem Feldweg in Richtung Landstraße und bremste keine Sekunde, bevor er abbog und sich direkt vor ihr Auto setzte. Immerhin winkte der Fahrer ihr freundlich zu.
Durch das offene Fenster ihres Autos drang der süße, aromatische Duft in ihre Nase. Karen lächelte. Reife Trauben auf dem Weg zur Kelter. Der Geruch dieser Gegend, dieser Jahreszeit. Jetzt wurden die Trauben geerntet. Wahrscheinlich die letzten des Jahres. Spätlese.
Sie sah auf den Tacho. Bestimmt würde sie bis zum nächsten Ort hinter diesen überreifen Trauben herfahren. Rechts und links der Straße waren die Weinberge zu sehen, die sich bereits verfärbten, und dahinter die dunklen Wälder der Haardt – die Ränder des Pfälzer Waldes.
Ihre Heimat.
Falsch. Der Ort ihrer Kindheit.
Hier war Karen aufgewachsen – und von hier war sie damals aufgebrochen. Zu einem anderen Leben, mit anderen Freunden, in einer anderen Welt. Sie war gegangen, um nie mehr wiederzukommen. Und jetzt war sie doch hier. In der Ferne erkannte sie die Silhouette der Burg, die über dem Städtchen thronte.
Kurz entschlossen setzte sie den Blinker, verließ die Straße und den friedlich dahinfahrenden Winzer und bog nach links ab. Ein holpriger Feldweg zwang sie dazu, langsam zu fahren. Das hatte sich seit ihrer Kindheit offenbar nicht geändert.
Der Weg führte zwischen zwei abgeernteten Wingerten leicht bergauf und endete an einer wuchernden Hecke aus Weißdorn, Holunder und wilden Rosen.
Dahinter musste es sein.
Karen stellte den Motor ab, öffnete die Tür des Mietwagens und streckte sich. Der lange Flug von New York nach Frankfurt, dann die Autofahrt vom Flughafen bis zur Weinstraße – Rücken und Nacken sagten ihr überdeutlich, dass sie schon fünfzig war. Und nicht mehr das junge Mädchen, das vor über dreißig Jahren an dieser Stelle gestanden hatte.
Hinter dem großen Holunderbusch lag ihr Ziel. Oder?
Karen runzelte die Stirn. Hier hatten einst Apfelbäume gestanden. Ordentlich in Reih und Glied gepflanzt. Kleine tapfere Soldaten für eine perfekte Saftproduktion – so hatte sie damals über die Plantage gespottet.
Davon war jetzt nichts mehr zu sehen. Brombeeren hatten jedes freie Stück Erde zwischen den Bäumen überwuchert, dazwischen wuchsen hüfthohe Gräser, Blumen und allerlei Grünzeug, von dem sie noch nie gehört hatte. Die Bäume, die sie noch erkannte, waren inzwischen in die Höhe gewachsen, viel zu viele Triebe verknoteten sich in ihren Kronen. Zu wenig Licht für gute Äpfel, schoss es Karen durch den Kopf. Durch einen Apfelbaum musste man einen Hut werfen können, das hatte ihre Mutter immer gepredigt. Sonst bekommen die Früchte zu wenig Sonne, und der Baum wird anfällig für Pilze und andere Krankheiten.
Dieser Garten hatte bestimmt schon mehr als ein Jahrzehnt keine Pflege mehr erhalten. Eher noch länger. Die Bäume schienen mit ihren langen Trieben den wuchernden Brombeeren entfliehen zu wollen.
Wieso hatte ihre Mutter den Garten so verwahrlosen lassen? Hatte ihr schon länger die Kraft für die Pflege gefehlt? Karen stiegen die Tränen in die Augen. Sie hätte früher kommen sollen. Nachsehen, wie es ihrer Mutter ging, statt sich nur auf die fröhlichen Versicherungen am Telefon zu verlassen: Es geht mir gut, mir fehlt es an nichts, mach dir keine Sorgen. Bis zum nächsten Mal.
Hätte.
Sinnlose Vorwürfe, sie konnte die Zeit nicht zurückdrehen.
Karen machte einen Schritt nach vorne. Sofort verfing sich eine Brombeerranke in ihrer weiten Leinenhose.
Mit einem leisen Fluch wollte sie ausweichen, aber jetzt schien sich die lange Ranke erst ernsthaft an ihrem Hosenbein festzukrallen. Mit aller Geduld, die sie aufbringen konnte, bückte Karen sich und versuchte, vorsichtig die Ranke zu lösen. Ein Dorn fuhr ihr in den Finger, und sie zuckte zurück.
»Mist!« Sie steckte den blutenden Zeigefinger in den Mund. Wenigstens hatte die bösartige Ranke ihren Anflug von Sentimentalität schnell beendet.
Karen seufzte. Hätte ihre Mutter sich Hilfe geholt, dann würde es hier nicht so aussehen. Und das hätte sie sich doch finanziell leisten können, oder etwa nicht?
Beim nächsten Befreiungsversuch holte sie sich einen Kratzer auf dem Handrücken. Aber die Brombeere löste sich.
Mit einem wachsamen Blick auf aggressive Pflanzen und Kletten lief Karen an der Plantage entlang. Überall der gleiche Anblick. Ungepflegte Bäume, Gestrüpp, wilde Blumen und kleine Trampelpfade, die in das Innere der alten Apfelplantage führten und verrieten, dass sie heute Wildschweinen, Füchsen und Rehen Schutz bot. Doch an jedem einzelnen Ast hingen Äpfel. Rot, gelb, grün, gestreift, groß, klein …
Karen erinnerte sich, dass ihre Mutter immer über diese alte Plantage geschimpft hatte. Sie war das Herzstück des Apfelgutes, der älteste Anbau – und von den Sorten her komplett durchgemischt. Hier hatte Oma Marie, die Gründerin des Apfelguts, einst alles gepflanzt, was auch nur annähernd wie ein Apfelbaum aussah. Und so glich hier kein Apfel dem anderen. Jeder wurde zu einem anderen Zeitpunkt reif, immer wieder musste man ein paar Erntehelfer hierherschicken, um einen einzelnen Baum abzuernten. Eigentlich merkwürdig, dass ausgerechnet dieser aufwendige, unsortierte Apfelgarten als einzige Pflanzung von Adomeits Apfelgut übrig geblieben war. Alles andere war längst an die Winzer verkauft worden und inzwischen mit langen Reihen von Riesling, Spätburgunder und Co. bepflanzt. Wahrscheinlich war das einer sentimentalen Anwandlung ihrer Mutter geschuldet. Damit war jetzt aber Schluss: Wenn Karen dieses letzte Stück Land in den nächsten Wochen an einen der Winzer verkaufte, dann würde es sicher noch vor Ende Februar abgeholzt werden. Die Tiere müssten dann eben in die Hecken zwischen den Wingerten umziehen. Kein Problem, Wildnis gab es hier auch ohne den alten Apfelgarten mehr als genug.
Karen streckte ihre Hand nach einem besonders verlockenden, grünlich-rot gestreiften Exemplar aus und biss hinein. Der Geschmack verschlug ihr fast den Atem. Fruchtig, leicht säuerlich, knackig, vielleicht nach Grapefruit? So einen Apfel hatte sie seit ihrer Kindheit nicht mehr gegessen. Er schmeckte nach Tagen voller Sonne, der Nähe von Trauben und Mandeln und irgendwie auch nach dem Leben, das sich in der Nähe seines Stammes abspielte. Unglaublich, dass sich die Geschmacksnerven irgendwann an den fad-süßen Geschmack der Supermarktäpfel gewöhnten. Sie biss noch einmal ab. Verlernte man, dass es diesen intensiven Geschmack gab? So etwas wie diesen Apfel gab es ganz bestimmt nicht in einem New Yorker Supermarkt – und wahrscheinlich auch nicht bei den hiesigen Discountern.
Sie streckte sich und pflückte einen zweiten Apfel. Dann schlenderte sie langsam zurück zu ihrem Auto. Es war später Nachmittag, ein sanfter Wind fuhr durch die Büsche und Bäume – und sie war nicht in Eile.
Hier wartete nichts und niemand auf sie.
Aber irgendwann ließ sich der Besuch ihres Elternhauses nicht mehr herauszögern. Wenn sie noch bei Tageslicht ankommen wollte, dann wurde es Zeit, die Apfelbäume und das weiche Licht des Nachmittags zu verlassen.
Von dem alten Apfelgarten bis zu ihrem Elternhaus waren es nur wenige Hundert Meter. Das gelbe Häuschen aus Sandstein lag klein und geduckt unter ein paar Bäumen am Ortsrand. Eine kurze Auffahrt, gesäumt von Apfelbäumen, führte bis direkt vor die Tür. Zögernd stieg Karen aus dem Auto. War das Haus schon immer so klein gewesen? Machte die Erinnerung wirklich alles größer?
Hoffentlich hatte ihre Mutter ihre Gewohnheiten nicht geändert. Karen ging zur Haustür, kniete sich hin und hob den Blumentopf mit den verblühten Hortensien an. Tatsächlich: Hier lag der Schlüssel, so wie damals vor dreißig Jahren. Langsam drehte sie den Schlüssel um und öffnete die Tür.
Das Haus war leer. Seit die Nachbarin vor zwei Tagen angerufen hatte, wusste Karen, dass hier niemand mehr auf sie warten würde. Ihre Mutter war gestorben. Mit neunundsiebzig Jahren, an einem Schlaganfall. Die Nachbarin hatte die Mutter im Garten liegen sehen, sofort den Krankenwagen alarmiert – und dann bei Karen angerufen.
Als Karen endlich einen Arzt im Krankenhaus erreichte, konnte er ihr nur noch den Tod ihrer Mutter bestätigen. Gestorben, ohne das Bewusstsein wiederzuerlangen. Und ohne noch einmal mit ihrer Tochter oder irgendjemand anderem zu reden.
Wie gelähmt war Karen mit dem Telefon in der Hand sitzen geblieben.
Wann war sie das letzte Mal in Deutschland gewesen? Das war Jahrzehnte her. Immer wieder war ihr etwas dazwischengekommen. Ferien mit den Kindern, eine neue Kollektion ihres Modelabels oder auch einfach nur die mangelnde Lust, einen langen Flug auf sich zu nehmen, um an einen Ort zu kommen, nach dem sie keinerlei Sehnsucht verspürte.
Sicher, ihre Mutter hatte immer wieder gefragt, ob sie nicht doch einmal nach Deutschland kommen wolle. Vor allem, seit ihr Vater vor drei Jahren in ein Pflegeheim gezogen war. Seine Demenz war so fortgeschritten, dass die Mutter nicht mehr mit ihm im Haus hatte leben können. Hin und wieder war sie offensichtlich so einsam gewesen, dass sie ihre einzige Tochter anrief und um einen Besuch bat. Karen hatte immer eine Ausrede gefunden. Erst jetzt war die Reise unvermeidlich geworden. Jetzt, wo niemand mehr auf sie wartete.
Jeff hatte Karen auf dem Sofa gefunden, den Telefonhörer noch in der Hand. Er hatte ihr sofort angesehen, dass etwas Schlimmes passiert war. Nach mehr als dreißig gemeinsamen Jahren konnte sie nichts vor ihm verbergen. Tröstend nahm er sie in den Arm, und sie fühlte sich in seiner Umarmung geborgen. Hier wollte sie bleiben, statt sich der Realität zu stellen.
Aber der Augenblick währte nur kurz. Dann sprang Jeff auf und fing an zu planen. Er wollte wissen, wann sie nach Deutschland fliegen wollte, um Beerdigung und Erbe zu regeln.
»Morgen?« Er hatte sie nur kurz von seinem Laptop aus angesehen. Und sie hatte genickt.
Morgen. Den Termin für den Rückflug hatten sie offengelassen. Wer konnte schon absehen, wie lang das alles dauern würde? Drei Wochen, vier Wochen?
»Ich kann leider nicht mitkommen«, hatte Jeff bedauernd erklärt, während seine Finger über die Tasten flogen. »Während deiner Abwesenheit sollte ich mich um die Firma kümmern. Und die Kinder möchte ich auch nicht so lange alleine lassen.«
Die Kinder. Zwei erwachsene Menschen, die ihren Vater ganz bestimmt nicht brauchten. Aber Jeff hatte immer wenig Interesse an ihren deutschen Wurzeln gezeigt – warum sollte das jetzt anders sein?
Die Wahrheit war, dass er auf keinen Fall für mehrere Wochen in seiner Firma an der Wall Street fehlen wollte. In der Schlangengrube, die er Arbeitsplatz nannte, würde sicher einer der Kollegen seine Abwesenheit zum großen Karrieresprung ausnutzen. Und Jeff war bereit, seinen Job mit Klauen und Zähnen zu verteidigen. Da kam eine tote Schwiegermutter in einem pfälzischen Kaff mehr als ungelegen.
Natürlich hatte er ihr geholfen, ihre Sachen zu packen. Er fuhr sie nach Newark, drückte ihr noch einen Kuss auf die Wange und verabschiedete sich. »Melde dich, wenn du im Hotel angekommen bist, ja? Du übernachtest hoffentlich nicht im Haus deiner Mutter!« Dann hupte jemand in der Reihe hinter ihm, und er musste weiterfahren, ohne überhaupt auf die Antwort zu warten.
Jetzt stand sie in der Tür ihres Elternhauses und scheute sich davor, über die Schwelle zu gehen. Der Flur mit dem hellen Parkett, die Garderobe mit den Jacken und Schuhen ihrer Mutter – es sah aus, als würde sie gleich aus der Küche kommen. Über allem hing der feine Duft reifer Äpfel. Unverändert, seit ihre Großmutter in dieses Haus gezogen war und in den Anfangsjahren in der Küche das Apfelmus und die Apfelkuchen für den Hofladen gekocht und gebacken hatte.
Mit einem kleinen Kopfschütteln überwand Karen sich und betrat das Haus. Sie hatte noch nie an Geister geglaubt, hatte schon immer Entscheidungen, ohne zu zögern, umgesetzt. Da würde sie nicht heute damit anfangen, vor dem Betreten eines verlassenen Hauses zu zaudern.
Links war der Eingang zur Küche, dahinter das Esszimmer. Auf die helle Holzküche war ihre Mutter einst so stolz gewesen. Fast meinte Karen, ihre Stimme zu hören. »So eine Art pfälzischer Landhausstil – nur ohne den Kitsch, verstehst du?«
Auf dem Tisch standen ein benutzter Teller und eine halb leer getrunkene Tasse mit Tee. Die Milch hatte längst einen Film auf der Oberfläche gebildet. Ihre Mutter war aus dem vollen Leben gerissen worden, sie war nicht einmal dazu gekommen, die Spuren ihrer letzten Mahlzeit zu beseitigen. Was sie wohl in den Garten gelockt hatte?
Zögernd ging Karen an dem Esstisch vorbei und sah durch die Terrassentür nach draußen.
Hier war sie hinausgegangen. Bis zu einem der Bäume, unter dem sie dann zusammengebrochen war. Eine geplatzte Ader im Hirn, ein kleiner Klumpen geronnenes Blut – und das Leben war vorbei.
Warum nur fühlten sich alle unsterblich, obwohl die Grenze zum Tod nur eine schmale zerbrechliche Linie war? Der herbstliche Garten verschwamm vor ihren Augen, als ihr Tränen in die Augen traten. Sie würde nie wieder mit ihrer Mutter reden können. In ihrer Vorstellung hatte sie alle Zeit der Welt gehabt – um in Wirklichkeit alle Momente zu verpassen, in denen sie noch hätten reden können.
»Das ist einfach nicht fair, Mama!« Der Klang ihrer Stimme in dem Zimmer erschreckte sie. Es klang so unendlich vertraut. Hatte sie das schon einmal gesagt? Bei einer dieser vielen kleinen Streitigkeiten, die sie immer wieder gehabt hatten?
»Ist es wirklich nicht!« Jetzt klang ihre Stimme fast trotzig. »Du hättest doch auch einen anderen Abgang wählen können. Einen, bei dem ich noch Zeit gehabt hätte herzukommen. Dich in den Arm zu nehmen. Und noch einmal zu reden. Es kann doch nicht sein, dass du dich einfach so holterdiepolter vom Acker machst.«
Und beinahe kam es ihr so vor, als würde ihre Mutter entgegnen: »Du bist doch auch nicht gekommen, als dein Vater sich allmählich verabschiedet hat. Jetzt ist er fast nicht mehr da. Nur noch seine Hülle …«
Das hatte ihre Mutter immer wieder gesagt, um sie hierherzulocken. Und dann war Luzies einzige Möglichkeit, ihre Tochter hierherzuholen, doch nur ihr Tod gewesen.
»Ich wollte immer kommen. Ich habe gedacht, es eilt nicht«, murmelte Karen. »Irgendwann fliegen die Jahre nur so vorbei, und ich habe nicht gemerkt, wie sie …«
»Hallo? Ist da jemand?«, rief eine energische Frauenstimme von der Eingangstür.
Karen zuckte zusammen. Hatte die Frau ihr Selbstgespräch gehört? Na, hoffentlich nicht. Sie wollte nicht verwirrt erscheinen. Schnell richtete sie sich auf, wischte sich noch einmal über die Augen und rief dann: »Ich bin hier hinten, im Esszimmer! Wer ist denn da?«
Gleichzeitig ging sie zurück zur Haustür, wo eine ältere Frau mit sorgfältig blondiertem Pagenkopf stand. Sie sah Karen aufmerksam entgegen. »Sind Sie Luzies Tochter?«
»Karen McMillan. Freut mich, Sie kennenzulernen!« Karen streckte ihre Hand aus. »Ich nehme an, Sie sind Frau Gehring? Die Nachbarin?«
Als die Frau nickte, fuhr Karen fort: »Ich bin so froh, dass Sie meine Mutter im Garten gefunden haben. Nicht auszudenken, wenn sie da länger gelegen hätte …«
»Ach, sie war ja ohnehin schon bewusstlos, da konnten die Sanitäter gar nichts mehr machen …« Ihre Stimme klang mit einem Schlag brüchig.
»Kommen Sie doch rein!« Karen war in dieser Sekunde froh, dass sie nicht mehr allein in diesem leeren Haus sein musste. Und wenn es nur die Nachbarin ihrer Mutter war, Hauptsache, es war ein anderer Mensch in ihrer Nähe!
Die ältere Frau schüttelte den Kopf. »Ich möchte Sie nicht stören. Sie brauchen doch sicher ein wenig Zeit für sich. Der Verlust einer Mutter ist nur schwer zu verkraften … das kann ich verstehen. Ich habe nur gerade eben gesehen, dass die Haustür offen steht, da wollte ich nach dem Rechten sehen. Man liest ja immer wieder von Gesindel, das sich in unbewohnten Häusern einnistet. Und von Einbrechern.« Sie nickte, als wollte sie ihren Worten besonders viel Nachdruck verleihen. »Wenn Sie in nächster Zeit Hilfe benötigen, dann können Sie sich gerne an mich oder meinen Mann wenden.« Sie deutete auf ein großes Haus, das hinter den Bäumen zu erkennen war. »Wir wohnen gleich dort drüben. Scheuen Sie sich nicht, bei uns zu klingeln, wenn Sie eine Frage haben.«
»Danke, ich bin mir sicher, dass ich noch einiges wissen möchte. In den nächsten Tagen gibt es so viel zu tun. Die Beerdigung, das Erbe …«
»Überstürzen Sie nichts«, entgegnete die Nachbarin und wandte sich zum Gehen.
Damit war Karen wieder allein. Sie sah der Nachbarin hinterher. War sie nur unglaublich aufmerksam – oder unerträglich neugierig? Saß sie aus Langeweile den ganzen Tag am Fenster? Vorgestern der Zusammenbruch ihrer Mutter, heute die offen stehende Haustür … Da tanzte sie besser nicht nackt durch den Garten.
Sie schloss die Haustür mit Nachdruck hinter sich und ging wieder zurück ins Esszimmer. Dabei fiel ihr Blick auf ein Bild, das gerahmt in der Garderobe hing. Eine Modezeichnung, einer ihrer ersten Entwürfe. Damals hatte sie noch unbeholfener gezeichnet, da fehlte die Übung. Aber es war schon zu sehen, was sie wollte: eine einfache Latzhose mit weit ausgestellten Beinen und breiten Trägern. Karen grinste. Sie hatte diese Hose dann an Omas alter Nähmaschine produziert. Wieder und wieder und wieder – bis fast alle Jugendlichen in ihrer Schule mit dem Teil herumgelaufen waren. Ihre ersten Schritte als Modedesignerin. Sie hatte keine Ahnung, wann und wie ihre Mutter an diese Entwürfe gekommen war. Warum nur hatte sie die Dinger aufgehängt? Als Erinnerung an die Zeiten, in denen Karen noch hier gewohnt hatte? Oder um auch hier in der Pfalz an Karens Erfolg teilzuhaben?
In der Garderobe sah sie eine Jacke aus der Kollektion vor drei Jahren. Dicke, dunkelblaue Wolle. Karen hatte sie damals hierhergeschickt, weil sie genau der Stil ihrer Mutter war. Offensichtlich hatte sie recht gehabt, die Jacke war häufig benutzt. Vorsichtig zupfte Karen ein welkes Blättchen ab, das noch am Kragen klebte. Von Mamas letztem Spaziergang?
Gedankenverloren lief sie in die Küche und öffnete den Schrank. Zeit für eine Tasse Tee, um nach dem Flug zur Ruhe zu kommen und die weiteren Schritte zu planen. Der Kocher funktionierte, und im Schrank entdeckte sie alle möglichen Sorten Tee. Sie wählte einen einfachen Pfefferminztee und saß nur wenige Minuten später mit der dampfenden Tasse auf der Terrasse.
Mit einem kurzen Rundumblick vergewisserte Karen sich, dass Frau Gehring sie dieses Mal nicht im Blick hatte. Dann atmete sie tief ein. Trockene Blätter, feuchte Erde, Trester und Pfefferminze. Der intensive Geruch weckte Erinnerungen an längst vergessen geglaubte Zeiten. Nachdenklich sah sie über den Rasen hinweg zu den vereinzelten Bäumen, der alten Produktionshalle, wo früher Apfelsaft gekeltert wurde, und den dahinter gelegenen Wingerten. Einst standen dort Apfelbäume, aber diese Teile des Gutes hatte Luzie schon vor Jahren verkauft. Damals, als die Vergesslichkeit ihres Vaters immer schlimmer geworden war. Die Winzer hatten gut gezahlt, und so hatte Luzie sich keine Sorgen um ihr Auskommen gemacht. Anfangs hatte sie Karen noch von den Verkäufen und den Preisen erzählt, aber irgendwann hatte sie damit aufgehört. Karen hatte sich nicht weiter dafür interessiert und konnte sich im fernen New York kaum vorstellen, wo die einzelnen Grundstücke lagen.
Immerhin wusste sie, dass Luzie vor dem Verkauf des letzten Grundstückes zurückgeschreckt war. Daran hingen nämlich die Erinnerungen an die ersten Jahre in der Pfalz. Der Beginn von Adomeits Apfelgut. Der Neustart nach Krieg, Flucht und Entbehrungen.
Ganz allmählich ging der Spätnachmittag in den Abend über. Durch die Dämmerung kam ein Schatten auf Karen zu. Ein leises Maunzen, dann drückte sich ein Katzenkopf gegen Karens Schienbein. »Na, vermisst du sie auch?« Sie fuhr dem kleinen Tiger über den Rücken. Der ließ sich sofort fallen und zeigte ihr den weichen Bauch – eine mehr als deutliche Aufforderung zum Streicheln. Karen kraulte ein wenig das weiche Fell, dann hörte sie, wie ihr Handy drinnen auf dem Esstisch laut klingelte. Sie sprang auf. Es wurde Zeit, sie konnte nicht ewig hier auf der Terrasse sitzen, in den Garten blicken und eine streunende Katze streicheln.
Mit wenigen Schritten war sie beim Handy. Ihre engste Mitarbeiterin Rachel hielt sich nicht lange mit Vorreden auf. Die Modenschau mit der neuen Kollektion in sechs Wochen. Verschieben – oder einfach alles laufen lassen? »I’ll be there. Keep on going.« Karen legte auf. Sechs Wochen. Bis dahin sollte sie wirklich wieder in New York sein.
Zeit für einen ersten Rundgang durchs Haus.
Sie stellte die Tasse in die Spüle und ging dann die schmale Treppe nach oben. Im Badezimmer erinnerte alles daran, wie plötzlich ihre Mutter aus dem Leben gerissen worden war.
Ein Handtuch, das noch nach ihr roch. Angebrochene Tiegel und Tuben mit Cremes und dem Versprechen immerwährender Jugend. Ein Spiegel, in den ihre Mutter jeden Tag gesehen hatte und der jetzt nur Karens Gesicht zeigte. Tiefe Augenringe unter blutunterlaufenen Augen. Auch Jetlag wurde mit den Jahren nicht besser.
Schnell ging sie weiter. Ihr ehemaliges Kinderzimmer, das schon seit Jahren als Gästezimmer diente, in dem allerdings viel zu selten Gäste nächtigten und im Alltag nur alte Bügelwäsche lag.
Im Schlafzimmer der Eltern waren immer noch beide Betten bezogen. Mit einem leisen Lächeln strich Karen über das Kopfkissen. Typisch Mama. Sie wollte, dass es wenigstens so aussah, als ob Papa jederzeit nach Hause kommen könnte. Auch wenn das schon seit Jahren nicht mehr möglich war.
Auf dem Nachttisch ein Krimi mit Lesezeichen, die Lesebrille und eine angebrochene Packung mit Baldrianpillen. Hatte ihre Mutter schlecht geschlafen? Oder war das nur eine Vorsichtsmaßnahme für Nächte, in denen die Geister der Erinnerung zu laut waren? Karen öffnete die Packung und sah hinein. Die Hälfte der Pillen fehlte. Offensichtlich hatte Mama nicht gut geschlafen. Das hatte sie nie erzählt am Telefon. Aber sogar das war typisch: Ihre Mutter hatte nie gejammert. So war sie erzogen worden. Ostpreußische Disziplin, da redete man nicht über sich selbst.
An der Wand das Hochzeitsbild ihrer Eltern. Die ernste Luzie und der fröhlich lachende Matthias am »schönsten Tag ihres Lebens«. Zumindest Luzie sah nicht so aus. Angestrengt starrte sie in die Kamera. Karen starrte einen Atemzug lang zurück. Dann schüttelte sie den Kopf. Es wurde Zeit, dass sie sich eine Unterkunft für die Nacht suchte. Hier wollte sie nicht bleiben. Zu unheimlich, zu viele Geister – und zu schmerzhaft nach dem Verlust. Was dieses Haus wohl wert war? Am besten, sie bat einen Makler, sich das Haus mal anzusehen. In New York würde sie sich kaum um den Unterhalt des Gebäudes kümmern können. Und ihr Vater … Sie seufzte. An jeder Ecke tauchten neue Probleme auf.
Karen lief die Treppe hinunter und verließ beinahe fluchtartig das Haus. Diesmal steckte sie den Hausschlüssel in die Tasche und nicht unter die Hortensien und machte sich mit dem Mietauto auf den Weg. Jeff hatte ihr von New York aus ein Zimmer in einem kleinen Hotel namens Winzerhof hier im Ort gebucht. Den musste sie jetzt nur noch finden.
Nach einigem Rangieren durch die vielen Einbahnstraßen entdeckte sie schließlich das Hotel. Mit Ranken bewachsen, freundlich beleuchtet.
An der Rezeption stand eine füllige Frau in ihrem Alter, die begeistert ihr holpriges Schulenglisch auspackte, als sie ihren Namen nannte.
»Fellkam in auer Haus …«
»Stopp! Ich bin hier aus Wachenheim. Mein Deutsch ist vielleicht etwas eingerostet, aber ich verstehe wirklich noch alles!«, wehrte Karen ab.
»Wirklich? Aus Wachenheim? McMillan?« Sie sah stirnrunzelnd auf das Anmeldeformular. »Wohnen Ihre Eltern noch hier? Da müssten wir uns doch kennen, wir sind ja fast der gleiche Jahrgang.«
»Ja. Ich meine, nein. Meine Mutter ist vor zwei Tagen gestorben. Ich bin hier, um den Nachlass zu regeln. Ich bin eine geborene Winter.«
Das Gesicht der Frau zeigte ehrliche Betroffenheit. »Winter … Dann ist Ihre Mutter die Tochter der alten Adomeit? Oder etwa nicht? Ich wusste gar nicht, dass Frau Winter gestorben ist!«
»Ich bin noch nicht dazu gekommen, eine Todesanzeige aufzusetzen, das stimmt.« In Gedanken notierte Karen das auf der Liste der Dinge, die noch zu erledigen waren.
Die Hotelwirtin ließ sich in ihrem Redefluss nicht lange bremsen. »Mein herzliches Beileid. Wie schade, dass Sie zu so einem traurigen Anlass wieder in die Heimat kommen. Trotzdem haben Sie Glück, dass wir jetzt ein Zimmer für Sie haben! Es wurde erst vorgestern storniert, die Frau hatte wohl einen Unfall und konnte nicht kommen … Aber das ist jetzt ja auch egal. Hauptsache, Sie fühlen sich wohl.« Ihr Blick wanderte zum Anmeldeformular, und sie deutete mit dem Finger auf ein leeres Kästchen. »Da steht noch kein Abreisedatum.«
»Ich bin mir noch nicht sicher, wie lange ich bleiben werde«, erklärte Karen. »Ich hoffe, das ist kein Problem?«
»Nein, im Augenblick nicht. Sie können so lange bleiben, wie Sie wollen.« Sie reichte ihr den Zimmerschlüssel über die Theke. Innerlich musste Karen grinsen. Ein echter Schlüssel mit einem absurd großen Anhänger aus Holz in Form eines Weinblattes. Keine Karte. Hier lebten sie wirklich noch wie im letzten Jahrhundert.
Sie nahm den Schlüssel und zog den Koffer bis zu einer steilen Treppe hinter sich her. Kein Aufzug. Natürlich nicht.
Mit einigem Kraftaufwand wuchtete sie den Koffer bis zu ihrem Zimmer unter dem Dach. Und war dann überrascht: Das Zimmer war klein, aber die kleine Terrasse bot einen zauberhaften Blick über das Rebenmeer, das man in der Dunkelheit erahnen konnte. Zwei kleine Stühle luden dazu ein, sich hinzusetzen. Was Karen auch gleich tat. Im selben Moment stellte sie fest, dass sie Hunger hatte. Wann hatte sie das letzte Mal gegessen? Im Flugzeug?
Karen fand in ihrer Handtasche den Apfel, den sie vor wenigen Stunden in dem alten Garten gepflückt hatte. Sie nahm einen großen Biss. Und zum zweiten Mal an diesem Tag überraschte sie der Geschmack. Die Sonne eines ganzen Sommers hatte sich in diesem Apfel versammelt, um ein Fest zu feiern. Was hatten die Menschen nur mit den alten Züchtungen angestellt, sodass inzwischen das immer gleiche, etwas fade Aroma in jedem Apfel steckte?
Sie biss noch einmal ab. Es war einfach viel zu schade, wenn sie diese Bäume, die voller reifer Äpfel hingen, fällen ließ. Wenigstens dieses letzte Mal wollte sie das einmalige Aroma bewahren. Irgendwann in den nächsten Tagen mussten ein paar Steigen voller Äpfel zur Kelter. Ewig schade, dass sie keinen Apfelsaft in die USA einführen durfte … So würden Jeff und die Kinder niemals erfahren, wie ein echter Apfel schmeckte.
Richtig, Jeff. Sie musste unbedingt mit ihm sprechen. Also griff sie nach ihrem Handy. Schon nach zweimaligem Klingeln meldete sich seine vertraute Stimme.
»Darling, wie geht es dir? Bist du gut angekommen? Ist alles in Ordnung?«
Sie lehnte sich zurück und atmete tief aus. Auch wenn Jeff zig Zeitzonen und einen Ozean weit weg war, fühlte sie sich bei ihm geborgen.
»Einen Kaffee, bitte!«
Karen sah zu ihrer Wirtin auf und zeigte ihr schönstes Lächeln. Böse Zungen behaupteten, sie würde alles für einen Kaffee tun. Und sie hatten recht.
»Bringe ich gleich!« Die Frau sah Karen an und runzelte die Stirn. »Und Sie kommen wirklich von hier? Ich kann mich überhaupt nicht an Sie erinnern!«
»Ist ja auch ewig her. Ich bin seit dreißig Jahren nicht mehr hier gewesen. Vielleicht hatten wir unterschiedliche Freundeskreise. Oder ich sah ganz anders aus. Ist ja auch egal, meinen Sie nicht? Wichtig ist doch, dass ich jetzt da bin. Und könnte ich jetzt bitte den Kaffee …?«
»Ja, sagte ich doch schon. Ich versuche nur herauszufinden … Sie sind ganz bestimmt Jahrgang 1969?«
Karen nickte. Allmählich wurde sie ungeduldig. Sie brauchte diesen Kaffee. In New York war jetzt drei Uhr nachts – und genau das sagte auch ihr Körper. Sie brauchte ein Bett. Oder Kaffee. Jetzt.
»Keine Sorge, mein Geburtsjahr weiß ich noch ganz gut.«
»Wollen Sie in der Umgebung etwas besichtigen? Der Wurstmarkt drüben in Dürkheim ist ja schon vorbei, aber ein Spaziergang in der Gegend ist immer noch bezaubernd. Auf der Limburg gibt es einen neuen Pächter, da soll man ganz fantastisch essen …«
Karen winkte ab. »Ich möchte nicht essen gehen. Ein Kaffee, ein Brötchen und ein Ei würden mir jetzt schon reichen.«
»Sicher. Gleich.« Sie wandte sich zum Gehen, nur um sich nach zwei Schritten doch noch kurz umzudrehen. »Sie sind also die einzige Erbin von Adomeits Apfelgut? Was wird denn jetzt aus dem Haus?«
»Das werde ich wohl verkaufen«, erklärte Karen. »Aber erst, nachdem ich Kaffee von Ihnen bekommen habe.«
Jetzt drehte sich die Wirtin des Winzerhofs endgültig um und verschwand in der Küche.
Karen seufzte auf. Sie hatte eine der hervorstechendsten Eigenschaften der Pfälzer komplett vergessen: Sie redeten gerne. Mit Freunden. Mit Fremden. Mit jedem, der zuhörte. Das war charmant und sehr gastfreundlich. Außer man wollte gerade nicht reden und war nicht auf der Suche nach neuen Freunden. Als die Wirtin mit der dampfenden Tasse und dem weich gekochten Ei wiederkam, erkundigte sich Karen trotzdem: »Können Sie mir ein Bestattungsinstitut empfehlen?«
»Haben Sie denn schon einen Pfarrer?«
Befremdet schüttelte Karen den Kopf. »Nein. Zuerst muss ich doch dafür sorgen, dass meine Mutter aus dem Krankenhaus abgeholt wird, und einen Beerdigungstermin festlegen …«
»Aber das geht doch nur mit einem Pfarrer«, beharrte die Wirtin.
Seufzend gab Karen nach. »Haben Sie seine Nummer für mich? Wie heißt er denn?«
Eine Stunde später saß sie in einem nüchternen Büro im benachbarten Bad Dürkheim. Ein freundlicher, überraschend junger Mann sah sie über den Rand seiner Brille hinweg an. »Mein herzliches Beileid zum Tod Ihrer Mutter. Standen Sie sich nahe?«
Karen zuckte mit den Achseln. »Meine Mutter war immer auf meiner Seite. Aber mein Wohnort hat es nicht zugelassen, dass wir uns oft gesehen hätten. Ich lebe nämlich in New York.«
Neugierig beugte der Mann sich ein wenig nach vorn. »New York? Das ist aber ungewöhnlich. Wie lange leben Sie denn schon dort?«
»Ich bin mit siebzehn dorthin gezogen. Meine Geschäftsidee war für Deutschland zu früh, also musste ich in ein fortschrittlicheres Land. Das waren die USA. In Deutschland wäre ich nur ausgelacht worden. Dann habe ich geheiratet und zwei Kinder bekommen. Meine Firma wächst und macht mit jedem Jahr mehr Umsatz. Ich hatte einfach keine Zeit für regelmäßige Besuche in der alten Heimat.« Sie lächelte ihr Gegenüber unverbindlich an. »Bis wann, denken Sie denn, können wir meine Mutter beerdigen? Welches Beerdigungsinstitut können Sie empfehlen?«
»Wann waren Sie denn das letzte Mal hier? Kennen Sie die Firma Merk?«
Karen schüttelte den Kopf. »Mein letzter Besuch? Irgendwann in den Neunzigern …«
»Ich dachte, Sie wären nur nicht so regelmäßig hier gewesen. Ich wusste nicht, dass Sie gar nicht mehr hergekommen sind.« Er klang überrascht.
Karen vermutete, dass es ihm auch ein wenig an Verständnis mangelte. Welche Tochter kam schon jahrelang nicht mehr zu Besuch in ihre alte Heimat?
»Meine Mutter ist regelmäßig zu uns nach New York gefahren. Wir haben ihr die Flüge gezahlt, und ich denke, dass sie diese andere Welt auch sehr spannend fand …« Sie spürte selber, dass das nach einer Rechtfertigung klang.
»Gut.« Der Pfarrer nickte und sah auf seinen Notizblock. »Darf ich fragen, ob Ihr Vater noch lebt?«
»Ja, er lebt, aber ich fürchte, er bekommt nicht mehr viel mit. Er ist dement und wohnt in einem Heim.«
»Und Sie sind trotzdem nicht gekommen?« Er hob eine Augenbraue. Dann schüttelte er den Kopf und redete weiter. »Das geht mich vermutlich nichts an, aber ungewöhnlich ist das doch.«
»Er würde mich nicht mehr erkennen. Meine Mutter hat mir versichert, dass er in sehr guten Händen ist und ich nicht unbedingt kommen muss. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob er bei der Beerdigung dabei sein sollte. Ich werde heute noch in das Heim gehen und mit dem Pflegepersonal reden.« Sie verfiel in einen geschäftsmäßigen Ton. »Können Sie mir denn einen Termin nennen?«
»Nun, es kommt darauf an, wann die Firma Merk Zeit hat. Aber ich gehe davon aus, dass wir das am kommenden Montag hinkriegen sollten. Passt Ihnen das? Können Sie so lange hierbleiben?« Er sah sie mit seinem harmlosen, offenen Blick an, und Karen war sich nicht sicher, ob die Spitze in dieser Frage beabsichtigt war.
»Ich werde es mir einrichten. Haben Sie schon eine Uhrzeit, die ich der Firma Merk vorschlagen kann?« Sie ließ sich nicht provozieren. Dafür war sie zu alt.
»Elf Uhr sollte passen. Könnten Sie mir vielleicht ein paar Eckdaten zum Leben Ihrer Mutter geben? Sie war keine regelmäßige Kirchgängerin, und ich möchte doch ein wenig über ihr Leben erzählen.«
»Ich schreibe Ihnen ein paar Daten zusammen.« Sie sah auf die Visitenkarte, die ihr der Pfarrer zu Beginn des Gespräches ausgehändigt hatte. »Bei einigen Fakten muss ich auch noch einmal nachsehen. Ich weiß wirklich nicht auswendig, wann meine Mutter aus Schleswig-Holstein in die Pfalz gekommen ist.« Sie nickte ihm zu und wollte schon aufstehen, doch der Pfarrer war mit dem Gespräch noch nicht am Ende.
»Ach, Ihre Familie kommt ursprünglich aus Schleswig-Holstein?«
»Nein. Wir kommen aus Ostpreußen. Daher der klingende Name unseres Betriebs. Ist Adomeits Apfelgut Ihnen ein Begriff?«
»Aber sicher! Der Saft war früher ja in jeder Küche zu finden. Aber Sie machen nichts mit Äpfeln?« Wieder dieser fürsorgliche Blick.
»Nein, nein«, wehrte Karen ab. »In New York? Da gibt es keine Apfelbäume. Ich bin Modedesignerin. Nachhaltige Mode, ökologisch produziert. Keine Kinderarbeit und auch keine Chemie.«
Sie stellte fest, dass sein Blick kurz über ihre Kleidung wanderte. Wahrscheinlich fragte er sich gerade, ob sie Produkte ihrer eigenen Firma trug. Das tat sie fast immer. Heute hatte sie sich für eine weite Leinenhose entschieden, die ihre überzähligen Kilos gnädig verbarg. Dazu eine hellblaue Hemdbluse und eine Jeansjacke. Jugendlich genug, um nicht wie eine Oma zu wirken, ohne sich bei den jüngeren Designern anzubiedern, das wäre peinlich. Sie wusste, dass die Kleidungsstücke ihre leuchtend blauen Augen zur Geltung brachten.
»In Deutschland ist Ihre Kleidung nicht erhältlich?«, wollte er wissen.
Karen winkte ab. »Nein. Die Deutschen würden zwar gerne etwas gegen Kinderarbeit tun. Aber dann sind die T-Shirts bei den Billiganbietern einfach zu verlockend. Bei 2,99 Euro braucht man nicht mehr nach der Produktion zu fragen.«
»Da haben Sie wahrscheinlich recht«, stimmte ihr der Pfarrer zu. »Vielleicht sollten Sie trotzdem über Filialen in Deutschland nachdenken. In den letzten Jahren hat sich in dem Bereich viel getan.«
»Ich werde darüber nachdenken«, versprach Karen, obwohl ihr nichts ferner lag. Aber sie wollte jetzt wirklich gehen. »Sie hören von mir, sobald ich mit dem Bestattungsunternehmen geredet habe.«
»Ein Eichensarg, oder? Soll ja ein bisschen etwas hermachen. Vier Blumengestecke sind das Minimum. Sieht ja sonst irgendwie verloren aus. Auf dem Sarg noch einmal ein passendes Gesteck. Sollen wir eine Schleife für Ihre Familie befestigen?«
»Ich …« Vergeblich versuchte Karen, den Redeschwall des Anzugträgers vor ihr zu unterbrechen.
»Haben Sie sich schon Gedanken über die Musik gemacht? Eher klassisch oder vielleicht Pop? Was hat Ihre Frau Mutter denn bevorzugt? Daran kann man sich immer sehr schön orientieren.«
Karen spürte, dass sie bald mit ihrer Geduld am Ende war. Sie hob ihre Hand, um seine Rede zu unterbrechen. »Ich würde vor allem gern den Termin festlegen. Einzelheiten können wir danach besprechen. Passt Ihnen der kommende Montag um elf Uhr? Diesen Termin hat Pfarrer Troller vorgeschlagen.«
Ein kurzer Blick in den Terminkalender, dann nickte Merk. »Ja, das passt. Ich bespreche dann die Einzelheiten der Feier mit Pfarrer Troller?«
»Nein, mit mir. Ich wünsche mir eine schlichte Zeremonie. Einen einfachen Sarg, als Blumenschmuck etwas jahreszeitlich Passendes. Kein Firlefanz. Bei der Musik warte ich auf Vorschläge des Pfarrers, auf jeden Fall soll aber die Air von Bach erklingen.«
Sie sah, dass er mitschrieb. Ehr. Hoffentlich wusste er wenigstens, welche Musik sie meinte.
»Soll ich mich um eine Aufnahme kümmern?«, bot sie vorsichtshalber an.
Aber Merk schüttelte den Kopf. »Das haben wir im Repertoire, kein Problem. Sollen wir uns auch um eine Anzeige kümmern?«
»Ja. Den Text lasse ich Ihnen noch zukommen. Ich mache mir später Gedanken, was da wohl passen könnte.«
Er reichte ihr ein paar kopierte Seiten. »Das haben wir für unsere Kunden als Inspiration zusammengestellt. Vielleicht werden Sie hier fündig …«
Sie überflog die Seite. Weisheiten über fehlende Kraft, Erinnerung und Schmerz. Wahlweise von Konfuzius, Hesse oder Goethe. Das wurde ihrer Mutter wohl kaum gerecht. Sie schob die Zettel in die Handtasche, während Merk weiterredete.
»Haben Sie schon ein Restaurant für den Leichenschmaus ausgesucht?«
Richtig, das war hier Brauch. »Nein. Und leider habe ich keine Idee, wie viele Menschen kommen könnten … Gibt es da Erfahrungswerte?«
Merk kratzte sich am Kopf. »Nicht wirklich. Es kommt doch sehr auf die Persönlichkeit der Verstorbenen an. War Ihre Frau Mutter denn sehr beliebt? Immerhin war sie als Geschäftsfrau im ganzen Ort bekannt. Ich denke, sie werden am Grab nicht alleine stehen.«
Karen seufzte. Eine ordentliche Beerdigung war ihr Ziel. Und dazu gehörte ganz bestimmt der Leichenschmaus. »Könnten Sie mir denn ein Restaurant empfehlen?«
»Sicher. Sie wohnen doch im Winzerhof?«
Karen konnte sich nicht daran erinnern, ihm diese Information gegeben zu haben. Aber sie nickte.
»Dann bleiben Sie doch gleich im Haus. Die Wirtschaft im Haus ist sehr ordentlich.«
»Danke für den Tipp, ich werde die Wirtin heute noch um ein Angebot bitten …«
Merk nickte zufrieden. Offensichtlich war er der Meinung, dass er sie allmählich ins richtige Fahrwasser brachte.
»Wissen Sie denn schon, wie Sie die Verabschiedung gestalten wollen? Offener Sarg? Geschlossener Sarg? Kondolenzbuch oder persönliches Kondolieren am Grab? Es wird doch eine Erdbestattung?«
Zu viele Fragen, und Karen fühlte sich keiner davon gewachsen. Hauptsache, es war bald vorbei und sie kam hier weg. Immerhin eine Antwort konnte sie ihm liefern: »Ich möchte meine Mutter in unserem Familiengrab beerdigen. Bei ihrer Mutter, Marie Adomeit.« Sie dachte kurz nach. »Und wir lassen den Sarg zu. Ich möchte sie lieber lebendig in Erinnerung behalten.«
Merk nickte, während er sich weitere Notizen auf seinem Zettel machte.
Sie hielt es keine Sekunde länger in diesem Raum voller Urnen aus. Alles hier sollte nach Trauer und Würde aussehen – und wirkte auf sie nur wie die Kulisse einer schlechten Sitcom. Wie war dieser blöde Spruch in ihrem Freundeskreis gewesen? »Hier möchte man nicht tot über dem Zaun hängen.«
»Danke. Wir hören dann voneinander. Herzlichen Dank einstweilen.«
Damit verließ sie die Räume des Bestattungsinstituts. Etwas hastiger, als es einer erfolgreichen Businessfrau zustand. Im Grunde wollte sie nur dem Anblick der vielen Urnen entfliehen.
Sie blieb noch kurz vor der Tür stehen. Was sollte sie als Nächstes tun? Leichenschmaus, Trauerkarte … Sie vermisste Rachel, die ihr in New York immer zur Seite stand. Oder zumindest alles so vorbereitete, dass sie nur noch entscheiden musste. Hier hatte sie keine Unterstützung, sondern musste alles selbst organisieren.
Als Erstes brauchte sie ein paar Minuten für sich. In einer kleinen Bäckerei holte sie sich eine Brezel, dann machte sie sich auf den Weg zum Friedhof.
Das Grab ihrer Großmutter befand sich unter einem Apfelbaum. Natürlich. Alles in ihrer Familie drehte sich um die Äpfel, warum also sollte nicht ein Apfelbaum auf dem Grab wachsen?
Karen blieb stehen.
Marie Adomeit geb. Stober
1913–1982
Am Ende blieb nicht mehr übrig. Ein Name, Geburts- und Todesjahr. Und jetzt ein zweiter Name. Was sollte man auch dazuschreiben? Ein, nein, mittlerweile zwei Leben für die Äpfel. Wie armselig. Apfelmus, Apfelkompott, getrocknete Apfelringe und Apfelsaft. Aufgegessen und vergessen.
Nachdenklich kramte sie die Brezel aus der Handtasche, brach sich ein Stück ab und steckte es in den Mund. Knusprig, salzig. So ganz anders als die New Yorker »Pretzels«, die es an jeder Ecke zu kaufen gab und auf deren labbriger Haut sie jedes Mal enttäuscht herumkaute. Andächtig biss sie von dieser urpfälzischen Brezel ab.
Wie gerne würde sie hier sitzen bleiben. Die milde Herbstsonne auf dem Rücken, das Gezwitscher der Vögel im Ohr und eine knusprige Brezel in der Hand. Es wäre so einfach. Sitzen bleiben und den Tag verstreichen lassen.
Karen seufzte und erhob sich widerstrebend. Der nächste Termin an diesem Tag war ihr nicht lästig, nein, er machte ihr Angst.
Höllische Angst.
Eine halbe Stunde später fuhr sie auf den kleinen Parkplatz vor einem zweistöckigen Gebäude. Sie vergewisserte sich noch einmal, dass sie hier richtig war, dann machte sie sich auf den Weg. An der Rezeption begrüßte sie eine junge Frau mit breitem Lächeln.
»Mein Name ist Karen McMillan. Ich habe angerufen – ich möchte meinen Vater besuchen. Matthias Winter.«
»Dann begrüße ich Sie erst mal herzlich in unserem Heim. Wir haben Ihrem Vater schon gesagt, dass er heute Besuch bekommt. Es kommt gleich jemand, der Sie zu ihm bringt. Sie sind das erste Mal hier zu Besuch, nicht wahr?«
Karen nickte nur.
Wenig später erschien eine ältere Frau, die ihr zur Begrüßung die Hand entgegenstreckte. »Schön, dass Sie da sind, Frau McMillan. Kommen Sie mit, ich habe Ihren Vater in den Wintergarten bringen lassen. Da können Sie sich ungestört unterhalten.«
Damit machte sie auch schon kehrt und lief voraus. »Entschuldigen Sie …« Karen versuchte, sie mit ein paar schnellen Schritten einzuholen. »Können Sie mir sagen, ob mein Vater schon von dem Tod seiner Frau weiß?«
Die Pflegerin lief weiter und zuckte mit den Achseln. »Ob er das weiß? Wir haben es ihm gesagt. Aber ob er sich heute noch daran erinnert, ist schwer zu sagen. Ich würde sagen: nein. Aber vielleicht erinnert er sich heute auch überhaupt nicht an seine Frau. Dann trifft ihn der Verlust nicht so hart. Es kommt auf seine Tagesform an.«
Beklommen lief Karen hinter ihr her. In der letzten Zeit hatte ihre Mutter sie immer wieder gebeten, doch zu kommen. Um ihren Vater vielleicht an einem guten Tag zu erwischen. Einen Tag, an dem er sich an sein einziges Kind erinnern konnte. Sie war nicht gekommen. Gerade, weil sie diese Begegnung fürchtete.
Die Pflegerin schob eine mit bunten Händen beklebte Glastür auf. Dahinter lag ein lichtdurchfluteter, heller Raum mit bodentiefen Fenstern.
Auf einem Liegestuhl saß ein weißhaariger, kräftiger Mann, dessen Beine von einer karierten Decke umhüllt waren. Er sah den beiden Frauen neugierig entgegen.
»Hier ist Ihre Tochter aus Amerika! Das ist Karen!«, verkündete die Pflegerin eine Spur zu laut. Vielleicht war ihr Vater aber auch nur schwerhörig. »Sie erinnern sich doch, Herr Winter? Ich habe Ihnen erzählt, dass heute Ihre Tochter zu Besuch kommt!«
Einige Augenblicke lang wusste Karen nicht, was sie tun sollte. Ihm die Hand reichen? Lächerlich. Dann siegte ihr erster Impuls.
Mit zwei schnellen Schritten war sie bei ihm und umarmte ihn. »Hallo, Papa! Wie schön, dich zu sehen!«
Matthias Winter musterte die grauhaarige Frau, die ihn da umarmt hatte. Dann schüttelte er entschlossen seinen Kopf. »Meine Tochter ist eine wunderschöne junge Frau. Das muss ein Versehen sein.«
Karen streichelte ihm über die Wange. »Die wunderschöne junge Frau ist nur älter geworden, Papa.« Sie kramte in ihrer Handtasche und zog ein Foto aus ihrer Geldbörse. Seit drei Jahrzehnten trug sie es bei sich. Es war reichlich abgegriffen, die eine Ecke schmückte ein Eselsohr. Auf dem Bild war sie selbst zwischen ihren beiden Eltern zu sehen. Sie trug einen Rucksack auf dem Rücken und strahlte über beide Ohren. Der Tag, an dem sie sich in ein neues Leben aufgemacht hatte.
Was sie in all den Jahren an diesem Bild geliebt hatte, war, dass ihre Eltern sich mit einem Lächeln von ihr verabschiedeten. Obwohl beide sie nur ungern hatten ziehen lassen. Aber in diesem Moment erweckten sie den Eindruck, als seien sie stolz.
Vorsichtig legte sie das alte Bild in die Hand ihres Vaters. »Schau, da bin ich mit dir und Mama. Erkennst du uns?«
Er sah auf das Bild. »Das sind Karen und Luzie. Und ich. Sie sind nicht auf dem Bild.«
Karen tippte auf ihr jüngeres Selbst auf dem Foto und deutete dann auf sich. »Ich bin Karen. Seitdem bin ich älter geworden, das ist alles.«
Er sah sie prüfend an, und einen Augenblick lang bildete Karen sich ein, dass er sie verstanden hatte. Gleich würde sich sein freundliches Lächeln in seinem Gesicht zeigen. Nur noch einen Moment, und sein Verstand würde begreifen, was sie da gesagt hatte.
Aber dann wurde sein Gesicht abweisend. »Nein, Sie sind nicht meine Karen.«
Er betrachtete das Bild eine Weile mit regungsloser Miene. Karen wollte schon ungeduldig werden. Aufstehen. Einfach gehen und ihn dem Glauben überlassen, dass seine Tochter immer noch siebzehn war und mit langen Beinen, blonden Locken und großen Plänen in die Welt aufbrach. Da sah sie plötzlich, wie eine Träne über sein Gesicht lief. Ganz langsam.
»Papa?«, fragte sie vorsichtig.
Er tippte mit dem Finger auf Luzie. »Es geht ihr nicht gut. Luzie.«
Wusste er womöglich, dass sie gestorben war? War diese Information in eine der wenigen arbeitenden Gehirnwindungen vorgedrungen? Karen beugte sich vor.
»Sie muss wieder zu mir kommen. Dann hat sie keine Probleme mehr«, fuhr er fort.
»Papa, sie kann nicht mehr zu dir kommen. Mama ist gestorben. Möchtest du mit mir zu ihrer Beerdigung gehen? Schaffst du das?« Die letzten Worte flüsterte sie fast.
»Sie ist doch nicht tot! So ein Quatsch! Sie kommt zu mir zurück, das weiß ich ganz genau!« Ihr Vater klang mit einem Mal wie ein trotziges Kind.
Hilfe suchend sah Karen sich nach der Pflegerin um. Aber die hatte sie längst mit dem Vater allein gelassen. Einem Vater, der irgendwo zwischen den Geschehnissen der letzten Jahrzehnte gefangen war – aber ganz bestimmt von der Gegenwart keine Ahnung mehr hatte.
Seufzend stand sie auf. »Ich gehe dann, Papa. Morgen komme ich wieder vorbei.«
Er lächelte sie freundlich an. »Das ist sehr freundlich von Ihnen. Aber wirklich nicht nötig. Ich bin mir sicher, dass meine Frau mich abholt.«
Vorsichtig griff Karen nach dem Bild, dass er immer noch in der Hand hielt. Seine knochigen Finger schlossen sich fester um das Papier.
»Was wollen Sie mit dem Bild meiner Familie? Das gehört mir!«, erklärte er.
»Nein, das habe ich mitgebracht«, beharrte Karen.
»Aber das ist meine Frau! Meine Tochter! Sie haben mit uns doch nichts zu tun!« Er atmete schneller, seine Stimme wurde mit jedem Wort lauter.
Mit einem gezwungenen Lächeln ließ Karen das Bild los. »Es ist gut, Papa, behalte es nur.« Sie streichelte ihm über den Rücken. »Ich gehe jetzt, aber morgen komme ich wieder.«
»Das ist nicht nötig«, erklärte ihr Vater erneut mit fester Stimme. »Morgen gehe ich nach Hause. Meine Luzie hat mir bestimmt einen Kuchen gebacken. Sie macht den besten Apfelkuchen der Welt.«
»Ich weiß«, erwiderte Karen lächelnd. »Ich weiß …«
Sie drehte sich um und ging. Als sie an der offen stehenden Tür des Schwesternzimmers vorbeikam, klopfte sie kurz an. »Ich gehe jetzt wieder. Leider scheint mein Vater den Tod seiner Frau vergessen zu haben.«
Die Pflegerin lächelte. »Vielleicht ist es ja besser für ihn. In seiner Welt lebt Ihre Mutter weiter. Wenn ihn das glücklicher macht, dann möchte man ihm diese Illusion eigentlich nicht rauben, oder?«
»So kann man es auch sehen.« Karen zögerte. »Aber sollte er nicht bei der Beerdigung dabei sein?«
»Wer hätte etwas davon?« Die Pflegerin sah sie voller Anteilnahme an. »Sie würden ihm eine Wahrheit aufzwingen, die er nicht kennen möchte. Und Sie müssen sich an diesem Tag um so vieles kümmern und Ihre eigenen Gefühle in den Griff kriegen. Wollen Sie sich dann auch noch um einen verwirrten Vater kümmern? Wenn Sie meine Meinung hören wollen: Lassen Sie ihn hier in seiner vertrauten Umgebung. Besuchen Sie ihn häufiger, vielleicht weiß er an guten Tagen, dass seine Tochter nicht mehr siebzehn ist.«
Nachdenklich nickte Karen. »Vielleicht haben Sie ja recht. Es kommt mir nur so falsch vor, dass er nicht Abschied von ihr nehmen kann.«
»Ihre Mutter hat schon vor langer Zeit von ihm Abschied genommen«, erklärte die Pflegerin mitfühlend. »Er ist derjenige, der sich ganz langsam verabschiedet hat. Und sie hat ihn immer wieder besucht – egal, ob er sie erkannt hat oder nur ihren Apfelkuchen gegessen hat.«
Und sie war nicht dabei gewesen. Sie spürte den Verlust ihres Vaters, der noch lebte, stärker als die Abwesenheit ihrer Mutter. Mit einem Nicken verabschiedete sie sich und lief langsam zu ihrem Auto.
Wenig später saß sie in der vertrauten Küche vor einem geöffneten Schrank. Töpfe, Pfannen, Geschirr. Am besten fing sie schon einmal mit dem Aussortieren an. Sie griff nach einer Tasse. I love NY. Die hatte sie ihrer Mutter mitgebracht. Touristennepp.
Mit einem Mal wurden ihr die Augen feucht. Hatte ihre Mutter diese Tasse die ganze Zeit benutzt? Und jedes Mal an ihre Tochter gedacht, die viel zu selten nach Hause kam? Sie dachte an ihre eigenen Kinder, Emma und Chris, die beide schon einige Jahre aus dem Haus waren. Schon vorher hatten sie angefangen, ihr eigenes Leben zu führen. Aber wie würde es sich anfühlen, wenn sie überhaupt nicht mehr nach Hause kamen? Thanksgiving und Geburtstage in einem leeren Haus …
Sinnend sah sie auf die Tasse. War sie rücksichtslos gewesen? Oder einfach nur ein Kind, das flügge geworden war – und dann nicht mehr zurückgeblickt hatte?
Mit einem Kopfschütteln stellte sie die Tasse zurück in den Schrank. Um die würde sie sich morgen kümmern. Oder übermorgen. Jetzt musste sie ihren Kopf erst einmal freibekommen und aufhören, sich ständig Vorwürfe zu machen.
Hastig stand sie auf, war mit wenigen schnellen Schritten aus dem Haus und lief zu der großen Scheune, die am hinteren Ende des Gartens stand, halb verborgen hinter Apfelbäumen. Das Tor war nicht abgeschlossen und öffnete sich knarrend. Sie trat in den großen staubigen Raum. Durch die Fenster fielen Sonnenstrahlen, in denen der Staub tanzte, den sie aufgewirbelt hatte. Karen atmete tief ein. Hier roch es so wie in ihrer Kindheit. Nach den Abertausenden von Äpfeln, die hier zu Saft verarbeitet worden waren. Die Saftpresse stand verborgen unter einer staubigen Plane, ein Gespenst aus vergangenen Zeiten. Die Regale an den Wänden waren leer. Suchend lief Karen weiter – und tatsächlich: In einer Ecke stapelten sich einige Dutzend leere Kisten mit dem Aufdruck Adomeits Apfelgut. Die beiden As in einer altmodischen Schrift, kunstvoll ineinander verschlungen.
Sie griff nach zwei Kisten, während sie ihren Blick noch einmal durch die Scheune gleiten ließ. Tonnen von Äpfeln waren hier durch die Hände der Arbeiter gegangen. Für einen Augenblick sah sie sich selbst, wie sie hier herumrannte. Neugierig, immer auf der Suche nach einer Leckerei oder dem süßesten Apfel. Und immer dieser Geruch von Most und Apfelmus, der beharrlich in der Luft hing.
»Pack mit an!« Sie hatte den Ruf ihrer Großmutter noch im Ohr. Marie Adomeit, die unerbittlich darauf achtete, dass die kleine Karen während der Erntezeit ihren Teil der Arbeit leistete. Äpfel sortieren, Etiketten in die Maschine füllen, Flaschen kontrollieren – so hatte der Herbst in ihrer Kindheit ausgesehen. Die Herbstferien hatte Oma Marie nicht ungenutzt verstreichen lassen. »Du kannst nicht einfach zuschauen!«, hatte sie gesagt. »Wenn du von den Äpfeln leben willst, dann musst du mithelfen. Uns wird nichts geschenkt, von niemandem!«
Mit diesen Erinnerungen wirkte die verlassene Produktionshalle auf einmal sehr viel weniger romantisch. Karen stellte die beiden Kisten in den Kofferraum des Mietautos und fuhr los.
Den Weg zu dem alten Apfelgarten über die Nebenstraßen fand sie problemlos, der Verlauf der Feldwege hatte sich in den letzten Jahrzehnten kaum geändert. Als sie angekommen war, füllte sie die beiden Kisten mit einer Mischung aller Äpfel, die gerade reif waren. Einige probierte sie und staunte über den Geschmack. Würzig, süß, säuerlich, zitronig, nussig – die Aromen waren so vielfältig wie die Formen und Farben der Äpfel.
Karen beeilte sich. Sie wollte vor Sonnenuntergang die Früchte zur Kelter bringen, die hoffentlich immer noch im Nachbarort war. Auch wenn sie nicht wusste, was sie eigentlich mit dem Saft machen wollte: Sie hatte das Gefühl, vor der Rodung ein Stück von der Seele der Bäume bewahren zu müssen. Rasch arbeitete sie sich von Baum zu Baum vor. Noch immer erinnerte sie sich an die kleine Drehbewegung, mit der sich die Äpfel am leichtesten vom Ast lösen ließen. Apfelernte war offensichtlich wie Radfahren: Das verlernte man einfach nicht.
Die Kisten waren in Windeseile voll. Die Bäume hingen so voller Früchte, als wollten sie ein letztes Mal beweisen, dass sie noch keinesfalls zum alten Holz gehörten. Karen wuchtete sie in ihr Auto und machte sich auf den Weg zur Kelter. Hoffentlich war sie heute geöffnet und verlangte keine gewaltige Mindestmenge.
Ihre Zweifel wurden zerstreut, als sie die anderen Autos auf dem Parkplatz sah. Zwei Frauen luden gerade Kästen voller Äpfel auf eine Sackkarre, während eine Familie voller Stolz ihre Saftflaschen zum Auto trug. Schwungvoll fuhr Karen auf den Parkplatz und stellte sich neben einen knallroten Kastenwagen.
Während sie den Motor ausschaltete, sah sie zur Seite – und es verschlug ihr den Atem. Dunkle Locken, eine Unmenge davon, und eine Hand, die das Haar aus dem Gesicht strich. Bevor es sofort wieder zurückfiel. Diese Bewegung war ihr so vertraut wie der Geruch der Äpfel in der Scheune.
Aber es konnte doch nicht sein.
So einen Zufall gab es nicht.
Sie rutschte tiefer in den Autositz und sah möglichst unauffällig noch einmal zur Seite. Immer noch die schwarzen Haare. Die Frau schien gerade heftig über ihre Freisprechanlage zu diskutieren. Ihre Stimme konnte Karen nicht hören, aber jetzt konnte sie wenigstens eine graue Strähne entdecken. Die Frau sah aus wie … Aber man traf doch die beste Freundin aus Kindertagen nicht einfach per Zufall bei der Apfelkelter. Das musste eine Täuschung sein.
Ein Irrtum.
Karen sprang aus dem Auto, öffnete den Kofferraum und wollte gerade die erste Kiste herausheben, als sie die Stimme hörte, die sie unter Hunderten erkennen würde.
»Karen? Karen! Das kann doch nicht wahr sein! Was machst du denn hier?«
Sie wirbelte herum. Sabine. Es war wirklich Sabine. Die beste Freundin, die sie jemals gehabt hatte. Bei der sie sich fast dreißig Jahre lang nicht gemeldet hatte. Ohne große Erklärung. Kinder, Arbeit, keine Zeit. Lahme Ausreden.
»Sabine?«, sagte sie vorsichtig. »Ich … ich habe gar nicht geplant hierherzukommen …«
Die vielen Lachfältchen wurden tiefer. »Nicht geplant? Du bist an der 5th Avenue falsch abgebogen und hast erst in der Pfalz gemerkt, dass du hier gelandet bist? Ehrlich?«
»Nein, nein. Ich meinte damit nur, dass ich vor drei Tagen noch nicht ahnen konnte, dass ich jetzt hier sein würde.« Sie musterte Sabine genauer. Mehr Kilos auf der Taille. Die Haare von grauen Strähnen durchzogen und kürzer. Lachfalten. Ein Jeansrock, der mit viel gutem Willen als zeitlos durchging.
In dieser Sekunde wurde ihr klar, dass Sabine sie genauso musterte. Neugierig. Und sie registrierte sicher genauso erbarmungslos Gewicht und Falten.
»Und was hat dich so plötzlich in unser Land gespült?«, fragte Sabine.
»Ach … meine Mutter …« Karen fiel es schwer, von Luzies Tod zu erzählen. Als würde er erst durch ihre Erzählung real.
»Ist sie krank?« Sabines Stimme klang mitfühlend.
»Nein. Sie hatte einen Schlaganfall und ist im Krankenhaus gestorben. Ich bin, so schnell es ging, hergekommen, um mich um alles zu kümmern.«
»Das tut mir leid! Ich mochte sie wirklich gern … Merkwürdig, ich habe noch gar nichts über ihren Tod gelesen.«
Karen zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Meine Schuld. Ich habe mich erst heute mit solchen Dingen wie der Todesanzeige beschäftigt. Und als der Herr vom Bestattungsdienst mir einen Stapel Allerweltssprüche zum Thema Tod, Frieden und Endlichkeit in die Hand gedrückt hat, habe ich mich erst einmal verweigert. Aber du hast natürlich recht: Ich muss mich darum kümmern.«
»Brauchst du Hilfe?« Die Frage kam so schnell und ehrlich, dass Karen es kaum fassen konnte. Typisch Sabine.
Dann erst merkte sie, dass Sabine auf die Kiste mit den Äpfeln deutete. Das Hilfsangebot bezog sich also nicht auf die Anzeige oder gar die Beerdigung.
»Gern. Hilfst du mir, das Ding reinzutragen?«
»Klar, sonst hätte ich ja nicht gefragt. Aber warum kümmerst du dich in dieser Situation um die Äpfel? Bist du dir sicher, dass du dafür Zeit hast?«
Während Sabine redete, griff sie nach der Kiste und hob sie gleichzeitig mit Karen an. Gemeinsam trugen sie die Äpfel in die Kelterhalle.
»Nein, ich habe natürlich keine Zeit. Ich sollte Musik für die Trauerfeier aussuchen, das Haus leer räumen und dem Pfarrer einen Lebenslauf meiner Mutter schicken. Aber es war mir alles plötzlich zu viel. Also habe ich mich in den alten Apfelgarten geflüchtet und ein paar Kisten Äpfel geerntet.«
Sie stellten die Kiste ab und holten die zweite aus dem Auto.
Karen sah Sabine von der Seite an. »Und du?«
»Ich? Du meinst, ob ich immer noch hier lebe? Aber sicher! Nicht jeder ist so mutig wie du. Nicht jeder möchte so sein.«
War das eine kleine Spitze? Oder war sie nur überempfindlich?
»Jobmäßig hat sich bei mir nichts verändert«, fuhr Sabine fort und stellte die zweite Kiste in der Kelterhalle ab. »Arzthelferin seit dreißig Jahren. Keine Karriere, auch keine Kinder. Nichts für einen tollen Lebenslauf.«
Dann steckte sie die Hand in die Hosentasche und schien nach etwas zu suchen. »Ich habe mein Handy im Auto vergessen. Bin gleich wieder da.«
Einer der Angestellten kam zu den Kisten und sah sie abschätzend an. »Ist das alles?«
Karen nickte. »Ich hoffe, es ist nicht zu wenig?«
»Wir können auch kleine Mengen«, erklärte der Mann. Er zückte einen Block. »Auf welchen Namen? Adresse?«
Sie nannte ihren Namen und gab als Adresse den Winzerhof an. Ungerührt schrieb der Angestellte mit. Touristen mit zentnerweise Äpfeln im Gepäck brachten ihn offenbar nicht aus der Fassung.
Er händigte Karen eine Quittung aus, dann fiel sein Blick in die erste Kiste. Mit einem kleinen Stirnrunzeln streckte er die Hand aus und nahm einen großen dunkelroten Apfel in die Hand. Dann einen kleinen mit gelben und orangen Streifen. Einen dritten in Hellgrün. Er sah Karen zum ersten Mal in die Augen.
»Wo kommen die denn her? Diese Sorten gibt es doch gar nicht. Ich meine, nicht hier und nicht jetzt. Die kenne ich nur von alten Fotos … und auch da nicht alle.« Seine freundlichen dunklen Augen funkelten hinter der Brille, als er noch einmal auf seinen Auftragsblock sah.
»Woher kommen die Äpfel? Verraten Sie mir das?«
»Sicher. Die kommen aus einem alten, verwahrlosten Apfelgarten meiner Familie. Sagt Ihnen Adomeits Apfelgut etwas?«
Er nickte. »Aber sicher. Wenn man hier aus der Gegend kommt und nicht mehr ganz jung ist, dann muss man dieses Apfelgut kennen.« Er musterte sie. »Sind Sie denn eine Adomeit?«
Lachend schüttelte Karen den Kopf. »Nein, nein. Adomeit, so hieß meine Großmutter. Sie hat das Apfelgut gegründet – und wir haben keinen Grund gesehen, den Namen später zu ändern.«
Der Mann sah wieder in die Kisten mit den vielen bunten Äpfeln an. »Und da gibt es noch diese Äpfel? Ich dachte, das Gut wäre schon lange geschlossen? Zehn Jahre sind es bestimmt schon, oder?«
»Stimmt. Meine Mutter hat vor elf Jahren beschlossen, dass es an der Zeit ist aufzuhören. Preislich konnte sie mit den großen Obsthöfen nicht mehr mithalten, es gab kein Interesse an regional produziertem Obst und Gemüse – und sie wurde allmählich zu alt für die Arbeit. Damals hat sie die meisten Grundstücke an Winzer verkauft, da steht heute kein Apfelbaum mehr. Sie hat nur den ersten Anbau behalten. Eine wilde Mischung, die wurde noch von meiner Großmutter gepflanzt.«
»Darf ich die Plantage sehen? Ich beschäftige mich viel mit Äpfeln, nicht nur hier in der Kelter. Aber einige davon habe ich noch nie gesehen. Vielleicht kann ich sie bestimmen, wenn ich den Baum dazu sehe!«
Bedauernd schüttelte Karen den Kopf. »Nein, ich habe leider keine Zeit für eine Führung. Ich muss im Augenblick so viel …«
»Sie müssen mir nur zeigen, wo diese Anpflanzung ist. Dann schaue ich mir das an, und Sie müssen sich überhaupt nicht mehr mit mir beschäftigen. Versprochen.« Er fuhr sich aufgeregt über die Stirn. »Ich mache Ihnen keine Arbeit.«