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Zwischen Schlagzeilen und Schicksalsschlägen ... Berlin, 1924: Mitten im pulsierenden Herzen der Weimarer Republik kämpfen die Geschwister Fritjof, Alexander und Vicki Manthey um die Zukunft ihres Erbes: das Zeitungsimperium ihrer Familie. Alexander ringt mit der Modernisierung des Unternehmens und seinen eigenen Ambitionen, Vicki sucht nach ihrer Rolle in einer sich verändernden Welt, während Fritjof vor moralischen Entscheidungen steht, die das Schicksal der Familie prägen werden. Zwischen dunklen Familiengeheimnissen und dem Aufstieg neuer Machthaber müssen die Geschwister entscheiden, welchen Preis sie für ihre Ideale zu zahlen bereit sind – in einer Zeit, in der jede Schlagzeile den Lauf der Geschichte beeinflussen kann.
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Für Georg und Emma
© Piper Verlag GmbH, München 2024
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Gerd F. Rumler (München).
Redaktion: Annika Krummacher
Covergestaltung: t. mutzenbach design, München
Covermotiv: Trevillion Images (Ildiko Neer; Magdalena Russocka); akg-images.de; Shutterstock.com
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Text bei Büchern ohne inhaltsrelevante Abbildungen:
Cover & Impressum
Prolog
Berlin, Juni 1924
Berlin, Dezember 1924
Berlin, Januar 1925
Berlin, Mai 1925
Berlin, Juli 1925
Berlin, August 1925
Berlin, September 1925
Berlin, Oktober 1925
Berlin, November 1925
Berlin, Dezember 1925
Berlin, Januar 1926
Berlin, Juli 1926
Berlin, August 1930
Berlin, Heiligabend 1932
Berlin, Januar 1933
Berlin, Februar 1933
Prag, März 1933
Berlin, März 1933
Prag, März 1933
Berlin, März 1933
Prag, März 1933
Berlin, März 1933
Berlin, April 1933
Prag, August 1933
Marienbad, September 1933
Berlin, September 1933
Marienbad, September 1933
Berlin, Oktober 1933
Prag, Oktober 1933
Berlin, Oktober 1933
Epilog
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Er lehnte sich an die Wand und schloss die Augen. Nur einen Moment ausruhen, dann würde er weitergehen. Zurück auf die helle, belebte Straße, auf der er seine letzten Zeitungen verkaufen konnte. Müde sah er nach unten. Der Stapel war zu groß, heute Nacht würde er einen Teil seiner Zeitungen zum Heizen verwenden müssen. Damit wäre der kleine Gewinn aus dem Verkauf dahin.
Er zitterte vor Kälte, während seine Lider immer schwerer wurden. Jetzt schlafen, nur noch schlafen.
Ein großer, teurer Mercedes fuhr an ihm vorbei. In dem war es bestimmt schön warm. Aus halb geschlossenen Augen sah er eine nackte Schulter, eine teure Perlenkette.
Er schloss die Augen wieder. Die Menschen in dem Automobil kamen ihm so weit entfernt vor wie der Mond.
Zwei Stimmen hallten durch die kalte Nachtluft. Eine wütende Frau, ein Mann, der sie zu beschwichtigen suchte.
Eine Weile hörte er gar nichts, dann schlug eine Tür zu, der Motor wurde angelassen.
Auf einmal quietschende Reifen, ein dumpfer Aufprall, Stille.
Er versuchte zu erkennen, was sich nur wenige Meter von ihm entfernt abspielte.
Eine Frau in einem dunklen, kurzen Kleid stieg aus. Lief hinter das Automobil und fing an zu schreien.
Laut, schrill.
Vorsichtig machte er einen Schritt zur Seite und sah, was halb unter dem Wagen verborgen lag. Eine Gestalt in einem roten Kleid. Eine Frau, reglos. Tot. Er hatte genug Tote gesehen, um das zu wissen.
Die andere Frau schrie weiter.
Erst jetzt stiegen zwei Männer aus, beide in teuren Anzügen. Der eine hinkte auf die Frau zu, holte aus und gab ihr eine Ohrfeige.
Der endlose Schrei brach jäh ab.
Nacheinander beugten sich die Männer über die Gestalt auf der Straße. Schüttelten die Köpfe. Redeten aufeinander ein.
Sahen sich um.
Vorsichtig trat er einen Schritt nach hinten, tiefer hinein in den lichtlosen Schatten der Mauer. Er wollte nicht gesehen werden. Wer so ein teures Automobil fuhr, konnte gefährlich werden. Zum Glück war es hier dunkel, nur zwei Laternen warfen ihr spärliches Licht auf den Asphalt.
Aufgeregt mischte sich die Frau ins Gespräch ein. Ihr Gesicht wirkte in dem schwachen Licht kreideweiß.
Der Hinkende griff nach den Schultern der Toten, der andere nach den Beinen. Mühelos hoben sie die Leiche auf die Rückbank des Wagens.
Er hörte die aufgeregte Stimme der Frau, die schnellen Antworten der beiden Männer. Dann stieg der Hinkende zu der Toten auf die Rückbank, der andere setzte sich hinter das Lenkrad.
Nur die Frau blieb auf der Straße stehen.
Schüttelte immer wieder den Kopf, machte keine Anstalten, ebenfalls einzusteigen.
Bis der Fahrer noch einmal aus dem Wagen kletterte, mit ein paar schnellen Schritten um das Automobil herumlief und die Frau mit einem groben Griff auf den Beifahrersitz drückte. Er schlug die Tür zu, als wollte er dafür sorgen, dass sie nie wieder ausstieg.
Dann heulte der Motor auf, im Schein der Laternen leuchtete noch einmal der rote Lack des Wagens auf – und schon war der Mercedes verschwunden.
Dort, wo vor wenigen Minuten eine junge Frau gestorben war, glänzte eine dunkle Lache.
Leise grollend erwachte das Haus zum Leben. Innerhalb von Sekunden wurde es lauter, bis der Lärm die Wände zum Vibrieren brachte. Matze lehnte sich an die Ziegel, die noch immer die Wärme des sonnigen Tages ausstrahlten. Er kannte dieses Geräusch. Die riesigen Druckmaschinen der Berliner Bühne arbeiteten jetzt auf Hochtouren. Die Abendausgabe sollte die neuesten Geschichten aus der Hauptstadt erzählen. Keine halbe Stunde mehr, dann begann seine Arbeit.
Langsam ging er an der Mauer entlang zu dem großen Tor, wo sich schon die ersten Zeitungsjungen drängten.
»Was gibt es Neues? Welche Schlagzeilen können wir rausschreien?« Er sah in die Runde.
Ein zahnlückiger Junge vor ihm drehte sich um. »Marx bleibt Reichskanzler«, erklärte er mit wichtiger Miene. »Habe ich eben von zwei Reportern auf dem Weg zum Feierabendbierchen gehört.«
»Tatsächlich? Der hat doch gar nicht genug Stimmen«, wunderte Matze sich. Dann zuckte er mit den Schultern. »Ist auch egal. Für uns ändert sich nichts. Wie immer.«
Er dachte an seine Mutter und die beiden jüngeren Brüder, mit denen er sich eine Wohnung teilte. Wenn man ihr Zuhause überhaupt Wohnung nennen durfte. Ein Zimmer mit zwei Betten, einem Tisch und einem kleinen Ofen in der Ecke. Verkaufte er genug Zeitungen, dann gab es etwas zu essen. Wenn nicht, mussten alle die Zähne zusammenbeißen. Matze machte der Hunger nicht so viel aus, aber sein jüngster Bruder weinte oft stundenlang, bis er endlich einschlief.
»Und – wie viele nimmst du?« Fragend sah ihn der Aufseher an. Gerade wurden die ersten Ballen nach vorne gebracht. »Mach schon, wir haben nicht ewig Zeit. Wie viele?«
»Politik? Verkauft sich nicht.« Matze zuckte mit den Schultern. »Gib mir zwei Ballen, mehr kriege ich davon nicht los.«
»Name?«
»Matze. Matze Maschewski.«
Der Mann würde sich seinen Namen niemals merken, auch wenn er noch ein paar Jahre die Berliner Bühne unters Volk brächte.
Matze schnappte sich seine Zeitungen und machte sich auf den Weg zu seinem angestammten Revier. Am Alexanderplatz war um diese Uhrzeit am meisten los. Die einen kamen von der Arbeit, die anderen machten sich auf den Weg in die Kneipe oder in einen der Tanzsäle.
Er warf einen Blick auf die Schlagzeile: »Marx bleibt Reichskanzler – Minderheitsregierung vereidigt«. Sein Blick wanderte nach unten. Eine kleinere Meldung auf der Titelseite entlockte ihm ein Lächeln. Vielleicht hatte er doch zu wenig Zeitungen für diesen Abend genommen.
Er reckte das druckfrische Blatt in den Abendhimmel.
»Abendausgabe! Pia Persson prügelt sich im Wintergarten! Extra! Abendausgabe! Prügelnde Tänzerin im Wintergarten! Berliner Bühne! Abendausgabe!«
Eine dickliche Frau lief auf ihn zu und drückte ihm einen Groschen in die Hand. »Gib her!«
Zufrieden nickte Matze und schrie weiter. Wen interessierte schon ein Reichskanzler, wenn es eine Schlägerei mit einer schönen Frau gab?
»Du sorgst jetzt selber für die Schlagzeilen?« Mit spitzen Fingern hielt Vicki die druckfrische Zeitung hoch.
»Bin ich Reichskanzler geworden? Das wüsste ich!« Alexander grinste seine kleine Schwester frech an. »Aber wenn’s in unserer Zeitung steht, muss es ja stimmen.«
»Zum Kanzler reicht es bei dir nicht«, erklärte Vicki trocken. »Nicht jeder fällt auf deine schönen Augen herein. Aber deine Pia prügelt sich! Ich hoffe, es ging nicht um dich?«
Ein Schulterzucken war die Antwort. »Bei Pia geht es immer nur um Pia. Das solltest du inzwischen wissen. Ich saß an diesem Abend nur zufällig an ihrem Tisch …«
»… wo du in letzter Zeit meistens ganz zufällig sitzt!«, unterbrach ihn Vicki.
Alexander ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. »… und ich habe deswegen mitbekommen, dass ein Gast ihrer Kunst nicht ausreichend gehuldigt hat. Sie hat getanzt – und er hat sich trotzdem weiter unterhalten. Hat nicht einmal hingesehen. Da ist sie zu ihm gegangen, hat ihm ein Glas Champagner über den Kopf geschüttet – und hatte damit seine Aufmerksamkeit. Und die der Presse. Ziel erreicht.«
Vicki griff über den Tisch nach dem Zigarettenetui ihres Bruders und nestelte eine Zigarette heraus. Sie schob sie sich zwischen die Lippen und sah ihn auffordernd an. »War es wenigstens ihr eigener Champagner?«, nuschelte sie. Mit der Zigarette war ihre Aussprache nicht sonderlich klar, stellte sie fest.
Alexander beugte sich vor und gab seiner Schwester Feuer. »Nein. Es war das Glas seiner Begleiterin. Die fing daraufhin ein Riesentheater an. Von wegen: ›Wissen Sie überhaupt, wen Sie da vor sich haben?‹ Pia war es egal, wen sie vor sich hat. Sie hat der Dame mit dem Absatz ihres Schuhs eins übergezogen.«
»Und dann?« Vicki blies eine Wolke an die Decke des Zimmers und musste sich ein Husten verkneifen. Der Rauch brannte in der Lunge. Eigentlich schmeckte es ihr gar nicht, aber sie fand sich mit einer Zigarette im Mundwinkel einfach umwerfend. »War die Dame beeindruckt? Und überhaupt: Wer war es?«
»Niemand, den wir kennen. Sehr viel mehr ist auch nicht passiert. Pia und die Dame haben sich ein bisschen an den Haaren gezogen, haben sich beschimpft – und die Saaldiener haben Pia hinter die Bühne begleitet. Wir haben dann lieber woanders weitergefeiert.«
Vicki griff zur Zeitung und las den Artikel. »Deine Pia hat den Champagner auf eine Verwandte von Hugo Zwillenberg gekippt.«
»Tatsächlich?« Alexander nahm ihr die Zeitung aus der Hand, um den Artikel selber zu lesen. »Aber die kann sich doch problemlos ein zweites Glas leisten … Manche Menschen werden mit dem Reichtum eben nicht großzügiger.« Er sah seine Schwester an. »Wie sieht es aus? Willst du heute Abend mitkommen, wenn ich wieder für Schlagzeilen sorge?«
»Ich dachte schon, du fragst nie.« Mit leuchtenden Augen lehnte Vicki sich nach vorne. »Wo geht es denn heute hin? Habt ihr schon Pläne geschmiedet?«
»Pläne? Vicki, es geht nicht darum, Pläne abzuarbeiten, sondern darum, das Leben zu genießen und für alles offen zu sein! Du musst noch so viel lernen … Aber wenn es dich beruhigt – und wenn der alte Herr dich fragt: Wir starten im Wintergarten. So wie gestern. Ein bisschen Varieté, ganz harmlos. Kein Auftritt von Pia. Oder wenigstens kein Auftritt, für den sie Geld bekommt.«
Ihren Vater musste Vicki noch überzeugen, bevor sie sich in das Nachtleben von Berlin stürzen konnte. Sie stand auf. »Dann gehe ich gleich zu ihm und frage, ob er mich der Aufsicht meines Bruders anvertraut … Wann geht es los? Um acht?«
Alexander sah auf seine Uhr. »Ja. Oder ein bisschen später. Zieh dir etwas Schickes an!«
Er sah seiner Schwester nach, bis die schwere Tür hinter ihr zuschlug. Seit sie einen modischen Bubikopf trug, sah sie fast aus wie ein Junge. Ein Junge mit schönen Beinen, das musste er zugeben. Und sie war begierig auf das pralle Leben, das sie an seiner Seite kennenlernte. Er lächelte und beugte sich nach vorne, um den Artikel über Pia noch einmal genauer zu lesen. Woher der Reporter wohl seine Neuigkeiten hatte? Gesehen hatte er gestern niemanden. Vielleicht musste er einem der Kellner doch ein bisschen mehr Trinkgeld zustecken, um zu erfahren, wer hier seinen Mund nicht halten konnte.
Vicki klopfte kurz an die Tür der Bibliothek – hier verbrachte ihr Vater meist seine Abende mit endlosen Zahlenreihen in dicken Ordnern. Als sie nichts hörte, polterte sie lauter gegen die Tür. Vielleicht wurde aus diesem langweiligen Abend ja doch noch eine rauschende Nacht. Seit sie aus dem Schweizer Internat nach Berlin zurückgekehrt war, hatte sie einiges nachzuholen.
Mit Alexander war es immer aufregend. Egal, wo sie erschienen: Ihr Bruder war der Mittelpunkt jeder Gesellschaft. Mit seinem guten Aussehen und seinem breiten Lächeln gewann er jeden für sich. Noch dazu war er einer der Söhne von Verleger Manthey – und dessen Stimme galt etwas in der Stadt. Was in der Berliner Bühne stand, wurde gelesen. Auch dann, wenn man nicht einer Meinung mit dem Verleger war, was häufig vorkam. Die Berliner Bühne vertrat die Meinung der Zentrumspartei, setzte sich vehement für die Republik und die Demokratie ein. »Der Kaiser hat uns in einen Weltkrieg gestürzt«, erklärte Theodor Manthey gerne. »Da kann es jetzt nur besser werden. Wir müssen den Menschen erklären, wie gut eine Demokratie für sie ist.«
Hinter der Tür blieb es still. Vicki warf einen nervösen Blick auf die Uhr. Um fünf erschien die Abendausgabe der Berliner Bühne. Die pflegte er noch in der Druckerei zu lesen, um dann nach Hause zu kommen. Die druckfrische Zeitung legte er im Kaminzimmer ab – und darin hatten sie und Alexander eben den Artikel über Pia gefunden. Das konnte nur eines bedeuten: Ihr Vater war im Haus. Womöglich war er eingeschlafen?
Sie klopfte ein letztes Mal an die Tür, bevor sie die Klinke nach unten drückte und in das dunkle Zimmer trat. Es roch nach kaltem Zigarrenrauch und vielen alten Büchern. Vicki machte das Licht an und sah sich um. Auf dem reich mit Schnitzereien verzierten Schreibtisch ihres Vaters herrschte penible Ordnung. Die mit dem Familienwappen geprägte lederne Unterlage, die Stifte, das modische Telefon – hier hatte alles seinen Platz. Deswegen fiel ihr sofort auf, dass unter der Unterlage eine weiße Ecke hervorstand.
Sie zog die Karte heraus. Bütten, mit gewelltem Rand. »Anlässlich meiner erneuten Vereidigung als Reichskanzler ist es mir eine Ehre, Sie um 18 Uhr zu einem kleinen Empfang in den Reichstag einzuladen«, stand da in geprägten Lettern. Darunter, in schwungvoller Schreibschrift: »Ohne Sie wäre das alles nicht möglich! Wilhelm Marx«.
Sie betrachtete die Karte in ihrer Hand. Es war keine Überraschung, dass ihr Vater Wilhelm Marx unterstützte. Die Berliner Bühne und ihr Verleger hielten treu zur Zentrumspartei, seit sie denken konnte. Doch wenn er mit dem Reichskanzler und seinen Anhängern feierte, würde er weder früh noch nüchtern nach Hause kommen – da war es unwahrscheinlich, dass er nachsah, ob seine jüngste Tochter auch ordnungsgemäß in ihrem Bett lag.
Mit einem Lächeln schob sie die Einladung wieder an ihren Platz zurück und huschte aus dem Zimmer. Mochte ihr Vater heute mit den Mächtigen der Republik die Geschicke des Landes mitbestimmen: Sie würde ihren Spaß haben.
Auf dem Weg in ihr Zimmer begegnete ihr eines der Dienstmädchen. Es knickste. »Kann ich heute noch etwas für Sie tun?«
»Nein, danke. Ich gehe heute Abend aus, da benötige ich Sie nicht mehr«, erklärte Vicki. »Allerdings muss mein Vater davon nichts erfahren«, fuhr sie leise fort. »Ich wäre Ihnen also sehr verbunden, wenn …«
Das Mädchen lächelte sie verschwörerisch an. »Von mir erfährt er nichts!«
Vicki rannte schon weiter und rief nur ein schnelles »Danke!« über die Schulter. Erst in ihrem Zimmer blieb sie stehen.
Was würde an einem Abend wie heute gut aussehen?
Sie griff nach einem dunkelblauen Kleid. Schwarze Stickereien am Oberteil, ab der Hüfte schwarze Spitze, die ein wenig über den blauen Stoff nach unten fiel. Keine Ärmel, nicht einmal knielang, aus Paris. Perfekt.
Eine Stunde später drehte sie sich vor Alexander im Kreis. »Gib zu, ich sehe gut aus!«
Er lachte. »Ich werde den ganzen Abend lang die Männer vertreiben müssen, die dich umschwirren.«
Vicki warf sich eine Stola über die Schultern und drückte sich einen passenden blauen Hut auf die kurzen Haare. »Wehe, du bist zu erfolgreich! Wer sagt denn, dass ich es nicht mag, wenn die Männer gerne mit mir tanzen?«
Sie folgte ihm zu seinem Mercedes, der schon in der Auffahrt stand. Vorsichtig strich sie über den leuchtend roten Lack. »Wann bringst du mir bei, wie man ein so etwas fährt?«
»Wann können Schweine fliegen?« Alexander schwang sich hinter das Lenkrad. »Frauen sind nicht für so etwas Technisches wie Automobile gemacht. Du kannst tanzen, du bist wunderschön, du musst nicht auch noch hinter dem Lenkrad sitzen!«
»Olga Frühwald ist tausenddreihundert Meter in weniger als einer Minute gefahren!«, erklärte seine Schwester trotzig.
»In Österreich!« Alexanders Antwort klang, als liege Österreich in einem anderen Universum.
»Viele Frauen fahren …«
»Wie Lena Amsel? Die wird eines Tages sterben, wenn sie weiter so durch die Gegend braust. Immer, wenn ich ihr Automobil sehe, fahre ich rechts ran und hoffe, dass sie schnell vorbei ist.« Er schüttelte noch einmal den Kopf. »Nein, liebstes Schwesterchen. Wenn du mit dem Wagen fahren möchtest, dann musst du schon unseren Vater überzeugen.« Er seufzte gespielt dramatisch. »Und wie ich dich kenne, wird dir das sogar gelingen.«
Zufrieden lehnte Vicki sich in dem Polster des großen Mercedes nach hinten. »Siehst du? Und in einem so großen Automobil bin ich viel sicherer unterwegs als in einem kleinen, leichten. Du wirst schon sehen: Irgendwann fahre ich deinen Mercedes.«
»Nicht, solange ich etwas zu sagen habe.«
Schwungvoll lenkte er das Automobil auf die Straße und machte sich auf den Weg in die Innenstadt.
Wenig später hatten sie den Wagen abgestellt. Nicht am Wintergarten, sondern vor Clärchens Ballhaus. Das verhieß noch mehr Spaß. Über die Treppe ging es ins obere Stockwerk, wo sich die bessere Gesellschaft Berlins vergnügte. Auf dem Weg dorthin erhaschte Vicki einen Blick in den Tanzsaal im Erdgeschoss. Es sah nicht so aus, als ob die Arbeiter in ihren einfacheren Kleidern weniger Spaß hätten …
Oben im Spiegelsaal bahnten sie sich einen Weg zwischen eng gestellten Tischen zu einem freien Platz, den Alexander mit einem kleinen Schein beim Kellner gesichert hatte. Vicki hatte sich kaum gesetzt, als der Kellner auch schon wieder auftauchte, diesmal mit einer Flasche und drei Champagnerkelchen auf dem Tablett.
»Weiß Pia, wo sie uns findet?«
»Sie findet mich immer. Und wenn sie kommt, dann sollte ein Glas für sie bereitstehen.«
»Kippt sie dir sonst Champagner über den Kopf?«
Ein Achselzucken war die Antwort. »Kann sein. Mir oder dir – oder die ganze Flasche fliegt durch die Luft. Und trifft andere Leute, die sich dann beschweren. Bei mir, nicht bei Pia.«
Vicki war sich nicht sicher, ob er das ernst meinte, doch sie prostete ihm zu und sah sich um. Die Frauen hatten ihre Gesichter dramatisch weiß, schwarz und rot geschminkt, ihre langen Perlenketten reichten bis auf den Bauch hinab, und es hing Zigarettenrauch in der Luft, der die Sicht erschwerte. Auf der Bühne schwang eine Gruppe von Tänzerinnen mit sehr sparsamen Röckchen die Beine im Takt.
Es war wunderbar hier. Noch vor einem Jahr hatte sie in einem langweiligen Internat Französisch und Mathematik gepaukt – doch jetzt war sie da angekommen, wo sie eigentlich hingehörte. Hierher, wo es niemals langweilig wurde und die Lichter immer hell leuchteten.
Die letzten Jahre mit den vielen Töchtern aus besserem Hause, die etwas lernen sollten, bis sich endlich die richtige Partie zum Heiraten fand, waren in ihren Augen schlicht vergeudete Zeit gewesen. Ständig ging es nur um das richtige Benehmen und darum, wie man einen Haushalt führte. Politik kam nicht vor, weil es sich nicht gehörte, bei einer Einladung darüber zu sprechen. Dabei war das politische Tagesgeschehen doch wichtig, das hatte ihr Vater ihr schon erklärt, als sie ein kleines Kind gewesen war. Ebenso wenig wurden im Internat moderne Autoren gelesen. Immer nur langweilige Klassiker oder gar Volkssagen und Märchen. Das Einzige, was ihr im Deutschunterricht Spaß gemacht hatte, war das Schreiben von Aufsätzen. Eine Zeit lang hatten sie eine junge Lehrerin gehabt, bei der sie sogar ausprobieren durften, Romananfänge, Gedichte oder gar eine Zeitungsreportage zu schreiben.
An eine Ehe als Ziel ihres Lebens mochte sie noch nicht denken – viel lieber wollte sie endlich das Berlin kennenlernen, von dem alle immer mit so leuchtenden Augen erzählten. Zum Glück hatte ihr Vater sie nach dem Abschluss nach Hause kommen lassen und kümmerte sich seither wenig um sie. Wahrscheinlich würde sich das ändern, wenn sie zu sehr über die Stränge schlug. Aber bis jetzt verließ er sich darauf, dass Alexander ein Auge auf seine kleine Schwester hatte.
Sie nahm einen großen Schluck aus dem Champagnerglas. »Tanzt du mit mir?«, fragte sie.
Alexander legte lächelnd den Kopf schief. »Ich kann mit allen schönen Frauen hier im Raum tanzen und soll mit meiner eigenen Schwester …? Das ist nicht dein Ernst!«
»Doch. Dann können wir auf der Tanzfläche sehen, bei welchem Opfer es sich lohnt.«
Alexander stand auf und reichte ihr galant die Hand. »Darf ich bitten?«
»Mit dem größten Vergnügen!«
Hand in Hand drängten sie sich durch zur Tanzfläche, wo sie gleich anfingen, sich zur Musik zu bewegen. Alexander sah nicht nur gut aus, sondern konnte auch hervorragend tanzen.
Leider hatte sie ihn nur kurze Zeit für sich. Dann erspähte Alexander eine etwas kräftigere Blondine, die ihm heftig vom anderen Ende des Saales zuwinkte. Er lächelte Vicki entschuldigend zu. »Ich muss … leider!«
Und schon stand sie alleine auf der Tanzfläche.
Aber nur kurz. Dann legte ein schmaler, dunkelhaariger Mann mit einem dünnen Schnurrbart die Hand auf ihre Schulter. »Allein?«, fragte er.
Auf ihr Nicken hin umfasste er ihre Taille und bewegte sich mit ihr zum schnellen Rhythmus der Musik. Er war ein guter Tänzer, besser sogar als Alexander, wenn sie ehrlich war. Sie tanzten mehrere Tänze miteinander. Seine Hände fühlten sich gut auf ihrem Rücken an – und seine Augen schienen etwas zu versprechen. Während der Schlussakkord des dritten Tanzes verklang, beugte er sich vor und flüsterte ihr ins Ohr: »Sollen wir vielleicht ein Gläschen an der Bar trinken?«
Einen Augenblick war sie versucht, ihm zu folgen. Dann sah sie aus dem Augenwinkel ihren Bruder, der ihr von seinem Platz aus mit einem merkwürdigen Ausdruck im Gesicht zusah, und verabschiedete sich hastig. »Bin in Begleitung …«, erklärte sie.
Im Gehen stellte sie fest, dass der schöne Tänzer ihr nur kurz hinterhersah, bevor er eine weitere Frau ansprach.
»Na, hast du eine neue Freundin?« Alexanders Grinsen war boshaft.
»Freundin?« Vicki schüttelte den Kopf und sah ihren Bruder entrüstet an. »Kannst du nicht mehr Männchen und Weibchen auseinanderhalten? Muss ich mir Sorgen machen?«
»Die Frage ist doch, wer von uns beiden in dieser Hinsicht Probleme hat.« Alexander nahm sein Glas, trank langsam einen Schluck und stellte es genüsslich wieder ab, bevor er weiterredete. »Diese männlich wirkende Dame ist hier in Clärchens Ballhaus bekannt dafür, junge Frauen anzusprechen. Du bist genau ihr Typ: Wenn man nicht genau hinsieht, kann man dich auf den ersten Blick für einen Jungen halten.«
Es kam nur selten vor, dass es Vicki die Sprache verschlug. »Er hat einen Bart!«, sagte sie schließlich. Es klang wie eine Entschuldigung.
»Den kann man hinmalen. Du solltest genauer hinschauen, sonst landest du noch mit dem falschen Geschlecht im Bett!«
»Gibt es denn ein falsches Geschlecht?«, entgegnete sie trotzig.
Alexander verzog angewidert das Gesicht. »Na, ich lege schon Wert darauf, dass meine Freundinnen nicht nur wie schöne Frauen aussehen, sondern auch im Bett eindeutig weiblich sind.«
»Du Spießer. Zeig mal ein bisschen Offenheit.«
In diesem Augenblick kam eine schlanke Frau mit tiefschwarzen Locken, rotem Mund und langen Beinen an den Tisch und fiel Alexander um den Hals.
»Wusste ich doch, dass du hier bist!« Pia griff nach dem leeren Glas, schüttete es randvoll mit Champagner und leerte es in einem Zug. »Wunderbar, ich bin schon umgekommen vor lauter Durst! Was machst du in diesem langweiligen Schuppen?«
Erst jetzt schien Pia zu bemerken, dass auch Vicki mit am Tisch saß. »Ach, du bist heute der Anstandsdackel für die Kleine? Da solltest du es natürlich nicht zu wild treiben.« Sie zwinkerte Vicki verschwörerisch zu. »Oder bist du neugierig auf ein bisschen Ekstase?«
»Wir sind doch gerade erst angekommen …«
»Dann habt ihr auch schon alles gesehen, was es hier gibt. Besser wird es nicht, glaub mir. Wir sollten weiter.«
Pia war es gewöhnt, dass man einfach tat, was sie sagte.
Aus der Nähe sah Vicki, dass die dicken schwarzen Lidstriche der Tänzerin schon etwas verlaufen waren. Die helle Schminke wies an der Wange kleine Risse auf, das Kleid war zerknittert und zeigte Spuren von Schweiß und Alkohol. Nur die grellrote Farbe auf den Lippen war frisch aufgetragen. Pia war offensichtlich schon länger unterwegs. Womöglich war sie seit dem zeitungsreifen Auftritt am Vorabend nicht ins Bett gekommen, dachte Vicki.
»In die Festställe!«, verkündete Pia und machte sich auf den Weg Richtung Ausgang.
Alexander sah seine Schwester an und hob entschuldigend die Hände. »Bei Pia kann man nur versuchen, Schritt zu halten. Los!«
Er kippte den Rest seiner Flasche in sein Glas und leerte es. »Wäre ja schade um das leckere Zeug.«
Vicki folgte ihm.
Auf dem Weg nach draußen legte sich eine Hand auf ihren nackten Arm. »Kommst du wieder?« Der schöne Tänzer von vorhin. Vicki sah genauer hin. Der Schnurrbart war tatsächlich nur aufgemalt. Aber gut sah er trotzdem aus. Oder sie.
»Ganz bestimmt. Halt mir einen Tanz frei, ja?«
Damit lief sie Alexander hinterher. Und kam sich ganz schön verwegen vor.
Die Festställe waren dunkler. Und lauter. Vicki hielt sich möglichst dicht hinter Alexander, der zielstrebig in einen Nebenraum verschwand. An einem kleinen Ecktisch fanden sie einen Platz. Die zweite Flasche Champagner des Abends kam auf den Tisch.
»Komm, wir tanzen!«, rief Pia, griff nach Alexanders Hand und zog ihn hinter sich her in Richtung der Musik, die aus dem großen Saal zu ihnen herüberklang.
Einen Augenblick lang saß Vicki alleine an dem Tisch und musterte das Treiben. Frauen in verboten kurzen Kleidern, Männer in hellen Anzügen, Zigaretten, laute Gespräche, in einer Ecke ein Paar, das sich an den Händen hielt und in die Augen sah.
»Brauchst du etwas?«
Sie hatte ihn nicht kommen sehen. Ein Mann mit braunem Anzug und pomadisiertem Haar saß an ihrem Tisch und sah sie aufmerksam an.
»Ich denke, nicht.« Sie deutete auf die frisch geöffnete Flasche auf dem Tisch. »Ich habe noch genug.«
»Das? Ich rede von etwas anderem.« Er beugte sich vor. »Möchtest du vielleicht probieren? Ich habe da ein Angebot für neue Kunden. Kostet nichts. Nur wenn es mehr werden soll.«
Sie spürte seinen Atem auf ihrer Haut und lehnte sich unwillkürlich zurück.
»Was … probieren?« Was immer es war, was er da anpries: Ihre Neugier war geweckt.
»Erst heute aus der Provinz angekommen, Kindchen?« Er musterte sie von oben bis unten. »Und dann gleich hier in diesem Etablissement? Wer hat dich denn mitgenommen?«
»Mich muss niemand mitnehmen!«, erwiderte sie trotzig.
»Na, dann kannst du ja ganz alleine ein bisschen Koks probieren.«
Er sah sich kurz um, dann zückte er ein abgegriffenes Pillendöschen, ließ es aufschnappen und nahm mit einem winzigen Löffelchen ein wenig weißes Pulver heraus.
»Streck deine Hand aus!«
Gehorsam tat sie, wie ihr befohlen, und schon hatte sie ein wenig von dem Pulver auf der Handfläche. Ein paar Mädchen im Internat hatten von den Wirkungen des Kokains erzählt, allerdings hatte sie den beiden nicht geglaubt, dass sie es wirklich ausprobiert hatten.
»Nimm deinen Finger und reibe das Pulver in dein Zahnfleisch. Wirst schon sehen: Das ist gut.«
Zufrieden sah er zu, als sie vorsichtig einen Finger in das Pulver stippte.
Kokain.
»Und nicht vergessen, von wem du probieren durftest … nur das erste Mal ist gratis!« Seine Stimme war leise und klang heiser.
»Verschwinde!«
Blitzschnell war Alexander aus dem Dunkel aufgetaucht und schlug so heftig gegen Vickis Hand, dass das weiße Pulver durch den Raum wirbelte. Mit der anderen Hand griff er nach dem Handgelenk des Mannes. »Und komm nie wieder auch nur in die Nähe meiner Schwester. Die braucht dein Zeug nicht. Weder jetzt noch in Zukunft. Merk dir das.«
Vergeblich versuchte der Mann sich zu befreien. »Ich konnte doch nicht wissen, dass das Ihre Schwester ist. Sonst sind Sie doch nicht so heikel, Herr Manthey. Ihre Pia kann doch gar nicht genug kriegen von meinem Zeug …«
Mit einem Schlag ließ Alexander ihn los. Taumelnd wich der Mann in dem braunen Anzug nach hinten.
»Pia kann nicht mehr ohne Rauschmittel leben. Daran tragen Menschen wie du die Schuld. Meine Schwester ist in der Hinsicht anders. Und das soll so bleiben!«
»Hab ich begriffen, Herr Manthey. Kommt nicht wieder vor …« Damit drehte er sich um und verschwand zwischen den Menschen.
»Wie ist der denn zu dir an den Tisch gekommen?«, wandte sich Alexander an seine Schwester. »Dich kann man ja keinen Moment allein lassen!« Von einer Sekunde auf die andere war die Wut in seinem Gesicht dem vertrauten Lächeln gewichen.
»Na, störe ich etwa?« Pia setzte sich an den Tisch und musterte die wenigen weißen Kristalle, die noch auf der Holzplatte lagen. »Ist es das, was ich glaube? Und ihr habt mich nicht eingeladen? Egoisten seid ihr, Egoisten!«
Sie steckte den Zeigefinger in den Mund und fing an, die Kristalle aufzustippen und dann ins Zahnfleisch zu reiben. »So viel daneben, ihr habt es euch wohl gründlich gut gehen lassen. Und nichts für die arme Pia …«
Seufzend zückte Alexander ein kleines Döschen, das dem des Kokainhändlers nicht unähnlich war. Er schob es über den Tisch zu Pia. »Aber nur ein bisschen. Soll ja nicht so enden wie gestern …«
»Wie hat es gestern denn geendet …?« Sie sah ihn fragend an, während sie schnell und routiniert das kleine Löffelchen unter ein Nasenloch hielt und das Pulver mit hörbarem Schniefen einatmete.
»Du bist in der Zeitung gelandet. In unserer Zeitung, um genau zu sein. Das macht mich nicht glücklich … und meinen Vater noch weniger.«
Sollte Pia ihn gehört haben, dann ließ sie sich nichts anmerken. Stattdessen hob sie ein zweites Mal ein Löffelchen in Richtung ihrer Nase. Alexander nahm es ihr vorsichtig aus der Hand und ließ Löffelchen und Dose wieder in seiner Anzugtasche verschwinden. »Der Abend ist jung, du musst nicht alles auf einmal nehmen.« Er sah sie aufmerksam an. »Hast du denn seit gestern geschlafen?«
»Ich? Nein. Schlafen kann ich, wenn ich tot bin.«
»Und wenn du so weitermachst, ist der Zeitpunkt schneller da, als mir lieb ist«, bemerkte Alexander.
Doch die Tänzerin war schon wieder auf den Beinen. »Ich fühle mich wunderbar! Komm, wir tanzen noch ein wenig. Gerade jetzt kann ich meine Beine einfach nicht mehr ruhig halten.« Ohne eine Antwort abzuwarten, verschwand sie wieder nach nebenan. Alexander folgte ihr mit einem Achselzucken.
Dieses Mal wollte Vicki nicht allein sitzen bleiben. Sie nahm noch einen großen Schluck Champagner und machte sich auf den Weg, um diese Festställe etwas genauer anzusehen.
Im großen Saal wurde Swing getanzt. Es gab hier nicht ganz so viel Perlen und Seide zu bestaunen wie in Clärchens Ballhaus – aber dafür ausgefallenere Tanzschritte, grellere Schminke und kürzere Kleider. Sie suchte mit den Augen nach Pia – aber weder sie noch Alexander waren irgendwo zu sehen.
Neugierig lief Vicki weiter – an der Bar entlang, eine Treppe nach unten und eine andere wieder nach oben. Auf einmal versperrte ihr ein schwerer schwarzer Vorhang den Weg. Sie schob ihn vorsichtig zur Seite und stieß auf eine kleine Gesellschaft, die gebannt einer privaten Aufführung zusah. Einen Augenblick verstand Vicki nicht, was sich auf dieser Bühne abspielte – aber dann erkannte sie Beine und Arme und drei Köpfe. Ineinander verschlungen, zwei Männer und eine Frau und alle sehr nackt. Es sei denn, man betrachtete Stirnreifen oder Halsbänder als Kleidung. Sie tanzten, aber ihre Bewegungen waren langsam und erinnerten eher an Erotik.
Vicki reckte ihren Hals noch etwas, um besser sehen zu können. Die Gesellschaft schien ihre Anwesenheit nicht zu bemerken, keiner konnte seine Augen auch nur eine Sekunde von den Tänzern lassen. Im Publikum saßen lauter Männer im Frack, mit gestärkten Hemden und engen Westen.
Vicki schnappte nach Luft.
Mit am Tisch sah sie ihren Vater. Und daneben Fritjof.
Ausgerechnet.
Ihr Vater, der stets darauf achtete, dass sie sich vorschriftsgemäß verhielt. Und ihr ältester Bruder Fritjof, der vollkommen humorlos war und zum Lachen in den Keller ging.
Jetzt saßen die beiden im Hinterzimmer eines nicht ganz erstklassigen Ballhauses und sahen dem frivolen Treiben auf der Bühne mit sichtlichem Vergnügen zu. Wer waren überhaupt die Menschen, mit denen sie hier waren? Sollte heute Abend nicht der Empfang im Reichstag stattfinden?
Sie sah in die Runde und versuchte das Gesicht des Reichskanzlers auszumachen, doch nirgends sah sie seine Nickelbrille und den Schnauzbart. Dafür entdeckte sie einige Gesichter, die sie sonst nur von den Politikseiten der Berliner Bühne kannte. Der glatt rasierte Mann mit den dicken Lippen und dem welligen Haar – war das nicht der Arbeitsminister? Und zwar nicht erst in der Regierung Marx, wenn sie sich richtig erinnerte. Und der Dicke mit dem Mittelscheitel … der leitete doch auch irgendein Ministerium?
Gerade beugte sich ihr Vater vor und machte eine offensichtlich launige Bemerkung, woraufhin der Dicke in Gelächter ausbrach.
Die Bewegungen auf der Bühne wurden schneller, die Musik hektischer. Der Auftritt lief in jeder Beziehung auf seinen Höhepunkt zu.
In diesem Augenblick erhob sich Fritjof von seinem Stuhl und kam direkt auf Vicki zu. Erschrocken ließ sie den Vorhang fallen, sprang zur Seite und versteckte sich in einer der tiefen Falten.
Fritjof schob den Stoff zur Seite und hinkte nur wenige Zentimeter an Vicki vorbei in Richtung des großen Tanzsaales. Oder der Toiletten.
Sie sah ihm hinterher. Er war offensichtlich betrunken oder müde – dann bereitete ihm seine Kriegsverletzung größere Schwierigkeiten als sonst, und sein Hinken wurde deutlicher.
Fritjof und ihr Vater waren die letzten Menschen, die sie heute Abend sehen wollte. Immerhin wusste ihr alter Herr nichts von ihrem heutigen Ausflug – und sie war erst achtzehn.
Geschwind drehte sie sich auf dem Absatz um und lief, so schnell es ging, wieder zurück zum Tisch, wo sie zuletzt mit Alexander und Pia gesessen hatte. Die beiden sahen ihr neugierig entgegen.
»Wir hatten schon Angst, dass wir dich verloren hätten«, meinte Alexander.
Vicki hielt sich nicht mit Erklärungen auf. »Vater ist hier. Und Fritjof auch!«
»Dein Vater kennt so etwas wie diesen Laden?« Pias Augenbrauen wanderten nach oben. »Dann sollten wir hier künftig nicht mehr auftauchen. Die Spießer ziehen ein.«
»Sie sind in einem der Hinterzimmer, bei einer Privataufführung.« Vicki sah ihren Bruder mit großen Augen an. »Können wir jetzt gehen?«
»In einem Hinterzimmer?« Jetzt schien Alexander erst richtig neugierig zu werden.
»Genau. Dabei wollte Vater doch heute Abend mit Marx und seinen Leuten die Vereidigung als Reichskanzler feiern. Marx habe ich nirgends erkennen können, aber die beiden anderen Zentrumsminister, die sind dabei. Die Privatvorstellung ist übrigens ziemlich hüllenlos.« Bei dem letzten Satz war ihre Stimme leiser geworden.
Ein boshaftes Grinsen zog über Alexanders Gesicht. »Das muss ich sehen. Ich wusste nicht, dass mein Vater sich überhaupt daran erinnert, was Männer und Frauen miteinander machen, wenn sie nackt sind. Und Fritjof … dem ist in Frankreich nicht nur seine Gesundheit abhandengekommen.« Er sprang auf. »Bin gleich wieder da!«
»Lass dich bloß nicht erwischen!«, rief Vicki ihm hinterher.
Langsam lehnte sich Pia zurück, zündete sich noch eine Zigarette an und sah Vicki aus halb geschlossenen Augen an.
»Du bist noch ein bisschen grün hinter den Ohren, was?« Noch bevor Vicki erbost antworten konnte, redete Pia weiter. »Ich meine, du kommst aus deinem goldenen Käfig in der Schweiz nach Berlin und willst mit einem Schlag alles kennenlernen, was es hier gibt. Koks, Swing, Männer, Frauen …« Mit einer fahrigen Handbewegung versuchte Pia das ganze Lokal einzuschließen. »… das Ganze eben. Und dein großer Bruder ist dein Fremdenführer. Das kann gefährlich werden.«
»Ich kann auf mich aufpassen«, wehrte Vicki sich.
»Kannst du nicht«, entgegnete Pia. »Ich kann dir nur raten, Kleine: Halt dich fern von zu viel Spaß. Am Ende bist du nur ein Spielball für alle, die hier die Spielregeln machen.«
Verlegen nahm Vicki noch einen Schluck vom Champagner, der inzwischen schal geworden war. Sie hatte keinen blassen Schimmer, was Pia ihr mit ihren düsteren Warnungen eigentlich sagen wollte.
Alexander zog den Vorhang ein wenig zur Seite und sah ins Halbdunkel des kleinen Raumes dahinter. Die Vorführung war offensichtlich vorbei, die Herren unterhielten sich nur noch gedämpft, tranken schweren Rotwein und pafften an dicken Zigarren. Er konnte weder seinen Bruder noch seinen Vater erkennen – nur den Arbeitsminister in einer Ecke, ins Gespräch vertieft mit einer knapp bekleideten Frau. Vicki musste sich getäuscht haben. Oder sie hatte recht – und er einen Trumpf im Ärmel, für den er sicher noch Verwendung haben würde.
Er ließ den Vorhang wieder fallen.
Zeit für einen Tapetenwechsel.
Er drehte sich um und ging wieder zu den beiden Damen, die schweigend am Tisch saßen und auf ihn warteten. Pia und seine Schwester hatten sich nichts zu sagen, das stand fest.
Als sie in die warme Sommernacht traten, atmete Vicki tief durch. Ihr Kopf fühlte sich an, als sei er mit Watte gefüllt. Sie musste mehr von dem Champagner getrunken haben, als ihr guttat. Außerdem hatte sie Hunger.
Alexander und Pia waren immer noch voller Tatendrang. Dass es schon weit nach Mitternacht war, schien sie nicht zu bremsen.
»Ich will noch ins Eldorado!«, erklärte Pia bestimmt.
Alexander verzog das Gesicht. »Wirklich? Da gibt sich doch die komplette Halbwelt die Klinke in die Hand. Der Wein taugt nichts, und die meisten Frauen sind nicht echt …«
»Aber wir haben Spaß! Und darum geht es doch!«
»Du hast Spaß«, maulte Alexander. »Ich für meinen Teil bin mir da nicht so sicher.«
Trotzdem chauffierte er sie zum gewünschten Ziel. Vom Eldorado hatte Vicki schon viel gehört. Angeblich war hier niemand das, wonach er oder sie auf den ersten Blick aussah. Aber das hatte sie ja schon in Clärchens Ballhaus erlebt.
Auf den ersten Blick war es eine ganz normale Kneipe spät in der Nacht: Die Schminke der Besucher bröckelte, die Stimmen waren etwas heiserer und das, was sie sagten, nach zu viel Alkohol entweder unverständlich oder viel zu ehrlich.
Erst als Vicki sich genauer umsah, entdeckte sie zwei Frauen, die selbstvergessen miteinander tanzten, und eine andere Frau, die so spät am Abend schon den Schatten eines Bartes im Gesicht trug.
Alexander ließ eine Flasche Weißwein bringen, den er kostete, um dann das Gesicht zu verziehen. »Wie ich eben sagte: Der Wein ist sauer und teuer …«
Pia beugte sich vor und küsste ihn. »Dafür sind die Frauen süß und kosten noch viel mehr.«
»Also werde ich heute eine Menge Geld brauchen«, entgegnete Alexander seufzend und küsste seine Freundin mitten auf den Mund.
Verlegen sah Vicki zur Seite, allerdings nicht so schnell, dass ihr die Hand ihres Bruders entgangen wäre, die unter Pias Kleid gewandert war.
Für einen einzigen Abend hatte sie genug gesehen – und mit einem Schlag war ihre Neugier auf das große bunte Leben in Berlin gestillt. Eigentlich wollte sie nur noch ins Bett. Am besten ohne irgendwelche Träume von Männern, die in Wirklichkeit Frauen waren, oder schmierigen Typen, die ihr Koks anboten.
»Ich bin müde«, sagte sie.
»Nimm doch ein bisschen Koks«, schlug Pia vor und wollte die kleine Silberdose aus Alexanders Brusttasche ziehen.
»Kommt gar nicht infrage«, entschied dieser und hielt die Dose fest. »Das ist noch nichts für Vicki.«
»Dann nicht.« Pia zuckte mit den Achseln. »Vielleicht ist deine Schwester doch noch zu jung für unsere Art zu leben.«
Vicki war zu müde, um zu widersprechen. Vielleicht hatte Pia sogar recht. Ein Blick in einen der Spiegel zeigte ihr ein schmales, blasses Gesicht mit großen Augen und noch größeren Augenringen.
»Ich nehme lieber ein Taxi nach Hause«, verkündete sie.
Alexander zog eine Rolle mit Geldscheinen aus seiner Hose, zählte einige davon ab und reichte sie ihr. »Aber keine Umwege oder sonst irgendwelchen Blödsinn. Einfach nur eine Droschke nach Hause, auf dem direkten Weg. Haben wir uns verstanden?«
Vicki nickte, steckte das Geld ein und machte sich auf den Weg. Kurz darauf stand sie vor dem Lokal und sah sich etwas ratlos um. Auf der Straße waren nur wenige Menschen unterwegs. Im Lichtkegel der Laternen sah sie einige Jungen, die immer wieder Männer ansprachen. Der eine oder andere schien Erfolg zu haben – die Männer verschwanden mit ihnen in einer dunklen Nebenstraße.
»Wat suchste hier? Oder tuste nur Maulaffen feilhalten?«, fragte sie plötzlich eine Stimme von der Seite. Vicki fuhr herum und stand einem Jungen von höchstens vierzehn Jahren gegenüber. Er hatte hektische Flecken auf den Wangen und starrte sie wütend an.
»Ich suche nur ein Taxi!«, versuchte Vicki ihn zu beruhigen.
Er deutete in Richtung der nächsten Straße. »Da findste ’ne Droschke. Wenn de Glück hast.«
Zögernd lief Vicki in die Richtung, die er ihr gezeigt hatte.
Oder sollte sie zurück in die Kneipe, in der sie Alexander und Pia zurückgelassen hatte? Er konnte ihr ganz sicher eine Taxe besorgen. Aber das war natürlich Blödsinn. Sie war erwachsen und würde in dieser Stadt wohl alleine den Weg nach Hause finden.
Mit so großen Schritten, wie es ihre schicken Schuhe eben hergaben, machte sie sich auf den Weg.
»Nicht so schnell, meine Süße!«
Eine schwere Hand legte sich auf ihre Schulter.
Ohne sich umzusehen, lief Vicki weiter und schüttelte die Hand ab.
»Ich hab doch gesagt: Nicht so schnell!« Diesmal packte der Mann ihren Oberarm und brachte sie damit zum Stehen.
Wütend drehte Vicki sich um. »Ich habe weder Zeit noch Lust, mit Ihnen zu reden. Wenn Sie also meinen Arm loslassen würden?«
»Aber ich habe Zeit. Und Lust.« Ein Mann mit Schiebermütze und einem schmalen, pockennarbigen Gesicht stand vor ihr und musterte sie aus zusammengekniffenen Augen. »Ich habe dich hier noch nie gesehen. Wer bist du?«
»Niemand, der dich kennenlernen will.« Sie funkelte ihn an. »Weder heute noch morgen noch überhaupt. Finger weg!«
Er lachte. Fasste an ihre Perlenkette, dachte einen Augenblick nach und zog dann kräftig. Die Kette riss, mit einem leisen Klackern fielen die schimmernden Perlen auf den Asphalt und kullerten weiter in Richtung Rinnstein.
»Meine Finger nehme ich dann weg, wenn ich das will.« Er deutete auf ihre kleine Handtasche. »Und jetzt will ich die da. Sofort.« Ein böses Lächeln trat auf seine Lippen. »Wer so schöne, echte Perlen hat, der hat bestimmt mehr als nur einen Lippenstift dabei.«
Er wartete nicht, bis sie ihm die Handtasche gab. Stattdessen blitzte im Licht der Straßenlaterne ein Messer auf – und bevor sie sich versah, hielt sie nur noch die Griffe der kleinen Handtasche fest. Der Mann war verschwunden.
Ihr erster Impuls war, laut zu schreien. Doch noch bevor sie ihm nachgeben konnte, sah sie auf der Straße eine Taxe näher kommen. Die Rettung. Sie hob ihre Hand und sank kurz darauf in die hellen Polster des Wagens.
Dem Fahrer nannte sie die Adresse der Manthey-Villa in Lichterfelde. Während ihr Herz wieder ruhiger schlug, zogen die Lichter der Straßen am Fenster vorbei. Es dauerte eine Weile, bis es dunkler wurde und weniger Menschen unterwegs waren. Als der Droschkenfahrer schließlich mit knirschenden Reifen auf der Kiesauffahrt vor der Manthey-Villa hielt, schreckte Vicki mit einem Ruck auf – offenbar war sie auf den letzten Kilometern eingenickt.
»Warten Sie einen Moment? Ich muss eben etwas Geld aus dem Haus holen!« Sie lächelte möglichst freundlich und sprang aus dem Automobil.
Vor der Haustür zögerte sie, bevor sie klopfte. Ohne ihre Handtasche hatte sie nicht nur kein Geld, sondern auch keinen Schlüssel. Sie hörte unregelmäßige Schritte – und dann sah ihr großer Bruder Fritjof ungläubig an.
»Vicki? Was zum Teufel …? Ich dachte, du bist längst im Bett!«
»Kannst du mir bitte Geld geben?«, unterbrach sie ihn. »In der Auffahrt steht die Taxe, aber ich habe kein Geld mehr, um zu bezahlen. Könntest du bitte …«
Mit einem verächtlichen Kopfschütteln hinkte Fritjof an ihr vorbei und bezahlte den Chauffeur. Wenig später kam er wieder.
»Das war ja ganz schön teuer! Victoria, wo bist du gewesen?«
»Ich war mit Alexander …«, setzte sie an, doch Fritjof unterbrach sie mit einer Handbewegung.
»Komm jetzt erst einmal mit. Ich bin nicht alleine hier und kann der Gesellschaft nicht so lange fernbleiben …«
Welche Gesellschaft? Während sie hinter Fritjof her ins Raucherzimmer ging, fiel ihr wieder die Szene im Hinterzimmer der Festställe ein. Waren die jetzt etwa alle hier?
Fritjof riss die Tür auf. »Meine Herren, darf ich Ihnen vorstellen? Meine Schwester Victoria. Sie ist das jüngste der Manthey-Kinder und hat erst kürzlich ihre Ausbildung beendet.«
Um ein Haar hätte Vicki aufgelacht. Eine Hauswirtschaftsschule konnte man doch nicht ernsthaft Ausbildung nennen. Sie konnte jetzt wunderbar in Französisch oder Englisch Konversation treiben, ein wenig gebildet über Opern oder Literatur reden und wahrscheinlich auch die Angestellten des Hauses beaufsichtigen und mit ihnen den Speiseplan besprechen. Nichts an ihrer Ausbildung ließ erkennen, dass ihr Vater ein großes Verlagshaus besaß und eine der wichtigsten Zeitungen Berlins herausgab. Ihre Brüder würden sich um das Familienerbe kümmern, während sie dekorativ aussehen und wahrscheinlich ohnehin bald eine passende Partie heiraten sollte.
Doch sie hatte gelernt, was sich gehörte. Verlegen deutete sie einen Knicks an. Dieser Abend wurde immer wahnsinniger, je später es wurde.
Die Männer nickten ihr kurz zu, um dann weiter über Politik zu reden. Die Tochter des Besitzers der Berliner Bühne fanden sie nicht aufregend genug, um ihr auch nur eine Sekunde Aufmerksamkeit zu schenken. Viel lieber beschäftigten sie sich mit Zahlungen, die fällig waren. Und Industriellen, deren Namen Vicki noch nie gehört hatte.
Unauffällig sah sie die anderen Männer an. Der Arbeitsminister war wieder dabei. Ein Mann mit rundem Gesicht sprach davon, dass durch das mangelnde Vertrauen der Wähler in die Herrschenden die Demokratie gefährdet wurde.
Fritjof nickte dazu und monologisierte ein wenig über das zerbrechliche Konstrukt der Demokratie, die für die Bürger zu wenig Gutes bewirkte – und damit sehr schnell jeder Grundlage entbehrte.
Sie sah ihn von der Seite an. Fritjof hatte sich im Krieg verändert. Sie erinnerte sich nur noch verschwommen an den großen Bruder, der sie auf seinen Schultern durch die Räume der Villa getragen und ihr im Wannsee das Schwimmen beigebracht hatte.
Aus Frankreich zurückgekehrt war ein schweigsamer Mann, der die Demokratie gegen alle möglichen eingebildeten Feinde verteidigte. Er hinkte durch die Räume der Villa und sah überall Gespenster und Verräter. Jedem Mitarbeiter, der nicht ständig »Hurra!« brüllte, wenn es um die Republik ging, unterstellte er umstürzlerische Absichten, als würde jeder Mensch nur danach trachten, den Kaiser wieder einzusetzen oder mit den Kommunisten gemeinsame Sache zu machen. Vickis Eindruck hingegen war, dass den meisten Menschen diese Republik recht egal war. Solange sie nicht mit den Problemen der Politik behelligt wurden, wollten sie auch nichts verändern.
Theodor Manthey schenkte dem neuen Reichskanzler noch einmal nach. »Gibt es denn etwas, was wir für Sie tun können?«, fragte er.
Marx nahm einen Schluck und schien sich für eine längere Antwort zu sammeln, die Vicki nicht hören wollte.
Möglichst unauffällig erhob sie sich und schob sich durch eine Seitentür in die Bibliothek und dann weiter ins Halbdunkel des Treppenhauses. Hier zog sie – endlich – die unbequemen Schuhe aus und rannte die Treppe nach oben in ihr Zimmer. Allerdings würde sie am nächsten Tag wohl eine Erklärung abgeben müssen, warum sie erst so spät zu Hause aufgetaucht war.
Vorausgesetzt, ihr Vater und Fritjof erinnerten sich überhaupt noch daran. Sehr nüchtern war niemand bei dieser Feier gewesen.
»Kaffee?« Das Dienstmädchen wartete die Antwort nicht ab, sondern füllte die Tasse.
Vicki rührte langsam um. Außer ihr war an diesem Morgen noch niemand wach. Kein Wunder. Als sie ins Bett gegangen war, hatte sie immer noch die Stimmen aus dem Raucherzimmer gehört.
Neben ihrem Teller lag die Morgenausgabe der Berliner Bühne, vom Boten direkt aus der Druckerei hierhergebracht. Sie überflog die Schlagzeilen. Zumindest hatte Pia es nicht auf die Titelseite geschafft. Stattdessen gab es einiges über die neue Regierung und ihre Pläne mit der Reichswehr zu lesen. War gestern nicht auch über dieses Thema geredet worden? Sie erinnerte sich an ein paar Satzfetzen. Zu wenig Geld, Verbot, Trotz, Einsatz für das deutsche Volk …
Ein Kommentar über die Schmach, dass Deutschland immer noch nicht an den Olympischen Spielen teilnehmen durfte. Im Augenblick wurde in Paris Fußball gespielt, das schmerzte der deutschen Seele besonders.
»Schön, dass du dich für die Zeitung interessierst, die für deinen Wohlstand sorgt«, bemerkte ihr Vater ironisch. Er hatte unbemerkt das Zimmer betreten. Seine ohnehin blasse Haut wirkte im schwachen Licht der Morgensonne fahl, die Augen waren von blutigen Äderchen durchzogen. Auf einen Wink hin füllte das Mädchen seine Tasse.
Er kratzte ein wenig Butter auf einen Toast, den er in den Kaffee eintauchte. Ein Ritual, das Vicki seit ihrer Kindheit kannte: Theodor Manthey frühstückte nie etwas anderes als schwarzen Kaffee und Toast mit sehr wenig Butter.
Sie sprang auf und drückte ihm einen Kuss auf die Wange. Eine Behandlung, die er schweigend über sich ergehen ließ.
»Jetzt sei nicht so, Vater. Ich lese unsere Zeitung jeden Tag, darauf kannst du dich verlassen! Und ich kann mir sogar merken, was drinsteht.«
Sein Messer kratzte weiter über den Toast.
»Was ärgert dich denn? Dass ich so spät nach Hause gekommen bin? Oder dass ich unterwegs war, ohne dich vorher gefragt zu haben? Du warst doch gar nicht da. Deswegen habe ich Alexanders Angebot, ihn zu begleiten, einfach angenommen. Gegen einen Abend mit meinem Bruder gibt es doch nichts einzuwenden, oder?«
Seufzend sah er sie an. Ein kaum sichtbares Lächeln schlich sich in sein Gesicht. »Du weißt genau, dass ich dir nicht lange böse sein kann. Eines möchte ich aber doch wissen: Warum bist du so spät nach Hause gekommen? Ohne deinen Bruder?«
»Ach, ich war müde. Er nicht. Also habe ich mir eine Taxe genommen und bin nach Hause gefahren – da ist doch nichts Schlechtes dran?«
»Nein, nein … Warum hat dein Bruder dir denn kein Geld mitgegeben, damit du die Taxe bezahlen kannst? Ist doch wirklich nicht angemessen, dass Fritjof dich hier auslösen musste!«
Jetzt wurde es schwierig. Vicki biss sich auf die Lippen, während sie über eine gute Antwort nachdachte. Sie wollte nicht von ihrer Begegnung mit dem Dieb berichten, denn dann hätte sie erzählen müssen, dass ihr Bruder sie nicht beschützt hatte. Doch in diesem Moment kam Alexander herein.
»Ich wollte noch ein bisschen weiterfeiern und hatte dummerweise nicht ausreichend Geld mitgenommen«, erklärte er. »Aber ich war mir sicher, dass ihr noch eine ganze Weile mit dem neuen Kabinett tagt. So war es doch, oder?«
Alexander setzte sich mit Schwung an den Tisch und strahlte in die Runde. Seine Haare waren noch ein wenig feucht von der Morgenwäsche und lockten sich um sein Gesicht. Dafür, dass er ganz bestimmt am wenigsten Schlaf von allen Anwesenden bekommen hatte, sah er bemerkenswert frisch aus. Er warf Vicki einen schnellen Blick zu, während er sich ein Brötchen aus dem Korb nahm und hineinbiss.
»Wo steckt denn Fritjof?«, fragte er mit vollem Mund.
Theodor Manthey sah in Richtung Tür. »Muss gleich kommen, denke ich«, murmelte er dabei. »Ist gestern ja doch spät geworden. Und wenn Fritjof einmal anfängt zu diskutieren, dann kann ihn niemand mehr bremsen …«
»Ihr seid also schuld, wenn die Republik heute ohne Regierung dasteht – zumindest am Vormittag«, bemerkte Alexander. »Ich gehe gleich nach dem Frühstück zum Ruderverein, das Wetter ist einfach zu herrlich. Das schreit nach Training auf dem Wasser …«
»Tut mir leid, Brüderchen.« Fritjof stand in der Tür und hatte offensichtlich von Alexanders sportlichen Plänen gehört. »Aber heute haben wir für dich einen Ausflug ins Verlagshaus geplant. Es wird Zeit, dass du dich ein bisschen mehr mit unserer Arbeit beschäftigst.«
Alexander lehnte sich überrascht zurück. »Bis zum heutigen Tag hatte ich das Gefühl, dass ihr mich nicht in euren Büros haben wolltet. Du und Vater – ihr seid doch ein wunderbares Gespann. Und Vicki und ich sind dafür verantwortlich, dass die Berliner Gesellschaft uns nicht vergisst.« Er zwinkerte seiner Schwester zu.
»Du solltest auch Verantwortung übernehmen«, mischte sich Theodor Manthey ein. »Und damit meine ich nicht deine Führungsqualitäten auf der Tanzfläche.«
Mit einem Kopfschütteln hob Alexander die Hände. »So plötzlich geht das nicht. Ich bin um zehn mit meinen Ruderkameraden zum Trainieren verabredet. Wenn ich fehle, dann bleibt im Achter ein Platz frei, das geht nicht. Ihr müsst mich schon ein bisschen früher vorwarnen. Dann mache ich auch gerne bei euren Plänen mit.« Er lächelte in die Runde. »Also, wäre das geklärt? Gebt mir das nächste Mal ein paar Tage vorher Bescheid, wenn ihr mich mitnehmen wollt!«
Damit nahm er sich einen Hefekringel aus dem Brotkorb und stand auf.
»Halt!« Die Stimme des Vaters war nicht laut, aber hatte jetzt einen schneidenden Unterton. »Du hast da etwas falsch verstanden: Das war keine Bitte. Du kommst heute mit ins Verlagshaus, verstanden?«
»Und ich habe gesagt: Nein. Ich kann nicht sieben andere Männer hängen lassen, weil mein Vater sich den heutigen Tag spontan für den Beginn meiner Ausbildung ausgewählt hat!«
Noch bevor sein Vater antworten konnte, war Alexander fort. Wenig später hörten sie die große Eingangstür ins Schloss fallen.
Einige Sekunden lang herrschte angespanntes Schweigen.
»Ihr könnt mich mitnehmen«, schlug Vicki vor. »Ich würde gerne einmal sehen, wie es im Verlag zugeht …«
Nachsichtig lächelte der Verleger seine jüngste Tochter an. »Warum eigentlich nicht, meine Kleine? Wir frühstücken fertig, dann gehen wir.« Sein Blick wanderte über ihr dünnes Sommerkleid. »Zieh dir vielleicht etwas weniger Auffälliges an. Immerhin bist du meine Tochter, da möchte ich nicht, dass du als extravagant giltst.«
Was immer Vater sich unter extravagant vorstellen mochte. Vicki nickte, sprang auf und verschwand in ihr Zimmer, um sich ein möglichst langweiliges dunkelblaues Kleid anzuziehen.
Eine knappe Stunde später stieg sie hinter ihrem Bruder und ihrem Vater aus dem Fond des Automobils, während der Chauffeur die Tür aufhielt. Sie fand, dass das Verlagshaus mit seiner modernen, geschwungenen Front ein bisschen wie ein Dampfer aussah.
Am Eingang grüßte der Pförtner ein wenig überrascht. »Das gnädige Fräulein – was für ein seltener Gast!«
Selten war eine Untertreibung. Als Kind hatte sie noch hin und wieder ihren Vater begleitet. Aber seit er sie in das Internat geschickt hatte, war sie nur noch in den Sommerferien hierhergekommen. Wenn sie ihn begleiten wollte, hatte er ihr nur über das Haar gestrichen und gemeint: »Genieß deine Jugend. Um das Erbe musst du dich noch früh genug kümmern. Oder besser gesagt, deine Brüder und dein Mann …«