Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Ist die Apokalypse noch aufzuhalten? Dieser Roman (Trilogie) ist ein Erlebnis mit literarischen Kunstgriffen der besonderen ART. Jede Romanfigur präsentiert sich auch über eine individuelle Form (eigenes Schriftbild) und spannende Dialoge mit innovativer Erzählform. Der Text ist auch ein Angebot an die grenzüberschreitende Fantasie der Leser/innen in andere Bewusstseinszustände einzutauchen. Ein Experiment, das auf einer neurophilosophischen, psychologischen und spirituellen Basis die alten metaphysischen Fragen nach dem ICH, dem SELBST, dem Bewusstsein, dem SEIN, dem „freien Willen“ und nach „Gott“ in einer neuen, zeitgemäßen und spannenden Perspektive (transpersonales Bewusstsein und Quantenphysik, Morphische Felder, …) darstellt. Ein Wechselspiel zwischen Realität und Illusion soll die Leser/innen anregen über Wahrheit und Täuschung zu reflektieren. Der Autor erzählt über unterschiedliche Begegnungen der Romanfiguren von Leben und Tod, von Gewalt und Krieg, von Verzweiflung, Angst und Lebensüberdruss, von Liebe und Wertschätzung, von Bewusstem und Unbewusstem, auch in einem gesellschaftspolitischen Kontext. Ist dieser Planet noch zu retten? Wenn ja- wie?
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 456
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Vorwort
Einleitung
Diogenes’ Therapiepraxis
Das Experiment
Lettas Besuch
Begräbnis von Stavros
Lettas Besuch, 2. Sitzung
Begegnung mit Giorgio
Diogenes, Traunstein und die Zeit
Die Gruppe – Projektraum – erste Begegnungen
Projektraum – Näherungsverfahren
Anna und Letta
Projektraum
Letta und Giorgio
Mila, Anna und Yvonnes Geständnis
Letta und Giorgio – Strandgespräche II
Abendessen
Milas Entscheidung
Diese Trilogie sei allen Menschen gewidmet, deren Leben durch Verbitterung, Verzweiflung und Leid, zur Last geworden ist; und allen Menschen die noch im „Licht“ stehen und hilfreich ihre Hände ausstecken wollen. Wir sind als unvollkommene Wesen, auch eine Quelle des Leides. Wir sind als Wesen eingebunden in einen permanenten Transformationsprozess. In diesem Prozess sind Krisen und Irrwege inkludiert. Die Evolution (die physische, die geistige und auch die spirituelle) will das jeweilige Stadium überwinden, daher die Mühen und das Versagen. Wenn wir einander verstehen und unterstützen gibt es immer eine Lösung. Das Unvollkommene möchte „vollkommen“ werden, deshalb sind wir angehalten, für eine globale transpersonale Bewusstseinsentwicklung Sorge zu tragen.
Herzlichen Dank an alle Menschen, die mir bei der Umsetzung dieses Buchprojektes geholfen haben!
Insbesondere gilt dieser Dank meiner Frau Renate!
Peter Zimmermann
Alle 3 Minuten ein Suizidversuch.
Alle 47 Minuten eine Selbsttötung.
Folgende Erzählung beruht auf „wahren“ Ereignissen. Die Protagonisten/innen sind frei erdachte „reale“ Konstruktionen. Der Autor übernimmt keine Haftung für Irritationen oder Schäden, die beim Lesen der Lektüre entstehen. Ebenso übernimmt der Autor keine Haftung wenn Menschen nach dieser Trilogie Glück und Ausgeglichenheit erfahren!
Sehr geehrte Leserin, sehr geehrter Leser: Im folgenden Roman interagieren acht „Hauptfiguren“ auf den unterschiedlichsten Kommunikationsebenen miteinander. Der künstlerische Ausdruck bekommt über Form und Inhalt eine Gestaltung, deshalb die unterschiedlichen Schrifttypen als Formensprache der Figuren, sie gehören zum Konzept dieses Romans.
Diese Schrifttypen möchte ich als Beispiel und Lesehilfe erläutern:
Alle Gedanken und inneren Dialoge der Protagonisten/innen werden KURSIV gestaltet; Fettgedruckte Wörter sind Kennzeichen von lauten bis schreienden Stimmen.
Die
„Innere Stimme“
jeder Figur ist mit dieser Schrift erkennbar. Man könnte diese Stimme auch als die „höhere unendliche Bewusstheit“ oder das „höhere Selbst“ betrachten
(Lucida Handwriting 9).
Allwissender Erzähler (Beobachter), seine Kommentare sind anhand dieses Schrifttyps erkennbar. Diese Kommentare sind wie „Regieanweisungen“ zwischen den Dialogen zu verstehen (Times New Roman 11).
Diogenes,
die zentrale Figur (Therapeut, Analytiker), führt die Leser/innen mit diesem Schrifttyp durch den Roman (Arial 10).
Giorgio,
der Schriftsteller, ist durch diese Schreibform erkennbar (Bookman Old Style 10).
Traunstein,
der Künstler, hat sich für diesen Schrifttyp entschieden (Gabriola 14).
Anna
ist Neurobiologin, ihr Kennzeichen ist diese Schrift (Jasmine UPC 16).
Letta kommt
aus der Politikwissenschaft und hat diesen Schrifttyp gewählt (GungsuhChe 10).
Yvonne
, die „doppelgleisige Finanzberaterin“, präsentiert sich in dieser Schrift (Century 10)
Mila,
die Medizinerin, wird man durch diese Schrift erkennen (Lucida Sans 9).
Rakovsky,
der „Kriegsheld“, ist so zu erkennen (Corbel 12).
Krankenschwester, sie ist durch diese Schrift zu erkennen (Batang 10)
Ja, so viel zu Form und Schriftarten. Jetzt viel Spannung und Spaß beim Lesen.
Yvonne kommt, regelmäßig wie ein Uhrwerk, um fünfzehn Minuten zu spät zur Therapiesitzung, in die Praxis von Diogenes.
Schön, dass sie es geschafft haben, Yvonne, setzen sie…
Sorry, ich bin schon wieder zu spät dran, Doktor, gut, dann fange ich gleich an. Wissen Sie, Doktor, manchmal bin ich mir gar nicht so sicher, ob es ein Traum war oder Wirklichkeit. Träume und mein tiefes Dekolleté, das mögen sie, die Therapeuten, ich liebe es, wenn er die Mine seines Kugelschreibers immer wieder raus und rein drückt. Klick, klack, klick, klack. Und noch mehr liebe ich es, wenn er sich beim Anblick meiner bestrumpften Beine ertappt fühlt. Ich hasse Netzstrümpfe, aber warum soll immer nur ich leiden?
Yvonne, erzählen Sie einfach. Sie ist so was von abgekocht. Immer wieder setzt sie ihre Verführungskünste ein: stark überschminkt, tiefes Dekolleté, ihre knallroten Lippen, immer die gleiche, etwas „nuttige“ Fassade. Wie ging das noch bei Villon? Ich bin so wild nach deinem Erdbeermund, ich schrie mir schon die Lungen wund nach deinem …
Doktor? Sind Sie noch da? Wissen Sie, Doktor, diese Frau, sie befand sich – wie soll ich sagen – in einer alten Wohnung, ich kannte diese muffigen Räume. Da war diese Kommode mit den chirurgischen Instrumenten, sie lagen fein säuberlich auf einem weißen gehäkelten Tuch, so eines wie Mutter sie zu Hunderten anfertigte, alles zeigte sich so vertraut. Wissen Sie, Doktor, was ich denke? Sie hatte alles für eine Operation vorbereitet, ja, eine Operation, und ich weiß auch schon, was sie mit dem Skalpell alles anstellen wird, sagt Yvonne mit einem verführerisch süffisanten Lächeln.
Über dem Bett, ich erinnere mich noch genau, da hing dieses Bild mit der Madonna und dem hilflosen Jesuskind, wie bei uns zu Hause, Sie verstehen, Doktor? Natürlich verstehen Sie, auf jeden Fall lag da auf dem Bett dieser fette nackte betäubte Mann, ich kannte ihn, oder besser gesagt, er war einem Menschen meiner Familie sehr ähnlich – mehr möchte ich dazu jetzt noch nicht sagen, Sie wissen doch, wen ich meine, diese alte Geschichte. Als Chirurgin, im Traum war sie Chirurgin – Sie verstehen doch, Doktor –, wusste sie natürlich, wie man sauber und fachgerecht einen Penis samt Hoden entfernt – Sie haben es erraten, hab ich Recht? Ihr fehlte nur noch ein wenig die Praxis, so etwas macht man ja nicht alle Tage – oder? Das Schlafmittel im Champagnerglas hatte offensichtlich gewirkt, der geile Sack schlief schon fest. Bevor sie mit dieser Sauerei anfing, schickte ich sie ins Badezimmer. Das Ganze musste doch steril ablaufen, wir sind hier ja nicht im Schlachthof. Obwohl: Schlachthof finde ich doch irgendwie passend – was meinen Sie, Doktor?
Wenn sie es sagen, warum nicht?
Sie haben jetzt sicher ganz anders gedacht, ich weiß, ach, lassen Sie nur, Doktor, später – heben Sie sich Ihre Analysen für später auf, nach dem ersten Akt – was für ein Wortspiel, ha, ha. Oh, der Traum, wo war ich stehen geblieben? Badezimmer, das Badezimmer war es doch. Schlachthof. Hygiene. Ja, das war es. Ich befahl ihr, Schutzbekleidung anzulegen, wie vor einer Operation, Sie verstehen doch, Doktor, dann auch noch Handschuhe, Mundschutz, Haube und Überzieher für die Schuhe. Diese „Kostümierung“ hat sie sichtlich verändert, ich erkannte sie gar nicht mehr, sie wurde mir fremd. Obwohl, sie war doch ein Teil von mir, das Objekt im Traum, Sie sehen, Doktor, ich habe meine Hausaufgaben gemacht. Na ja, wie auch immer. Sie tänzelte zurück in das Schlafzimmer, machte im Spiegel einen kurzen Check, alles sitzt perfekt. Ich befahl ihr, noch eine Dosis Barbiturat in die Venen dieses Fettsackes zu spritzen, dann noch eine Dosis zur Entspannung der Muskeln. Ich wollte nicht, dass er zu zucken begann, während sie sein bestes Stück mit dem Skalpell entfernte. Spüren Sie auch so ein Kribbeln, Doktor?
„Drei Jahre bedingt“, sagte der Richter, das ist doch skandalös, finden Sie nicht auch, Doktor? Schließlich hat er ein neunjähriges Mädchen vergewaltigt, dieses Schwein, dass macht er garantiert nicht noch mal…ach, Doktor, wissen Sie, was das Spannende bei dieser ganzen Operation war? Na? Raten Sie mal.
Yvonne, ich habe keinen blassen Schimmer, erzählen Sie weiter. Klick, klack, klick, klack!
Sie wissen es, geben Sie es doch zu, Sie Schummler.
Ich lächle sie an und mache mit meinem Kopf verneinende Bewegungen. Ich notiere: Kastrationswunsch, Peiniger in der Familie, ein Klassiker – da ist noch mehr dahinter – Provokation – unterstrichen. Sie ist Finanzberaterin, es könnte auch sein, dass – abgesehen von der Missbrauchsgeschichte - durch diesen symbolischen Akt, eine Beschneidung der männlichen Macht an den Börsen gemeint ist – wie auch immer? Was wird das wieder für ein „Spiel“, frage ich mich, wie so oft bei Yvonne? Ihre große rote Ledertasche fällt mir jetzt auf, sie liegt auf ihrem Schoß, fest umklammert mit ihren Händen; passender Nagellack. Ein Gefühl der Unsicherheit, Angst aber auch Wut und Neugierde macht sich bei mir bemerkbar. Tief durchatmen, entspannen. Menschen mit komplexen Persönlichkeitsstörungen sind faszinierende Menschen, sie spielen in einer anderen Realität, nach ihren Regeln, ein hochinteressantes Spiel, schwer zu durchschauen. Genau genommen spielen wir ja alle in unterschiedlichen Realitäten, spinne ich diesen Gedanken weiter, sonst wäre die Kommunikation nicht so komplex. Aber – zurück zu Yvonne: Ehrlichkeit und Authentizität, wenn es so etwas überhaupt gibt, sind bei solchen Grenzgängerinnen sehr dehnbare Begriffe. Ihre Lebenslügen treffen sich selten mit den Lebenslügen anderer Menschen, dennoch haben alle eines gemeinsam: Es sind Überlebenslügen, welche als Wahrheit interpretiert werden. Yvonne kämpft immer noch mit einem schweren Kindheitstrauma. Sexueller Missbrauch zerstört das Selbstwertgefühl und damit auch die Lebensfreude. Diese tiefe Kränkung muss vom psychischen Apparat „korrigiert“ werden. Eine kompensatorische Überlebensstrategie muss immer wieder von ihr kreiert werden. Yvonne versucht nun ihre verletzte, unter Wiederholungszwang (Wiederholung des traumatischen Erlebnisses) leidende Persönlichkeit abzuspalten. Imaginativ konstruiert Yvonne immer wieder neue Persönlichkeiten; Persönlichkeiten, welche ihre unterschiedlichen emotionalen Impulse leben dürfen. Kontrolle und Macht sind für sie Ventile, die sie durch Identifikation mit einem imaginären Rollenbild „erleben“ kann. Die Männerwelt beherrschen und sie bezahlen lassen, das sind in ihr fest verankerte Glaubenssätze. Ein weiteres Verhaltensmuster ist ihre Erlebnis- und Konsumsucht, Kompensationen für Entbehrungen in ihrer Kindheit, die nie erlebte Zuneigung und Liebe wird durch gekaufte Objekte ersetzt (ein Klassiker: letzte Woche erzählte sie mir vom Kauf der dreihundertsten Paar Schuhe). Yvonne hat verständlicherweise ihr Vertrauen in die Menschen verloren, fühlt sich von allen angegriffen (paranoider Modus). Ihre Geschichte begann mit der Beschreibung eines ihr bekannten Zimmers, einer genauen Erinnerung an ihr Elternhaus, das Bild an der Wand im Schlafzimmer, ihre zittrige Mutter, die immer „wegschaute“, und der fette Mann – alles emotionale Botschaften über Symbole. Ich bin mir aber nicht so sicher, ob meine Interpretationen wirklich zulässig sind. Was hat Yvonnes Biografie mit meiner Biografie zu tun? Da entwickelt sich noch eine sehr erkenntnisreiche Geschichte. Beziehungsarbeit hat immer eine sehr komplexe Psychodynamik. Ein Wechselspiel zwischen den bewussten und unbewussten Kräften aller Beteiligten. Die Verschränkung psychischer Abläufe von Menschen, die einander sicher nicht zufällig begegnen, ist schwer zu analysieren, aber – sehr spannend und aufschlussreich. Der Therapeut lernt einen wesentlichen Teil seines psychischen Apparates über den Patienten kennen – was aber vom Therapeuten nicht immer gleich erkannt wird. In der Literatur wird dieses „Phänomen“ als Spiegelungseffekt bezeichnet. So gesehen müsste die Honorarverrechnung ja oft umgekehrt erfolgen. Aber das ist eine andere Geschichte.
Na gut, Doktor, hallo, sind Sie noch da, Sie machen so einen abwesenden Eindruck, ich langweile Sie doch nicht, Doktorchen? Ich mache es spannender und sage Ihnen noch eine Merkwürdigkeit: Ich sah mir bei der Operation zu! Ja, da staunen Sie, ich stand in der Ecke des Zimmers und beobachtete mich im Traum, da war ein zweites ICH, Sie wissen schon, wie ein Klon – ja, ganz real, stellen Sie sich das einmal vor, es war so aufregend, diese Spannung – ich habe mich aufgespalten, oder wie sagt man dazu? – ist jetzt auch nicht so wichtig, Doktorchen – oder?
Jetzt hat sie auch noch außerkörperliche Erfahrungen, denke ich und „sehe“ Yvonne in ihrer Vielfalt im Raum schweben. Kaum zu glauben! Wenn das zutrifft, werden diese außerkörperlichen Erfahrungen für das autobiografische Selbst von Yvonne noch von Bedeutung werden. Man nennt sie auch Klarträume. Die Träumerin verlässt ihren Körper und ist sich ihrer Traumsituation bewusst, dabei kann sie ihren schlafenden Körper beobachten. Natürlich könnte es auch eine imaginäre Projektion sein. Ob wahr oder nicht, spielt aber keine wesentliche Rolle, allein die Vorstellung, dass es so sein könnte, erzeugt wahrscheinlich den gleichen Effekt für Yvonne. Bin schon gespannt, wie es weitergeht. Klick, klack.
Doktor, es war so eigenartig, wie soll ich es erklären, es war so, als würde ich meinem zweiten ICH jeden Handgriff zuflüstern. Ja, genau so, sie wurde meine Dienerin, eine Kopie von mir, die mir gehorchte – herrlich, dieses Machtgefühl, kennen Sie das auch, Doktor? Und dabei dachte ich immer, ich sei so einmalig. Jetzt einmalig-doppelt – gefällt mir – warum nicht?
Das sind diese Phänomene, ich denke gerade auch an Machtgefühle. Wer hat hier über wen Macht? Die Dynamik der Machtspiele im therapeutischen Kontext ist so eine Art Psychoschach: Wer macht den nächsten Zug? Bei Yvonne spüre ich die starke Sogwirkung ihrer Nebelwolken, sie zieht mich in ihre Geschichte hinein; ich habe oft Mühe, zumindest mit einem Fuß in meiner „Realität“ zu bleiben. Was für eine Energie!
Und das Beste kommt noch, Doktor: Da war ja noch die Träumerin, die sah ich auch, sie schlief tief und fest in ihrem Bettchen. Ich denke, sie wusste nicht, ob sie träumte oder alles real erlebte, aber was ist schon real? Ich fühlte mich wie der Clown in Paris, aber das ist eine andere Geschichte.
Die Hände „meiner Chirurgin“ zitterten ein wenig, ich konnte es genau sehen; es war diese Wut, die altbekannte, vielleicht auch die Aufregung, traumhaft, sag ich Ihnen, ich war so aufgeregt, auch etwas erregt, gebe ich zu, ich atmete tief durch, bevor sie dann endlich seine Genitalien beim Ansatz fest mit einem dünnen Kabelbinder zuschnürte. Das war wichtig, genau so habe ich es ihr befohlen, sonst hätte sie ja ein Blutbad angerichtet, Sie verstehen doch, Doktor?
Ja, ja, ich verstehe Sie sehr gut, Yvonne. Wie weit wird sie gehen?
Es ist so, ich glaube, Sie können das nicht wirklich verstehen, Doktor, dieses Gefühl der Macht über einen Mann, der gleich seine Männlichkeit verliert, und gleichzeitig ein Gefühl von Traurigkeit. Schade, dass dieser Fettsack betäubt war, er verschlief dieses einmalige Ereignis. Aber: Ich musste es doch, nein, sie musste es doch tun – es war ihre Aufgabe auf dieser Welt, verstehen Sie, Doktor? Jede Frau hat ihre Aufgabe – die muss getan werden – das ist doch der Sinn des Lebens, oder nicht? Ist jetzt auch nicht so wichtig. Was wollte ich vorhin sagen?
Sie waren beim Kabelbinder. Solche Aufmerksamkeitstests machte Yvonne immer wieder, so zwischendurch, es ist schon so ein kleines Ritual bei unseren Sitzungen geworden. Ich bekomme etwas feuchte Hände, schaue auf die rote Tasche. Was hat sie wohl in ihrer roten Tasche? Klick, klack.
Ach ja, danke! Wissen Sie, Doktor, „meine Chirurgin“ klemmte ihm noch einen Plastiksack unter seine schrumpeligen Hoden, sie war sehr ordentlich! Danach nahm sie das Skalpell in die rechte und die Klemme in die linke Hand. Sie zögerte noch. „Jetzt mach doch endlich, zuerst den Sack!“, befahl ich ihr, ziemlich schroff. Sie brauchte klare Befehle, ich merkte es an ihrem lüsternen Blick. Sogleich entfernte sie seine Hoden mit einem schnellen Schnitt. Sie hat es wirklich getan Doktor, sagte Yvonne mit glänzenden Augen und hielt sich sogleich kurz ihren Mund mit der Hand zu. Zuerst dachte ich, sie wird kneifen. So eine Entmannung kostet schon ein wenig Überwindung, Sie verstehen doch, Doktor. Dann – ein glatter Schnitt. „Tut gar nicht weh, oder?“, fragte ich dieses betäubte Schwein süffisant. Sie drehte sich wieder zu mir und zwinkerte mir mit einem Lächeln zu. Was für ein Genuss! Diese Erleichterung! Doktorchen – das muss man erlebt haben – es ist so …!
Während der Erzählung sind Yvonnes Blicke immer auf Diogenes fokussiert, sie lauert hochkonzentriert auf seine Reaktionen. Seine Aufmerksamkeit ist auf High Level gestellt. Er beobachtet Körpersprache und Wortsinn von Yvonne, sie kontrolliert Diogenes. Millionen Resonanzen wechseln den „Besitzer“ – Chaos und Ordnung begegnen sich im neuronalen Stakkato. Die Hände von Diogenes werden immer feuchter.
Ist wie, Yvonne, erzählen Sie weiter.
Doktor…ich wusste, Sie finden Gefallen an dieser Geschichte - ich wusste es. Aber, Doktor: Es hat sich tatsächlich so ereignet – traumhaft, oder?
Was soll das jetzt?
Zurück zur Geschichte. „Das sieht gut aus“, belobigte ich meine Chirurgin, alles schön erwischt, kaum Blut. Atmet er noch? „Jetzt schneide ihm noch sein ekliges Ding ab!“ Sie brauchte wieder diesen strengen Ton. Mit Genuss, das sah ich ihr an, schnitt sie mit dem Skalpell sein Ding ab. Danach führte sie, wie es sich gehört, einen Katheter mit entzündungshemmender und antibakterieller Salbe in seine Harnröhre ein, man ist ja kein Unmensch. Es blutete stärker als zuvor bei den Hoden. Schnell suchte sie den blutstillenden Verband und klebte ihn über seine Leisten und die Oberschenkel. Perfekt!
Geht’s noch, Doktor? Sie sehen so blass aus – heiß hier, oder?
Ja, ja, erzählen Sie ruhig weiter, sage ich möglichst neutral. Der Anstieg meiner Pulsfrequenz wurde aber deutlich spürbar, der Schweiß auf meiner Stirn wahrscheinlich sichtbar.
Aber gerne doch, ja, wo war ich? Ach ja, sie zog ihm noch eine Wegwerfwindelhose an, gar nicht so leicht bei seinem Fettarsch, sah irgendwie peinlich sexy aus, ich hätte mich totlachen können. „Das wäre geschafft, deine erste Kastration, ging eigentlich ganz leicht“, habe ich ihr voller stolz gesagt. Sie gönnte sich noch einen Schluck vom Champagner. „Habe ich mir doch verdient – oder?“, fragte sie mich. „Was für eine Frage?“ Bevor wir uns trennten, rief ich noch die Rettung an, er musste doch medizinisch nachversorgt werden. Ich sah schon die Schlagzeilen in den Gazetten. Danach liefen wir beide wie vom Teufel besessen aus der Wohnung. Vor uns ein scheinbar endlos langer Flur, sehr schwach beleuchtet, wir hatten Todesangst, hinter uns hörten wir laute, entsetzliche schmerzerfüllte Schreie. War unser „Opfer“ aufgewacht? Die Träumerin wachte jedenfalls auf, fühlte sich gut, es war ein schöner Frühlingstag. Ich öffnete die Fenster, ein anderer Raum, ein anderes Leben. Wo bin ich? Wer bin ich, Doktor? Ein Rettungswagen brauste gerade mit Tatütata vorbei – originell, oder?
Yvonne blickt Diogenes zuerst erhaben, dann etwas verwirrt und zuletzt erleichtert an. Er hingegen verspüre keine Erleichterung, eher Unsicherheit, versuchte sich mit einer Verlegenheitsfrage aus seiner Verwirrtheit zu retten.
Interessante Geschichte, Yvonne. Eine Frage: Woher, glauben Sie, hatten Ihre Traumfiguren diese chirurgischen Kenntnisse, Sie sind doch Finanzberaterin? Erst jetzt bemerkte ich meine verkrampften Hände, die meine empfindlichen Stellen schützten. Transpiration und ein klebriges T-Shirt unter meinem Hemd erzeugen ein unangenehmes Gefühl.
Keine Ahnung, Doktor, alles in Ordnung? Es war doch nur ein Traum – oder?
Da bin ich mir nicht so sicher – was macht sie nur mit mir? Frauen, die schweren Missbrauch erleben mussten, haben oft solche Kastrationswünsche, oder sind es meine Kastrationsängste? Das Psychoschach geht in die nächste Runde. Welche „Realität“ will sie mir zeigen, welche Übertragungsdynamik lenkt unsere Beziehung? Ich suche nach einer geeigneten Intervention. Warum kommt sie erst nach zwei Jahren mit dem „Kastrationswunsch“? Ich bin auch Projektionsfläche, stellvertretend für den Mann, der ihr Leid zugefügt hat. Ist das wirklich so einfach? Ich werde sie einladen, bei meinem Projekt mitzumachen, einen Suizidversuch hat sie vor zweieinhalb Jahren überlebt, danach war sie zehn Wochen in der Psychiatrie. Zurzeit scheint sie stabil zu sein. Die Neurodermitis macht ihr sichtlich immer noch zu schaffen. Sie ist potenziell immer noch gefährdet (wer ist das nicht), was ihre suizidale Veranlagung betrifft – aber: Sie hat Vertrauen in unsere Beziehung, das spüre ich, ein wesentlicher Faktor. Bei der Integration ihrer teils abgespalteten Persönlichkeitsanteile machen wir kleine Fortschritte, ihre gedachten ICH-Anteile (die Chirurgin, die Beobachterin, die Mächtige, die Mutige, die Traurige …) dürfen im Traum agieren, wurden aktiv. Diese Traumgeschichte, die Reflexion von Wahrnehmung und Wirklichkeit, wird mich noch lange Zeit beschäftigen, das fühle ich. Diese Begegnung ist natürlich kein Zufall.
Yvonne, ich hätte da eine Idee oder besser ein Angebot für Sie – oh, die Zeit ist bald um – vielleicht besprechen wir das in der nächsten Sitzung.
Da bin ich aber schon sehr neugierig, Doktor! Nur noch eine Kleinigkeit, die mich seit geraumer Zeit beherrscht. Yvonne steht auf, geht auf und ab, wie eine Schauspielerin auf der Bühne.
Wissen Sie, Doktor, jedes Mal, wenn ES passierte, war mein Geist erstaunt, die Gefühlswelt ergriffen – aber wovon? Diese vielen Bilder im Kopf, die Sehnsucht nach etwas Zufriedenheit, nein, Ruhe – oder – damals wusste ich es noch nicht. Wie soll ich … Es waren diese nicht geplanten Momente, ein Aufblitzen, wie eine Eingebung. Was kommt da auf mich zu? Welche Begegnungen würde ich erleben auf meiner Entdeckungsreise? Welche „Welten“ warteten auf mich? Es waren Orte der Vertrautheit und doch so fremd, so unwirklich. Da war ich schon, sagten die Bilder. Was war das? Welche Wirklichkeit spiegelt sich in der Illusion? Wieso gerade hier mit diesem Gegenüber? Warum war der Körper gerade jetzt hier, an diesem raumlosen Ort? Diese gefühlte Leere. Da war nichts und doch so vieles. Welches Ich wurde da gefordert?
Ihre Körpersprachen und die wechselnden Tonlagen – was für eine „Schauspielerin“, könnte man meinen!
Wissen Sie, Doktor, es war diese oft erlebte Abenddämmerung in Violett-Rot-Blau, Zitronengelb war auch dabei, mein Mund von Säften gefüllt, ein nackter Körper saß am Wasser. Ich spüre wieder dieses „Hinübergleiten“. Kadmiumrot, darunter ein blauvioletter Strich, ganz weit hinten, dort, wo das Meer von dieser Welt entleert wird, schreit ein Fremdkörper – der fällt – bodenlos.
Yvonne lässt sich in den Stuhl fallen.
Doch sie trieb fast regungslos weiter auf den Wellen, die mit der Flut, fast bedrohlich, dann wieder ganz weich – meine Nähe suchte. Müde und erschöpft schien sie, oder war sie die Projektion dieser Leere, oder eine Spiegelung auf den Wellen der Erinnerung? Oder war es die Verzweiflung, vielleicht auch Angst – oder eine Ergriffenheit, da kam etwas, es war nicht gänzlich unbekannt.
Yvonne springt aus dem Stuhl auf und geht, mit ihren Händen gestikulierend, wieder auf und ab.
„Du kennst mich“, sagte sie, oder sagte etwas, ganz weit weg, aus einer scheinbar anderen Welt. „Du bist mir schon an so vielen Orten begegnet, du brauchst mich!“
Wie meinte sie das? So nackt wie sie war, durfte niemand sie sehen, ausgeschlossen. Vielleicht in einer anderen Zeit, an einem anderen Ort, dort, wo geliebte Menschen verloren wurden, da war es ähnlich, und die Angst war auch da. Ja, und die Einsamkeit, diese verdammte Einsamkeit. Doktor, es könnte doch sein, dass sie ähnlich empfand, falls sie einen Geist hätte, der Gefühle der Wahrheit entsprechend interpretieren könnte. Es war dieses Auflösende, dieses ICH-Fremde, dieses Nichtvorhanden sein. Kein Ich, kein Dasein. In welcher Welt, Doktor, gebären diese Gedanken ihre Existenzberechtigung? Nein, sagen Sie nichts! Die Stille weiß doch alles!
Was bedeutet ICH-sein? Wann hört mein Körper auf, so zu sein, und lebt in einer anderen Form immer noch? Ja, genau so war es. ES war da, dann aber wieder nicht, nicht begreifbar. So war es schon mal, und dann kam sie wieder auf den Wellen, umgeben von glitzernden Spiegeln. Sie hatte so ein Lachen, so ein wissendes Lachen, und etwas lächelte unwissend zurück, irgendwie peinlich, verstand nicht – wieso schon wieder? Sie trieb weiter auf meinen Körper zu.
Die Erinnerung, sie war da. Sie haben es erraten, Doktor – oder?
„Wann kommt die Zeit“, hätte ich sie liebend gerne gefragt, die erinnerungsfreie, die Zeit der Erlösung? Einfach alles ausgelöscht, als wäre es nie geschehen. Was, wenn nur Laut-, Licht- und Atemlosigkeit die letzte Wahrnehmung erfüllt? Dann beginnt das Leben … irgendwo.
Ja, aber sie kommen immer wieder, diese Erinnerungen, ich kann nicht vergessen, nicht verdrängen, nicht verzeihen, auch nicht loslassen, das brauchen Sie mich jetzt gar nicht zu fragen, Doktor! Wissen Sie, ich habe eine liebe Freundin, eigentlich müsste ich sagen „hatte“, denn seit ihrem schweren Autounfall leidet sie an einem Schädel-Hirn-Trauma, ist ohne Bewusstsein über ihr Ich. Sie hat alles verloren: ihr Gedächtnis, ihre Identität, alles, sie weiß nichts mehr, nicht einmal ihren Namen. Die Stunde der Geburt, was für ein Glück für sie, dachte ich, alle Erinnerungen ausgelöscht. Mein Gedächtnis, es hat mich nie verloren. „Verluste haben ja auch was Gewinnendes“, sagte sie lächelnd zu mir, anscheinend befreit von ihren Altlasten. „Wenn ich mich entdeckt habe, in meinem neuen Leben, werden wir auch unsere Freundschaft neu erfinden, wir fangen beide wieder von vorne an“, sagte sie zu mir mit einer beneidenswerten Fröhlichkeit. Was muss geschehen, um einen Anfang nach dem Ende, um einen neuen Weg zu entdecken?
Was will sie sagen, die Erinnerung, dachte etwas verkrampft Suchendes, wie so oft bei solchen Begegnungen. Sind es wirklich nur die Erinnerungen, Doktor, die versuchen, ein ICH zu modellieren?
Falls das jetzt eine Frage an mich war – ja, ohne Erinnerung gibt es zumindest keine autobiografische Identität! Ihre poetischen Konstruktionen sind schon sehr bemerkenswert.
Meine? Ja, vielleicht? Einer Alzheimerpatientin musste ich, es war vor vielen Jahren, ein Bein amputieren, ich wusste gar nicht, dass ich das so gut kann. Auf meine Frage an die Patientin nach der OP, wie ihr Empfinden ist, nur mit einem Bein, sagte sie: „Mir geht es gut, es war doch immer so!“ Welcher fragmentarische Geist hat da gesprochen, Doktor? Vielleicht war alles immer so, und ich dachte nur, dass es einmal anders gewesen sei. Vielleicht existiert mein Körper zusätzlich auch als Phantom, als energetisches Feld, und mein Gehirn stellt nur den Bezug her. Ein Täuschungsmanöver, Sie sehen das auch so, Ihr Lächeln Doktor, Ihr Lächeln. Das würde die Existenz von Phantomschmerzen und Phantomgliedern erklären. Wo bin ich jetzt? Diese Frage stelle ich mir immer öfter!
„Du weißt doch, was ich dir sagen will“, sagte sie dann, die Erinnerung, die auf den Wellen, sie wissen schon – oder war es eine andere? Woher wusste sie, die Stimme, dass etwas dachte, dass sie mir sagen wollte, und wieso wusste sie, dass etwas in mir das wusste, was sie sagen will? Wer von uns dachte ein Wissen? Wer weiß wirklich, was Wissen ist? Doktor, Sie wissen es doch auch nicht, Sie tun nur so – nein, sagen Sie jetzt nichts, ich brauch gerade jetzt keine Interpretationen! Und, das ist doch immer die große Frage: Welchem Körper könnte man dieses Wissen, wenn es denn eines ist, zuordnen? Welches Geheimnis verbirgt sich hinter dieser grübelnden Verzweiflung? Geheimnisse haben immer so etwas Wertvolles, so etwas Anziehendes, so etwas, was nur dem Geheimnisträger gehört. Niemand, absolut niemand darf es erfahren, obwohl vielleicht alle ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Was sollte an der Verzweiflung durch die Erinnerung schon wertvoll sein? Ich muss es wissen, sonst trägt mich die Zeit davon.
Woher kam diese Ungeduld?
Wer wurde da jetzt neugierig? Woher kam diese Neugierde?
Also fragte etwas ungeduldig, neugierig, was an der Verzweiflung durch die Erinnerung denn so wertvoll sein könnte. Das Gleiche hätte ES aber auch über die Neugierde und die Ungeduld fragen können. Wer war hier so verzweifelt, dachte ES. Oder war ES das Universum, das ihrem Unglück Ausdruck geben will – über die verzweifelte Erde und diese Erde dann durch etwas in mir, durch die Erinnerung?
Ich kann ihr nicht mehr folgen, will ihren Redefluss aber nicht unterbrechen.
Oder war ES nur der Stein, der Jahrtausende gebraucht hatte, um hier auf der Insel Irgendwo, im Wasser, einem Fuß das Gefühl zu geben, der Geist zu dem Bein sei existent? Welche Verwirrung hat hier die Macht? Er, dieser uralte Stein, dieser scheinbar Erinnerungslose, lag genau vor den Füßen, er half, die Lächerlichkeit einer kurzen Existenz zu relativieren. Gedanken sind wie Steine! Sehen Sie das auch so, Doktor? Nein, sagen Sie jetzt nichts!
Yvonne geht auf und ab, immer fünf Schritte, den Blick auf den Boden gerichtet. Die fünfzehn Minuten Verspätung wurden jetzt durch Überziehen der Therapiestunde „wettgemacht“.
Ich wurde geboren und bekam gleich Lebenslang! Wieder dieses Lächeln, es kam von ihr, Sie wissen schon. Was ist ein Leben lang?
„Wieso phantasierst du so viel?“, fragte sie dann, immer noch auf den glitzernden Wellen, den Spiegeln, so verführerisch und einsam. Wusste wieder nicht, wer da durch wen dachte. Der Sand war nicht mehr heiß in der Abendkühle, er rieselte so schön durch das Gehirn. Ein neuronal gewundener Zufluss fütterte das Gedankenmeer in meinem schwammigen Gehirn. Sand, Steine, Wasser und die Verzweiflung, die Angst der Einsamkeit, die Neugierde, die Ungeduld, die Verwirrung und noch eine Muschel. Heute ist sie wahrscheinlich auch schon Sand, die Muschel. Eine Metamorphose hin zum Kleinsten, oder zum Größten. Jetzt lacht sie wieder!
Alleine, doch nicht mehr einsam, im Wandel der Vergänglichkeit, ja, so ist das Gefühl. Im Rückblick wie eine romantischkitschige Situation, aber – ES war so anders – oder doch nicht? So war der Anfang, damals am Strand von IRGENDWO. Diese Insel wurde nie entdeckt, obwohl jeder sie kannte. Sie war da, wir alle waren da, alle, die sie suchten. Aber es war nicht immer so – oder doch? Waren Sie schon auf IRGENDWO, Doktor?
Ich weiß, ich muss jetzt nichts sagen – oder? Yvonne antwortete mit einem Lächeln der Zustimmung.
Immer diese Wühlerei in erinnerten oder nicht erinnerten Schatten, diesen belastenden, diesen wertvollen, das Baden in dieser Liebe, in diesem Hass, gegenüber einem Körper, einem Stein in mir – sie alle müssen getragen werden – das wollten Sie doch sagen, Doktor. Ich soll doch endlich loslassen, mein Selbst entdecken und lieben lernen, ach Doktor, immer diese therapeutischen Phrasen – glauben Sie daran? Ich weiß, ich weiß, ich will schon wieder die Rollen tauschen. Gut: Ich werde sie alle tragen und fallen lassen, diese beschissenen Steine – gut, oder? Hatte da gerade etwas in mir „ICH“ gesagt? Wie lange schon? Wie kann das sein, dass wenn ein scheinbar gedachtes ICH von einem anderen ICH, das vielleicht auch nur gedacht ist, gefragt wird über das ICH, welches gerade fragte? Irgendwer war es jedenfalls auf der Insel IRGENDWO. Denken Sie darüber nach, Doktor – für heute mache ich Schluss!
Gut Yvonne, wir sehen einander wieder am Trasimenosee – Entschuldigung, in der Praxis, wollte ich sagen.
Trasimeno? Gefällt mir – tschüss!
Yvonne erinnert mich immer wieder an meine Zeit als Therapeut in der Psychiatrie. Da gab es Patienten, welche die Fähigkeit verlernt hatten, ihre Gefühle zu kontrollieren, sie fühlten sich verfolgt oder hatten Wahnvorstellungen, litten unter Zwangsvorstellungen oder hatten das Gefühl, sich aufzulösen, hielten sich für Jesus oder Cäsar. Andererseits gab es in dieser Klinik auch Menschen, die keine Patienten waren, aber ähnliche Verhaltensweisen an den Tag legten. Der Spiegelungseffekt! Manche hielten sich für die Größten und Besten, andere verhielten sich still und klein wie eine Laus. Manche wurden von einem Machtgefühl beherrscht, stellten die Fütterung ihres Egos über das Gemeinsame. Andere wieder waren extrem gestresst und unruhig, gaben sich der Fresssucht hin oder nahmen zu viele Drogen, um den Alltag bewältigen zu können. Diese Menschen gibt es überall, nicht nur in einer psychiatrischen Klinik. Davon leben wir Psychotherapeuten, manche besser, manche schlechter. Ich begegne zu oft Menschen, die sich wichtigtuerisch, rücksichtslos, gleichgültig, berechnend, verantwortungslos, narzisstisch und selbstzerstörerisch verhalten, manches Mal endet das in der Bereitschaft zur Gewalttätigkeit. Erstaunlich für mich ist, dass sich nur sehr wenige Menschen über ihre gestörte Gefühls- und Handlungssituation im Klaren sind, das ist das Dilemma. Diese Beziehungsstörungen, im Frühstadium der Kindheit als Primärprozess bezeichnet, erzeugen im sozialen Miteinander starke Irritationen, zum Leidwesen vieler Mitmenschen – im Extremfall bis hin zu Fremd- und Selbsttötungsfantasien, denen viel zu oft reale Handlungen in Form von Gewalt folgen. Yvonne ist trotz ihrer komplexen „Problematik“ ein Mensch mit hohem Reflexionsvermögen. Durch sie lerne ich vieles, auch über mich. Begegnungen entstehen durch Resonanzen, nicht durch Zufälle.
„Wer stirbt, bevor er stirbt, der stirbt nicht, wenn er stirbt!“ Dieser Satz, ich glaube, er ist von Jon Kabat-Zinn, durchzieht immer wieder meine Gedanken. Ähnlich geht es mir mit dem Spruch von Einstein: „Ich muss bereit sein, das aufzugeben, was ich bin, um zu dem zu werden, was ich sein kann.“ Vom ICH zum SELBST, wäre meine Interpretation. Das wird in den nächsten Tagen für meine Freunde und mich eine Art Leitmotiv werden. Und noch eine Aussage beschäftigt mich: „Ich denke, also bin ich“, hatte Descartes einmal behauptet – also, ich bin mir da nicht mehr so sicher. Aus der Erkenntnis, dass ich behaupten kann „ich denke“, folgt nicht bedingungslos, dass es ein ICH gibt, das denkt. Es gibt viele Zustandsbeschreibungen, die mit einem ICH-Gefühl verbunden sind: ich denke, ich fühle, ich handle, ich stelle mir vor usw.; doch herauszufinden, wer oder was oder wo dieses ICH denn ist, das sich mit dem Denken, Fühlen, Handeln, Vorstellen verbindet, ist ein schwieriges Unterfangen. Meine Nachforschungen über die eigene Existenz, über mein ICH, eröffnen mir unterschiedliche Einsichten über meine „inneren Bilder“, wie ich meine Gedankenmuster, meine neuronalen Verschaltungen nennen will. Wer ich wirklich bin, wer weiß das schon? Kann das überhaupt gewusst werden? Die üblichen Identifizierungskriterien, wie Alter, Bildung, Beruf, Aussehen, Familienstand, Hobbys, soziales Umfeld, Wohnverhältnisse, reichen nicht aus, sind nur begrifflich-funktionale Beschreibungen, beziehen sich auf die materielle Welt und geben höchstens Auskunft darüber, was mein EGO mir vorgibt zu sein, sind aber keine Aussagen darüber, WER ich bin – ein kleiner, aber wichtiger Unterschied. Um wirklich sagen zu können, wer ich bin, muss auch ich noch tief in die menschliche Existenz, in die unbewusste Bewusstheit, bis zum Wahren SELBST vordringen. Vielleicht entdecke ich meine wahre Identität, und vielleicht, wer weiß, entdecke ich etwas Interessantes, mir bislang Unbekanntes. Nur so viel: Ich bin Sechsundfünfzig Jahre alt, Psychoanalytiker, lebe in Wien, bin ledig und „krank“, wenn man ein negatives Zellwachstum im Gehirn als Krankheit bezeichnen will. Bei meiner letzten Computertomografie wurde die Diagnose Gehirntumor nahe am Hypothalamus gestellt; Restlebensdauer vielleicht ein halbes Jahr. Durch eine Operation im oberen Risikobereich ist eine dauerhafte emotionale und kognitive Störung, die eine erhebliche Beeinträchtigung der Lebensqualität nach sich zieht, sehr wahrscheinlich. Ich entschied mich gegen eine Operation. Meine erste Überlegung war, mein Leben vorzeitig zu beenden, um Leiden und Schmerzen zu entgehen. Die Frage ist jetzt: Was mache ich aus der mir noch verbleibenden Lebenszeit, wie lange sie auch immer noch sein wird? Wie reagiere ich auf die Erwartung eines vorzeitigen Endes – gewollt oder nicht gewollt? Welches Ende ist tatsächlich gemeint? Das rein physische? Lebt die Seele weiter? In welchem Zwischenstadium befinde ich mich? Welches SEIN wird beendet? Welches beginnt? Ist mir die Tragweite, die Konsequenz meiner suizidalen Gedanken tatsächlich bewusst? Was bedeutet Bewusstsein wirklich? Fragen über Fragen – ich brauche Antworten. Jetzt bin ich der Betroffene, es sind nicht nur meine Patienten, von denen so manche durch schwere Krankheit ihr nahes Ableben zum Thema machten. Wie habe ich diese Menschen begleitet, wie haben sie entschieden, was wollten sie noch tun? Was empfindet ein Mensch im tiefsten Bewusstsein seines unausweichlichen Ablebens? Ich breche auf, gehe auf Entdeckungsreise, den Weg der inneren Bilder, hin zu der „wahren Erkenntnis“ von Ereignissen. Welche Gedanken werden von nun an den Tagesablauf beherrschen? Neue Fragen suchen nach neuen Antworten!
Noch schnell eine Reise um die Welt? Dem Leid noch ein wenig trotzen? Abwehr von negativen Emotionen? Welche Wünsche wurden ein Leben lang unterdrückt? In ihrem Schmerz wächst in vielen Menschen die Bereitschaft, endlich in jene Räume zu blicken, in denen Verdrängtes, Verschüttetes lagert. Nicht die Reise um die Welt, sondern Klärung von angespannten Beziehungen stehen da im Vordergrund. Diese Erkenntnis erfordert schon ein gewisses Reflexionsniveau, wäre aber eines der wichtigsten Erkenntnisse. Ein schwieriger Schritt - und gleichzeitig einer der erlösendsten vor dem Tod ist die Fähigkeit, Menschen zu verzeihen. Niemand sollte konfliktbeladen diese Welt verlassen. Beziehungsstörungen im frühen Kindesalter sind die häufigste Ursache für eine Selbsttötung – behaupte ich mal. Ganz tief erlebte Abwertungen und Kränkungen werden da durchs Leben getragen, bis die Last zu groß, das Trauma nicht mehr bearbeitbar scheint. Manche dieser Fliehenden wollen dennoch endlich das erleben, was sie bislang kaum zu denken wagten: „Ich möchte endlich m e i n Leben erleben dürfen, nicht das Leben, das von mir erwartet wurde“, hörte ich einmal von einer Patientin. Wenn der Tod in spürbare Nähe rückt, „wissen“ die meisten Menschen, was sie „versäumt“ haben. Wenn das dominante EGO die SELBST-Verwirklichung verweigert, bleibt oft nur die Verzweiflung, begleitet von einem Gefühl der inneren Leere, eines trostlosen unerfüllt Seins. Doch keine Krise ohne Chance; erträumte Lebensentwürfe erobern sich manchmal doch noch den notwendigen Freiraum. Der Alltag darf weichen, verliert an Bedeutung. Manche Menschen finden angesichts ihres Ablebens doch noch einen Sinn, eine „letzte“ Erkenntnis, spüren eine Art Befreiung von der „Last des Lebens“. Manchmal sogar wurde durch diese Sinnfindung, durch die Hinwendung zum SELBST ein Heilungsprozess ausgelöst. Dazu führten das Loslassen der Alltagsbelastung, neue Selbsterkenntnis und aufrichtige Vergebung jenen Menschen gegenüber, durch die tiefe Kränkungen oder Gewalt und Leid erfahren wurde. Ein „neues Leben“ darf da entdeckt werden, ein Erwachen des spirituellen Bewusstseins, wie man verkürzt diese Geburt des Wahren SELBST umschreiben könnte. Der Selbstheilungsprozess kann nur gelingen, wenn alte Muster, alte Glaubenssätze, alte ICH-Konstruktionen über Bord geworfen werden. Die Suche nach dem Wahren SELBST ist ein atemberaubender Prozess, der immer schon mein Thema war – und ich behaupte sogar: es ist ein Thema der Menschheit auf ihrem Weg zur Menschwerdung.
Trotzdem, ja, es gab Menschen, die verspürten Erleichterung bei dem Gedanken an ihren Tod, da hörte ich Sätze wie „Ich habe keine Verantwortung mehr, nichts hat mehr Bedeutung, ich bin endlich frei von meiner Lebenslast“, was immer diese Last gewesen sein mag. „Ich habe nichts mehr zu verlieren, außer einem belastenden, krankhaften, schmerzhaften Leben.“ Merken Sie die Betonung auf dem ICH? Welches „ICH“ ist da wohl gemeint? Ist es das Körper-ICH, das Gefühl, einen Körper zu besitzen, oder das ICH, das meine Verortung als Bewusst-SEIN erfährt, wonach sich mein Körper an einen bestimmten Ort befindet, oder das perspektivische ICH, verbunden mit dem Gefühl, der Mittelpunkt des Kosmos zu sein, oder das Erlebnis-ICH, welches das Gefühl erzeugt, Dinge und Erlebnisse als eigene Wahrnehmung, Ideen, Begegnungen in Anspruch zu nehmen, oder das Urheber- und Kontroll-ICH, welches mir rückmeldet, dass ich der Verursacher meiner Gedanken und Handlungen bin, oder das autobiografische ICH, mit der Überzeugung, dass ich die Person bin, die ich gestern war und die ich morgen sein werde, oder das selbst-reflexive ICH, mit der Fähigkeit, über sich als Person nachzudenken, oder das gewissenhafte ICH, das meine Handlungen als gut oder schlecht bewertet? All diese ICH-Anteile bestimmen mein Bewusst-SEIN, sie zeigen auch auf, dass es dieses eine ICH so nicht gibt. Wer aber konstruiert dann dieses ICH, mein EGO? Eine interessante Frage, auf die wir noch zurückkommen werden. Es ist schon bemerkenswert, wie diese Nähe zum Tod Gedanken verändert, anders empfinden lässt, wie sich Wertigkeiten verschieben, wie scheinbare Wichtigkeiten zur erlösenden Banalität herabsinken, wie wertvolle Erkenntnis an Boden gewinnt. „Mache das, was du noch nie getan hast, aber immer schon tun wolltest“, sagte mir mein Analytiker, „dann erkennst du, was noch offen ist, was deine wahren Bedürfnisse sind in deinem Leben!“ Ich erlebte, dass Menschen nur durch diesen Satz wieder Hoffnung verspürten, ihren Mut für einen Wendepunkt aktivierten, den Sinn ihres Lebens entdeckten – ja, sogar Heilungsprozesse wurden dadurch eingeleitet. „Spontanheilung“, sagen dann die Schulmediziner.
Es gab auch Momente, da erahnte ich intuitiv, was in suizidgefährdeten Menschen, vorging, was es für sie bedeutet, ihren Todeszeitpunkt selbst zu bestimmen, was es bedeutet, sich tatsächlich mit dem Sterben, mit dem Tod, mit dem physischen Ende zu konfrontieren, dem inneren „Gott“ die Macht zu erteilen, den Körper gehen zu lassen.
Meiner Meinung nach liegen die Ursachen für suizidale Gedanken, neben unheilbaren schweren Krankheiten, auch im Scheitern der psychischen Bewältigungsstrategien gegen die Lebensangst und ihre Auswüchse wie: Erfolgssucht, Geltungssucht, Vergnügungssucht, Karrieresucht. Die Angstbewältigung schafft sogar Strategien, die Magersucht, Esssucht, Drogen- und Medikamentenmissbrauch hervorrufen. Sie alle sind Stressreaktionen, die in unserem Gehirn durch neuronale Verschaltungen erzeugt werden. Wenn Körper und Seele alle Kompensationsmöglichkeiten ausgeschöpft haben, bleiben oft nur mehr schwere Krankheit und Tod. Ohne Hilfe wird das Gefühl der Verzweiflung und Ausweglosigkeit in vielen Fällen extrem verstärkt und mündet häufig im suizidalen „Ausweg“.
Aber was wird durch den physischen Tod tatsächlich beendet, und was bleibt am Leben? Was ist mit der Seele, mit der „göttlichen Schöpfungskraft“? Manchmal wird erst durch Nahtoderfahrungen das unendliche Leben der Seele erfahren, wie Menschen, die von der „Schwelle“ zurückgekehrt sind, sehr glaubhaft berichten.
Aber jetzt, jetzt bin ich an der Reihe, jetzt gibt es keine rettende Distanz mehr, gibt es scheinbar keinen Wendepunkt. Jetzt ist der nahende Tod nicht mehr das Problem meiner Patientinnen, jetzt ist er auch meines. Was bedeutet diese erschreckende Erkenntnis für mich? Was macht dieses „Wissen“ mit mir, wie werde ich reagieren, was werde ich noch tun, was will ich noch tun, was habe ich noch nie getan, was kann ich noch tun, was macht eigentlich noch Sinn in einer scheinbar ausweglosen Situation? In der Frage liegt die Antwort – ist es so? Welche Ängste kommen da in mir hoch? Wenn die Angst den Raum erobert, hat die Liebe verloren. Wo ist die Liebe, die nicht gelebte, die nicht erlebte, die verlorene? „Wer sich selbst erhöht, wird erniedrigt werden“, hat Jesus von Nazareth gesagt. Habe ich mich erhöht? Wo war meine Demut? War ich zur wahrhaftigen Selbstliebe überhaupt fähig? Mein SELBST wirklich lieben – konnte ich das jemals? Wie konnte ich Unbekanntes lieben? Viele dieser Fragen beschäftigten mich in den letzten Tagen, panikartige Zustände mit unterschiedlicher Intensität raubten mir den Schlaf. Die Antidepressiva, welche ich seit Monaten konsumiere, haben anscheinend ihre Wirkung verloren oder auch nie wirklich gehabt. Der hilflose Helfer in mir sucht im kreativen Abfall des Halbschlafes nach Lösungen. Wie gut oder wie unzureichend habe ich meine Probleme bearbeitet? Ich habe das Gefühl, in einem Chaos der Gefühle zu versinken. Wenn die Kompensationsmöglichkeiten des Körpers keine Energie mehr für die Bewältigung des Ungleichgewichtes entwickeln können, dann wuchern die Symptome, dann schreit der Körper auf. Die Ignoranz gegenüber meinen Bedürfnissen hat offensichtlich im Laufe der Jahre pathologische Züge angenommen, die Tumorzellen entwickeln sich. Die Psychosomatik, eines meiner Lieblingsthemen, fällt mir jetzt auf den Kopf, was für eine Ironie. Wieso erst jetzt, es ist zu spät – nein, es ist noch nicht zu spät: Es gibt immer eine Lösung. Ich möchte diese abgegriffenen Suggestionen lieber vermeiden. Der Tod kann sehr wohl eine Alternative sein, es kommt doch nur auf die Perspektive an. Aber als Lösung?
Die Arbeit mit Menschen in emotionalen Extremsituationen hatte immer schon Begeisterung in mir geweckt. So, jetzt bin ich in dieser Extremsituation. Es ist die Ungewissheit in Erwartung eines Ereignisses, das absolut nicht vorhersehbar ist, diese Ungewissheit hat auch ihren Reiz. Was ist kurz vor dem Sterben noch möglich? Gedanken der Erleichterung? Alles oder Nichts? Es gibt keine Vergangenheit, keine Zukunft, es gibt nur noch das JETZT, ohne Risiko. Der gedankliche Zeitbegriff ist das Konstrukt eines illusionären „ICH“, stelle ich mal so in den Raum. Es gibt nur mehr das Handeln im JETZT – nur dieses Denken ist der Ankerwurf in ein sinnvolles Restleben. Die Befreiung von belastenden Geistesblitzen, durch tiefe Meditation. Ja, die Buddhisten, weise Menschen, sie haben anscheinend ihr Chaos im Gehirn hin zur stillen Ordnung geleitet. Meine intensive Auseinandersetzung mit der Neurologie, mit der Hirnforschung, mit der Philosophie, seit kurzer Zeit mit neurophilosophischen Grundlagen unseres Bewusstseins, auch mit der Spiritualität, sind anstrengend aber auch sehr bereichernd. Ich wollte einfach alles wissen. Nur Weisheit auf der Basis von Wissen und Erkenntnis befreit. Nur – mein Problem ist: Ich bin nicht Gott! Gott ist in dir, hört man immer wieder. Spirituelle Erfahrungen brauchen Zeit. Wo ist die Zeit, ich brauche mehr Zeit. Zeit wird zu einem Begriff ohne Dauer, ich schaue auf meine Uhr, ich brauche keine Uhr, ich brauche Zeit. Da gibt es aber noch das andere Problem, man könnte auch sagen: ein Zwischenmenschliches. Hätte mir jemand vor einem Jahr gesagt, dass ich mich mit sieben anderen verzweifelten, vielleicht auch suizidgefährdeten Menschen im Herzen Italiens treffen werde, um gemeinsam auf die Suche zu gehen, auf die Suche nach Wahrheit – ich hätte ihm oder ihr einen Termin in meiner Psychotherapiepraxis angeboten. „Viel zu riskant, nein, verrückt“, hätte ich gesagt und dankend abgelehnt.
Ach ja, ich bin Diogenes, so nennen mich viele Menschen, welche glauben, mich ein wenig näher zu kennen. Mein Beschluss: Bevor mein Körper diese Welt verlässt, werde ich noch ein „letztes Experiment“ wagen und habe mir dazu folgendes Szenario ausgedacht: Ich möchte mit Menschen, welche in einer ähnlichen, scheinbar ausweglosen Situation sind, mit Menschen, die aufgrund ihrer Verbitterung zeitweise Selbsttötungsgedanken haben, aus welchen Gründen auch immer, mit diesen Menschen will ich mich auf eine Forschungsreise nach der Wahrheit begeben.
Was ist Wahrheit, was ist Wirklichkeit und was ist Illusion im Leben? Wenn wir die Wahrheit über die Wirklichkeit entdecken, haben wir den SINN des Lebens gefunden, eine meiner Arbeitshypothesen. Sind unsere Belastungen, unsere Wünsche und unser Dasein nur Imaginationen? Zentrale Fragen für eine sinnvolle Existenz. Die Klärung dieser Fragen wird ein letzter Versuch, die Höhen und Tiefen unserer Existenz erkenntnisreich zu erobern. Dieses Projekt sollte sich an diesem ruhigen, abgeschlossenen Ort in Italien entwickeln. Passignano sul Trasimeno ist eine italienische Kleinstadt in der Provinz Perugia in Umbrien. Ja, dort werden wir einander treffen.
Work in Progress, hört man heute oft in der Kunstszene, als Kunstinteressierter ist dieser Begriff für mich stimmig. Stimmig deshalb, weil es um einen Prozess geht, dessen Ausgang ungewiss ist. Zwei „Fixstarter“ habe ich schon: Letta und Traunstein, ich kenne die beiden aus früheren Zeiten. Sie wollen, nachdem ich ihnen von meinem Vorhaben erzählt habe, tatsächlich mitmachen. Yvonne, meine „schizophrene“ Patientin, war nach anfänglichen Zweifeln dann doch auch begeistert von dieser Idee, obwohl ich nicht genau sagen kann, welcher Persönlichkeitsanteil da zugestimmt hat. Wir sind dann zusammen mit den anderen Interessenten und Interessentinnen, auf die ich noch zu sprechen komme, in Summe genau acht Wesen in Menschengestalt, die aufgrund einer scheinbar ausweglosen Situation noch eine „letzte“ Entdeckungsreise machen wollen. Warum gerade acht? Ich wusste es zu diesem Zeitpunkt noch nicht, erst später erfuhr ich, dass die Zahl Acht in der Mythologie als Todeszahl bezeichnet wird, aber das nur am Rande.
Vor einiger Zeit habe ich - es gibt keine Zufälle - in Italien einen „alten Bauernhof“ gekauft, gedacht als Ort der Erholung und für Seminare, später vielleicht als Altersruhesitz. Passignano, ich habe es schon erwähnt, scheint mir ideal für unsere Zwecke. Abgeschieden gelegen, viele Zimmer, Arbeitsräume, alle renoviert, ein großer Olivenhain mit Blick auf den See, eigentlich ein Ort, um das Leben in vollen Zügen zu genießen. Wobei natürlich zu definieren wäre, was Genuss in welchem Kontext für welche Menschen bedeutet. Zugegeben, eine interessante Frage – scheint mir aber nicht wirklich objektivierbar zu sein.
Ich fuhr also, sehr angespannt, mit der Bahn nach Passignano, fast immer im Gedanken an die Menschen, denen ich dort begegnen werde. Was ist wirklich noch zu tun? Bin ich verrückt? Da treffe ich suizidgefährdete Menschen – mich eingeschlossen – was soll das werden? Was können ich und mein Gehirntumor denn da noch anbieten? Das erste Mal in meinem Leben spürte ich so etwas wie Angst, eine nicht definierbare Angst, oder war es der Druck der Verantwortung, die Angst vor den Erwartungen der „Hoffnungslosen“?
Natürlich werden sie Erwartungen an dich haben , meldet sich die innere Stimme bei Diogenes, sie werden sich auf dich konzentrieren, sie werden über dich herfallen. Sie wollen sich töten, sie werden dich vielleicht auch töten, sie brauchen einen Sündenbock für ihr Leid. Da kann vieles passieren. Darüber werden wir noch des Öfteren reden!
Wer war das? Meine Gedankenwelt wurde immer verwirrter, verschwommener, verängstigter. Diese inneren Stimmen! Wer war es wirklich, der mich zu diesem Schritt bewegte? Diese Spannung, sie ist fast unbeschreiblich, ich hatte noch nie so ein „Hochgefühl“, ein Gefühl wie: Da passiert noch was Neues, was noch nie Dagewesenes, so wie eine Nahtoderfahrung, hin zum Tod und wieder retour, es ist vielleicht wie eine Entdeckung im schwarzen Loch des Kosmos, dort, wo alles im Licht erscheint. Eine Entdeckung im unbewussten Meer der Informationen, würden die Tiefenpsychologen sagen. Der Forscher, der Entdecker in mir, war immer schon meine Antriebskraft. Das für mich Neue, das scheinbar Unmögliche, jagten anscheinend jede Menge Neurotransmitter durch mein Gehirn, die mich beflügelten – aber nur kurz, dann kam wieder das Gefühl der Angst. Diese Wechselbeziehung wurde ab diesem Zeitpunkt zu meinem ständigen Begleiter. Als Erster wird wahrscheinlich Traunstein, mein alter Freund, Künstler und seit Ewigkeiten mein Weggefährte, in Passignano eintreffen. Er ist seit zehn Jahren „suizidal“ unterwegs, ein scheinbar hoffnungsloses „Opfer“ seiner Fehlversuche.
„Scheitern ist meine Lebensphilosophie“, sagte er oft. „Ab der Geburt“, sagte er philosophierend, „beginnt der Todeskampf, und bis es dann so weit ist, müssen wir leiden und scheitern. Das Leben ist eine Krankheit, die tödlich endet, Diogenes, das sagte Karl Kraus – er hatte Recht.“ „Ja, der Karl Kraus war es – stimmt!“, erwiderte ich so nebenbei, um meiner Belesenheit einen narzisstischen Ausdruck zu verleihen. Traunstein bekräftigte meine Erfahrungen mit vielen Patientinnen: Erst aus der Tiefe von schmerzhaften Erlebnissen entsteht die Kraft und Motivation Neues zu wagen, sich auf Grenzerfahrungen einzulassen, dem Undenkbaren und somit neuen Handlungsspielräumen eine Chance zu geben. Über Traunstein könnte ich Bände schreiben, er ist einer der interessantesten Menschen, die ich kennen lernen durfte.
Dann wäre da noch Anna, von Beruf Neurobiologin. Warum gerade Anna sich mit suizidalen Gedanken ihr Leben schwer machte, war für mich anfangs weniger, später dann doch nachvollziehbar. Anna erlebte beruflich eine schwere Enttäuschung und stürzte, verbunden mit Schuldgefühlen aus sehr frühen Zeiten, in eine entsprechend verzweifelte Lage. Die Ursache ihrer Schuldgefühle lag aber, wie gesagt, woanders begraben, darüber werde ich noch berichten. Was mich an Anna interessierte – deshalb bat ich sie, bei diesem Projekt mitzumachen –, war ihr Auftreten bei unserer ersten Begegnung. Da war so etwas wunderschön Unnahbares und Tiefgründiges in ihr, vielleicht war es auch ihre Attraktivität, diesbezüglich hatte ich aber keine Ambitionen. Die Gespräche mit ihr waren hochinteressant, voll Tiefgang und sehr erkenntnisreich, gleichzeitig spürte ich eine Herzlichkeit, eine angenehme Berührung, so als kannten wir uns schon sehr lange Zeit. Es sind diese Resonanzen, wir kennen das alle, diese Schwingungen, diese Deckungsgleichheit, diese harmonisierenden Energien. Ich spürte trotz ihrer Verzweiflung einen starken Lebenswillen, diese Frau, so dachte ich, will sich nicht wirklich umbringen, und ich hoffte, mich diesbezüglich nicht zu täuschen. Wir sprachen über mein Lieblingsobjekt, das Gehirn, damit verbunden über das Bewusstsein, das ICH und unsere Wahrnehmungsfähigkeit. Was sagen die Neurowissenschaftler dazu? Wie weit ist die Erforschung des Bewusstseins?
Anna hat meine indirekte Einladung, ein Gespräch auf einer Sachebene zu führen, angenommen, dadurch konnte sie sich ein wenig entspannen, ich spürte förmlich, wie ihre positive Energie zu schwingen begann. Zum Thema der Wahrnehmung meinte sie: „Wenn wir Ereignisse oder Dinge im Außen wahrnehmen, dann beginnen Millionen Nervenzellen im Gehirn, Energie zu erzeugen – sie feuern, sagen wir Neurobiologinnen. Das Interessante daran ist aber dieses rhythmische neuronale Muster, es bildet so eine Art Neuronenwolke im Gehirn. Du musst dir das so vorstellen: Es entsteht ein Netzwerk aus Neuronen, die einen Gegenstand, wie ein Buch zum Beispiel, dass jemand gerade liest, auf den unterschiedlichsten Wahrnehmungsebenen identifiziert, mit allen Sinneseindrücken wie Tasten, Begreifen, du verstehst, alles zu einem bestimmten Moment. Da arbeiten die unterschiedlichsten Bewusstseinsanteile zusammen – aber: Was und wo ist es wirklich, das Bewusstsein?“
Wenn ich Anna richtig interpretiere, dann könnte man das Bewusstsein als eine dynamische Eigenschaft des Gehirns bezeichnen. Sie sagte auch, es entwickelt sich im Gehirn über viele Organisationsstufen in einer Art Selbstorganisation, ein hochkomplexer Prozess, der ständig versucht, die Balance zwischen den Teilen und dem Ganzen zu erreichen. Ein Puzzlespiel, Millionen von neuronalen Bildern und „Karten“ konstruieren eine Wirklichkeit. Was mich dabei besonders fasziniert, ist die Erkenntnis des Beobachters eines Denk- oder Wahrnehmungsprozesses, eine Art erweitertes Bewusstsein. Da gibt es scheinbar eine weitere Instanz, welche uns beim Denken beobachten kann, eine weitere beobachtende Einheit, eine Art unendliche Bewusstheit. Das wollte ich noch erforschen. Wer oder was ist diese unendliche Bewusstheit, welche diese Beobachterposition erzeugt? Hinzu kam noch die Entdeckung meiner Spiritualität. Ich bin nicht nur aus Fleisch und Blut, nicht neu, diese Erkenntnis, für mich aber doch irgendwie ein zu wenig erforschter Zugang. Zu diesem Zeitpunkt wusste ich noch nicht, was da alles auf mich zukommt – welche Grenzen der Erkenntnis ich überschreiten muss – ein erstaunlicher Bewusstseinsprozess hat sich da entwickelt. Die Esoteriker sprechen von einem „Höheren SELBST“ oder von einem „Seelenführer“, da ist etwas, das uns immer begleitet, uns schützend zur Seite steht. Woher kommen die inneren Stimmen? Gibt es ein spirituelles ICH? Welche Verbindungen gibt es da zu dem „großen unbekannten Geist oder „Gott“, zu der „Urquelle“ des Lebens? Die Neurowissenschaft wurde zusammen mit der Philosophie für mich ein Forschungsgebiet der besonderen Art.
Gerald Hüther, fällt mir ein, Professor für Neurobiologie, hat zum Thema Wahrnehmung Interessantes gesagt: „Was die wahren Propheten von den falschen unterscheidet, ist der Umstand, dass es ihnen im Lauf ihrer Entwicklung gelungen ist, all ihre Sinne, und zwar die zur Wahrnehmung von Veränderungen in ihrer äußeren Welt als auch zur Wahrnehmung dessen, was in ihnen geschieht, gleichzeitig zu schärfen, und dass sie die Fähigkeit entwickelt haben, all diese Sinne gleichzeitig und gleichwertig zu gebrauchen. Sie haben damit die höchste Stufe der Wahrnehmungsfähigkeit eines menschlichen Gehirns erreicht. Dorthin kann nur jemand gelangen, dem es im Lauf seines Lebens immer wieder gelungen ist, ein Gleichgewicht zwischen Gefühl und Verstand, zwischen Abhängigkeit und Autonomie sowie zwischen Offenheit und Abgrenzung zu finden.“ Dem kann ich nur zustimmen. Es geht um die Verschmelzung der inneren Bilder, die wir schon als Kind in uns aufgesogen haben, mit einer differenzierten Wahrnehmung der Ereignisse. Wie empfinden wir die Veränderungen in uns und um uns? Wie sehr sind wir fähig, unser EGO-ICH aufgrund neuer Erkenntnisse immer wieder infrage zu stellen? Diese Fähigkeit zeichnet uns Menschen aus. Wir haben diese geistigen Fähigkeiten, und gerade in einer schweren Krise, wenn das Leben scheinbar nicht mehr gelebt werden kann, gerade dann sollten wir diese Reflexionsfähigkeit nutzen. Auf diese neuronale und geistigspirituelle Entdeckungsreise möchte ich alle gerne einladen.
Aber zurück zur Begegnung mit Anna. Ein weiteres Thema unserer Unterhaltung: das Gedächtnis. Wie weit war da die Forschung? Mich persönlich interessierte dieses Thema aus unterschiedlichsten Zugängen, darüber werde ich noch sprechen. Anna hat mir da interessante Informationen geliefert: „In der Hirnforschung und der Neurobiologie werden zum Thema Gedächtnis und Gehirnleistung schon bedenkliche ¸Erfolge‘ erzielt. Zum Beispiel wird in Tierversuchen bereits die elektrische Stimulation des Hippocampus, er ist so eine Art Lese-Schreibkopf im Gehirn, aktiviert, um wie beim Lernen die Gedächtnisleistungen zu erhöhen – so weit, so gut. Aber jetzt kommt es: Das könnte die Basis für den Einsatz von Medikamenten sein, um inaktive oder wenig aktive Gedächtniszellen anzutreiben. Diese Entdeckung hat natürlich weitreichende Konsequenzen, nicht nur für das Verständnis der Gedächtnisbildung. Wir können in Zukunft nicht nur die Leistungsfähigkeit unseres Gehirns steigern, sondern – und das wird nicht mehr lange dauern – auch den Inhalt manipulieren, also Informationen abspeichern. Der Manipulation unseres Gehirns sind somit keine Grenzen mehr gesetzt, das macht mir wirklich Angst, Diogenes“, sagte Anna mit sehr besorgtem Blick. „Ähnliches wird bereits bei sehr tiefen Hirnstimulationen ausprobiert. Dabei gibt ein eingepflanzter Stimulator elektronische Impulse an das Gehirn des Patienten ab. Auf diese Weise können mit elektrischen Reizwellen neuronale Schaltkreise aktiviert werden, die sowohl das Verhalten des Patienten als auch deren Gedankenwelt beeinflussen. Und es geht noch weiter: In der Neurowissenschaft wird die Möglichkeit diskutiert, die geistige Leistungsfähigkeit mit Hilfe von Medikamenten zu steuern. Gut – bei der Demenz hätte das natürlich schon Sinn. Mir graut, Diogenes, der Weg zum Superhirn scheint somit geebnet zu sein. Die Frage ist: Wer hat dann Zugriff auf diese Hirnmanipulation? Welche Geschäfte werden dann damit gemacht? Eine Frage der Ethik.“
Anna hat Recht, irgendwie beängstigend, das wird noch spannend. Als Betroffener (Mein Tumor meldet sich wieder!), fragte ich Anna, wie weit die Gehirnforschung bei den biologischen Ursachen in Bezug auf Erkrankungen im Gehirn fortgeschritten ist. Was wissen wir von unserem komplexesten Organ und seinen funktionalen Abläufen wirklich?