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Ist die Apokalypse noch aufzuhalten? Diese Roman-Trilogie ist ein Erlebnis mit literarischen Kunstgriffen der besonderen ART. Jede Romanfigur präsentiert sich auch über eine individuelle Form (eigenes Schriftbild) und spannende Dialoge mit innovativem Erzählstil. Der Text ist ein Angebot an die grenzüberschreitende Fantasie der Leser/innen in andere Bewusstseinszustände einzutauchen. Ein Experiment, das auf einer neurophilosophischen, psychologischen und spirituellen Basis die alten metaphysischen Fragen nach dem ICH, dem SELBST, dem Bewusstsein, dem SEIN, dem „freien Willen“ und nach „Gott“ in einer neuen, zeitgemäßen und spannenden Perspektive darstellt. Ein Wechselspiel zwischen Realität und Illusion soll die Leser/innen anregen, über Wahrheit und Täuschung zu reflektieren. Der Autor erzählt von unterschiedlichen Begegnungen der Romanfiguren, von Bewusstem und Unbewusstem, von Leben und Tod, von Gewalt und Krieg, von Verzweiflung, Angst und Lebensüberdruss, von Liebe und Wertschätzung, auch in einem gesellschaftspolitischen Kontext. Ist die Menschheit noch zu retten? Wenn ja- wie?
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Seitenzahl: 397
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Prolog
Was bisher geschah
Einleitung
Projektraum – die Wende
Anna und Traunstein
Letta und Giorgio, Teil 3
Die Bootsfahrt
Tage der Besinnlichkeit
Diogenes – Reflexionen mit „Gott“
Auszug aus Schriften von Arno Grün
Wir nennen das, worin wir leben, stolz Zivilisation. Doch haben unsere Gesetze und Techniken ein Eigenleben entwickelt, das sich gegen unser seelisches und körperliches Überleben richtet. Die politischen Verhältnisse schwanken zwischen Konsolidierung bürokratischer Herrschaft und Ausbrüchen ohnmächtigen Zorns. Die Frage über das Menschsein geht deswegen weit über Auschwitz hinaus. Auschwitz war ein Mahnmal dessen, wozu Menschen im Stande sind und berechtigt zu der Frage, was denn ein Mensch überhaupt ist. Wie kommt es dazu, dass wirtschaftliche Zusammenbrüche, Rezessionen, Kriege, Zerstörung, Hass, Bruderstreit, Gewalttätigkeit, Drogenkonsum, Kriminalität, Verachtung Frauen und Kindern gegenüber, Verrohung und Grausamkeit überall zunehmen? Warum lernen wir nicht aus unserer eigenen Geschichte? Warum (werden wir) heute, in einer Zeit voller Informatik und wissenschaftlicher Erkenntnisse, wieder von unserer Vergangenheit eingeholt? Ist es möglich, dass unsere Denkweisen so festgefahren sind, dass die wahren Ursprünge unseres selbstzerstörerischen Tuns verdeckt bleiben? Wir leben in einer Welt, in der wir zunehmend voneinander abhängig sind, gleichzeitig uns aber vermehrt gegeneinander einsetzen. Warum also stellen sich Menschen gegen das, was sie miteinander verbindet, gegen das, was sie miteinander gemeinsam haben? Es ist schwierig, sich dieser Thematik zu nähern… Wenn wir nicht gegen die Preisgabe unserer authentischen Gefühle ankämpfen können, zu der wir von Kindheit an genötigt werden, dann wächst die Gefahr, dass das Menschsein unterliegt und wir unsere wahre Identität verlieren. Bei unserer Geburt tragen wir das Menschsein in uns. Was sich daraus entwickelt, ist aber häufig nur eine Attrappe, die zwar die Sprache des Menschseins nachahmt, das Herz des Menschen aber verraten hat. Dann geschieht das, was der englische Dichter Edward Young schon im 18. Jahrhundert beschrieben hat:
„Wir werden als Originale geboren, sterben aber als Kopien.”
Herzlichen Dank an alle Menschen, die mir bei der Umsetzung dieses Buchprojektes geholfen haben!
Insbesondere gilt dieser Dank meiner Frau Renate!
Peter Zimmermann
Im ersten Band treffen einander sieben Personen, Männer und Frauen, die verschiedene Berufe ausüben, an einem idyllischen See (Trasimeno) in Italien bei dem Psychoanalytiker Diogenes. Sie alle sind „Gescheiterte“ und mehr oder weniger entschlossen, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Zuvor aber planen sie noch ein gemeinsames Projekt: sie diskutieren die Fehlentwicklungen in unserer Welt und wollen herausfinden, welche Voraussetzungen müssen geschaffen werden, damit sinnvolles und gerechtes Miteinander wieder möglich wird. Letztlich stellte sich die Frage: Was haben die inneren Ich-Anteile (Angst, Einsamkeit, Verzweiflung, Wut, Schmerz, Enttäuschung, Begehren, …) der handelnden Figuren und deren Fantasien mit einer äußeren Realität, mit Krieg, mit Hunger, mit Ungerechtigkeit zu tun? Mila, die Ärztin war am Ende des ersten Bandes gerade dabei sich tödliche Spritzen zu setzten. Wird sie es tun…?
Alle 3 Minuten ein Suizidversuch.
Alle 47 Minuten eine Selbsttötung.
Folgende Erzählung beruht auf Ereignissen, welche mit der Wirklichkeit nicht übereinstimmen. Die Protagonisten/innen sind frei erdachte „reale“ Konstruktionen. Der Autor übernimmt keine Haftung für Irritationen oder Schäden, die beim Lesen der Lektüre entstehen. Ebenso übernimmt der Autor keine Haftung wenn Menschen nach dieser Trilogie Erkenntnis, Glück und Ausgeglichenheit erfahren!
Sehr geehrte Leserin, sehr geehrter Leser: Im folgenden Roman interagieren die Protagonisten/innen auf den unterschiedlichsten Kommunikationsebenen miteinander. Der künstlerische Ausdruck bekommt über Form und Inhalt eine Gestaltung, deshalb die unterschiedlichen Schrifttypen als Formensprache der Figuren, sie gehören zum Konzept dieses Romans.
Diese Schrifttypen möchte ich als Beispiel und Lesehilfe erläutern:
Alle Gedanken und inneren Dialoge der Protagonisten/innen werden KURSIV gestaltet; Fettgedruckte Wörter sind Kennzeichen von lauten bis schreienden Stimmen.
Die „
Innere Stimme
“ jeder Figur ist mit dieser Schrift erkennbar. Man könnte diese Stimme auch als die „höhere unendliche Bewusstheit“ oder das „höhere Selbst“ betrachten (Lucida Handwriting 9).
Allwissender Erzähler (Beobachter), seine Kommentare sind anhand dieses Schrifttyps erkennbar. Diese Kommentare sind wie „Regieanweisungen“ zwischen den Dialogen zu verstehen (Times New Roman 11).
Diogenes,
die zentrale Figur (Therapeut, Analytiker), führt die Leser/innen mit diesem Schrifttyp durch den Roman (Arial 10).
Giorgio,
der Schriftsteller, ist durch diese Schreibform erkennbar (Bookman Old Style 10).
Traunstein,
der Künstler, hat sich für diesen Schrifttyp entschieden (Gabriola 14).
Anna
ist Neurobiologin, ihr Kennzeichen ist diese Schrift (Jasmine UPC 16).
Letta
kommt aus der Politikwissenschaft und hat diesen Schrifttyp gewählt (GungsuhChe 10).
Yvonne,
die „doppelgleisige Finanzberaterin“, präsentiert sich in dieser Schrift (Century 10)
Mila,
die Medizinerin, wird man durch diese Schrift erkennen (Lucida Sans 9).
Rakovsky,
der „Kriegsheld“, ist so zu erkennen (Corbel 12).
Krankenschwester, sie ist durch diese Schrift zu erkennen (Batang 10)
Ja, so viel zu Form und Schriftarten. Jetzt viel Spannung und Spaß beim Lesen.
„Der Mensch ist nichts anderes als sein Entwurf; er existiert nur in dem Maße, als er sich entfaltet.“
Jean-Paul Sartre
Keine Zukunft, keine Vergangenheit, nur grenzenlose Bewusstheit! Da ist sie wieder, diese Stille, diese Vertrautheit, das Schaukeln, dieses wunderbare Leuchten, so weit, so nah. Nur beobachten, dieser herrliche Frieden, loslassen und vergeben, diese bedingungslose Liebe. Was geschieht mit mir? Wer bin ich? Wo bin ich? Kein Ich, nur Selbst! Kein Körper, kein Raum, keine Zeit, nichts Greifbares und doch alles so klar, Leere und Fülle, nur Wahrheit und schöpferische Weisheit, die Geburt der Wirklichkeit. Nur Ganzheit, kein Außen, ewiges Licht, Geschichten, die erzählen, Illusionen, die verschwinden, nur Stille und Bilder im Jetzt!
Bis auf Mila sind alle anwesend. Letta hat ihr Notebook aufgeklappt und liest ganz konzentriert einen Text. Träume und Abschied sind Themen, die Diogenes einbringen will. Es gibt keine Zufälle!
Wovon träumen wir? Von wem wollen wir uns verabschieden? Wo ist eigentlich Mila? Wollen wir auf Mila noch warten?
Ich schau mal, wo sie sein könnte, sagt Traunstein und geht auf die Suche.
Kurz darauf stürzt Traunstein nach Luft ringend in den Projektraum und schreit.
Mila – Mila, sie ist tot, schnell, bitte, kommt – ich…
Wie tot, fragt Anna.
Was heißt – wie tot? Anna, sie ist mausetot, sie liegt in ihrem Zimmer… auf, auf dem Bett,… lauter Blumen, und… sie rührt sich nicht mehr. Ich kann das gar nicht …, diesen Zettel hielt sie in der Hand, ein Abschiedsbrief – denke ich.
Traunstein ist sichtlich stark berührt, Tränen rinnen ihm über die Wangen – seine Hände zittern, er kniet nieder, reicht Diogenes den Zettel, der liest, schüttelt den Kopf, Totenstille im Raum, bleiche Gesichter, starre Blicke, eine lähmende Stimmung breitet sich aus.
………………………………………………………………………
Diogenes liest nochmals, schüttelt wieder den Kopf, Bleiche und Schweiß im Gesicht, er springt auf und läuft zur Tür hinaus, Anna und Letta sehen einander an, spontan folgen beide Diogenes.
Kurz darauf kommen alle drei zurück. Angespanntheit und fragende Blicke sind auf sie gerichtet. Diogenes schließt die Tür, lässt sich mit dem Rücken dagegen fallen und rutscht langsam zu Boden. Alles fokussiert seine Person. Ein „Sag, dass es nicht wahr ist“ steht im Raum.
Ja,… leider, es stimmt, Mila ist… sie ist… von uns gegangen, sagt Diogenes kaum hörbar, er atmet schwer. Letta setzt sich zu Diogenes, nimmt seine linke Hand in ihre beiden Hände.
Ich … entschuldigt … das ist … unfassbar … wie konnte ich nur? Gerade Mila? Ich verstehe das nicht! Wie eine philippinische Prinzessin liegt sie da,… ein Lächeln auf ihren Lippen… unbegreiflich. Zwei leere Spritzen liegen neben ihrem Bett. Es tut mir so leid, das ist … Schützend hält Diogenes die Hände vor sein tränennasses Gesicht. Letta umarmt ihn.
Wie konnte das passieren, gerade Mila, wieso ist mir das entgangen, das hätte ich doch merken müssen, wann war das Signal? Mach dir keine Vorwürfe, du weißt doch: Menschen sind hochkomplexe Wesen – die, wenn ihre Zeit gekommen ist, gehen ohne Vorwarnung, sie tun es einfach, sind vorher unauffällig, sie haben eine Entscheidung getroffen, aller Stress ist weg. Erinnerst du dich an das Gespräch mit Letta, als sich ihr Mann Stavros in seiner Zelle das Leben nahm?
Ja, ja, ich erinnere mich, aber Mila – die Vorgespräche mit ihr, sie waren so wertvoll. Sie war so spirituell, sie stand über den Dingen, so schien es mir, trotz ihres schweren Verlustes. Ich dachte … gerade sie wäre eine große Stütze … sie wirkte so weise, so entschlossen. Entschlossen? Oh Gott, ich Narr, sie wusste es damals schon, ihre Entscheidung war schon lange vor unserer Begegnung gefallen. Und gerade Mila wollte ich nicht verlieren, sie wäre für die Gruppe so wichtig gewesen. Und die anderen, sind die nicht auch wichtig, gehst du jetzt in die Bewertungsfalle, wen hättest du lieber „geopfert“? Du wusstest von Beginn an, dass du nicht alle durchbringen wirst, also geh wieder auf Distanz. Der Fokus ist jetzt auf dich gerichtet, sie werden einen Sündenbock suchen, das „Spiel“ beginnt erst jetzt so richtig, das wird kein Spaziergang. Jetzt – bitte - keine plakativen Belehrungen. Ich dachte, gerade diese Frustration, diese Lebensüberdrüssigkeit sei eine gemeinsame Basis, würde die Gruppe zusammenhalten - ja, sicher, eine ungewöhnliche Situation – aber, gerade Mila… das sollte sie doch nicht…
Jetzt verstehe ich, denkt Anna, was Mila meinte, als sie sagte: „Ich muss noch auf die Suche gehen“, das war der Hinweis, sie meinte, bei den Toten wird sie ihre Familie finden, ich Idiotin. Jetzt lade dir nicht schon wieder Schuldgefühle auf, das konntest du nicht verhindern, es ist nicht deine Schuld, das war kein Hilferuf. Mila wollte sterben, aus ihrer Sicht war auf dieser Welt für sie kein Platz mehr, gerade du solltest das verstehen. Ich verstehe gar nichts mehr.
Wieder diese Stille, wenn es die berühmte Stecknadel gäbe, dann …; Traunstein versorgt inzwischen Giorgio, Anna und Letta, die wieder ihren Platz eingenommen haben, mit Taschentüchern, Diogenes vergräbt sein Gesicht immer noch in seinen Händen, nur Rakovsky scheint gefasst und beobachtet die Trauernden. Er unterbricht die Schweigeminute, indem er Traunstein auffordert, Milas Brief vorzulesen.
Diogenes, lies du bitte – ich schaffe das jetzt nicht…
Ich soll…ja, der Brief… ja, gut, dann versuch ich es!
Ihr Lieben,
ich habe niemanden mehr, …von dem ich mich verabschieden kann, außer von Euch, hier an diesem schönen Ort. Ich muss gehen, …hin zu meinen Seelen, sie warten schon auf mich. Ich glaube, nur so kann ich Frieden finden, …es gibt für mich keinen anderen Weg. Verzeiht, der Schmerz ist zu groß, ich kann nicht vergessen, mein Leben wäre eine einzige …Qual und entsetzliches Leid, das will und kann ich nicht ertragen. Ich weiß nicht, ob Ihr mir folgen könnt. Ich kann Euch versichern, dass mir dieser Entschluss sehr große Erleichterung gebracht hat. Ich gehe in friedvoller Erwartung zu meiner Familie, wo immer das auch sein mag.
Danke, dass ich meine letzten Stunden mit Euch verbringen durfte, es war schön, vor meinem Abschied noch Menschen zu treffen.
Mila!
PS: Ich habe mir erlaubt, ein paar Blumen mitzunehmen – danke!
Da ist sie wieder, diese Stille.
Möchte jemand… etwas dazu…entschuldigt, sagt Diogenes sichtlich um Haltung bemüht, da ihm die Fragestellung unpassend erschien. Betroffene Blicke, suchende Blicke, ohnmächtige Blicke, Diogenes spürt den Druck, die Erwartung, ein „Sag doch was – erklär uns, wie konnte das passieren?“, ist atmosphärisch immer noch spürbar.
Ja, Diogenes,… wen das jetzt nicht…möchte ich schon, meldet sich Rakovsky etwas aufgeregt zu Wort. Es ist unglaublich, ja…jetzt ist es so weit, die erste Tote,… das wolltet ihr doch, oder? Deshalb sind wir ja hier. Mila – also, ehrlich gesagt, ihr hätte ich es am wenigsten zugetraut, …und dann…sie hat es uns vorgemacht.
Ja, Rakovsky, sagt Yvonne erregt, es war leider die Falsche.
Wie kannst du jetzt so reden, Yvonne, reagiert Anna ganz aufgebracht.
Sie hat mich gemeint, Anna, lass nur, sagt Rakovsky betroffen, ich weiß schon… Yvonne, du würdest mich gerne baumeln sehen. Woher kommen diese… was habe ich dir getan? Was? Ja, komm, sag es endlich… ja, komm schlag zu…na, was ist, fehlt dir der Mut? Yvonne, schau mich an, vor mir brauchst du keine Angst zu haben - wart ab, vielleicht bin ich bald der Nächste…aber vorher, liebe Yvonne, könnten wir beide doch noch etwas Spaß haben – oder?
Vergiss es – Wichser!
Okay, es reicht, Rakovsky, Yvonne, ein wenig mehr Respekt wäre schon angebracht, mischt sich Letta sehr aufgebracht in das Gespräch. Bitte, es reicht, jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, für eure Zankereien. Diogenes, was machen wir jetzt, bitte - was? Ich meine, wir müssen doch etwas tun, wir müssen doch…da unten liegt eine Leiche im Zimmer!
Beruhige dich, Letta, ich verstehe diese Anspannung, diese Situation ist für uns alle sehr belastend. Dass Mila diesen Schritt getan hat, kam für mich genauso überraschend wie für euch. Ich kann euch nur bitten, dass wir gemeinsam diese Situation verarbeiten. Ich sehe es, bei aller Tragik, auch als eine Herausforderung an uns alle. Bitte, geben wir uns noch etwas Zeit. Wir werden Mila mit großem Respekt die letzte Ehre erweisen, im Brief steht kein bestimmter Bestattungswunsch, also werden wir sie hier im Olivenhain bestatten.
Bestattungswunsch, Diogenes? Es geht doch nicht nur um die Bestattung! Mila ist tot, sie hat sich umgebracht, ich glaube, ich realisiere das noch nicht. Letta steigert ihre Emotionalität. Was läuft hier ab? Bestattung, und? Das war es dann? Ist Mila der Kollateralschaden eines missglückten Projektes?
Hör auf, Letta, rede nicht so einen Unsinn – wenn hier wer schuldig ist, dann bin ich das – ja, ich fühle mich schuldig, mischt sich Anna lautstark ein, - ich, ja, ich hätte es verhindern können. Ich habe ihre Signale nicht richtig gedeutet, es tut mir leid, ich hätte …
Anna, ich bitte dich, niemand ist schuld, niemand konnte es verhindern, es war ihre Entscheidung, das sollten wir respektieren, korrigiert Diogenes ungewohnt energisch. Du fühlst dich verantwortlich, deshalb deine emotionale Reaktion. Ja, ja, ja – ich habe Emotionen, stell dir vor!
Ich fühle mich nicht schuldig, murmelt Rakovsky im Flüsterton vor sich hin, gut, sie war in Ordnung, zu viel Mutter Teresa – aber schuldig? Respekt habe ich vor ihr, zieht das so einfach durch, sagt kein Wort und tut es. Wie viel Mut brauchte meine Mutter, als sie sich das Leben nahm? War es Mut oder Feigheit? Ich werde ihr folgen.
Rakovsky? Dein Gestammel kann hier niemand verstehen, es geht jetzt nicht um dich.
Ach Letta, war ja nur so für mich, bitte, komm wieder runter – es ist gut! Was kann ich jetzt noch tun? Das werde ich mich ja noch fragen dürfen. Soll ich das Grab schaufeln? Ich hätte da einen schönen Platz im Auge – hinten im Olivenhain, unter diesem schrägen, dicken alten Olivenbaum, er ist sicher schon an die zweihundert Jahre alt, der würde Mila gefallen, mit Blick auf den See.
Aller Augen sind jetzt auf Rakovsky gerichtet, Mitleid und Unverständnis wird signalisiert.
Was habe ich jetzt schon wieder Falsches gesagt, warum starrt ihr mich so an, ich will doch nur helfen. Ihr hasst mich, ja? Ist es das? Yvonne hat es schon angedeutet, euch wäre es lieber, wenn ich anstelle von Mila da unten läge, dann wäre euch dieser Blödmann nicht mehr im Weg, ihr müsstet euch nicht mehr seine Sprüche anhören, dann könntet ihr euch das Maul über ihn zerreißen.
Rakovsky kämpft mit seinen Emotionen, kann die Tränen nicht mehr verbergen, wischt sie mit einer verstohlenen Handbewegung von den Wangen.
Nur, das Ganze hat einen Haken, sagt Rakovsky und schnäuzt sich kräftig in ein Taschentuch, ich will noch nicht krepieren, vielleicht will ich der Letzte sein, vielleicht will ich für euch alle das Grab schaufeln, vielleicht so schön im Kreis, wie ein Mandala, ein Totenmandala, na, wie gefällt euch das?
Was rede ich da für einen Schwachsinn, das ist ja peinlich, ich winsle wie ein angeschossener Hund. Du zynischer Idiot, reiß dich zusammen, dein Selbstmitleid ist ja erbärmlich. Wozu, ich habe nichts mehr zu verlieren, die können mich doch alle mal.
Jetzt tut er mir leid, das war gemein vorhin, ich muss mich bei ihm entschuldigen, meine Wut kommt von ganz woanders. Schön, dass du reflektierst, dass er nur der Sündenbock ist. Ja, ich hab’s verstanden, okay?
He, Rakovsky, beginnt Yvonne in versöhnlichem Ton, sorry wegen vorhin, das war blöd von mir, ich war so geladen, niemand von uns will, dass du an Stelle von Mila – das ist Blödsinn, und es gibt auch keinen Schuldigen, es war Milas Entscheidung hierherzukommen. und auch ihre Entscheidung von uns zu gehen, ich respektiere das, und ich denke, das sollten wir alle tun. Vielleicht können wir wieder vernünftig weitermachen, mich ermüdet dieser Hickhack.
Danke, Yvonne, schon gut, mir tut das auch … ich meine … du weißt schon, ich bin ein Hitzkopf … nur so am Rande, einfach nur verrückt, sonst ist alles okay. Zu Mila noch, im Ernst, ich weiß auch nicht, aber was Mila da getan hat, ich kann mit dem Tod nicht mehr umgehen, ich darf ihm nicht mehr begegnen, da wird so viel …, ich will das nicht, ich halte das nicht mehr aus. Sie sind auch gegangen, ohne sich von mir zu verabschieden, fährt Rakovsky mit gesenktem Kopf leiser werdend, fort. Ich habe das nie, wirklich nie verstanden, der Krieg…die Qualen im Konzentrationslager haben ihre Seelen zerstört. Niemals sprachen sie nur ein Wort über diese schreckliche Zeit. Mein Vater brüllte in seinem Rausch immer nur, dass ich auf unser Land aufpassen soll, ich muss die mörderischen Nazis aufhalten, das darf nie wieder passieren, hat er gesagt, Jan, hat er gesagt, versprich mir, dass du dieses Land beschützen wirst, ja, das hat er gesagt, und dabei ganz bitterlich geweint … ich habe es ihm geschworen … deshalb bin ich Soldat geworden … deshalb war ich in Serbien und Afghanistan und habe diesen Kriegswahnsinn erlebt … wie meine Eltern … versteht ihr … diese Ironie? Sie sind ohne ein Wort von dieser Welt, von mir gegangen … haben mich kleines Würstchen zurückgelassen …, Rakovsky versucht seine Tränen zu unterdrücken, versteht ihr mich jetzt, … o Gott…deshalb bin ich hier, das ist doch alles der reinste Wahnsinn. Und jetzt Mila, wie konnte sie uns das antun? Sie hätte uns eine Chance geben müssen. Ein paar Zeilen und Schluss? Sie konnte doch nicht … ich meine …
Yvonne springt auf – geht zu Rakovsky, der ihr im Kreis gegenübersitzt, umarmt ihn und küsst seine hohe feuchte Stirn. Rakovsky zittert, weint und umklammert Yvonne – stille Anteilnahme in der Runde, wieder nachdenkliche Gesichter.
Gerade Yvonne, denkt Diogenes, das hat sie wirklich gut gemacht, sie hat ihn zurückgeholt – Respekt. Es wird Zeit, wieder konstruktiv zu werden, ich warte noch kurz, ob jemand …
Gut, wenn alle einverstanden sind, es ist schon sehr spät, ich muss jetzt alleine sein, wie geht es euch damit, ich denke, wir sollten uns alle zurückziehen und dann … dann sollten wir …für Mila eine würdige Bestattung organisieren.
Keine Zukunft, keine Vergangenheit, nur grenzenlose Bewusstheit! Da ist sie wieder, diese Stille, diese Vertrautheit, das Schaukeln, dieses wunderbare Leuchten, so weit, so nah. Nur beobachten, dieser herrliche Frieden, loslassen und vergeben, diese bedingungslose Liebe. Was geschieht mit mir? Wer bin ich? Wo bin ich? Kein Ich, nur Selbst! Kein Körper, kein Raum, keine Zeit, nichts Greifbares und doch alles so klar, Leere und Fülle, nur Wahrheit und schöpferische Weisheit, die Geburt der Wirklichkeit. Nur Ganzheit, kein Außen, ewiges Licht, Geschichten, die erzählen, Illusionen, die verschwinden, nur Stille und Bilder im Jetzt!
Rakovsky liegt in seinem Bett, unruhiger kurzer Schlaf, er steht auf, geht zum Geräteschuppen, holt Spaten und Schaufel. Die Sonne erhebt sich in ihrer Kraft über den Trasimeno, leichter Tau benetzt den Olivenhain. Ein paar Schritte, neben dem alten knorrigen Olivenbaum soll Milas letzte Ruhestätte sein. Rakovsky geht hin und her, schreitet die vermeintliche Stelle ab. Es sollte der beste, der schönste Platz sein, ein Ehrengrab. Ein Suchen, ein Kreisen, Tränen in seinen Augen, heftiges Atmen, Gedanken an Mila, an die Toten im Krieg, an seine Mutter, seinen Vater, Verzweiflung und Wut, beherrschen ihn. Rakovsky bleibt stehen, schaut auf die glitzernde Oberfläche des Trasimeno, ein leichtes Lächeln huscht über seine Lippen, er nimmt den Spaten holt weit aus uns schlägt mit lautem Geschrei tief in die Erde. Danach geht es Schlag auf Schlag, Schrei auf Schrei, Stich auf Stich. So hebt er die erste, getrocknete, harte Schicht Erde ab. Dann die nächste, unermüdlich sticht und schaufelt er das Grab, als wäre es sein eigenes. Erschöpft, mit letzter Kraft stemmt sich Rakovsky aus dem Erdloch, liegt am Rücken und singt ein polnisches Soldatenlied. Jetzt erst bemerkt er Diogenes, der am schrägen alten Olivenbaum lehnt und Rakovskys Tun beobachtet.
Ich musste es tun, verstehst du?
Ich verstehe dich sehr gut, danke für deine Mühe, ein schöner Platz, ja, hier ist es genau richtig, das Grab zeigt nach Osten, Milas Heimat, war das Absicht?
Jetzt, wo du es sagst – nein, keine Ahnung, aber Richtung Sonne, das war mir wichtig. So ein Grab ausheben, ein komisches Gefühl, da läuft der Film ab, ich bin jetzt sehr entspannt, die Wut ist weg, die Kraft auch. Wann war dein letztes Begräbnis?
Mein letztes Begräbnis? Du stellst Fragen! Vor Jahren – mein Vater – es war ein langer Leidensweg. Es ist bald neun Uhr, wir sollten Mila holen, hast du noch so viel Kraft?
Wie geht es dann nach der Bestattung weiter?
Darüber muss ich noch nachdenken, ich werde es euch zur gegebenen Zeit mitteilen.
Diogenes und Rakovsky gehen in Milas Zimmer, auf dem Weg dorthin klopfen sie an alle Türen, vor Milas Tür machen sie halt, Rakovsky macht das Kreuzzeichen, sie gehen in den Raum, beide knien nieder, sie hüllen Mila in weiße Bettüberzüge und tragen sie zum Grab in den Olivenhain. Rakovsky holt noch schnell einen großen Strauß bunte Astern vom Blumenbeet und streut sie in das Grab. Gemeinsam steigen Diogenes und Rakovsky in das Grab, legen Mila auf den Blumenteppich. Rakovsky stemmt sich aus dem Grab empor, hilft Diogenes, der sich dabei etwas schwerer tut, aus dem Grab zu steigen.
Alle sind jetzt um das Grab versammelt: Diogenes, Letta, Giorgio, Traunstein, Anna, Yvonne und Rakovsky stehen in Kreisform um das Grab von Mila. Sie halten einander bei den Händen. Den Grabesrand hat Anna noch mit Wiesenblumen geschmückt und mit brennenden Kerzen eingesäumt.
Anna beginnt leise zu summen, ihre Augen geschlossen, Letta folgt ihr mit einem etwas kräftigeren Summton, Yvonne lässt ihre Tränen laufen, sie ist sehr bleich im Gesicht, Giorgio versucht es, bringt aber keinen Ton heraus, Tränen fließen, er ist in höchster Konzentration; alle bewegen sich langsam im Kreis um das Grab, knien nieder und beugen ihre Häupter. Es schien so, als wäre dieses Ritual in allen tief verwurzelt, immer im Rhythmus zwischen Leben und Tod. Achtsamkeit auf das JETZT, auf allen Ebenen, durch alle Sinne. Es ist der Tod, der die noch Lebenden verbindet, sie zu jener Einheit führt, welche sie schon zu allen Zeiten vereinte. Der Tod, durch die Geburt eingeleitet, vom kurzlebigen „Dazwischen“, dem Leben unterbrochen. Der Körper erfährt durch den Tod eine Verwandlung, wieder zurück zum Anfang. Diogenes unterbricht mit gebrochener Stimme die Stille:
Mila, du wirst uns fehlen, du bist nicht mehr dort, wo du warst, aber du bist JETZT überall, wo wir sind.
Du wolltest Liebe bringen, wo Hass ist,
du wolltest verzeihen, wo Schuld ist,
du wolltest vereinen, wo Zwietracht herrscht,
du wolltest Wahrheit bringen, wo Irrtum ist.
Du sagtest zu mir: „Wenn wir uns selbst vergessen, finden wir, wenn wir sterben, gehen wir ins neue Leben.“
Mila, wir verabschieden uns hier von dir in aller Demut und Dankbarkeit.
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Lebe wohl, Mila, denkt Anna während sie mit den anderen in Richtung Projektraum geht, ich möchte nicht einfach so begraben werden; Erde drauf, ein Holzkreuz und vorbei. Dann reden sie alle über mich, ich hasse es, wenn hinter meinem Rücken über mich geredet wird, auch nicht, wenn ich tot bin. Das schreibe ich als letzten Wunsch in meinen Brief. Hallo, was ist los mit dir? Mila ist tot, es geht nicht um dich, du bist noch nicht soweit, vielleicht könntest du ein wenig mehr Mitgefühl zeigen. Und wer hat mit mir Mitgefühl? Niemand, absolut niemand, ich bin hier alleine.
Sie hat es hinter sich, denkt Giorgio, es scheint, als hätte er die letzten zehn Minuten die Außenwelt vergessen, eine Spritze, und das war’s dann, na ja, als Ärztin weiß sie, wie das geht. Wie soll ich das machen, mir ist kalt, ich glaube, ich habe Angst, eine Scheißangst, ich bring das nicht. Mila, du gehst einfach so, ohne mit mir geredet zu haben – wieso? Wir haben keine zwei Sätze getauscht und jetzt – bist du tot. „Über Suizid zu reden ist das eine, es zu tun ist was anderes – Giorgio, du bringst das nicht.“ Was? Ich bring das nicht, halt das Maul, du Oberlehrer, ich habe schon ganz andere Sachen durchgestanden. „Du verwechselst da was, du Versager, da gibt es nichts durchzustehen, diese Entscheidung ist endgültig.“ Du gehst mir auf den Sack! Du bringst das nicht, du Versager, ja, ich kenn diese Sprüche, du hast sie mir ja immer eingetrichtert. „Und – hatte ich nicht Recht, du feiger Schwuli du?“ Rede nicht so mit mir, dazu hast du kein Recht, Vater, es ist mein Leben, und es ist meine Entscheidung. Ich frag dich ja auch nicht, warum du mit Mutter nach meiner Geburt keinen Sex mehr wolltest. Ja, sie hat es mir gesagt, da staunst du. Mutter hat mir noch einiges mehr über deine Vorlieben erzählt, es ist wirklich erbärmlich, mit welcher Heuchelei du dein Leben ertragen konntest. Was mich betrifft … geh jetzt nicht fort … hör mir bitte nur ein einziges Mal zu: Ja, ich stehe dazu, ich fühle mich zu Männern hingezogen, ich liebe Männer, nicht nur weil es mich geil macht und ich Spaß beim Sex mit Männern empfinde. Aber das kannst du nicht verstehen, oder vielleicht doch? Vielleicht bist du ja auch homosexuell veranlagt, hast es nur unterdrückt oder heimlich ausgelebt, was weiß ich. Der Sohn lebt die verdrängten Wünsche des Vaters aus, schon gehört? Und noch was, es ist nicht so leicht, zu seinen Veranlagungen zu stehen, zu ganz normalen Veranlagungen, nur so nebenbei. Sie auch noch öffentlich zu leben, vor allem in diesem heuchlerischen katholischen Italien, mit seiner kleinbürgerlichen, engstirnigen Moral, ist leider immer noch eine Herausforderung. Und feige bin ich auch nicht, du wirst es schon noch erleben, dann ist es zu spät, Väterchen, dann kannst du dir für den Rest deines erbärmlichen Lebens die Vorwürfe von Mutter anhören, allein deswegen würde sich mein Suizid schon lohnen. Nein, bitte, sei still, ganz still, du wirst jetzt nicht das letzte Wort haben.
Diogenes’ Intervention hat Giorgio wachgerüttelt.
Für mich ist das jetzt eine sehr beklemmende Situation – verzeiht, aber ich muss jetzt, angesichts dieser Situation, nochmals über den Freitod reden, auf einer rationalen Ebene.
Wer den Freitod wirklich vollenden will, sagt Diogenes, ist sehr einsam in seiner Entscheidung. In diese Welt kann niemand mehr eindringen, da gibt es kein Außen mehr. Diese Menschen rufen nicht mehr um Hilfe. Vielleicht hat es Signale gegeben, Anna, vielleicht habe auch ich sie nicht wahrgenommen. Es gibt eine Erklärung – oder besser eine Deutung: Paradoxerweise spüren Menschen, die diesen konsequenten Entschluss gefasst haben, ihr materielles Sein zu beenden, eine starke Erleichterung, Mila hat es im Abschiedsbrief erwähnt. Die Last der Entscheidung ist von ihnen abgefallen, sie benehmen sich fast auffällig normal. Das soll jetzt keine Entschuldigung sein – aber von Schuld zu sprechen, Anna, wäre nicht angemessen, selbst Mila hat keine Schuld. Allerdings – und dazu kommen wir später noch – gibt es aus meiner Perspektive sehr wohl eine kollektive Verantwortung für alle Prozesse auf diesem Planeten – und nicht nur auf diesen Planeten.
Wahnsinn, stimmt, das hat alles auch eine spirituelle Dimension, ich sollte, … stottert Giorgio, vielleicht sollte ich jetzt nicht mehr davon – trotzdem – mir geht es gerade nicht gut, ich spüre, wie soll ich sagen … so stark, was Mila da – das macht doch was mit uns allen, also auf alle Fälle mit mir, ich bin total durcheinander, das mit deinen Eltern, Rakovsky … tut mir auch so leid, ich war ja Kriegsberichterstatter, was für ein Begriff, na ja, gut, ich, ich glaube, ich kann deine Kriegserlebnisse gut nachvollziehen, ja, ja, ich kann das. Mila konnte nicht mehr mit ihrer Familie reden, diese Wahnsinnigen haben ihre Familie vor ihren Augen weggesprengt. Wo leben wir hier? Was ist los auf diesem Planeten? Wer kann mir da… in was für einer Welt leben wir hier? Kann mir das irgendwer erklären? Wohin geht die Reise? Wird das ein globaler Suizid? Diogenes, sind wir wirklich nur das Symptom? Mila, sie ist tot, Millionen andere sind auch tot, geht das allen am Arsch vorbei – oder was? Für welche Welt sollten wir uns töten? Opferhaltung? Ich will kein Opfer sein, für niemanden. Diogenes, das geht entschieden zu weit. Dort, Milas Platz ist jetzt leer, und die Plätze vieler Menschen werden täglich leer – ausgelöscht! Mila, sie kommt nicht mehr zurück, sie war eine von uns, ein liebenswerter Mensch. Wann wird mein Platz leer sein? Wo bin ich dann? Giorgio steht auf, geht zu Milas Platz und setzt sich auf den leeren Platz. So, jetzt ist mein Platz leer, ja, schaut mich nicht so an, schaut auf meinen leeren Platz, wir können dieses Spiel fortsetzen. Wer will meinen Platz? Wer will erleben, wie es sich anfühlt, auf seinen leeren Platz zu schauen. Eine Komödie, sagst du, Rakovsky – oder wer hat das gesagt? Ja, wir sind Komödianten in einem Drama, das jetzt erst beginnt. Alle austauschbar, Marionetten, die glauben, lebendig zu sein. Wir waren doch schon tot, bevor wir hier ankamen. Wozu diese Gedanken? Letta, du verstehst mich doch. Wozu habe ich geschrieben und meditiert, über Sinn und Wahrheit. Für die Nachwelt, fürs Universum? Auf diesem Planeten haust eine Horde von schwerbewaffneten Affen, und ich mache mir Gedanken über Humanismus und Wahrhaftigkeit. Diogenes, vielleicht ist der Suizid wirklich die letzte Freiheit, die wir noch haben – ja, vielleicht ist es so? Warum konnten wir Milas Tod nicht verhindern? Sie durfte doch nicht einfach so gehen. Dieser Irrsinn muss ein Ende haben. Letta, ich verstehe deine Blicke – oh, ja, ich verstehe dich sehr gut – ja, ich bin etwas verwirrt, nicht ganz in meiner Mitte. War ich das jemals? Wir denken oft, wir sind es, aber es ist nur so eine verbogene Realität, versteht ihr, es ist nicht wirklich so. Das mit Mila, das täuscht, das ist ganz anders. Wir sollten hier einen anderen Denkansatz … wisst ihr, ganz anders denken, so außerhalb unsres Universums, ja, das ist jetzt schwierig, denn die andere Realität, nicht die von Mila, nein, sie ist jetzt bei der Wahrheit. Es ist nur so – ich kann es noch nicht sagen. Bei Giorgio baut sich Druck auf. Diogenes, bei allem Verständnis, es ist wahrscheinlich richtig, was du analysiert hast – was hast du eigentlich analysiert? Nicht wichtig, entschuldige, es ist überhaupt nichts mehr so wichtig – nur – ich muss jetzt einiges klarstellen, erhebt Giorgio ungewohnt seine Stimme. So, liebe Freunde, so war das nicht ausgemacht, das ist nicht fair. Fair, was heißt schon fair, oder noch besser: Was heißt schon Gerechtigkeit? Wer von uns Traumtänzern könnte über diese Komplexität eine wahre Aussage machen? Wir, ja, wir sind es, wir müssen jetzt damit fertig werden. Aber: So einfach geht das nicht, nein, nein – so geht das nicht, nein, nein – so nicht, meine Lieben – so nicht, das geht so nicht. „Du bleibst jetzt da“, hat Vater immer zu mir gesagt, wenn ich mich meiner Verantwortung entziehen wollte. „Der Mensch muss für alles, was er tut, geradestehen, wie ein Mann“, hat Vater mich angeschrien. So geht das nicht, schreit Giorgio ganz laut. Wir müssen zu ihr, es ist sicher nur ein Schock, scheintot, versteht ihr? Wir müssen sie wiederbeleben, sie ist noch nicht tot, ihr wisst das! Ihr wollt mich nur auf die Probe stellen, stimmt doch, Diogenes, sag, dass es nicht wahr ist, sie ist nicht wirklich tot, ja, ich wusste es, das ist nur ein blödes Spiel, so eine gruppendynamische Psychoscheiße, die ihr da mit mir abzieht … verdammt, Diogenes, sag doch was, so geht das nicht, wir müssen sie … ein Gedicht … ich wollte Mila doch noch den Panther von Rilke vortragen …
Giorgio springt auf und wirft sich in Dichterpose.
Sein Blick ist vom Vorübergehen der Stäbe
so müd geworden, dass er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.
Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.
Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf –. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille –
und hört im Herzen auf zu sein.
Für Mila ist der letzte Vorhang gefallen – in meinem Herzen hat sie nicht aufgehört zu sein … ich bin jetzt ganz weit weg … und dennoch bin ich euch so nah …
Diogenes steht auf und geht zu Giorgio, der versucht, seine Tränen zu verbergen, nimmt ihn fest an beiden Schultern, umarmt ihn, ruft laut seinen Namen, mehrmals hintereinander.
Giorgio, Giorgio, es ist alles in Ordnung, das Gedicht von Rilke hat mich jetzt sehr berührt – keine Angst, du bist da bei uns, verstehst du, du bist da, Mila ist gegangen, das durfte sie, es war ihre Entscheidung, verstehst du mich, Giorgio, sie ist tot, das ist kein Spiel!
Giorgio windet sich, schluchzt, atmet schwer, wird von Diogenes gehalten. Diese körperliche Nähe zu einem Mann ist für Diogenes ungewöhnlich, eine neue Grenzerfahrung, diese Umarmung tut aber beiden sichtlich gut. Und da ist sie wieder, diese Stille. Anna setzt zum Sprechen an, Diogenes winkt ab, löst sich aus der Umarmung, nimmt Giorgio bei den Händen, geht in die Hocke, blickt konzentriert in Giorgios Augen, diese scheinen durch Diogenes hindurchzuschauen, ein tiefer, glasiger Blick.
Mein Vater hat mich nie so liebevoll umarmt, er scheute körperliche Nähe. Ich habe auch nie gesehen, dass er Mutter umarmt hat. Nur ein einziges Mal wagte ich den Versuch, ihm um den Hals zu fallen. „Anna, lass das, du bist kein Kind mehr.“ Zu meinem Bruder hat er das nie gesagt, der durfte alles mit ihm machen. Ob Giorgio jemals seinen Vater umarmen durfte?
Giorgio, bitte schau mich an!
Was, ja, wo – ja Diogenes, sie ist wirklich tot? Kein Spiel?
Ja, Giorgio – sie ist tot! Kein Spiel – leider! Wir haben sie bereits bestattet!
Sie ist tot, schreit Letta ungeduldig dazwischen, es klingt wie ein Befreiungsschrei, der ihre innere Spannung lösen soll, ja, verdammt tot, das ist ja nicht zum Aushalten, Giorgio, sie ist tot. Giorgio, wach auf, du bist besessen – knapp vor dem Wahnsinn … töte den Dämon in dir …
Letta, bitte …
Wer alle meine Dämonen tötet, der tötet auch alle meine Engel, unterbricht Giorgio mit stoischer Ruhe, hat doch schon Tennessee Williams gesagt, wenn ich mich richtig erinnere. Aber es gibt sie doch gar nicht, diese Trennung, meine ich, von Gut und Böse. Meditation, ja, liebe Leute, keine Angst, ich bin hier und gleichzeitig auch dort, in tiefer Versunkenheit, sie könnte uns alle eines Besseren belehren. Ich sehe Gestalten, und ich weiß um euer Nichtsein, es ist alles so einfach. Diogenes, erkläre es ihnen, erkläre ihnen ihre Nichtexistenz … im Nichts bekommst du alles, was du brauchst – es ist doch so?
Diogenes mahnt Letta mit einer beschwichtigenden Handbewegung zur Ruhe.
Giorgio, du bist geschockt, das ist normal. Ja, wir werden über das Nichtsein noch reden, aber jetzt, wir sind alle hier bei dir, was passiert ist, geht uns allen sehr nahe. Giorgio, wir stehen das jetzt durch. Milas Tod, er war nicht zu verhindern. Giorgio?
Tot? Ja tot – natürlich, deshalb sind wir ja hier – okay, es geht schon wieder, danke, danke; Wir sind reale Personen, ja, gut, wenn ihr es so wollt, es hat keine Bedeutung – vorerst, liebe Freunde, vorerst! Diogenes, ich bin wieder online, danke – ich glaube, ich brauche nur etwas frische Luft – ich gehe nach Hause und hole was zu trinken, sagt Giorgio mit gebrochener, trauriger Stimme. Mutter hatte immer so einen schönen kalten Limonensaft mit viel Eis. Ich werde sie fragen. „Komm, Giorgi“, sie nannte mich immer Giorgi. „Komm, trink, das wird dir gut tun, du brauchst nicht traurig sein“, manchmal überkam mich so eine Traurigkeit, einfach so, es gab gar keinen Anlass, zumindest kann ich mich nicht erinnern. Der Limonensaft tat mir wirklich gut, oder war es die Nähe meiner Mutter? Ja, ich glaube, es waren diese kurzen, seltenen Momente einer wundervollen Nähe, lächelt Giorgio mit Tränen in den Augen. Wo Vater immer war, ich weiß es nicht. Mutter las mir dann immer aus „Krieg und Frieden“ vor, das hatte eine beruhigende Wirkung auf mich, witzig oder? Manchmal weinten wir dann beide, aber es tat uns gut, gemeinsames Weinen war immer befreiend, es war wohl das Lachen danach, das war das Schöne am Weinen.
Die liebende Mutter, wer brauchte sie nicht, analysiert Diogenes, es sind zu wenige auf dieser Welt, die wirklich geliebt wurden. Wir haben noch viel zu tun.
Limonensaft, übernimmt Diogenes, eine gute Idee, bei dieser Hitze, Giorgio, in der Küche sind genug Limonen, und Eis ist im Gefrierfach, wenn du willst, kannst du uns alle damit versorgen.
Giorgio geht mit gepresstem Lächeln kurz aus dem Raum, kommt mit einem Krug Limonensaft und ein paar Gläsern zurück, sein Blick ist verschwommen.
Der ist ja völlig durch den Wind, geht es Yvonne durch ihren Kopf. Irgendwie habe ich Mila gemocht, ihre sanfte Art, sie liebte Menschen, das kam ganz stark zum Ausdruck bei ihr, und geht als Erste. Ich werde nie eine Familie haben, die ich so lieben kann – bis in den Tod – Wahnsinn ist das, aber auch sehr schön und berührend. Sie hat es hinter sich, und wir? Was machen wir jetzt? Giorgio ist ausgeflippt, ich bin die Nächste. Ich glaube, ich brauche was Stärkeres als Limonensaft. Yvonne, denk an deine Leber. Sehr witzig, seit wann braucht man fürs Sterben eine gesunde Leber? Vielleicht willst du dich noch nicht umbringen, frag doch die kleine Yvonne in dir, was sie dazu sagt! Nein, nein, nein, hör auf damit, ich frage sie nicht, nie mehr, sie ist verrückt, sie versteht mich nicht, sie lebt ja nicht da draußen in der Wildnis unter all diesen Hyänen, diesen Aasgeiern, diesen Lustmolchen. Aber Mila war doch nicht so eine, oder? Das war sie nicht, das ist es ja, wenn Mila sich umgebracht hat, welche Berechtigung habe dann ich noch zu leben, eine Nutte, Abschaum, eine erbärmliche Schwanzlutscherin, die sich jeden Tag ankotzt, ich habe kein Recht zu leben, so ist das. Du kannst es ändern, Yvonne, du musst nur eine Entscheidung treffen, entscheide dich für das Leben, und du findest den richtigen Weg. Was redest du für einen Schwachsinn? Sitze ich da im Beichtstuhl? Wie kommst du dazu? Wer bist du? – Jesus oder was, ich will dieses beschissene Leben nicht mehr, kapier das doch endlich. Wie möchtest du denn sterben, ich meine die Methode? Das, also das weiß ich noch nicht, vielleicht nehme ich einen Strick, drehe den Gashahn auf, springe aus dem Fenster oder erschieße mich. Vorher nehme ich noch eine Überdosis Schlaftabletten, ist das okay für dich, bist du nun zufrieden? So einfach geht das? Glaubst du das wirklich, du Dummerchen? Natürlich – dein Dummerchen, ja, das war ich für dich, danke, dass du mich daran erinnerst. Hast du wirklich so viel Angst vor deinem Leben? Wieso Angst, ich finde es nur beschissen, das ist alles, ganz einfach beschissen – das geht in deinen Pfaffenkopf nicht rein. Pfaffe hast du mich noch nie genannt, du sagtest höchstens Arschloch oder feige Sau zu mir, warum feige, hab ich nie verstanden. Warum feige, weil du mich nicht beschützt hast vor meinem Großvater. Ich bin nicht für alles…. Weil du blind warst, ja, und Mutter war auch blind, ihr habt einfach weggeschaut und weggehört. Wie oft habe ich euch gesagt, ich will nicht bei Großvater und Großmutter schlafen, wie oft, schon vergessen? Oh Gott, das ist ja… Du und dein Gott, der Barmherzige, der Gütige, er sieht alles, hast du mir immer gesagt. Alles – ja, und wo hat er hingesehen, als mich Großvater gefickt hat, sag es mir. Wohin? In sein Himmelreich? In der Hölle soll er schmoren – dein Gott! Ja, das hätte ich gerne, wenn mein Wille geschähe!
Giorgio schenkt die Gläser voll und verteilt sie in der Runde. Dankend und fast andächtig nehmen sich alle ein Glas. Er setzt sich auf seinen Platz, er wirkt entspannt.
Ein wunderbares Ritual, denkt Diogenes, „Georgi“, das hast du gut gemacht. Das mit dem Limonensaft war eigentlich deine Intervention. Schon, aber Giorgio hat die Zündschnur gelegt. Die Idee war schon vor mir da, das weißt du doch. War das jetzt ein Test? Ich bitte dich. Übrigens, du hast ihn vorhin Georgi genannt. Habe ich das? Hast du! Ich finde die Mutterrolle passend, sie ist ein Teil von mir geworden, mit den Jahren. Denkst du noch oft an deine Mutter? Aber das weißt du doch. Wenn ich ihr nur einmal wirklich begegnet wäre, so wie Giorgio es erzählte, nur einmal diese liebevolle Nähe erlebt hätte, dann … vielleicht bin ich deshalb Therapeut geworden, diese Rolle als „Mutter“ wurde mir in die Wiege gelegt, findest du nicht auch? Diese Frage war jetzt nur rhetorisch gemeint – oder? Verzeih, natürlich hast du es schon vor mir gewusst.
Darf ich, nur ganz kurz: Ich glaube, wir wissen alle nicht, sagt Letta als „Co-Therapeutin“, wie wir mit so einer Situation umgehen sollen. Das ist alles so absurd! Bin ich die Nächste, oder du, oder du, oder wer? Wie soll das hier mit uns weitergehen, was wird das? Wie bei den zehn kleinen Negerlein? Die eine hat sich umgebracht, da waren es nur mehr sieben – so ist es doch, oder? Wer hat die originellste Suizidmethode? Diogenes, was meinst du, das könnten wir doch spielen, eine Jury vergibt dann den „Award of Suicide“, ich stelle mir so einen goldenen Galgen vor oder eine silberne Guillotine.
Hätte nicht gedacht, dass mein Zynismus noch übertroffen werden kann. Rakovsky schüttelt den Kopf und bedeckt sein Gesicht mit den Händen.
Ja genau, hakt Anna nach, nützt die Gelegenheit, um auch ihren Ärger loszuwerden, das Los entscheidet, wer als Nächster dran ist. Wer es vergeigt, das heißt, wer überlebt, bekommt einen Minuspunkt, was so viel wie Küchendienst bedeutet.
Sehr originell und geschmacklos, Applaus, Applaus, erwidert Traunstein wütend, wagt es aber nicht, Anna dabei anzuschauen, das ist respektlos der Verstorbenen gegenüber. Und überhaupt, eure Abwehr gegenüber dieser Situation finde ich bemerkenswert. Oh, hört, hört, der Psychologe hat gesprochen.
Anna, ich finde die Lage ist zu ernst, um das Traurige durch Albernheiten zu ersetzen. Wer von euch kennt schon das Gefühl, so ganz knapp vor… ja, bevor man Hand an sich legt…ihr habt keine Ahnung, was da so abläuft. Ja, Anna, du schaust so überrascht, ich habe es drei Mal versaut, nach deiner Rechnung hätte ich jetzt drei Mal Küchendienst.
Traunstein, es tut mir leid, ich …
Anna, verzeih, um dein Mitleid geht es mir nicht, es geht hier um einen adäquaten Umgang mit Milas Tod! Es geht um Respekt ihr gegenüber. Gut, entschuldigt, das musste ich jetzt anbringen. Ich schlage daher vor, also, das ist nur so eine Idee, dass wir hinüber ins Atelier gehen und gemeinsam ein Bild im Gedenken an Mila malen, vielleicht können wir uns so dem Thema besser stellen, es emotional entladen, ausdrücken – was meinst du, Diogenes?
Wenn alle das wollen, eine gute kreative Idee. Das hat er gut gemacht, der Traunstein, danke – mein Freund.
Diogenes und Traunstein, die Symbiose, kommt es Rakovsky in den Sinn, das ist doch alles abgesprochen, die beiden haben das doch alles geplant, eine Inszenierung. Es gibt keinen Grund, eifersüchtig zu werden, mein Lieber. Eifersüchtig?
Wir sollen malen gehen, lacht Rakovsky. Ich glaube es nicht. Traunstein, bei allem Respekt, wegen Mila und so, aber malen gehen?
Stimmt, wieso sollen wir jetzt Bildchen malen gehen, solidarisiert sich Letta, mir ist nicht nach Malen, was soll ich malen, einen Totenkopf, ein Grab mit Inschrift oder besser: wir suchen uns ein Thema. Wie wäre es mit: „Das künstlerische Potential im suizidalen Kontext“, klingt doch gut, was sagst du dazu, Traunstein, als Künstler? Bin ich jetzt wieder respektlos?
Also, Letta, abgesehen von deinem Zynismus, gar kein schlechter Gedanke, da können spannende Gestaltungen entstehen, wenn man bedenkt, dass wir uns von sämtlichen Belastungen freimachen können, so kurz vor dem Tod, dann hat das was, ich meine das jetzt ernst, Anna, weil du gerade so skeptisch schaust. Stell dir vor, du malst ein Bild oder arbeitest an einer Skulptur oder sonst was, mit dem Wissen, dass es dein letztes Werk sein wird. Ich spüre gerade so eine Befreiung! Was hat sich Leonardo da Vinci gedacht oder besser, was hat er gefühlt, als er „Das letzte Abendmahl“ in die Wand – ja – hineingeboren hat? Gut, er hat sich danach nicht umgebracht, aber es war sein Thema, versteht ihr, Jesu Tod war auch sein Thema. Die Angst des Genies vor dem Tod.
Interessante Selbstbeobachtung, lächelt Anna. Entschuldige.
Anna, lass nur, aber stell dir vor, du willst noch so vieles schaffen, und die Uhr tickt unaufhörlich, du kennst den Zeitpunkt.
Wieso bist du dann eigentlich da, fragt Letta schnippisch, du Genie du, warum verewigst du dich nicht in deinen genialen Kunstwerken, oder hat man das Genie in dir noch nicht erkannt?
Das war jetzt gemein, Letta, unterbricht Anna sehr heftig, gerade du solltest deinen Frust woanders abladen, Traunstein wollte nur etwas Konstruktives in diese belastende Situation einbringen.
Hat er dich schon gefickt, oder kann das Bubi nicht für sich sprechen? Anna schüttelt nur mehr den Kopf.
Jetzt hört endlich auf, schreit Giorgio. Mila ist tot, was soll dieser niveaulose Unsinn, nehmt Mila nicht ihre letzte Würde …
Sorry, erwidert Letta betroffen, es tut mir leid, Giorgio, Traunstein, es tut mir wirklich leid, …ich glaube, ich bin etwas überfordert mit dieser ganzen Situation. Zuerst der Tod von Stavros, dann komme ich hierher, ein Funken Hoffnung, dann stirbt Mila, das alles ist …
Okay, okay, ich verstehe das, Letta… ich verstehe das wirklich… diese Situation ist… was ich sagen wollte: Was wollte ich sagen? Ich habe es wieder: Ja, Letta, deshalb wäre es ja eine Chance, das auszudrücken, was noch gesehen werden will, was sich gerade jetzt, auf der emotionalen Ebene meine ich, was sich da entladen will. Die Kunst, ja, ich muss jetzt die Kunst wieder ins Spiel bringen - sie ist ja das Medium des Unbewussten, im Bild darf sich unsere Seele zeigen – da fehlen ja oft die Worte – wir haben oft ein Gefühl und können es nicht benennen. Ich weiß nicht, was da rauskommt, das ist ja das Spannende beim künstlerischen Tun. Gerade wenn uns die passenden Worte fehlen, könnte der künstlerische Ausdruck sehr hilfreich sein. Wir sind dann näher dran, an unserem Inneresten, an unserem Sein. Ich weiß, wovon ich spreche, ich mache das seit dreißig Jahren. Ja, Letta, ich habe deinen Einwand von vorhin nicht vergessen: Warum bist du dann hier, fragtest du mich. Das weiß ich auch nicht, also anfangs war mir das schon klar, ich wollte Schluss machen… aber jetzt, ich lebe noch, da ist noch was, da sucht noch etwas oder jemand nach Erkenntnis, ich spüre, dass es einen Sinn hat, wir müssen es versuchen - Diogenes du hattest wieder einmal Recht. Habe Geduld, hast du zu mir gesagt, vielleicht entdecken wir ja etwas in uns, das uns erstaunt, uns berührt, uns wieder in Fluss bringt. Letta, es geht nicht um ein Abschiedsbildchen für Mila, es geht um uns, es geht um unsere emotionale Situation hier, Letta, versuchen wir es doch ganz einfach!
Von Kunst habe ich zwar keine Ahnung, aber was Traunstein sagt, klingt plausibel, was haben wir zu verlieren, lenkt Rakovsky für alle überraschend ein. Auf ins Atelier.