Förlivet - Peter Zimmermann - E-Book

Förlivet E-Book

Peter Zimmermann

0,0

Beschreibung

Answin Lundgren alias Kanzlerin ist die Hauptprotagonistin, sie bekam von der schwedischen Regierung den wissenschaftlichen Auftrag, Rahmenbedingungen für eine neue Gesellschaftsform zu entwickeln, um diese dann praxisbezogen als Pilotprojekt in Schweden zu realisieren. Auf Basis von Erkenntnissen dieses doch sehr ambitionierten Pilotprojektes erwartet die schwedische Regierung, dass folgende Punkte evaluiert werden: Welches Menschenbild, welche Werte, welche Ethik und welche Moralität sind für ein globales friedliches Miteinander in Zukunft notwendig? Kann ein realistischer Humanismus, eine neue Aufklärung im 21. Jahrhundert auf der Basis eines universellen Menschenbildes die Selbstzerstörung der Menschheit verhindern? Hat der homo sapiens evolutionsbiologisch überhaupt das Potential als Spezies zu überleben?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 616

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Der folgende gesellschaftspolitische Roman und deren Protagonisten*innen, Orte, Handlungen und Dialoge sind eine fiktive Erzählung. Autor und Verlag übernehmen keinerlei Haftungen.

Inhalt

Förlivet – das „Paradies“

UN-Hauptquartier

Die Kanzlerin und die Kumari

Answin geht schwimmen

Die Kanzlerin und der Dichter

UN-Hauptquartier

Die Kanzlerin und die tragenden Säulen

Die Kanzlerin und der Dichter, Reflexionen-02

Des Dichters Reflexionen

Die Krankenschwester

UN-Hauptquartier

Die Kanzlerin – Reflexionen mit „Gott“

Die Kanzlerin und der Dichter, Reflexionen-03

Die Kanzlerin und die Physikerin

UN-Hauptquartier

Großgruppenraum, die Physikerin

Die Bootsfahrt

Gruppenraum – die Komplexität des Lebens-01

Die Künstlerin und der Soldat

Die Kanzlerin, der Soldat und die Künstlerin

Gruppenraum – die Komplexität des Lebens-02

Die Kanzlerin, der Dichter, das Ehepaar und die Zeit

Herr „Sokrates“ und die Schwester

UN-Hauptquartier

Meditation und Integration

Förlivet – das „Paradies“

Der Lygnörnsee ist ein schmaler See irgendwo in Schweden. Hier, mitten im See, auf einer Insel, in der Größe von ca. fünfzig Hektar, wurde das schwedische Pilotprojekt Zukunftslabor, als Humanistisches Lebenszentrum, eine Art Mikrokosmos der Lebendigkeit gegründet; von den wohlwollenden Schweden*innen liebevoll Förlivet genannt, was frei übersetzt so viel wie Lebensfreude bedeutet; von dem weniger wohlwollenden und den sogenannten „normalen- oder angepassten Menschen“ als Irrenanstalt bezeichnet.

Auf der Insel Förlivet, hier im Lygnörnsee wurde ursprünglich, Anfang 1960, sehr großzügig ein psychiatrisches Krankenhaus erbaut. Die Zwanzig Pavillons wurden renoviert und zum Teil neugestaltet. Jeder Pavillon mit dreißig Zimmern erlauben es, dass nun hier an die sechshundert Menschen eine Gemeinschaft bilden.

Mehrere Gruppenräume, Kunstateliers, Bildungsstätten und Werkstätten, Gemeinschaftsküchen, Ruheräume, Gemüsegärten, vielen Obstbäumen, autonomer Energieversorgung (Sonne, Erdwärme, Wind), Bio-Kläranlagen, sauberes See- und Grundwasser, einen Strand am Seeufer sind wichtige Ressourcen für das soziale Miteinander. Und, was ganz wesentlich ist: Hier herrscht Autonomie, gesetzlich von der schwedischen Regierung verbrieft. Menschen, die weder Selbst- noch Fremdgefährdend sind, können sich hier nach einem Aufnahmegespräch in die Gemeinschaft einbringen, falls Plätze frei werden oder noch frei sind. Hochmotivierte interdisziplinäre Wissenschaftler*innen, Betreuer*innen, Therapeuten*innen, Sozialarbeiter*innen begleiten die Bewohner*innen mit Respekt und Wertschätzung. in Förlivet hat sich eine Kommune der ganz normal „verrückten“ Menschen etabliert. Also, ein repräsentativer Anteil der Bevölkerung Schwedens, Frauen und Männer, ältere und jüngere, auch Kinder und ganz alte Menschen, manche mit heller Hautfarbe, manche dunkler, manche mit Krücken, manche im Rollstuhl, Akademiker*innen und Handwerker*innen.

Es sind Menschen, die „draußen“ nicht mehr leben konnten oder wollten, nicht gesehen oder anerkannt wurden, nicht respektiert, gekränkt und abgewertet wurden; oft waren es auch Künstlerin*innen, Intellektuelle, Politiker*innen oder Persönlichkeiten, die ihre Identität wechselten, um als „Herr Sokrates“, Physikgenie, Dichter und Philosoph oder Künstlerin anerkannt zu werden; fast alle in Förlivetwaren süchtig, süchtig nach dem wahren Leben, einem Leben, dass Ihren Anlagen entsprach; eine bunte Gruppe von Individualisten, die hier am Lygnörnsee in einen „paradiesischen“ Mikrokosmos des Planeten Erde leben. Hier gibt es alles, was Mensch zum Leben braucht, nur kein Internet, kein Smartphon und kein Amazon. Wöchentlich wird in der Förlivet eine Konferenz mit allen Bewohner*innen abgehalten, Anliegen vorgebracht und Lösungen erarbeitet. Jede Lösung trägt zur Bewusstseinsbildung bei, also über das individuelle Sein bewusst werden; so können sich hier die Menschen ihren Anlagen entsprechend entwickeln. Es gibt nur eine Regel in Förlivet die ausnahmslos eingehalten werden muss: Alle Aktivitäten haben das Ziel dem Gemeinwohl auf Basis eines Manifestes dienlich zu sein.

Die Leitung von Förlivet wurde Answin Lundgren anvertraut. Frau Lundgren ist in ihrem Quellenberuf Soziologin und hat auch eine Psychologie und Psychotherapieausbildung (existenzielle Psychotherapie). Als ehemalige sozialdemokratische Kanzlerin von Schweden hat sie auch alle Kompetenzen einer Politikerin, um dieses ambitionierte Projekt zu leiten. „Nebenbei“ wurde Frau Lundgren in das Amt der UN-Generalsekretärin in New York gewählt. Frau Lundgren bekam deshalb von der schwedischen Regierung den wissenschaftlichen Auftrag, die Rahmenbedingungen für eine „neue“ Gesellschaftsform zu entwickeln. Die schwedische Regierung erwartet das folgende Punkte evaluiert werden:

Welches Menschenbild, welche Werte, welche Ethik und welche Moralität sind für ein friedliches Miteinander der Menschheit in Zukunft notwendig?

Gibt es universell-verbindliche moralische Verhaltensweisen, die von Privatmeinungen, von politischen Haltungen und von kulturellen und religiösen Entwicklungen unabhängig sind?

Braucht die Menschheit ein neues Gesellschaftsmodell, eines, dass nicht nur auf einer rein ökonomischen Globalisierung fundiert?

Kann ein

Realistischer Humanismus

eine Basis sein, um durch eine

neue Aufklärung

und ein universelles Menschenbild, die Selbstzerstörung der Menschheit verhindern zu können?

Auf Basis von Erkenntnissen dieses doch sehr ambitionierten Pilotprojektes soll ein neues Welt-, und Menschenbild entstehen. Förlivet soll die Geburtsstätte einer neuen Aufklärung werden, die Basis für einen Realistischen Humanismus.

UN-Hauptquartier

Auszug aus der Antrittsrede der schwedischen UN-Generalsekretärin (als erste Frau in diesem Amt) Answin Lundgren im UNHauptquartier in New York/USA:

„Ich freue mich sehr, dass ich in dieses hohe und verantwortungsvolle Amt gewählt wurde, nicht weil gerade mir diese Ehre zuteilwurde, sondern weil ich eine Frau bin. Das war ein wichtiges Signal in Zeiten, wo es dringend Reformen der internationalen Machtverhältnisse geben muss. Gestatten Sie mir an dieser Stelle ein paar Worte zu meiner Person: Ich bin keine links-linke Gut-Frau, wie in den Medien kolportiert wird, und ich bin auch kein besserer Mensch, weil ich eine Frau bin. Stigmatisierungen und stereotypische Zuweisungen sind immer undifferenziert und deshalb nichtzutreffend, für keinen Menschen.

Geschätzte Damen und Herren, ich möchte meine Antrittsrede gerne mit einem Zitat eines Mannes beginnen, von keines geringeren als des Philosophen Friedrich Nietzsche:

Und diejenigen, die tanzend gesehen wurden, wurden von denen für verrückt gehalten, die die Musik nicht hören konnten.

Zum Leidwesen von Millionen Menschen wird das Orchester der Machtpolitik immer noch vom Finanzkapitalismus dirigiert. Deshalb ist es ein Gebot der Stunde, ein neues Welt- und Menschenbild zu erarbeiten, wenn die Menschheit überleben will.

Nun zum Wesentlichen: Ich bringe die Situation, in der sich unsere Erde befindet, auf den Punkt. Die Menschheit steht am Rande einer Katastrophe, vielleicht sogar vor ihrer Selbstauslöschung! Wir haben weltweit ein Ernährungsproblem, Migrationsprobleme durch Kriege und Terrorismus und einen Klimawandel der Extraklasse. Dagegen werden wir die Corona-Pandemie - und das will ich nicht abwertend bemerken - rückblickend als unser kleinstes Problem einordnen. Gestatten Sie mir daher, hier, vor der UN-Generalversammlung, meine Sicht und die Sicht vieler Experten*innen zur Ist-Situation der Menschheit und in Folge unsere Vision zur Rettung der Menschheit darzulegen.

Die Menschheit vor der Selbstauslöschung zu retten, wird uns nur gelingen, wenn wir gemeinsam die notwendigen Schritte realisieren und nicht immer nur theoretisieren und bagatellisieren. Eine Milliarde Arbeitslose durch Robotik, Kriege und Migrationsströme kommen weltweit auf uns zu! Die digitale Revolution, das Internet der Dinge, wird unser Miteinander noch drastischer verändern. Eine soziale Pandemie unvorstellbaren Ausmaßes kommt da ins Rollen: Ernährungs- und Existenzfragen gekoppelt mit globalen Klimaveränderungen werden in den nächsten Jahrzehnten wie ein Flächenbrand über alle Kontinente großes Unheil anrichten. Das sind keine Verschwörungstheorien, meine Damen und Herren. Die Menschheit läuft tatsächlich Gefahr sich selbst zu zerstören! Ja, ja, schreien Sie nur! Wer hier verrückt ist, werden die Geschichtsbücher in Erinnerung bringen, falls es in Zukunft noch eine Population gibt, welche die Möglichkeit haben wird, solche Zeitdokumente zu lesen.

Der Glasgow-Klimagipfel 2021 und der Klimagipfel COP27 in Ägypten haben bei weitem keine Ergebnisse geliefert, die eine Klima- und Hungerkatastrophe verhindern könnten. Weltweit sind zurzeit ca. 400 Millionen Menschen von akuter Hungersnot betroffen. Um es daher in aller Deutlichkeit zu sagen, die Klimagipfel waren ein Misserfolg und eine große Enttäuschung.

Es ist der Weltgemeinschaft nicht gelungen, die notwendigen systemischen und strukturellen Veränderungen verbindlich umzusetzen. Gemeint sind jene Veränderungen wie CO2-Obergrenzen und der dringende Ausstieg aus fossilen Brennstoffen, die zur Erreichung der Klimaziele unabdingbar sind. Es ist vor allem sehr enttäuschend, dass auch bei diesem Klimagipfel in Ägypten, jenen Ländern, die vom Klimawandel besonders betroffen sind, von den reichen Industrieländern, viel zu wenig Unterstützung zur Bewältigung der Klimafolgeschäden zugesprochen wurde. In zwanzig oder dreißig Jahren oder schon viel früher werden wir 2,5 Grad oder mehr an Erderwärmung messen. Was das zu bedeuten hat brauche ich wohl nicht zu erklären. Ja! Eine Klimakatastrophe! Und wissen Sie, ich spreche jetzt vor allem die Vertreter der reichen Industriestaaten an, was mich persönlich am meisten wütend macht, ja, Sie haben richtig verstanden; es macht mich wütend! Die meisten Machthaber in den Regierungsetagen, welche die Verantwortung für diese Katastrophe haben, werden dann nicht mehr das Sagen haben oder schon verstorben sein. Die Zeiten des Kolonialismus, der Patriarchate und des Konsum- und Finanzkapitalismus müssen beendet werden. Deshalb: die Jugend, junge Frauen und junge Männer müssen ihre Zukunft gestalten und sie müssten gestern schon damit begonnen haben, denn es geht um ihre Zukunft! Diese Jugend will keinen Planeten Erde, der auf der einen Hälfte durch Überhitzung verbrennt, und auf der anderen Hälfte durch Flutkatastrophen absäuft!“

„Lundgren, das sind alles Verschwörungstheorien, die Realität ist eine andere!“, schreit der Gesandte einer autokratisch regierten Volksrepublik lautstark in das Plenum.

Ich bin noch nicht fertig, bitte, beruhigen Sie sich. China sollte seine tausenden Kohlekraftwerke endlich stilllegen, stattdessen bauen sie jedes Jahr hunderte neue Dreckschleudern – das ist die wahre Realität und keine Verschwörungstheorie! Ich möchte jetzt, wenn Sie gestatten, mit meinem Appell an die Vernunft fortfahren: Wir könnten aber diese selbstzerstörerische Entwicklung verhindern. Wir, die Menschheit, haben noch eine letzte Chance! Folgende Maßnahmen, ich will hier nur einige anführen, wären da zwingend notwendig: Wir müssen den Konsum- und Finanzkapitalismus beenden und die Waffenproduktion weltweit kontrollieren und drastisch reduzieren. Dadurch generieren sich genügend Ressourcen, um allen Menschen eine Existenzabsicherung zu gewährleisten. Ein weiterer Schritt ist natürlich konsequenter Klimaschutz! Nur wenn wir diese großen Veränderungen wirklich beherzt umsetzen, könnte es das Überleben der Menschheit bedeuten. Ja, ja, meine Herrschaften, lachen Sie nur, aber bitte, nutzen Sie die Zeit und denken Sie einmal nach! Und: Viel Zeit haben Sie nicht mehr! Wir brauchen ein neues Bild von der zukünftigen Welt, ein neues Bild vom zukünftigen Menschen.

Die großen Fragen sind: Wer wollen wir, die Menschheit, werden? Welchen Weg wollen wir gemeinsam gehen? Denn eines ist zurzeit doch offensichtlich: Alle Konzentration fokussiert sich immer noch auf egoistische Wertvorstellungen, auf Wachstum von Wirtschaft und Geld, Besitz, Konsum und auf Macht, und das selbst auf Grund der Erfahrungen der Finanzkrisen im 21. Jahrhundert. Immer größere Glaspaläste in den Geld- und Machtzentren spiegeln ja das herrschende Sittenbild. Leistung, Wachstum, Wertschöpfung klingt doch gut, gemeint ist aber reine Profitgier! Nochmals: Finanzkrise 2008 und jetzt: Finanzkrise 2023 in Silicon Valley und der Schweiz; mehr muss ich da wohl nicht sagen! Der Handel mit virtuellem Geld hat die Weltwirtschaft ruiniert. Aber… ja, beruhigen Sie sich, es wird ja noch schlimmer: Fossile Energie wird zurzeit als Kriegswaffe und Erpressung eingesetzt. Die von Macht besessenen haben anscheinend nichts dazugelernt. Sehr, sehr bedauerlich! Deshalb: Für eine lebenswerte Zukunft aller Bürger*innen und Lebewesen des gesamten Planeten Erde ist es unumgänglich, dass wir Menschen lernen, sorgsam im Einklang mit den Ressourcen der Natur zu leben. Ja, eine Gebetsmühle, Sie haben Recht! Und, ich werde nicht müde werden, es immer und immer wieder in Erinnerung rufen: Menschenwürdiges Leben wird für alle nur dann möglich sein, wenn wir bereit sind die Kriege des Wahnsinns zu beenden, um dann die Ressourcen gerecht umzuverteilen! Zurzeit geschieht ja das Gegenteil, der Angriffskrieg in der Ukraine ist ja nur einer jener Orte, an denen Verbrechen an der Menschheit begangen werden. Deshalb müssen wir unser Menschenbild neu denken: wir brauchen einen Wandel der Werte, der Moralität, der globalen Ethik, eine neue Aufklärung. Dazu werde ich später noch genauer referieren.

Wie gesagt, nur durch gerechte Umverteilung im Einklang mit der Natur können wir in Zukunft präventiv die Ausrottung großer Teile der Menschheit verhindern. Warum Ausrottung? Das Fragen Sie noch? Einfache Mathematik! Die Ressourcen Energie und Nahrungsmittel reichen nicht für alle Menschen, jetzt schon nicht und in Zukunft schon gar nicht. Deshalb sind wir in der Situation, dass es Sieger und Verlierer gibt. Die letzteren verhungern auf diesem Planeten. Wir erleben doch jetzt schon menschenunwürdige Migrationsströme. Und wir, die reichen Nationen, was machen wir? Wir sehen nicht nur zu, wir liefern auch noch Waffen in Länder, deren Volk entweder verhungert oder fliehen muss! Die einzigen Gewinner von Kriegsverbrechen sind die Rüstungsindustrien. Das ist ein Faktum, das ist nicht ideologisch motiviert.

Deshalb brauchen wir so dringend einen Wertewandel, ein humanistisch orientiertes Welt- und Menschenbild. Zurzeit bestimmen nicht demokratisch gewählte Volksvertreter, wie die Bürger ihr Leben gestalten wollen, sondern Autokraten oder Regierungen als Handlanger der Banken und Multikonzerne. Diese bestimmen, wer wie leben darf, wer im Überfluss leben darf, wer in Armut leben darf und wer gar nicht leben darf. Solche Haltungen sind höchst menschenverachtend. In manchen Staaten erleben wir zurzeit eine gefährliche Entwicklung; es sind Staaten, die nach dem Führerprinzip eine organisierte, nationalistische, rechtsradikale und antidemokratische Ideologie verfolgen. Der Faschismus bekommt offensichtlich eine Renaissance.

„Linker Größenwahn, Lundgren, du hast deinen Verstand verloren“, kommt es lautstark aus dem Plenum.

Ja, ja, diese respektlosen Zwischenrufe, sie kommen ja immer aus der Ecke, wo Menschenrechte mit Füßen getreten werden, mehr Menschenverachtung geht ja nicht mehr! Eine der bedrohlichsten Entwicklungen auf unserem Planeten ist – und ich wiederhole mich an dieser Stelle gerne - dass die Kluft zwischen Arm und Reich immer größer wird. Das liegt offensichtlich im Interesse vieler Industrienationen, den Multikonzernen und den jeweiligen Regierungen. Ein erster und wichtiger Schritt wäre: Hören Sie doch endlich auf die Produktion von Waffen zu unterstützen. Waffenproduktion und Friedensheuchelei, wie geht das zusammen? Leisten Sie statt dessen humanitäre Hilfe, helfen Sie den Menschen in den Schwellenländern ihre Selbstbestimmung zu leben. Eine gerechte Umverteilung unserer Ressourcen, im Sinne von Friedensschaffung und in Folge Friedenserhaltung, ist daher das Gebot der Stunde. Die europäischen Demokratien müssen mit Russland Fiedensverhandlungen beginnen, da führt kein Weg daran vorbei.

Wir alle hier in der UN-Hauptversammlung müssen deshalb, und ich betone müssen, das scheinbar Unmögliche möglich machen. Wir müssen ein Szenario der Umkehr entwickeln. Gestatten Sie mir in Anlehnung an Martin Luther King folgendes zu sagen: We should have a dream! Ich möchte hier gerne erläutern, wie es uns gelingen kann, diesen Traum, die Menschheit doch noch zu retten, zu realisieren. Ich stütze mich dabei hauptsächlich auf Erkenntnisse von namhaften Wissenschaftler*innen und aufgeschlossenen Politiker*innen, aber auch an Menschen in den Führungsetagen von Weltkonzernen mit humanistischer Weltsicht, die gibt es ja noch.

Geschätzte Vertreter*innen aller Länder, es ist doch so: Durch andauernde Kriege, durch die Klima-, Ressourcen- und Umverteilungsproblematik, durch Terrorismus, ein Weltkrieg ist ja auch nicht ganz auszuschließen, muss eine Veränderung im Bewusstsein, im Denken, in der Moralität und im Handeln der Menschheit auf diesem Planeten stattfinden! Manchmal passieren doch noch Wunder. Wir dürfen die unzähligen Todesopfer, die vielen Flüchtlingsopfer und Hungertoten, ausgelöst durch kriegerische Auseinandersetzungen weltweit, nicht mehr akzeptieren. Deshalb möchte ich noch etwas zum Thema Atomwaffenarsenale und autonome Waffensysteme bemerken: Die UNO, als vereinte Nationen, so heißt es doch, muss sich mit allen Mitteln für eine Abschaffung von Nuklearwaffen einsetzen. Dazu gehört auch, dass alle Waffensysteme, auch atomare Waffensysteme einer Weltfriedensarmee übergeben werden. Natürlich müssen wir Waffenhändler isolieren, sie verbringen ihre Restlebenszeit in Gefängnissen, dort können sie, krank von den Schatten ihrer Erinnerungen, all der Opfer gedenken, die sie mitverschuldet haben. Es ist nur ein kleiner Trost für die betroffenen Hinterbliebenen, das weiß ich schon. Eines muss uns allerdings für alle Zukunft bewusstwerden: Wenn wir, die Menschheit, die Ursachen des Leidens nicht erkennen und nicht beseitigen, sterben die Menschen weiterhin durch Machtansprüche, Gier, Gewalt, Hass und Neid. Dieses fast schon zwanghafte Festhalten an Besitztümern und materiellen Dingen dieser Welt führt ja zwangsläufig zu Gewalt und Krieg, unabhängig davon, wie sehr man an Glück und Sicherheit interessiert ist.

Wie darf ich Ihnen das erklären? Dieses unsagbare Leid, welches durch grauenhafte Gewalt verursacht wurde, kann niemand wiedergutmachen. Wir können nur versuchen zu verhindern, dass aus diesem Schmerz nicht wieder Gewalt entsteht, das war und ist unsere Aufgabe.

>> Utopie, Zwangskommunismus! <<

Ich bitte Sie, jetzt wird es lächerlich! Ich spreche hier nicht einem Kommunismus das Wort, den hat es übrigens noch nie wirklich gegeben. Der diktatorische Kommunismus, der in zu vielen Ländern praktiziert wurde und immer noch praktiziert wird, hat doch mit sozialem und solidarischem Handeln nichts zu tun. Um das zu verstehen, müsste man allerdings ein humanistisches Menschenbild verinnerlicht haben. Hören Sie doch endlich auf, mich immer in ein linkes Eck zu stellen. Gut, wenn Gerechtigkeit und gerechte Umverteilung links sind, dann bitte, soll es mir recht sein! Mit dieser Schubladisierung kann ich dann gut leben, obwohl ich mich über Stigmatisierung schon geäußert habe. Ich spreche doch nur von ganz normalen Menschenrechten, von Fairness und Solidarität. Geben Sie doch ein Stück ab von dem Kuchen, Sie, die Banken und Großkonzerne haben doch maximal das Rezept geliefert, gerührt und gebacken haben ihn jene Menschen, für die Sie jetzt die Krümel übriglassen. Die Entsolidarisierung wird zurzeit mit Milliardenbeträgen für die Werbung von Konsumgütern unterstützt. Jeder versucht deshalb, sich auf Kosten der anderen Vorteile zu verschaffen.

Ich sage Ihnen jetzt noch was Spannendes: Wir müssen uns vom konsumorientierten und nur auf Gewinn ausgerichteten Denken und Handeln trennen. Schauen Sie doch die Realität an, schauen Sie hier in den USA auf die Städte, die durch den urbanisierten Turbokapitalismus zerstört wurden. Zuerst fraßen die großen Einkaufsketten den kleinen Laden um die Ecke, jetzt frisst der Onlinehandel die Einkaufsketten. Wir erleben Ghettos in den Stätten, das sind Brutnester für Gewalt und bittere Armut. Jede einzelne Bürgerin, jeder einzelne Bürger ist deshalb da draußen gefordert, diese Selbstzerstörung zu beenden. Das wollen Sie nicht hören, schon klar! Mit der Diktatur durch Geld und Macht muss trotzdem endlich Schluss gemacht werden, sonst wird es niemals Frieden für die Menschheit geben.

>> Linke Parolen, Aufruf zur Anarchie! Frechheit! <<

Bitte, bitte, um Ruhe, noch ein Satz! Erst dann, wenn uns allen das Gewinnen, im materiellen Sinn natürlich, nicht mehr wichtig sein wird, haben wir tatsächlich gewonnen: Unser aller Leben! Ja, ja, lachen sie nur, aber darüber sollten Sie nachdenken meine Herren, Frauen gibt es bedauerlicherweise in Ihrer Fraktion ohnehin keine. Teilen macht glücklicher und schlanker, meine Herren! Danke für Ihre Aufmerksamkeit!“

Die Kanzlerin und die Kumari

Answin Lundgren erlitt nach ihrem letzten Plädoyer im UNHauptquartier in New York einen Kreislauf- und Nervenzusammenbruch, sagten die Medienmacher. Nach einem längeren Aufenthalt im Krankenhaus in Stockholm und physischer Genesung kämpfte Answin Lundgren mit Panikattacken und Bewusstseinsstörungen. Schon vor ihrer Ankunft im Förlivet hier am Lygnörnsee hatte Answin Lundgren Wahrnehmungsprobleme, sie hat die Fähigkeit entwickelt, ihre Persönlichkeit auf unterschiedliche Erlebnisformen „aufzuspalten“. Sie weiß oft nicht genau, wer sie im Moment des Erlebens wirklich ist, da ist nicht nur ein ICH, da gibt es mehrere, die sie begleiteten, in tiefe innere Welten.

Ich sei geisteskrank, sagten die einen, die anderen meinten, ich sei ein Genie. Polaritäten bestimmen die Welt, was für eine triviale Erkenntnis! Was bedeuten Geisteserkrank oder ein Genie zu sein? Welche Parameter sind da entscheidend und wer bestimmt sie? Warum bin ich in Förlivet gelandet? Ja, es stimmt, die Angst begleitet mich zurzeit… Ich wollte doch die Menschheit vor der Selbstauslöschung retten! Ich bin Opfer nicht Täterin! Wer kontrolliert hier mein Leben, meine Gedanken? Wieso umkreisen mich diese Stimmen? Es sind doch meine Stimmen, meine Freunde! Oder? Ich liebe sie!

Keine Zukunft, keine Vergangenheit, nur grenzenlose Bewusstheit! Da ist sie wieder, diese Stille, diese Vertrautheit, das Schaukeln, dieses wunderbare Leuchten, so weit, so nah. Nur beobachten, dieser herrliche Frieden, loslassen und vergeben, diese bedingungslose Liebe. Was geschieht mit mir? Wer bin ich? Wo bin ich? Kein Ich, nur Selbst! Kein Körper, kein Raum, keine Zeit, nichts Greifbares und doch alles so klar, Leere und Fülle, nur Wahrheit und schöpferische Weisheit, die Geburt der Wirklichkeit. Nur Ganzheit, kein Außen, ewiges Licht, Geschichten, die erzählen, Illusionen, die verschwinden, nur Stille und Bilder im Jetzt!

Gibt es tatsächlich ein übergeordnetes, grenzenloses Bewusstsein außerhalb meines Bewusstseins? Wer oder was ist es, das mich ständig beobachtet? Wie entsteht die Konstruktion meines Geistes? Was hat mein Geist mit einem kosmischen Bewusstsein zu tun? Schizophrenie ist eine mental-neurologische Störung, sagen die Psychiater. Selbst wenn es so wäre, ich empfinde sie gerade als eine angenehme, eine spannende Bereicherung. Nein, Unsinn, ich fühle mich sehr präsent, voll in meiner Realität, ich habe die totale Kontrolle, ganz klar. Schließlich bin ich doch die Kanzlerin in diesem Land. Heute Nacht träumte ich wieder von meiner Reise nach Nepal und von der Kumari, meiner Traumfigur, sie war auch eine verzweifelte, eine gefangene Frau. Erinnerungen spielen mit mir, Blitzlichter beleuchten bildhafte Momente im Gehirn, ich kann ihnen oft nicht mehr folgen. Verwirrungen, Bilder aus einer scheinbar anderen Zeit dringen in meine Gegenwärtigkeit. Manchmal höre ich sie, ihr Lachen, ihr Schreien, dann sprechen sie mit mir, die „Persönlichkeiten“ in mir. Doktor „Schlaumeier“, mein Psychodoc, meinte, mein Geist versuche die psychische Unordnung wieder auf die Reihe zu bringen, ich stehe unter Hochspannung, ich konstruiere multiple Persönlichkeiten, ich soll sie annehmen, ihnen Namen zuweisen. Was für eine Erkenntnis – das mache ich doch schon seit Ewigkeiten. Ich war erschöpft, kraftlos, wollte nur mehr meine Ruhe, aber – die Kämpferin in mir erlaubte es noch nicht. Es gebe noch so viel zu tun, flüsterte sie mir süffisant in mein inneres Ohr. Ich erzählte der Kanzlerin in mir von meinen „Entdeckungsreisen“, von der Kumari im Tempel des Königs und von der Kämpferin in mir. Es waren für mich so vertraute traumhafte Geschichten. Ich versinke jedes Mal in eine Art Trance, trete ein in eine andere Realität, ein Wechsel von einer Illusion in eine andere? Nach dem „Erwachen“ kann ich meine „Reisen“ oft nicht zuordnen. Wirklichkeit und Wahrheit verschmelzen. Wo ist der Unterschied?

Auf meinen Reisen krallte ich mich fest an fremden Kulturen, flog durch Traumwelten, vogelfrei, alles schien so wahr. Kathmandu in Nepal, sehr spannend, da begegnete ich einer anderen, es war die Demut, sie war da, sie war überall anzutreffen. Wie konnte ich sie nur so lange übersehen? Da war das Fest Indra Jatra beim Kumari Bahal, dem Tempel der Kumari, einer Göttin. Dort blitzte sie auf, die Erinnerung an das verlorene Glück. Kumari durfte den Tempel nur zu diesem Fest aus Respekt dem König gegenüber verlassen. Sie lebte in Einsamkeit, eingekerkert, da eine Heirat mit ihr Unglück bedeutete. In Einsamkeit und Demut zu leben, das war die Bestimmung der Kumari. Das war der Augenblick, in dem die Kumari in mir, in meinem „Tempel“ erwachte. In umnebelter „Klarheit“ fragte ich die Kanzlerin: Wieso fühle ich mich so eingesperrt? Was weiß ich schon von meinem Tempel? Mein Körper sei das Korsett der Freiheit, sagte die Kanzlerin.

Schreie, laute Schreie! Es waren diese Schreie der Nacht, die mich erwachen ließen, schweißgebadet, benommen, einsam, voller Angst. Angst! Wovor? Was sagten mir meine Traumbilder? Welche Energien mussten sich in meinen Träumen entladen? Welches Sein „erwacht“ im Traum? Immer diese Orientierungslosigkeit nach dem „Erwachen“, immer wieder dieses Navigieren hin zu einer Realität, welche vielleicht auch nur den „Wachzustand“ der nächsten Traumstufe einleitet. In welchem traumhaften Leben träumte ich, in einem Traum zu sein? Was war da noch unklar, manchmal auch dämonisch und verschlüsselt? Die Kanzlerin lächelt immerzu.

Welches Universum in mir wollte sich da offenbaren? Es schien wie ein Blick hinter den Spiegel. Das Dahinter, das Unbekannte, das Unbegreifliche wollte erforscht werden. Nur die Träume, die tiefgründigen, welche in einem anderen Bewusstsein zur Entfaltung gelangten, führten mich durch dieses scheinbar irreale Labyrinth hin zu meinen zeitlosen Universen, endlosen, gekrümmten Räumen. Da gab es nichts, und doch spürte ich sie immer wieder, meine Existenzen, meine tragenden Säulen – auch die verborgenen. Die Zeiten verkehrten sich in ihr Gegenteil. Die Zukunft wurde zur Vergangenheit im Schmelztiegel der Gegenwart. Also musste es doch ein ICH geben, das von allem wusste, aber ohne Bewusstsein von dem Urschlamm der Erkenntnisse. Die Kanzlerin machte oft solche Andeutungen. Sie steht über den Dingen, beobachtet alles. Lächelt immerzu!

Spannend, diese Begegnung mit der Kumari, sie ist in mir, unbewusst verrichtete sie im Schutz der Dunkelheit ihr Werk, wissend, dass wir alle nur scheinbar voneinander getrennt sind. Sie ist in vielen, vielleicht sogar in allen den zeitlosen, endlosen Räumen, die vom großen Geist dirigiert werden. Von welchen Illusionen werde ich zurzeit beherrscht?

Die Kumari, ja sie ist in mir, das weiß ich, das spüre ich, sie lässt mich nicht mehr los, diese Wut in ihr stand Pate für die mir nur allzu gut bekannte Gefangenschaft. „Kumari, ich werde dich befreien von den Quälereien des Königs. Dein Leid sollte sein Leid werden“, so schrie etwas in mir am Morgen nach der Demütigung, nach der Entmündigung durch den Richter der Macht. War es wieder „nur“ einer dieser Wachträume, im Land der „unmöglichen“ Möglichkeiten? Es war so ein Gefühl, als würde ich immer wieder gegen Gitterstäbe anrennen. Jedes Mal, wenn ich hoffte, einen Fluchtweg zu erspähen, wurden die Stäbe vor mir in die Erde gerammt, ganz tief und fest, bis hin zu meinen Wurzeln. Ich musste sie dann mühsam aus der Erde drehen. Welcher Erde? War es die Erde meiner schmerzhaften Geburt? Waren die Gitterstäbe die Säulen meines Tempels? Schutz und Gefängnis? Wo war mein Kathmandu? Irgendwann erkannte ich, dass Demut nicht mit Erniedrigung, nicht mit Selbstentwertung, nicht mit Selbstverachtung und nicht mit Demütigung im Einklang steht. Damals, in Kathmandu, war es so, da wurde mir bewusst, dass ich noch weite Reisen vor mir hatte, um den Tempel meines Selbst zu erforschen. Jede Säule eine tragende, so auch die Demut, die bescheidene, die neben der Verzweiflung, der Angst, der Einsamkeit, der Neugierde, der Ungeduld, der Verwirrung entdeckt wurde. Säulen können schwere Lasten tragen, verhindern zugleich die Durchlässigkeit, die Leichtigkeit des Lebens. Was bedeuteten diese Schriftzeichen, diese Symbole, diese archetypischen Formen auf den Säulen? Wer hatte sie in diese Steine gemeißelt, die von mir innig umschlungen mit ihren Botschaften in eine andere Form verwandelt wurden? Ich, ja ich wollte sie verschlingen, wollte sie begreifen, sie umarmen, diese Symbole, diese „Retter“ meiner Seele – nur: Wer war dieses ICH? Es schrie und weinte, vielleicht wie damals bei der Erstgeburt. War es eine Reinkarnation, ein neues ICH, ein neuer Körper – nur, ich bin doch keine andere, oder?

Waren sie, diese Artefakte auf den Säulen Wegweiser meiner inneren Landschaften oder meiner Vorleben im Zyklus der Wiedergeburten? Wo war die Quelle, die mich da führte? Wie viele Säulen stützten meinen Tempel? Säulen sind weiblich, dachte die Frau in mir so zwischendurch, auch wenn sie männlich erscheinen. Wir Frauen sind die tragenden Säulen, ja wir, meldet sich plötzlich die „selbstbewusste“ Säule in mir zu Wort. Wir Frauen verwelken nicht nach dem Glück, nach der Niederlage, wir machen nicht schlapp, wir richten uns immer wieder auf, wir werden nicht der Unterdrückung der Männer erliegen. Männer, hört ihr mir zu? Die Wehrlose, Gedemütigte spricht! Manchmal höre ich sie, ganz selten, sehr leise fleht sie in mir um Hilfe.

Wie viele Säulen braucht mein Dach, das getragen werden muss, um mich zu beschützen? Wovor – oder vor wem? Welche Übergriffe erscheinen immer noch so bedrohlich? Wo versteckt sich dieses „zerstörte“ ICH, welches beschützt werden will? Die Angst kommt immer wieder, scheinbar ohne Ursache, sie ist präsent, ohne Gegenüber, ohne Ding, ohne Ereignis, ohne direkte Bedrohung. Vorsicht, sagt da irgendwer in mir. Es ist diese Nähe, diese bedrohliche, diese unbegreifliche, sie macht Angst. Aber es war nicht immer so.

Meine Reise ging weiter zum Hochland von Tibet, zuerst in die Stadt Lhasa, dann weiter nach Gyantse. In Gyantse habe ich die Mutige entdeckt. Da leben Menschen bescheiden, in tiefster Armut, das braucht Mut. Menschen mit ihren strahlenden Gesichtern. Die Angst in mir wurde aufgelöst, nur Reis, Buttertee und ein Lächeln blieb. Alles teilten diese Hochlandmenschen mit mir, und es wurde immer mehr: die Zuversicht, die Ruhe, das Mitgefühl, die Zufriedenheit und die Wärme bei Minustemperaturen. Keine Sprache, nur gestikulierendes Verständnis. Ein Anflug von Erwachen, ein Gefühl von Angekommensein, von Angenommensein machte sich bemerkbar. Eine Ersterfahrung der besonderen Freude!

Wo war sie geblieben, die Angst? Vielleicht wurde sie mir von den Tibetern und Tibeterinnen oder den Mönchen abgenommen. Meditierende, dienende Mönche querten meine Wahrnehmung, ergänzten mein Bild der Demut. Selbst die Verzweiflung war meinem Gedächtnis scheinbar entschwunden – vergessen habe ich sie nicht, sie war wertvoll, sie erinnerte mich daran, dass Einsamkeit nur ein erdachtes Konstrukt ist. Die Einsamkeit floh aus meinen inneren Räumen, spielende, lachende Kinder tanzten um das flatternde Orange der Mönche. Sie alle hauchten ihre Wärme in die kalte Hochlandluft. Sehnsucht nach angstfreier Umarmung, der Mönche, der betenden Männer, nach dieser „verbotenen Nähe“. Vernebelte Freude, ein paar Zweige, ein paar Steine zum Spielen, Kinder, fröhliche Menschen, sonst nichts. Da entdeckten die staunenden Augen des kleinen Kindes in mir diese „andere Welt“ der Zuneigung. Die Erwachsene entdeckte das glückliche, kindliche Sein!

Dort, in Tibet, konnte das Kind in mir nach langer Zeit wieder wirklich herzlich über die „Erwachsenen“ lachen, über ein begreifbares, ein existentes ICH, so wie es die Tibeter und Tibeterinnen, die Mönche tun, trotz Unterdrückung, trotz der Zerstörung ihrer Tempel durch die chinesische Herrschaft.

Wo war die zerstörerische Zeit im UN-Hauptquartier, die Dummheit der Männer, die mich erstickte, da war ich so nah dran am Tod – und jetzt, im Gedanken an Tibet, bin ich wieder nah dran, diesmal am Leben, an meinem Leben. Die Verwirrungen in meinem geistigen Labyrinth gestatteten mir nur selten einen Blick in den Garten der Vernunft. Was war das Verbindende? Weshalb war ich wirklich dort? Was berührte mich an diesem Ort? Eine spielerische Erinnerung wurde wach, eine Unbekümmertheit, die Lust der Kinder beim Spielen berührte mich, wie schön, diese Zeit, diese nährende. Wahrnehmungen mit geschärftem Bewusstsein, mit Achtsamkeit und Demut gegenüber allem – was immer das auch sein mag – beschäftigten mich. Beobachten. Aufsaugen. Wertschätzen. Das wollte ich mitnehmen aus Tibet.

Warum wurde das alles in mir zerstört? Wer durfte sich dieses Recht nehmen und damit auch mein Leben? Diese Kinder, sie lebten hier ihr Leben, umarmt und geliebt, ohne Gewalt, ohne Entwürdigung, so schien es mir, so wollte ich es sehen. Sie bekamen die Nahrung, die sie brauchten. Die Liebe, die Zuneigung, das Lachen, die Zweige, die Steine, die singenden Mönche, kein Pathos, gelebtes Leben – oder doch nur wieder dieser Traum? Ich brauche diese träumenden Träume, sie sind die Musik. Wann erwache ich aus meinen Tagträumen?

Träume, sie waren da, so real, so spürbar wie nie zuvor. Neue Bilder und Geschichten, vermischt mit dem erlebten Tagesrest, konstruierten pittoreske Verwandlungen im tibetischen Hochland, in den kalten klaren Nächten, die so viel Wärme ausstrahlten. Das Fließende kam, Tränen der Freude, wieder das herzhafte Lachen der Tibeterinnen und ihrer zahnlosen, ebenfalls lachenden, rauchenden Männer. Yaks, die beim Kopulieren brüllten wie Esel. Glühende Lava floss ins Tal, durchschnitt das Eis. Mönche, sichtlich erregt, tanzten auf dem heißen Gestein. Diese Traumbilder wirbelten in meinem Gehirn durcheinander. Emotionen wurden wachgerüttelt. Erfahrungen mit Männern, mit Frauen, tauchten auf, manchmal war da auch Menschlichkeit dabei. Belastende Erlebnisse wurden nur mehr verschwommen, entstellt, verstellt, fragmentarisch wahrgenommen. Nähe und Distanz, nicht schon wieder, diese Ambivalenzen – Vater, lass mich raus aus deinen Krallen, ich liebte dich, ich hasste dich. Mutter schaute hinauf in den Himmel, doch da war niemand, kein Gott, der half in meiner Not, nur Leere.

Der Morgen war neblig, kahl und sanft. Es war wieder diese Begegnung mit der Zuversicht, der Ruhe, dem Mitgefühl, der Wärme. Die nächsten Säulen, dachte ich. Was haben da viele von uns verlernt in meiner westlichen Heimat? Was bedeutet schon Heimat, was die Welt, was das Universum? Wie eng ist dieses Denken? Was erleben Mönche, wenn sie nichtdenkend in Meditation versinken? Wo ist dann ihre „Heimat“?

Was haben wir uns da zerstört? Wo ist diese spontane Freude geblieben? Diese Freude, Menschen zu treffen – ohne Angst. Vor sehr vielen Jahren habe ich es vereinzelt zu Hause auch noch erlebt, dieses herzhafte Lachen. Jetzt ist es dort wohl auch verschwunden. Ertrunken im Morast von Habgier, Machtstreben, Geltungssucht und Gewalt.

Kumari, ich werde dich befreien von den Quälereien des Königs. Dein Leid soll sein Leid werden, schrie die Kämpferin in mir in die Hochlandschaft hinaus!

Reis, Tee und das Lachen, es ist so vieles in dieser „Leere“, dieser bereichernden „Armut“. Nur so kann man Tempel bauen, die Jahrtausende bestehen, eine Architektur, die verbindet, die Außenwelt mit der Innenwelt. Das Fundament. Doch sie kommen immer wieder, die Zerstörer der Kulturen: Sie zertrampeln die Heiligtümer, unsere Seelen, unsere Körper; es gibt kein Mitgefühl der Tyrannen, keine Vernunft. Aber meine Verbundenheit zu den vertrauten Menschen, dieser tragende Geist als zentrale Säule kann nicht zerstört werden, auch nicht von der Unmenschlichkeit der Diktatur des Geldes.

Ich übte mich täglich stundenlag in Meditation, im Loslassen von Rastlosigkeit, Zweifel, Ärger und sinnlichem Verlangen, mit dem Ziel, die völlige Bewusstheit zu erfahren. Ein ruhiger freudiger Zustand war der Lohn.

Answin geht schwimmen

Unruhig befeuert Answin Lundgren eine Zigarette nach der anderen, geht erst Richtung Seeufer, dann wechselt sie die Richtung, entschließt sich dann offensichtlich doch für die Nähe zum Lygnörnsee. Sie setzt sich am Seeufer in den warmen Sand, blickt nachdenklich auf das flimmernde Licht, glitzernd gleich einem Blütenfall auf der Wasseroberfläche. Ihr Verstand versucht die neuronalen Kartierungen im Gehirn durch eine virtuelle Imagination zu visualisieren, die inneren Bilder zu ordnen.

Answin Lundgren hat sich nach dem Strandspaziergang auf ihr Zimmer in Förlivet zurückgezogen, um die vergangenen Ereignisse zu verarbeiten. Sie liegt im Bett, spürt die Müdigkeit, versucht Schlaf zu finden – vergeblich, setzt sich im Bett auf und beginnt ihre Gedankenströme zu ordnen.

Ich bin eine Quasseltante, hat mein Mann manchmal sehr liebevoll gemeint. Man soll immer alles aufschreiben, hat er gesagt, vielleicht sollte ich das tun - wenn ich nicht so schreibfaul wäre. Ich fühle mich nicht mehr einsam, verlassen schon, seit mein Mann tot ist. Warum bist du gegangen, Phillip, du feiger Hund!

„Verzeih mir, ich halte das hier nicht mehr aus“, das war alles, nur dieser eine Satz hätte mich bei meinem letzten Besuch im Gefängnis wachrütteln sollen. Phillip, mehr war ich dir nicht wert, mehr hattest du mir nicht zu sagen? Ein Satz, der alles beendet? Wieso? Ich begreife es immer noch nicht! Soll ich Alexandra, unserer Tochter, auch so einen Satz schreiben? Soll ich mich auch davonschleichen, du hast es hinter dir, das hast du fein gemacht, das war nicht fair, Phillip, das war feige und rücksichtslos. Ja, das war es dann wohl – so einfach geht das. Mann bringt sich um – der Rest muss sehen, wie es weitergeht! Wir brauchen eine politische Lösung, hast du oft gesagt. Das war ja eine richtig saubere „politische Lösung“. „Blutige Revolutionen erzeugen nur wieder Hass“, hast du auch gesagt – und dann schneidest du dir die Pulsadern auf – du hast recht: Blut erzeugt Hass.

Wo ist deine Kraft geblieben, wir hätten das gemeinsam durchgestanden. Zwei Jahre noch, bei guter Führung vielleicht nur noch ein Jahr, dann hätten wir in Freiheit gemeinsam Alexandra gesucht. „Freiheit haben nur die, die an der Macht sind“, das hast du immer gesagt. „Niemand wird mich beugen“, das hast du auch immer gesagt. Jetzt haben sie doch gewonnen, die Mächtigen, ja, du hast dich nicht gebeugt, ein Held, ein Märtyrer – Gratulation. Zum Kämpfen braucht man aber Mut, Gefangenschaft braucht Kraft, braucht Liebe und Hoffnung. Ich dachte, wir wären uns da einig gewesen. Jetzt hast du alles verloren. Phillip, wo bist du, ich will mit dir streiten, verdammt. Das hättest du uns nicht antun dürfen, wie soll ich das Alexandra erklären? Ich hasse dich, ich werde nie mehr um dich weinen, dazu habe ich zu viel Wut im Bauch.

Gut, die Wut ist draußen, Reflexion ist angesagt – ganz ruhig: Wer gibt mir das Recht, so über Phillip zu richten? Kann ich nur annähernd nachvollziehen, wie es ist, eine Gefangene zu sein? Jetzt vielleicht schon. Wie es sich anfühlt, auf vier Quadratmeter dieser Welt reduziert zu werden? Ich kann nicht wissen, wie es ihm in dieser Enge ergangen ist, was das mit einem Menschen macht, vor allem mit einem Menschen, für den die Freiheit, die geistige und die physische, alles bedeutet.

Er hätte mit mir darüber reden können, ich war doch seine Frau. Wieso fehlte das Vertrauen?

Vielleicht wollte er mich nicht noch mehr belasten? Wie hätte er mir seine Suizidabsicht mitteilen sollen? „Answin, es tut mir leid, ich werde mich umbringen, bitte versteh mich!“ Was wäre für mich dann anders gewesen? Hätte ich ihn dann in die geschlossene Psychiatrie gebracht, wo man ihn mit Psychopharmaka vollgestopft hätte? Vielleicht, dann wären wir jetzt beisammen, was für eine Ironie! Nein, ja, ich weiß es nicht, nur so war ich ausgeschaltet, es hat mich kalt erwischt. Ja, ich fühlte mich gekränkt! Ist es das? Die große, die gescheite, die allwissende Super-Answin wurde nicht um Erlaubnis gefragt. Und noch was: Warum, hat uns Alexandra verlassen, ohne uns zu informieren? Ja, ja, ja, ich bin mit dem allen schon durch, ich habe verstanden. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, Phillip spricht jetzt zu mir.

Ich weiß, ich bin nicht fehlerlos, ich bin egoistisch, aber ich habe sie doch alle geliebt. Das Schweigen tut mir jetzt gut, es wurde schon so viel geredet. Begegnung, ohne reden zu müssen, das fühlt sich gut an, ich brauche diese Ruhe, ich bin wieder im Gleichgewicht – wie lächerlich, ich bin überhaupt nicht im Gleichgewicht. Ich ergebe mich! Ich gehe jetzt zum See hinunter, ich brauche den Blick in die Weite, ich will über das Wasser in Richtung Alexandra, meiner Tochter, schauen. Was sie wohl gerade macht? Hat sie einen Freund? Lebt sie noch?

Das darf ich nicht denken, natürlich lebt sie noch, es geht ihr gut, sie hat sicher ihren Spaß, vielleicht studiert sie? Es geht ihr gut, ich spüre das, sie schafft das, sie hat mein Blut, sie ist eine Kämpferin. Bitte, Alexandra, warte auf mich. Sie wartet auf mich, ich werde sie finden! Alexandra, du bist die Kraft, die ich brauche – sag jetzt nichts – ja, verdammt, ich gebe es ja zu, ich brauche sie. Ich gehe jetzt ins Wasser. Baden!

Oh, wie herrlich, so ganz nackt zu schwimmen, was für ein Gefühl, das Wasser, so weich, so warm, so einladend. Es ist alles so absurd, vor ein paar Tagen wollte ich noch bis zum Horizont schwimmen und nie mehr zurückkehren. Das Wasser tut gut, ich schwimme in mein neues Leben. Phillip, ich werde dir noch nicht folgen, Alexandra braucht mich, die Menschheit braucht mich. Phillip, du hättest das sicher so gewollt. Wenn du mich jetzt siehst, bitte hilf mir, dass ich unsere Tochter finde und dass ich die Kraft aufbringe, weiterzukämpfen, ich gebe nicht auf, ich werde nicht zu sehen, wie sie alles vernichten, die da draußen, durch ihre maßlose Gier.

Phillip, du, ich war nahe dran, verrückt zu werden, das heißt, sie denken natürlich ich bin verrückt, deshalb bin ich ja hier in Förlivet, ja, so ist das mit der freien Meinungsäußerung. Manchmal, ja, da höre ich Stimmen. Nein, keine Angst, alles nur Einbildung, der Stress, ich schaffe es, jetzt bin ich mir sicher. Du wolltest doch auch Alexandra suchen gehen, dich mit ihr aussöhnen, du hast Alexandra so sehr geliebt, ich weiß das.

„Du hast ihr das Leben zur Hölle gemacht! Alexandra musste uns verlassen!“

War das jetzt die Stimme von Phillip? Wo bist du? Das glaube ich jetzt nicht! Was passiert hier? Ja, ich war verletzt, ich fühlte mich einsam, du hast dich von mir abgewendet – es gab ja nur mehr Alexandra, alles drehte sich um Alexandra – ja, ich – heute sehe ich das mit anderen Augen – ja, ich war egoistisch, ich habe das so nicht gewollt, ja, es tut mir leid! Ich weiß, es sind oft die scheinbar kleinen Dinge, die unscheinbaren Verletzungen, die wir nicht erfassen in ihrer Tragweite, die einmalig sind und so vieles auslösen. Dann, der Job als UN-Generalsekretärin, du weißt doch … was sollte ich tun? Hätten wir damals nicht gestritten, Phillip, dann wärst du vielleicht nicht zu dieser Demonstration gegangen, dann hättest du dich nicht mit der Polizei geprügelt, dann hätte es keine Verurteilung gegeben, dann wäre …, wenn, dann, was soll dieser Unsinn?

Aber vorhin, seine Stimme, Stimmenhören ist doch keine Kleinigkeit – bin ich doch schizophren? Diese Stimmen, nein, es ist die Sonne oder die Müdigkeit. Im Lygnörnsee kommt die Wahrheit an die Oberfläche, sagen die Einheimischen. Fakt ist: Wäre ich nicht hierhergekommen, hätte ich nicht erlebt, wie wichtig mir Alexandra ist. Ich habe das alles verdrängt. Wie konnte mir das nur passieren? Phillip, bist du noch hier?

Jetzt muss ich aber wieder zurückschwimmen, mir ist kalt, und meine Kräfte lassen nach. Ich werde doch jetzt nicht ertrinken? Nein, keine Angst, ich schaffe das schon, ich wusste nicht, dass ich schon so weit draußen bin. Das wäre ja – nein, daran darf ich gar nicht denken, jetzt, wo ich leben will, ich muss doch noch … bleib ruhig, mach langsame Tempi, teil dir deine Kraft ein. Ich werde ein wenig rückenschwimmen, das entspannt mich sicher. Ja, so ist es besser.

Ich bin arrogant und egoistisch, hat Alexandra gesagt, wie Recht sie hatte, dieses herrliche Wasser, ich war ein krankes Arschloch, und wenn ich hier ertrinke, dann bin ich auch noch ein blödes Arschloch. Dieses bodenlose Gefühl, wie tief ist es hier? Immer politisch und kritisch bleiben – tief atmen, ganz ruhig –, dafür lebte ich. Mit dem Kopf durch die Wand! Immer nur denken, rationalisieren, kompensieren und funktionieren, nur keine Gefühle zeigen, damit ist jetzt Schluss. Die Welt verändern, die Menschheit retten, wie lächerlich, für diesen Größenwahn habe ich sogar meine Tochter geopfert. Super, Answin, das hast du gut gemacht. So, gleich habe ich es geschafft, nur noch ein paar Meter. Ich bekomme einen Krampf in der linken Wade, den Fuß durchstrecken, damit sich die Wade entkrampfen kann, so, jetzt geht es besser. Der Kampf mit dem Krampf, immer ganz vorne, wie Mutter, ab jetzt kämpfe ich um meine Tochter – oh Gott, lass mich nicht absaufen – wie weit ist es noch?

„Das war wieder typisch Answin, was willst du dir beweisen, das war riskant.“

Wo bist du?

„Ich war doch immer schon da.“

Ich halte das nicht mehr aus, ich brauche Boden unter den Füßen. Wenn man will, kann man alles schaffen, das hat sie immer gesagt, Mutter war immer stolz auf mich, sie war eine Kämpferin, eine tolle Frau.1956 ist sie aus Ungarn geflüchtet, hat es bis Paris geschafft, da hat sie dann Vater kennen gelernt, kurz darauf sind beide nach Schweden, dann bin ich gekommen. Mutter war ein extrem politischer Mensch, immer an vorderster Front, damals 1968 in Paris, immer auf der Seite der Unterdrückten, der Schwachen, und ich war als junges Mädchen immer dabei, bei allen Demos, sie hat keine ausgelassen. „Die Rechte der Frauen, dafür muss man kämpfen!“, hat sie immer gesagt, „von sich aus geben die Männer gar nichts her. Männer und Macht, das sind eineiige Zwillinge, die wollen sich nicht trennen.“ Einmal, ich erinnere mich noch ganz genau, sie hatte zu viel getrunken, ich war noch nicht ganz elf Jahre alt, da schrie sie Vater an: „Die Macht der Männer hat uns vertrieben. Stalin in seinem kranken Größenwahn hat den Sozialismus zerstört, hat die Idee zerstört. Nur wir Frauen sind bereit für die wahre Revolution, die Pariser Kommune hat es bewiesen.“ Ja, so war sie.

Es ist so schön hier auf dem Trockenen, in der Sonne, die Beine lang machen und den Tag vorbeiziehen lassen – huch – das war knapp. Vater war ein Weichei, er machte alles, was Mutter wollte, sonst wäre er wahrscheinlich nicht mein Vater gewesen. Mit Macht kannte sich Mutter wirklich sehr gut aus. Ich musste auch weg, sonst hätte es kein Entrinnen gegeben, sie war so dominant, geliebt habe ich sie trotzdem. Das kleine Äffchen machte dem großen Äffchen alles nach. Manchmal ist es wirklich so einfach, aber ich lerne, Alexandra, du wirst sehen, ab jetzt hast du wieder eine Mutter, die ihre Gefühle zu dir wiederentdeckt hat.

Phillip war kein Weichei, dafür liebte ich ihn, er ist für etwas gestanden, er hätte sich nie von mir unterbuttern lassen, er gab mir Sicherheit, auf ihn konnte ich mich verlassen, jetzt hat er mich verlassen! Enttäuschung hat so viel Klarheit. Selbst seine seltene Traurigkeit mochte ich, da zeigte er ein wenig Schwäche, nein, zum Traurigsein braucht man Stärke, nur er dachte, es sei eine Schwäche. In diesen Momenten durfte ich ihn bemuttern, ihm „die Brust geben“.

„Säugst du mich schon wieder?“, fragte er dann, und wir lachten beide herzhaft. Danach zeigte er mir seine steife Kraft. Der Sex fehlt mir auch, Phillip, und wie er mir fehlt. Sex ist für mich nur gut, wenn ich auch lieben kann, du hast mich als Frau sehr glücklich gemacht, klingt kitschig, aber es war so. Es war dieses tiefe Vertrauen, das war es, ich hätte es dir sagen sollen, ich weiß, so vieles wollte ich dir noch sagen, meine Arroganz hielt mich davon ab, das tut mir leid, sehr Leid. Warum muss ein Mensch erst gehen, bevor man erkennt, was alles nicht gesagt wurde? Ich bin schon so gespannt, wie es hier weitergeht. Der Weg der Erkenntnis führt mich immer durch das Tal meiner Schatten.

Die Kanzlerin und der Dichter

Der Dichter erzählte – für die Kanzlerin nicht überraschend – gleich sehr vertrauensvoll über seine Probleme, über seine hoffnungslose Situation, über seine Arbeit als Schriftsteller, sein Scheitern, über seine spirituelle Vergangenheit, über seine Lebensphilosophie, so als wäre es sein letztes Gespräch im Leben. Die Kanzlerin war tief beeindruckt, sie wollte den Poeten, Philosophen und spirituellen Menschen unbedingt noch besser kennen lernen.

„Lieber Dichter, schön, dass du hier bist, das wollte ich dir schon lange mitteilen. Was treibt dich herum?“

Der Dichter ist mein Mann für dieses Projekt, das spüre ich!

„Ich war gerade auf Wortsuche. Du kennst das sicher auch, man sucht und sucht den richtigen Begriff und findet nicht hin zu dem Wort, zu dem erlösenden Wort, möchte ich fast sagen. Wörter, ach Gott, Wörter! Dabei geht es doch um viel mehr, um die Bedeutung, den Kontext, um die Zwischenbereiche.“

„Ich kenne das sehr gut, wenn es für dich in Ordnung ist, dann reden wir ein wenig über die Sprache, du bist ja der Poet, der Journalist – was bedeutet für dich Sprache?“

„Oh Gott, Poet, Sprache - ich weiß nicht … da müsste ich ja bei Goethe anfangen, dann Habermas oder Lacan vielleicht auch noch erwähnen. Lacan fällt eher in deinen Bereich, du bist ja die Psychologin.“

„Lacan? Ja, die Sprache als Symbol, Lacan meinte: Das Unbewusste ist wie eine Sprache strukturiert. Allerdings ist Lacan nicht unumstritten, ein großer Denker und Analytiker, keine Frage. Sich jetzt mit Lacan und seinem Strukturalismus zu beschäftigen würde zu weit führen, würde mich auch überfordern.“

Ich habe seine Theorien auch nicht studiert, ich bin bei C. G. Jung und Sigmund Freud hängen geblieben, denkt die Kanzlerin. Man will sich auch keine Blöße geben. Ich möchte mich erst später mit des Dichters Problemen, seinen „Schatten“ befassen. Vorerst will ich seine intellektuellen Fähigkeiten kennen lernen, mich auf seine Ressourcen konzentrieren, das wird auch für den Dichter hilfreich sein.

„Habermas sagte: Sprache ist der Boden der Intersubjektivität.“, holt der Dichter aus. „Jeder Mensch kennt das Gefühl, würde ich sagen, bevor sich eine Lebensäußerung objektivieren kann – sei es in Worten, Einstellungen oder Handlungen, da wird die Symbolik sehr wichtig. Goethe sagte dazu sinngemäß: „Das Symbol ist eine erkenntnisreiche Kraft, die im Besonderen das Allgemeine und umgekehrt darzustellen vermag. Wir verwenden oft den Begriff Licht für das Göttliche, den Geist oder die Erkenntnis. Symboliken erscheinen als Idee, sagt Goethe, die Idee wird zum Bild, es ist unendlich wirksam und bleibt unerreichbar. Wir kennen doch symbolische Begriffe, die eigentlich unaussprechbar in ihrer wahren Bedeutung sind. Wie gesagt, im Unterschied zur rationalen Assoziation, sie verformt die Fantasien in eine Begrifflichkeit, diese dann in ein Bild oder eine begrenzte Erscheinung, könnte man sagen. Das, scheint mir, ist das Besondere der Poesie, wo es als Muster des Allgemeinen gesehen werden kann, dadurch wird das Besondere lebendig.“

„Irgendwo in der Mitte bin ich ausgestiegen. Schön gesagt, lieber Dichter! Ja, der Habermas, Goethe, die Philosophie, alles sehr komplex – aber, ich gebe zu, sehr spannend.“

„Für mich kommt der Sprache“, übernimmt wieder der Dichter, „geschrieben, gelesen oder gesprochen, ja eine oft unterschätzte Trägerfunktion zu. Ja, Sprache soll tragen, die unbewusste Last übertragen, würde der Analytiker gleich einwenden – oder? Nein, nein, warte noch, lass mich den Gedanken zu Ende spinnen. Die Sprache, der Text, ich habe schon so viel über dieses Thema nachgedacht, wurde zwar, zusammen mit anderen kreativen Errungenschaften der Menschen, zum zentralen Medium der Kommunikation, aber ich habe den Eindruck, die Menschen verstehen immer weniger voneinander. Wer hört denn wirklich aufmerksam zu? Wir reden zu viel gegeneinander und zu wenig miteinander.“

„Ganz genau, das ist das Problem, lieber Dichter. Generell glaube ich, dass Kommunikation ohne Missverständnisse - im besten Sinn gemeint - kaum bis gar nicht möglich ist, da jeder aus seinem Erfahrungsschatz - dem eigenen Universum - schöpft, das der andere nur in Bruchstücken kennt; manchmal passieren allerdings Begegnungen der besonderen ART, da stimmen die Resonanzen, wie bei Seelenverwandtschaften, da bedarf es dann auch nur weniger Worte, um den Geist des Gegenübers zu erfassen.“ Ganz selten fühlte ich mich einem Menschen so nahe, denkt die Kanzlerin.

„Sehe ich auch so“, sagt der Dichter mit triumphierender Gestik. „Der Sinn der Sprache ist doch unter anderem auch, eine Botschaft zu vermitteln. Manchmal muss erst eine neue Sprache gefunden werden, um neue Ideen zu transportieren. Ich meine, die Lebendigkeit der Sprache sollte wieder mehr kultiviert werden, um den Rhythmus der Sprachmelodie zu spüren. Denn nur wenn Gedanken im Urgrund des Gefühls entstehen, ist Sinn und Wahrhaftigkeit erlebbar.“

Sichtlich beeindruckt meint die Kanzlerin: „Du meinst, wir können die Resonanzen des Gegenübers nur über die Melodie der Sprache zuordnen? Ich stimme dir zu, möchte nur ergänzen, dass die Gestik, die Körpersprache auch ein Ausdruck des Unbewussten ist. Viele Menschen neigen dazu, das Gehörte abzuwerten, wenn sie sich unterlegen fühlen, manche Menschen idealisieren ihren Gesprächspartner. Witzigerweise zeigen sie damit aber nur, wie schwach der eigene Selbstwert ist. Wer von uns ist schon fähig, permanent das Gesagte zu reflektieren, ein schwieriges Unterfangen.“

„Stimme dir zu, mein Selbstwert ist zurzeit auch im Keller, zur Sprache wollte ich noch was einbringen: Mit allen Sinnen meine ich, Sprache ist doch wesentlich mehr als die Aneinanderreihung von Lauten. Ein Wort kann ja, abhängig davon, von wem es ausgesprochen wird, in welchem Kontext, mit welcher Gestik – du weißt schon –, ganz unterschiedlich empfangen werden. Wir erfinden immer mehr neue Wörter, wir erfinden aber den Menschen nicht neu, den Zuhörenden, meine ich damit. Ich kenne so viele Menschen, die reden und reden, sagen aber nichts – vom Zuhören weit entfernt. Kommunikation degeneriert zur Einbahnstraße. Wenn du heute jemanden suchst, der wirklich zuhören kann, dann buche einen Therapeuten, da kannst du mir sicher zustimmen. In Amerika bekommen die Analytiker und Therapeuten schon billige Konkurrenz. In der New York Times habe ich im Inseratenteil gelesen: Für 10 Dollar höre ich Ihnen eine Stunde zu. Das sagt doch alles!“

„Vereinzelt kommt das sicher vor, lieber Dichter. Wir Psychoanalytiker*innen machen oft auch nicht viel mehr, wir hören zu, nach Möglichkeit aufmerksam, manche schlafen sogar dabei ein, während der Patient seine Assoziationen von sich gibt. Vielleicht hat Freud deshalb die Sitzposition des Analytikers hinter der Couch so positioniert, unsichtbar für den Patienten – war ein kleiner Scherz. Mein Problem ist - wenn ich mit Politiker*innen spreche – ein wenig Achtsamkeit zu bekommen, Achtsamkeit für das Wesentliche. Was wir daher tatsächlich benötigen, ist die Fähigkeit, menschliches Bewusstsein zu einem Medium der wahrhaftigen Verständigung zu entwickeln. Wir müssen uns mehr in Richtung transpersonaler Bewusstseinsebene bewegen. Wir sprechen nicht immer mit dem Herzen, noch weniger empfangen wir mit dem Herzen die wesentlichen Botschaften. Die meisten Menschen, vor allem Politiker*innen, interpretieren die Symbole der Sprache auf einer kognitiven, meist sehr konditionierten Ebene. Dadurch erkennen sie die subjektive Bedeutung der Emotionen unseres Gegenübers nicht im ursprünglichen Sinn. Die Deutung ist das eine, die wahre Bedeutung das andere, das ist oft das Dilemma, das nicht nur uns analytisch-empathisch geschulte Menschen betrifft. Wahrheit entsteht also, indem wir Informationen innerhalb vertrauter Sprachmuster interpretieren, aber eine Interpretation, die sich nur innerhalb der bekannten Sprachmuster bewegt, kann nicht die ganze Wahrheit sein, das sollte sich auch die reduktionistischen Wissenschaftler*innen hinter die Ohren schreiben. Unsere Sprache und deren Grammatik greifen oft zu kurz, sind zu sehr an unsere physikalische Erfahrung angepasst, sie sind maximal dreidimensional, aber unser Leben in seiner Gesamtheit ist viel komplexer. Unser Sprachvolumen spiegelt uns ein Bild einer imaginierten materiellen Welt. Die Sprache für die Wirklichkeit haben wir noch nicht erfunden oder gefunden. Und noch was: Unser EGO: Die Polaritäten in uns sind oft zu mächtig, alles wird immer gleich bewertet – gut oder schlecht – auch so ein Muster – unsere Gedanken funktionieren anscheinend so. Vielleicht können deshalb viele Menschen nicht wertfrei und aufmerksam zuhören. Aber, lieber Dichter, unser Unbewusstes hört alle Zwischentöne, dort spielt die wahre Musik des Lebens – darüber möchte ich aber jetzt noch nicht zu ausführlich sprechen. Diese Zwischentöne aus dem Unbewussten, sie werden bei unserem Projekt von großer Bedeutung sein. Spannend, sehr, sehr spannend! Die Sprache wird ja, wenn ich das als Psychoanalytikerin jetzt doch noch einbringen darf, auch als Projektionsfläche für intra- und interpersonelle Prozesse verwendet, das meinte ich vorhin mit Abwertung oder Idealisierung des Gesagten, je nach Übertragungsdynamik, aber das nur so am Rande. Es geht da oft um eine, wie formuliere ich es, um eine emotionale Entlastung, vorsichtig ausgedrückt, manchmal zum Leidwesen des Gesprächspartners. Es ist schon irgendwie paradox: Viele Menschen können sich nur emotional entlasten, indem sie ihre eigene Kränkung auf den Gesprächspartner projizieren. Wenn sie andere Menschen demütigen oder beleidigen, offenbaren sie ihre selbst erlebte Kränkung. Das Gegenüber wird zur Projektionsfläche. In dieser Situation können sie natürlich diese Dynamik nicht reflektieren. Diese Reflexion kann nur im therapeutischen Raum stattfinden. Da kann dann sehr wohl über den emotionalen sprachlichen Ausdruck, zusammen mit der Körpersprache, das Verdrängte, der Schmerz wahrgenommen und integriert werden. Aber was rede ich da? Weißt du, Dichter, wir Psychoanalytiker*innen sind ja in gewisser Hinsicht Sadisten, ja, das sind wir, wir lassen den Patienten leiden. Paradoxerweise findet dann der oder die Leidende in der wiederbelebten emotionalen Situation, meist nahe dem Abgrund, doch noch zu den heilenden Wörtern und Erkenntnissen. Er oder sie erkennt und heilt somit sich selbst oder, besser, das SELBST. Wie sagte doch Friedrich Schiller so schön: Nur die Fülle führt zur Klarheit, und im Abgrund wohnt die Wahrheit. Ach, ich verrenne mich schon wieder, ich möchte dich nicht langweilen mit meinen Theorien.“

„Ich bitte dich, Kanzlerin, ich finde es sehr spannend, erinnert mich an die eine oder andere Therapiesitzung – ich höre mit dem Herzen – versprochen!“

Die Kanzlerin hat nun ihre fachliche Kompetenz klar zum Ausdruck gebracht.

Ich habe das Gefühl, mein Unbewusstes hat die Zwischentöne wahrgenommen, ich verstehe mehr von dem, was nicht ausgesprochen wird, eine Kommunikation auf einer anderen Ebene, denkt der Dichter. Was wird das wirklich? Ein Seminar über das Wesen der Unzulänglichkeiten unserer Sprache? Sie ist mir sympathisch, ein hochinteressanter Mensch, ich spüre so eine besondere Nähe. Am Telefon, bei unserem Erstkontakt, da hatte ich ein anderes Bild von ihr, sie hatte da so ein flehendes therapeutisches Gehabe, so ein Helferdeutsch, so ein … Ichverstehe-dich-Kauderwelsch … bitte bring dich nicht um … und so … aber irgendwie doch sehr vertrauensvoll. Andererseits, ich war ja auch verzweifelt, wesentlich verzweifelter als jetzt. Der Suizid war tatsächlich eine Option, was ich auch ganz klar zum Ausdruck brachte. Gott sei Dank scheiterte ich dann doch beim Gedanken an die Wahl der Methode. Wie tötet man seinen Körper schnell, schmerzfrei und möglichst unbewusst? Am nächsten lag dabei der Gedanke an eine Überdosis Schlaftabletten. Aber die Angst, als Komapatient oder Gehirngeschädigter am Leben zu bleiben, hielt mich davon ab, diese Variante zu wählen. Andere brutale Methoden wie Erhängen oder Erschießen kamen für mich ohnehin nicht in Frage.

Er denkt nach, er beobachtet mich, denkt die Kanzlerin, er will wissen, auf was oder wen er sich da einlässt, er kann mich noch nicht richtig einordnen. Er befindet sich, meiner Einschätzung nach, auf einem hohen Bewusstseins- und Reflexionsniveau, das ist auch gut so. Ich schätze, er könnte für das Projekt eine wichtige Säule sein. Er ist nicht wirklich suizidgefährdet, oder doch? Nein, das ist er nicht – er ist hier. Sicher, sein EGO ist schwer gekränkt, sein SELBST ist hellwach, das spüre ich. Ich habe so ein Gefühl, als ob ich mit dem Dichter gemeinsame Kommunikationsräume betrete.

„Wo war ich?“, fragt die Kanzlerin. Ja, unsere Intuition … sie bedient sich des riesigen Informations- und Wahrnehmungsspeichers, der dem Unbewussten offen steht. Achtundneunzig Prozent unserer Handlungen werden unbewusst ausgeführt, ist jetzt für dich wahrscheinlich nichts Neues, aber das muss man sich einmal vorstellen. Nur zwei Prozent unserer bewussten Denk- und Wahrnehmungsfähigkeit unterliegen der Täuschung, dass sie die Gesamtheit aller Wahrnehmungen erfassen. Und was noch schlimmer ist: Diese zwei Prozent der bewussten Wahrnehmung zaubern eine Illusion der Wirklichkeit – phänomenal, oder? Unser Denken, Fühlen und Handeln werden aber zum Großteil von unserem Unbewussten gesteuert. Wir wissen schon seit Schopenhauer und Freud, dass wir triebgesteuert sind, glauben aber immer noch, wir treffen nur kognitive Entscheidungen. Der Mensch kann zwar tun, was er will, aber er kann nicht wollen, was er will, schrieb Schopenhauer. Wir denken nur, wir sind das Ganze, und versuchen oft krampfhaft, das Unbewusste zu übertrumpfen, oft ein Leidensweg, das EGO befindet sich dadurch ein Leben lang in dieser Kampfsituation – bis hin zu suizidalen Gedanken. Der Kampf des EGO gegen das Unbewusste, die unendliche Bewusstheit, kann nur verloren werden. Denn im Unbewussten, dort ist die Heimat unseres SELBST, werden die wahren Entscheidungen des Lebens getroffen. ES kommuniziert ja auch mit uns. ES wendet sich oft in einer Sprache an uns, die über Wörter weit hinausgeht, du hast es vorhin angedeutet. Dazu gehören intensive Empfindungen und die vielfältigsten Bilderwelten. Intuition ist die Weisheit des Unbewussten, deshalb sollten wir mehr Achtsamkeit auf unsere Intuition verwenden. Nur dann können wir etwas unmittelbar erkennen, ohne darüber nachzudenken. Es ist die Zeit der Reifung im kreativen Prozess – die Inkubationszeit, da entstehen die wahren Ideen, Ideen, die unser Leben oft radikal verändern könnten. Ja, könnten, im Konjunktiv liegt die Betonung.“

„Sehe ich auch so, aber in beide Richtungen!“, erwidert der Dichter.

„Einverstanden, bleiben wir bei der positiven Richtung. Dichter, du bist ja Literat, eine Frage, nur so als Beispiel: Bei der Suche nach einem poetischen Text – wie ist das? Wenn alle Aspekte und Informationen, wie das Lesen von Texten, Tagebüchern etc., die man als Grundlage auf der Suche nach einem literarisch-poetischen Text benötigt, bedacht sind, brauche ich ja dir nicht zu erklären, dann kann man sich doch zurücklehnen und warten – oder? Alle Informationen wurden dann ja vom poetischen SELBST bewusst oder auch unbewusst aufgenommen. Die weitere Arbeit kann jetzt dem Unbewussten überlassen werden. Das Unbewusste arbeitet ohne Zensur und Grenzen, es verfügt über ein fast unerschöpfliches Potenzial an Wissen und Wahrnehmungen, da es ja Zugang zur unendlichen Bewusstheit hat.“

„Ja, so könnte es …“

„Warte, warte … und dann, du kennst das sicher, du bist ganz entspannt, und plötzlich: Der gesuchte Text ist da, scheinbar aus dem Nichts wird eine Lösung präsentiert. Ist das nicht fantastisch? Deshalb brauchen wir ein Bewusstsein, das uns den Zugang zum Unbewussten ermöglicht. Es scheint doch so, als wäre das ein Paradoxon, ich weiß, dass du das jetzt gedacht hast – oder? Der alte Freud, er hatte Recht – nicht in allem, der C. G. Jung hat ihm da einen Strich durch die Rechnung gemacht mit dem kollektiven Unbewussten – aber dazu kommen wir vielleicht noch später.“

„Ja, so könnte ES sich ereignen, um in der Freud`schen Diktion zu bleiben. Der Jung ist mir aber auch näher. Wie auch immer! Liebe Kanzlerin, es freut mich, dass dir die Poesie so wichtig ist – heutzutage wird ja nur mehr in Kürzeln und Anglizismen gesprochen, eine Unkultur macht sich da breit. Ich denke, dass die Dichtung wahrer als die wissenschaftliche Wahrheit ist, sie ist der Ort, wo sich die Magie der Sprache entfalten kann, wo weitere sprachliche Dimensionen eröffnet werden. Ja, natürlich, der Mensch erlebt sein Dasein auch über die Sprache. Die Kunst besteht darin, neue Sprachfelder zu entdecken, aufgrund derer wir der Wahrhaftigkeit etwas näher rücken.“

„Lieber Dichter, dabei stoßen wir aber an Grenzen. Wie soll man ein starkes Gefühl, eine überwältigende Erfahrung sprachlich vermitteln? Nimm die Liebe, wer kann dieses wunderbare Erlebnis sprachlich so übersetzen, dass der andere es genauso nachempfinden kann?“