Apokalypse-Band-3 - Peter Zimmermann - E-Book

Apokalypse-Band-3 E-Book

Peter Zimmermann

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Beschreibung

Ist die Apokalypse noch aufzuhalten? Diese Roman-Trilogie ist ein Erlebnis mit literarischen Kunstgriffen der besonderen ART. Jede Romanfigur präsentiert sich auch über eine individuelle Form (eigenes Schriftbild) und spannende Dialoge mit innovativem Erzählstil. Der Text ist ein Angebot an die grenzüberschreitende Fantasie der Leser/innen, in andere Bewusstseinszustände einzutauchen. Ein Experiment, das auf einer neurophilosophischen, psychologischen und spirituellen Basis die alten metaphysischen Fragen nach dem ICH, dem SELBST, dem Bewusstsein, dem SEIN, dem „freien Willen“ und nach „Gott“ in einer neuen, zeitgemäßen und spannenden Perspektive darstellt. Ein Wechselspiel zwischen Realität und Illusion soll die Leser/innen anregen, über Wahrheit und Täuschung zu reflektieren. Der Autor erzählt von unterschiedlichen Begegnungen der Romanfiguren, von Bewusstem und Unbewusstem, von Leben und Tod, von Gewalt und Krieg, von Verzweiflung, Angst und Lebensüberdruss, von Liebe und Wertschätzung, auch in einem gesellschaftspolitischen Kontext. Ist die Menschheit noch zu retten? Wenn ja - wie?

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Die Kunst ist lang, das Leben kurz, das Urteil schwierig, die Gelegenheit flüchtig. Handeln ist leicht, Denken schwer; nach dem Gedanken handeln unbequem. Aller Anfang ist heiter, die Schwelle ist der Platz der Erwartung. Der Knabe staunt, der Eindruck bestimmt ihn, er lernt spielend, der Ernst überrascht ihn. Die Nachahmung ist uns angeboren, das Nachzuahmende wird nicht leicht erkannt. Selten wird das Treffliche gefunden, seltner geschätzt. Die Höhe reizt uns, nicht die Stufen; den Gipfel im Auge wandeln wir gerne auf der Ebene. Nur ein Teil der Kunst kann gelehrt werden, der Künstler braucht sie ganz. Wer sie halb kennt, ist immer irre und redet viel; wer sie ganz besitzt, mag nur tun und redet selten oder spät. Jene haben keine Geheimnisse und keine Kraft, ihre Lehre ist, wie gebackenes Brot, schmackhaft und sättigend für einen Tag; aber Mehl kann man nicht säen, und die Saatfrüchte sollen nicht vermahlen werden. Die Worte sind gut, sie sind aber nicht das Beste. Das Beste wird nicht deutlich durch Worte. Der Geist, aus dem wir handeln, ist das Höchste. Die Handlung wird nur vom Geiste begriffen und wieder dargestellt. Niemand weiß, was er tut, wenn er recht handelt; aber des Unrechten sind wir uns immer bewußt. Wer bloß mit Zeichen wirkt, ist ein Pedant, ein Heuchler oder ein Pfuscher. Es sind ihrer viel, und es wird ihnen wohl zusammen. Ihr Geschwätz hält den Schüler zurück, und ihre beharrliche Mittelmäßigkeit ängstigt die Besten. Des echten Künstlers Lehre schließt den Sinn auf; denn wo die Worte fehlen, spricht die Tat. Der echte Schüler lernt aus dem Bekannten das Unbekannte entwickeln und nähert sich dem Meister.

(J.W. Goethe -Wilhelm Meisters Lehrjahre)

Im Gedanken und tiefer freundschaftlicher Verbundenheit für Margaritha und Ralph!

Inhalt

Was bisher geschah…

Einleitung

Annas Einkehr

Therapiesitzung – Anna und Diogenes

Traunsteins besinnliche Einsichten

Giorgios Reflexionen I

Lettas Rückzug

Giorgios Reflexionen II

Die „Reisen“ von Yvonne

Diogenes und Rakovsky im Atelier

Yvonne, Rakovsky und Diogenes

Weisheit und Komplexität

Diogenes und Giorgio

Meditation

Krankenhaus Florenz

Was bisher geschah…

Im 1. Band der Romantrilogie “Apokalypse” treffen einander sieben Personen, Männer und Frauen, die verschiedene Berufe ausüben, an einem idyllischen See (Trasimeno) in Italien bei dem Psychoanalytiker Diogenes – allerdings nicht, um sich einer Therapie zu unterziehen. Sie alle sind Gescheiterte und mehr oder weniger entschlossen, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Zuvor aber planen sie noch ein gemeinsames Projekt: sie diskutieren die Fehlentwicklungen in unserer Welt und wollen herausfinden, welche Voraussetzungen geschaffen werden müssen, damit sinnvolles Leben wieder möglich wird. Mila, die Ärztin, eine Teilnehmerin der Gruppe, war am Ende des ersten Bandes gerade dabei, sich tödliche Spritzen zu setzen. Wird sie es tun…?

Der 2. Band der Romantrilogie “Apokalypse” nimmt eine unerwartete Wendung. Mila hat es tatsächlich getan, durch ihre Selbsttötung bekommt der Roman eine Wendung. Die Beziehungen unter den anderen Protagonisten/innen vertiefen sich, authentische Kommunikation kommt zustande. Es gelingt allen ohne Scheu über ihre Verletzungen, Schuldgefühle und Versagensängste zu sprechen, dabei erkennen sie, dass Verzeihen und Versöhnung die Voraussetzungen für Selbstheilung sind. Damit verliert ihr Todeswunsch seine Dringlichkeit und sie fassen neuen Mut. Mit der Rückkehr ins Leben erwacht nun der Wunsch, diese Welt, die sie und viele andere in Verzweiflung gestürzt hat, positiv zu verändern.

Ein breiter Raum wird dabei der Rolle der Kunst und der Meditation gewidmet.

Diogenes, der die Gruppe leitet und der in seiner Spiritualität am weitesten fortgeschritten ist, wird klar, dass eine neue Ethik, ein „neues“ Menschenbild sich nur dann entwickeln kann, wenn der Mensch seinem kleinlichen Ego, das pausenlos Wünsche erzeugt und bestrebt ist seine Gier nach materiellen Gütern zu befriedigen, die Macht nimmt. In anderen Worten: das Sein muss über das Haben gestellt werden. Besonders Diogenes hat durch einen intensiven Dialog mit der grenzenlosen Bewusstheit, nach einer Lösung im spirituellen Weltbild geforscht…

Es wird nun die Aufgabe von Diogenes sein, den anderen Protagonisten/innen diese Vision nahe zu bringen.

Alle 3 Minuten ein Suizidversuch.

Alle 47 Minuten eine Selbsttötung.

Folgende Erzählung beruht auf „wahren“ Ereignissen. Die Protagonisten/innen sind frei erdachte „reale“ Konstruktionen. Der Autor übernimmt keine Haftung für Irritationen oder Schäden, die beim Lesen der Lektüre entstehen. Ebenso übernimmt der Autor keine Haftung wenn Menschen nach dieser Trilogie Glück und Ausgeglichenheit erfahren!

Einleitung

Sehr geehrte Leserin, sehr geehrter Leser: Im folgenden Roman interagieren die Protagonisten/innen auf den unterschiedlichsten Kommunikationsebenen miteinander. Der künstlerische Ausdruck bekommt über Form und Inhalt eine Gestaltung, deshalb die unterschiedlichen Schrifttypen als Formensprache der Figuren, sie gehören zum Konzept dieses Romans.

Diese Schrifttypen möchte ich als Beispiel und Lesehilfe erläutern:

Alle Gedanken und inneren Dialoge der Protagonisten/innen werden KURSIV gestaltet; Fettgedruckte Wörter sind Kennzeichen von lauten bis schreienden Stimmen.

Die „

Innere Stimme

“ jeder Figur ist mit dieser Schrift erkennbar. Man könnte diese Stimme auch als die „höhere unendliche Bewusstheit“ oder das „höhere Selbst“ betrachten (Lucida Handwriting 9).

Allwissender Erzähler (Beobachter), seine Kommentare sind anhand dieses Schrifttyps erkennbar. Diese Kommentare sind wie „Regieanweisungen“ zwischen den Dialogen zu verstehen (Times New Roman 11).

Diogenes,

die zentrale Figur (Therapeut, Analytiker), führt die Leser/innen mit diesem Schrifttyp durch den Roman (Arial 10).

Giorgio,

der Schriftsteller, ist durch diese Schreibform erkennbar (Bookman Old Style 10).

Traunstein, der Künstler, hat sich für diesen Schrifttyp entschieden (Gabriola 14).

Anna

ist Neurobiologin, ihr Kennzeichen ist diese Schrift (Jasmine UPC 16).

Letta kommt aus der Politikwissenschaft und hat diesen Schrifttyp gewählt (GungsuhChe 10).

Yvonne

, die „doppelgleisige Finanzberaterin“, präsentiert sich in dieser Schrift (Century 10)

Mila,

die Medizinerin, wird man durch diese Schrift erkennen (Lucida Sans 9).

Rakovsky,

der „Kriegsheld“, ist so zu erkennen (Corbel 12).

Krankenschwester, sie ist durch diese Schrift zu erkennen (Batang 10)

Ja, so viel zu Form und Schriftarten. Jetzt viel Spannung und Spaß beim Lesen.

Annas Einkehr

Anna hat sich auf ihr Zimmer zurückgezogen und genießt vorerst diese Abgeschiedenheit.

Diogenes empfahl mir, ich soll alles, was mich bewegt, ob gedanklich oder emotional, dokumentieren. Es mir von der Seele schreiben oder auch bildnerisch ausdrücken, er weiß von meiner Begeisterung für die Malerei. Was soll ich jetzt machen? Ich fange mit dem Schreiben an und gehe dann ins Atelier malen. Am besten wird es sein, wenn ich beschreibe, wie das alles gelaufen ist mit dem Impfstoff gegen Ebola.

Die Geschichte mit dem Pharmakonzern!

Alles geschah vor einem Jahr!

Die toten Kinder in Westafrika, immer das gleiche Bild vor meinem inneren Auge. Das Schreckliche daran: Sie „leben“ in mir, sie rütteln und zerren, sie reißen mich aus dem Schlaf. Es war diese Besprechung über den Einsatz des Serums gegen Ebola in Westafrika, damit hat alles angefangen. Ich traute meinen Ohren nicht, als ich hörte, dass der neue Impfstoff für die Kinder in Westafrika schon freigegeben wurde. Angeblich wurde auch UNICEF informiert, also kein Grund zur Sorge. Ich bekomme es nicht mehr aus dem Kopf – ich hasse diese Bilder. Wir hatten doch noch zu wenig Testergebnisse, wir wussten noch nicht, wie sich der Impfstoff auf das Immunsystem von Kindern auswirken würde. Ich war empört, nein, ich war richtig wütend, so kannte ich mich gar nicht. „Jetzt regen sie sich nicht künstlich auf“, sagte mein Chef Mareiter, „es wird gut gehen, alles im Griff, Sie werden es erleben, und Frau Kollegin, mal ganz ehrlich, was für eine Wahl haben denn die Kinder – ohne das Serum werden sie qualvoll sterben, das ist doch die Realität.“ Ich konnte nicht fassen, was ich da hörte. Kinder als Versuchskaninchen, nur weil sie weit weg sind, weil sie schwarz sind, weil sie niemanden haben, der für ihre Rechte eintritt. Wo bin ich hier, dachte ich damals. Acht Wochen später die ersten Todesopfer unter den Kindern. Ich rannte sofort in Mareiters Büro. „Sie haben keinen Termin“, sagte die Vorzimmertante. „Ich brauche keinen Termin“, schrie ich sie an und stand zehn Sekunden später vor Mareiter.

„Ich mache sie fertig – täglich sterben Kinder – alles im Griff, ja? Wie wollen Sie das den Eltern und der Presse erklären?“, schrie ich. „Anna, ich bitte Sie – ja, wir haben uns geirrt, der Impfstoff ist für Kinder unverträglich, es gab Komplikationen. Beruhigen Sie sich – und übrigens: Sie haben doch auch zugestimmt! Wir bemühen uns doch um Schadensbegrenzung, alles unter Kontrolle“, sagte dieses aufgedunsene Fettgesicht. „Niemals habe ich zugestimmt, das ist eine Lüge – ich kündige – ich gehe zur Presse – ich werde Sie verklagen!“ Mehr bekam ich in meinem Zorn nicht über die Lippen. Mit zitternden Knien und hochrotem Kopf lief ich aus Mareiters Büro. Das Schuldgefühl, zu passiv geblieben zu sein, blieb mir trotzdem.

Für die Nachwelt: Ich habe nicht zugestimmt, das Serum gegen Ebola bei Kindern einzusetzen! Ich wurde nur über klinische Tests mit Erwachsenen, angeblich Freiwilligen in Westafrika, informiert. Die Ergebnisse der Impfung gegen das Ebola-Virus waren positiv – bei Erwachsenen.

DR. Anna Mühlheim

Produktionsleiterin

So, jetzt ich gehe malen, ich kann nicht mehr schreiben, ich muss, ich weiß nicht, was ich muss, ich muss gar nichts. Vielleicht treffe ich Traunstein, er schaut immer so verlegen, wenn wir einander begegnen, das macht mich unsicher. Ist es der Künstler, ist es der Mann, was ist es, dass mich seine Nähe verunsichert? Suche ich eine Beziehung, um dem Tod zu entrinnen? Was für ein banaler Schwachsinn. Zwei Suizidgefährdete suchen eine Beziehung. Wäre das der „Tod“ im Beziehungsleben oder das Glück im Unglück? Ohne Risiko, kein Gewinn, was hätten wir noch zu verlieren? Mit Traunstein im Atelier, ein schönes Bild. Was denke ich da? Ich könnte mich über den „Kunstprofessor“ lustig machen, das mag er, ich spürte es. Vielleicht braucht er eine Frau, die ihn fordert, ihn so nimmt, wie er sein will. Komplexe Menschen sind spannend. Meine Eltern würden mich für verrückt erklären. Ein gescheiteter Künstler würde ihr Klischee erst recht bestätigen. Die missratene Tochter, sie ist endgültig übergeschnappt – leckt mich doch, kleinbürgerliche Spießer! Das tut gut. Warum wagte ich nie, sie mit ihrer Kleinbürgerlichkeit zu konfrontieren? Die Liebe, der Tod und die Schuld, ein Klassiker als Thema für ein Bild – was soll’s, ich versuche es.

Die tragische Liebe, die unvollendete – was für ein Kitsch. Wahre Liebe ist nur schön, wenn sie nicht gelebt werden muss, so dachte ich bis jetzt, so soll es bleiben. Wie lange, denkst du, kannst du diesen Selbstbetrug noch aufrechterhalten? Bitte, jetzt keine Analysen, ich versuchte es mit Männern und mit Frauen, die Nähe, die ich wirklich suchte, fand ich nicht – Suchen ermüdet, enttäuscht und ist daher entbehrlich. „Wir sollten an Ihrer Beziehungsstörung arbeiten“, hat sie gesagt – danach war sie meine Therapeutin. Wie viele Therapeutinnen habe ich verbraucht? Ich weiß es nicht mehr.

Anna macht es sich im Atelier gemütlich, sie nimmt einen großen Bogen Malpapier, Acrylfarben und einige Pinsel.

Ich beginne mit Schwarz, einen dicken Pinselstrich von links unten nach rechts oben, fühlt sich gut an. In der Mitte einen schwarzen Querstrich. Na also, das liegende Kreuz. Mila, du bist deinem Mann in den Tod gefolgt, ich dachte, das gibt es nur bei Shakespeare. Ob sie sich dort treffen, im Jenseits oder sonst wo? Ich nehme jetzt Rot und unterlege damit das Kreuz, links oben auch noch einen Batzen hin, das war die Geburt, ein roter Klumpen, der noch nicht weiß, was ihm blüht. Ob das gut ist? Was ist gut? Eine Verbindung zum Kreuz, Jesus, der musste auch ganz schön schleppen, sein Kreuz zu seinem Tod, ob es tatsächlich so war, wer weiß das schon? Es berührt mich gerade. Die Last des Lebens zu Kreuze tragen. Wieviel Rückgrat braucht man dafür? Ich kühle mich mit Blau ab, nein, ich gebe Weiß dazu und ein wenig Schwarz – Grau, ja, das ist es. Ich brauche jetzt noch Linien, die haben Traunstein so gefallen, sie geben ihm Halt, hat er gesagt. Was gibt mir Halt? Ich habe schlecht geschlafen, meine Beine sind weich, ich male am Boden weiter. Wann kann ich endlich wieder durchschlafen? Kreuz, das schwarze Kreuz, ich lege mich auf den Rücken – mein Kreuz – und male kopfüber blind weiter. Das tut gut, es entspannt, deine Linien sind jetzt wahrscheinlich übermalt, Traunstein, so einfach ist das mit den Männern, wenn wir Frauen den Pinsel in der Hand haben. Vielleicht sollte ich mit ihm schlafen, hier im Atelier. Vorher und nachher ein Bild, das wäre spannend, ein Akt zwischen den Bildern, ein schönes Bild. Was ist mit den toten Kindern? Ich habe das nicht gewollt, hör auf, mich damit zu quälen, ich kann das nicht mehr hören. Ich habe keine Schuld.

Das stimmt, Anna, du fühlst dich aber schuldig. Willst du die Kinder ins Bild bringen?

Ich werde schwarze Punkte unter das Kreuz malen. Viele schwarze Punkte, tote Menschen sind wie schwarze Punkte, sie werden vergessen, ich muss das alles vergessen – aber sie sind da, jede Nacht sind sie da, die schreienden Kinder, das Serum wirkt langsam, zerstört das Immunsystem, ein qualvoller Tod.

„Ein qualvoller Tod – ein schwarzer Punkt und meine Schuld, nein, nicht meine Schuld!“

„Ein qualvoller Tod – ein schwarzer Punkt und meine Schuld, nein, nicht meine Schuld!“

„Wo ist meine Schwester – sie ist erstickt – auch meine Schuld!“

„Ein qualvoller Tod – ein schwarzer Punkt und meine Schuld, nein, nicht meine Schuld!“, schreit Anna!

Rakovsky hört Annas Schreie im Atelier nebenan, er eilt zu ihr, nimmt sie in die Arme, sie klammert sich an ihn, wortlos, heulend – Rakovsky kämpft auch mit den Tränen, ein Blick auf ihr Bild, das zu ihren Füßen am Boden liegt.

Anna, was ist? fragt Rakovsky, …keine Angst, keine Angst, es ist vorbei.

Nichts, …entschuldige…, danke, mich hat nur meine Geschichte wieder überrollt, ich hab keine Schuld – nicht wahr?

Sicher nicht, Anna, niemand hat Schuld – vielleicht solltest du mit Diogenes reden, er kann dir sicher helfen!

Diogenes, ich höre immer nur Diogenes. Wieso glaubst du, nur er kann mir helfen? Ist er Gott oder was?

Entschuldige, Anna, so wollte ich das nicht… sicher ist er nicht Gott – aber er ist der Therapeut – ich meine, er ist der Profi. Anna, verdammt, du hast keine Schuld, und ich weiß, wovon ich rede. Mich plagen auch Schulgefühle, mir geht es auch beschissen, ich kämpfe auch mit meinen Erinnerungen. Jeden Tag denke ich an meine Schuld, meine Verantwortung, an den sinnlosen Krieg, an das Elend, an den Wahnsinn, bei dem ich mitgemacht habe.

Du hast recht, Rakovsky, sorry, wir alle sind nur Marionetten, werden funktionalisiert und getäuscht – so ist es doch, wir waren beide blind, ja, blind ist gut, wie die Ratten sind wir ihnen nachgelaufen.

Sie braucht Hilfe, sie darf sich nicht umbringen.

Und du, was brauchst du? Ich – ich steh das durch. Der brave Soldat steht alles durch! Vorhin hatte ich aber nicht diesen Eindruck.

Anna beruhigt sich, blickt Rakovsky dankbar an und geht etwas enttäuscht aus dem Atelier, sie sucht Diogenes. Rakovsky geht mit einem flauen Gefühl in der Magengegend zurück in „sein“ Atelier und schlägt wie besessen in das Zirbenholz.

Das hätte ich nicht sagen sollen, sie wollte vielleicht mehr mit mir reden, ich Idiot.

Du bist nicht ihr Therapeut, du bist selbst sehr belastet.

Ich brauche keinen Therapeuten mehr.

Rakovsky nimmt das Stemmeisen in die linke Hand, setzt an, nimmt den Hammer und holt weit aus, rutscht ab, trifft seinen linken Zeigefinger, eine Platzwunde springt auf, er spürt keinen Schmerz, geht in die Küche, findet das Verbandszeug, versorgt seinen Finger. Nach kurzer Zeit schwillt er an. Rakovsky geht zum Schrank, nimmt ein Glas, füllt es mit Rotwein und trinkt es in einem Zug aus, danach noch ein zweites. Eilig läuft er in sein Zimmer, sein Gesicht ist sehr angespannt, Hände und Knie zittern, er sucht in der Reisetasche nach seiner Pistole, entsichert sie, lädt durch und steckt sich die Pistole in den offenen Mund. Er zittert jetzt am ganzen Körper, Schweiß tropft von seiner Stirn. Seine Augen sind fest geschlossen, der Atem laut, ein Keuchen, Speichel läuft ihm aus dem Mund. Seine Hände sind sehr verkrampft, er wippt mit dem ganzen Oberkörper. Schreckensbilder ziehen an seinem inneren Auge vorbei: Der schreiende, besoffene Vater, seine starken Arme, sein wütendes Gesicht, Küsse auf seine Stirn, Vaters feste Umarmung – dann die Mutter, die traurig-herzliche, die fürsorgliche, die erbärmliche, die duldende, die sterbende. Bilder von sterbenden Kindern, Frauen und Soldaten, Bilder der Angst, Bilder der Ohnmacht, der Verzweiflung, Bilder der Einsamkeit, ein Überschneiden, ein Überlagern, ein Durcheinander, die Klarheit verrinnt, verschwommenes Licht, heftiger Atem, Nebelfetzen, Granatenfeuer, kein Gefühl mehr – tot stellen. Das Zittern wird immer stärker, geht in heftiges Schütteln über. Die Pistole immer noch im Mund, beugt den Kopf vor und weint, das Zittern hört allmählich wieder auf.

„Jan, bitte mach es nicht, mir zuliebe, mach es nicht.“

Wer spricht? Rakovsky – wirst du jetzt verrückt? Mutter, wo, wieso, wo bist du?

„Jan, ja, ich bin es, deine Mutter!“

Ich habe keine Mutter, sie hat sich umgebracht. Wieso hast du mich verlassen?

„Ich wollte dich nicht verlassen, ich hatte keine Wahl mehr, ich wurde von den Nazis gedemütigt und … ich – ich habe meine Ehre verloren, verstehst du, Jan? Wie konnte ich deinem Vater und dir jemals wieder in die Augen schauen, diese Demütigung, diese Schmach – bitte verzeih mir!“

Rakovsky nimmt die Pistole aus dem Mund, fällt seitlich auf sein Bett, schreit laut: Zu spät, es ist alles zu spät! Er drückt sein Gesicht in das Polster.

Wieso schaffe ich es nicht, ich darf es doch tun, ich bin verrückt, brüllt er in das Polster. Ich will nicht mehr, Mutter, bitte hilf mir, ich will zu dir, ich will das alles nicht mehr ertragen, lasst mich doch gehen, ich hasse euch, ich hasse dich, du sinnlose Welt. Es gibt kein Erbarmen, es gibt keinen Gott, Gott ist tot, es hat ihn nie gegeben, alles Lüge, ihr Verbrecher an der Menschheit, ihr Mörder, ihr blinden Heuchler! Warum muss ich auch noch für euch sterben, wann ist es genug, wann ist genug Blut geflossen, ihr erbärmlichen Schweine…

…nur - eines solltet ihr bedenken, sagt Rakovsky jetzt ganz leise, mit einem zynischen, wütenden Lächeln während er sich aufrichtet, nicht mit mir, nein - mit mir macht ihr das nicht, einen Rakovsky beugt niemand, ich gehe jetzt zum Angriff über, ja das mache ich, Auge um Auge, das wollt ihr doch. Bitte sehr, dass könnt ihr haben. Er nimmt die Flasche Wein und trinkt sie leer.

„Wer ist dein Feind, Jan, sag es mir.“ Vater, du auch noch? Bin ich jetzt endgültig wahnsinnig? Egal, Väterchen, komm und trink mit mir. Du kannst stolz sein, ich bin jetzt auch ein Säufer vor dem Herrn.

„Sag es mir, Jan, wer ist dein Feind?“ Ja, ja, mein Feind, ja Vater, ich verstehe, zu Befehl! Sie alle sind meine Feinde: die Nazis, die Taliban, die Amis, die Russen – sie alle sind Verbrecher am polnischen Volk. Ja, Vater, ich schaffe es – ich gebe jetzt den Befehl.

Rakovsky springt auf und salutiert, die leere Flasche an sein Herz gedrückt.

Wir werden siegen, du hast recht, Väterchen. Ich habe den Oberbefehl, ich mache es, ich werde es schaffen, du sollst stolz sein auf deinen Sohn, du bist nicht umsonst gestorben. Polen wird leben. Das tapfere Polenblut – es wird fließen, in Adern aus Stahl – so wird es sein – genau so! Wir werden siegen, ich werde siegen, Polen wird siegen!

Rakovsky nimmt die Pistole, drückt sie in das Polster und drückt mehrmals hintereinander ab, bis nur mehr ein Klicken zu hören ist, begleitet von seinem Schluchzen.

Wo bin ich? Ich werde nicht siegen, ich habe alles verloren – Vater – verstehst du? Mit dir hat alles angefangen – dich habe ich verloren, deshalb bin ich hier am Trasimenosee gestrandet, bei all den Verrückten – es ist das Ende. Warum hast du nicht den Mut gehabt, Polen zu befreien, warum hast du dich tot gesoffen? Wie viele Flaschen Wodka ist ein Kinderleben wert – wie viele? Ich, ich soll jetzt deine Scheiße ausbaden – das werde ich nicht tun.

Rakovsky steht schweißgebadet auf und geht mit unsicheren Schritten wieder ins Atelier, zum Zirbenholz.

Keine Zukunft, keine Vergangenheit, nur grenzenlose Bewusstheit! Da ist sie wieder, diese Stille, diese Vertrautheit, das Schaukeln, dieses wunderbare Leuchten, so weit, so nah. Nur beobachten, dieser herrliche Frieden, loslassen und vergeben, diese bedingungslose Liebe. Was geschieht mit mir? Wer bin ich? Wo bin ich? Kein Ich, nur Selbst! Kein Körper, kein Raum, keine Zeit, nichts Greifbares und doch alles so klar, Leere und Fülle, nur Wahrheit und schöpferische Weisheit, die Geburt der Wirklichkeit. Nur Ganzheit, kein Außen, ewiges Licht, Geschichten, die erzählen, Illusionen, die verschwinden, nur Stille und Bilder im Jetzt!

Therapiesitzung – Anna und Diogenes

Anna wandelt, ihr Bild unter dem Arm, mit traurigem Blick, in sich versunken durch den Olivenhain, begegnet Diogenes.

Anna, was kann ich für dich tun, fragt Diogenes besorgt. Dabei nimmt er die Therapeutenhaltung ein und versucht, möglichst neutral zu erscheinen. Es gelingt ihm nicht ganz. Mit leicht zur Seite geneigtem Kopf sieht er sie mit seinem verständnisvollen Dackelblick an, ein Kugelschreiber rotiert durch seine Finger – klick, klack, klick, klack.

Danke, es geht schon, erwidert Anna und wendet sich ab.

Da stimmt was nicht, Anna ist eine kluge Frau, sie hat an sich gearbeitet, sie fühlt sich immer noch schuldig. In der Gruppe haben alle ihre positive Lebensenergie gespürt, ihre Bereitschaft zur Umkehr, ein erster Schritt. Ihre inneren Bilder sind es, Bilder der Schuld, sie machen ihr Angst, zwingen sie in die Hoffnungslosigkeit, in die Verzweiflung. In diesem Zustand verschließt man sich der Welt, wendet sich ab. Alte, eingebrannte Verhaltensmuster und Denkweisen basieren auf diesen inneren Bildern, finden immer wieder ihren Weg, eine entsprechende „Realität“ zu konstruieren. Traumatische Erlebnisse erzeugen belastende innere Bilder, verankern sich im Gehirn, verursachen die angespannte Körperhaltung. Anna und auch die anderen brauchen noch Zeit und Erkenntnis. Es muss uns gelingen, diese negativen Bilder zu verändern, eine Basis für ein lebenswertes Weltbild zu schaffen. Annas Schuldgefühle sind nur das Symptom, die Ursache ihrer suizidalen Gedanken liegt woanders. Wirklich gefährdet war sie nach meiner Einschätzung nicht. Sie hat ein hohes Reflexionsvermögen, nicht zuletzt aufgrund ihrer therapeutischen Selbsterfahrung. Das dachtest du bei Mila auch. Ja, stimmt, da habe ich mich geirrt – unverzeihlich – warum hast du mich nicht vorgewarnt? Mila war zur richtigen Zeit am richtigen Ort, sie wusste genau, dass ihre Entscheidung für euch nützlich sein wird. Es gibt Prozesse, die sind nicht umkehrbar. Das Sterben gehört nun mal zum Leben, das solltest du endlich akzeptieren. Es ist nicht alles vorbestimmt. Nicht alles. Ich mag Anna sehr, ich spüre eine starke Resonanz zu ihr, da ist eine unbewusste Verbindung, die unsere Beziehung trägt.

Anna, bitte halt ein, dich bedrückt doch was!

Was soll mich schon bedrücken, du weißt es, ich weiß es – also!

Geht es um Westafrika?

Ach, Diogenes, ja, sicher, was sonst… es sind diese quälenden Schuldgefühle, ja, immer noch, ich kann das nicht mehr, ich …, ich habe das schon so oft reflektiert, ich kann nicht vergessen, ich träume davon, ich male Bilder davon, ich will das nicht mehr haben. Diese Schweigetage, schrecklich, diese Ruhe hier, keiner spricht, ich höre die Gedanken in mir, sie schreien, ich halte das nicht mehr aus. In meinem Kopf herrscht Chaos, vorhin beim Malen habe ich einen Schreikrampf bekommen, der hat sogar Rakovsky beeindruckt.

Du kannst jetzt reden, Anna, was brauchst du gerade jetzt, in diesem Moment?

Bitte - jetzt keine therapeutischen Ratschläge.

Alles, was du brauchst, ist in dir – lass uns nur reden …

Gut, du lässt nicht locker, dann… dann befreie mich von dieser verdammten Schuld, nimm sie weg von mir, ich habe sie lange genug mit mir herumgeschleppt, sie macht mich müde, nein, wahnsinnig macht sie mich. Ich habe ihr sogar ein Bild gewidmet, da staunst du!

Sie soll die Schuld jenen zurückgeben, die sie ihr aufgebürdet haben. Schuldzuweisungen werden immer als starke Abwertung empfunden – es geht um ihren Selbstwert.

Ja, ich bin angenehm überrascht, wie ich sehe, hast du dein Bild mitgebracht, ich würde es mir gerne genauer ansehen – aber nicht hier, wenn du willst, dann gehen wir ins Atelier.

Ja, von mir aus, ich habe das nur so hingefetzt, sagt Anna gelangweilt, während beide zum Atelier schlendern.

Diogenes spürt einen leichten Widerstand. Als Therapeut hat er des Öfteren die Kunst als „Drittes Element“ in die therapeutische Begleitung integriert. Er ahnt, dass Annas Problematik leichter über das Bild - als Drittes im Außen - angesprochen werden kann. Kunst und Therapie, diese Kombination hat ihn immer schon fasziniert. „Die Kunsttherapie ist die Kunst der Therapie“, sagte er des Öfteren zu Traunstein, wenn sie Traunsteins Bilder analysierten. Diogenes hatte eine besondere Gabe sich in Bilder einzufühlen, ihre unbewusste Botschaft zu erahnen; er war aber mit Interpretationen der Bildinhalte sehr vorsichtig; zu gut kannte er die Problematik bei Fehlinterpretationen. Anna legt das Bild auf den Boden, beide betrachten das Bild, eine andächtige Ruhe entsteht. Während Diogenes Annas Bild auf sich wirken lässt, beschäftigen ihn Fragen, Fragen über die Beziehungsdynamik zwischen Anna, dem Bild und ihm:

Was bewirkt das von Anna gemalte Bild in mir?

Welche Gefühle entstehen in mir, wo kommen sie her, wie gehe ich damit um?

Was hat Annas Bildsprache mit mir zu tun?

Welche emotionale Reaktion wird da bei mir ausgelöst?

Kenne ich ihre Formensprache aus mir gut bekannten Bildern?

Ihr sehr dynamischer Pinselstrich ist auffällig, das schwarze Kreuz, dominant, ein starkes Symbol.

Kann ich daraus Schlüsse auf Annas Problematik schließen?

Geht es wirklich „nur“ um Annas Schuld?

Oder geht es auch um Angst, um Tod, um die suizidalen Schwingungen in der Gruppe?

Höre ich auch wirklich auf das, was Anna sagt?

Was will ihr Unbewusstes wirklich mitteilen?

Oder habe ich mir schon eine Meinung bezüglich Widerstand, Abwehr, Übertragung oder Projektion gebildet?

Wie sensibel gehe ich mit Spiegelungen um, mit meinen Gefühlsreaktionen auf das Thema Schuld?

Wie schwer fällt es mir gerade bei Anna, Interpretationen zurückzuhalten?

Die Schuld ist auch mein Thema, das ist es! Wie erlebe ich die eigene Betroffenheit beim Thema Schuld?

Ich werde nur Fragen stellen!

Beobachte ich präzise genug, wie Anna mit ihrem Bild umgeht, wie sie sich im Raum zum gemalten Bild verhält?

Habe ich das Bedürfnis, Annas Bild künstlerisch zu bewerten?

Suche ich eher die Ich-stärkenden Anteile im Bild, oder sehe ich gleich die „Schwachstellen“?

Wie behutsam gehe ich mit schmerzauslösenden Bildanteilen um? Das schwarze Kreuz sehe ich als dialektisches Symbol, da kreuzen sich Lebendigkeit und Todesangst, Erdung und Spiritualität. Ich darf aber jetzt nicht in intellektuelle Interpretationen abrutschen, ich muss mehr bei ihren Gefühlen bleiben.

Wann und warum entscheide ich, mehr Schutz anzubieten?

Schutz? Ich? Nein, sie, Anna, die erwachsene, muss ihr ängstliches inneres Kind schützen, es von der „Schuld befreien“. Das muss der Fokus sein, da muss ich dranbleiben. Wann interveniere ich positiv gestalterisch?

Wie stark bin ich am „Endprodukt“ interessiert?

Gebe ich Anna ästhetische Tipps?

Nein, nein, das braucht sie keinesfalls!

Das Kreuz, sie sollte es ausschneiden und verbrennen. Ich sollte das nicht denken, aber ich spüre, dass es ein Lösungsansatz wäre.

Wie könnte der nächste Schritt jetzt ausschauen?

Wie gehe ich mit Nähe und Distanz um? Anna ist mir sehr nahe!

Analysiere ich während des Prozesses die Beziehungsdynamik?

Habe ich das Bedürfnis, stärker zu intervenieren?

Ja, habe ich, ich denke, Anna vertraut mir.

Was empfinde ich, wenn mich Annas künstlerisches Talent - das womöglich größer ist als meines - überrascht?

Wie weit gehe ich mit Annas Bild auf die Reise in ihr Innenleben, hin zu ihrem inneren Kind?

Wie reagiere ich auf Zerstörung und Wut am gemalten Bild – falls sich Anna darauf einlässt?

Darf ich meine Grenzen und meine Gefühle zeigen?

Natürlich, ich war nie die weiße Wand, die alles zurückspiegelt!

In welchem emotionalen Stadium befindet sich Anna? Wie belastbar ist sie?

Anna nimmt ihr Bild und rückt es näher zu Diogenes. Das schwarze Kreuz ist vordergründig, dann sind da noch rote Farbbatzen und graublaue Linien zu sehen. Der Hintergrund ist weiß geblieben.

Anna, wo im Bild siehst du die Schuld?

Das schwarze Kreuz in der Mitte.

Anna, wenn du willst, kannst du die Schuld zurückgeben, jetzt gleich oder etwas später. Sie gehört jemand anderem, und das weißt du.

Sicher weiß ich das, ist ja eine super Idee, und wie bitte soll das, kommt es schnippisch zurück.

Versuchen wir es gemeinsam?

Ich weiß nicht.

Anna, wenn du das schwarze Kreuz auf dich wirken lässt, was empfindet die kleine Anna in dir dabei - dein inneres „Kind“?

Eine Sauwut kommt da hoch, aber irgendwie auch Traurigkeit – ja, wegen meiner Zwillingsschwester, sie ist auch tot, sie ist vor langer Zeit gestorben, das macht mich sehr traurig. Das hat sie mir selbst erzählt. Ja, Diogenes, sie selbst… das ist schwer zu verstehen, ich bin nicht verrückt… wie soll ich das jetzt… ich hatte ein Nahtoderlebnis, ich verließ meinen Körper, dabei traf ich – es war ähnlich einem Traum - meine Schwester. Ja, da staunst du… ich hätte jetzt nicht davon…

Nein, nein, bitte erzähl weiter!

Sie war erwachsen, wie ich, mein Ebenbild, wie ein Spiegel, ich griff nach ihr, aber da war kein Körper, nur ein starkes Gefühl, ich verspürte noch nie so eine Herzlichkeit, so eine Freude. Es war einfach schön und dann… es ist so schwer zu erklären… es war irgendwie ein anderes Bewusstsein… nicht so wie hier… ich hatte überhaupt keine Probleme mehr, es war alles voller Zufriedenheit, voller Liebe… ich kann es nicht besser ausdrücken – aber egal - ich musste wieder zurück in meinen Körper, zurück in diese Welt, zu meinen Schuldgefühlen – schrecklich! Meine Schwester erzählte mir die ganze Wahrheit. Es war so: Meine Eltern haben mit mir gespielt, und meine Schwester schlief in ihrem Zimmer und ist im Schlaf erstickt, verstehst du? Ich habe das noch nicht verarbeitet, es ist unglaublich… bin ich verrückt? Es ist wieder einmal meine Schuld – nein, bitte sag jetzt nichts, ich weiß schon… aber ich fühle es so, egal was ich mache, was ich erlebe, ich lande immer wieder im gleichen Schuldgefühl!

Nahtoderfahrung, Begegnung mit der Schwester – hoch interessant, ich…

Ja, klar, ich wusste das du mir nicht glauben…

Nein, nein, Anna, ich glaube dir das, keine Frage, ich nehme das sehr ernst - darüber reden wir noch, wenn du möchtest. Zurück zum Bild. Du denkst, dieses Kreuz, als Symbol, ist deine Schuld. Was willst du mit der Schuld im Bild machen, Anna?

Ich will sie weghaben, sie soll verschwinden! Bitte, unterbrich mich jetzt nicht, ja, ich weiß, das spielt sich alles nur im Kopf ab, neuronale Verschaltungen – und? Was nutzt mir diese Erkenntnis?

Vielleicht gelingt uns eine „Umleitung“ ihrer „neuronalen Verschaltungen“, denkt Diogenes.

Gut, Anna, möchtest du versuchen, dieses Symbol…

…der Schuld zu entfernen? Vorerst auf der bildnerischen Ebene, wolltest du doch fragen?

Ja, so ist es, also, das…

Natürlich will ich das – soll ich es übermalen?

Das wäre auch eine Möglichkeit. Gibt es noch eine andere? Diese Intervention war sehr gewagt, sie könnte in den Widerstand gehen, wenn sie merkt, dass ich die zweite Variante bevorzugen würde. Wenn sie abblockt, mache ich mit dem Widerstand weiter. Ich spüre, dass sie es tun will, sie will diese Last abstreifen, sie will sich befreien, die Wut wird ihr helfen, ich muss noch mal die Wut ansprechen.

Denke an deine Wut – was würde dir deine Wut empfehlen?

Wut? Ja, meine Wut… eine andere Variante wäre, es zu vernichten, zerreißen, zerfetzen - am besten verbrennen, in Rauch auflösen – weg, einfach weg!

Willst du das ganze Bild verbrennen oder nur das Kreuz?

Hm, nein, nur das Kreuz, ich werde es ausschneiden und dann verbrennen – ja, das ist gut, das mache ich.

Das wäre eine Möglichkeit – du entscheidest, Anna.

Ausschneiden und verbrennen? Jetzt bin ich wieder unsicher, ich weiß nicht?

Na, was habe ich „gesagt“, sie blockt.

Was macht es so schwer, Anna?

Das Bild ist dann zerstört.

Zerstört, sagst du, Anna. Ist es manchmal erlaubt, etwas zu zerstören, um was Neues zu gewinnen?

Ich weiß eben nicht, ob ich das…

Darfst du das?

Diogenes, was soll das? Ich weiß schon, was jetzt kommt: Frag dein inneres Kind. Wer in dir könnte dir das verbieten? Kommt jetzt wieder die Vatergeschichte? Wie oft noch?

Ich weiß es nicht, sag du es mir.

Bitte, was soll das? Natürlich musste ich meine Eltern immer um Erlaubnis fragen, egal, was ich vorhatte. Es war so …

Gut, Anna, ich spüre gerade wieder die Wut – spürst du sie auch?

Sicher bin ich wütend, wenn das alles wieder hochkommt!

Das ist auch in Ordnung. Anna, wie wäre es, wenn du die Wut, dieses starke Gefühl, sag ich jetzt mal, in dir einmal ansprichst? Frage sie, was sie tun will, ganz spontan.

Das wird jetzt aber sehr eng: Die Schuldgefühle, die Wut, die internalisierten Vateranteile, die Zerstörung ihres Bildes, das wird eng. Keine Angst, es sind alles ihre Themen. In ihrer Fantasie bin ich jetzt der „gute Vater“, der ihr die Zerstörung erlaubt, der ihr den Zugang zu ihren Gefühlen erlaubt. Sie darf so sein, eine neue Erfahrung, ein neues Muster im Umgang mit ihren Gefühlen könnte entstehen.

Gut, Wut ansprechen, ich habe verstanden, und dann, was mache ich dann?

Was sagt dir die Wut?

Was sie mir sagt? Was sagt sie…? Es war unfair und ungerecht, sagt sie, ja, das sagt sie - immer mir die Schuld anhängen, ich war doch noch ein Kind – Diogenes, was soll das – wie oft noch? Was jetzt?

Was soll die erwachsene Anna jetzt im Auftrag der kleinen Anna, des inneren Kindes, machen? Du hast es in deiner Hand.

Sie soll sich auflösen, die Schuld. Am liebsten würde ich das schwarze Kreuz jetzt doch verbrennen, erwidert Anna und blickt Diogenes fragend an.

Wen fragst du jetzt, Anna?

Jetzt nervt er mich wieder mit meinem Vater.

Diogenes versinkt wieder im inneren Zwiegespräch: Du willst den ursprünglichen Konflikt unbedingt hereinholen, die negative Objektbeziehung, den Konflikt mit ihrem Vater? So ist es. War immer schon dein Lieblingsthema, die Entwertung durch den Vater . Ja, das war es, ich wurde auch abgewertet, wir wissen das. Nur, es geht jetzt um Anna. Stimmt, ich habe die Dynamik erkannt, kann ich jetzt weitermachen?

Ja, ich weiß das, immer musste ich fragen: Darf ich das, Mutter? Ist es gut so, Vater? Aus Vaters Sicht habe ich immer alles falsch gemacht. Verdammt, ich weiß das, und jetzt, was jetzt? Anna springt auf, verschränkt die Arme und geht schnellen Schrittes hin und her.

So, ihre Emotionen kommen hoch, die Provokation ist aufgegangen, ein Klassiker!

Du kannst dir erlauben, das zu tun, was notwendig ist, die erwachsene Anna darf ihrem inneren Kind, das jetzt die Wut spürt, alles erlauben.

Sehr gut, nicht ihre Eltern, sondern ihr erwachsenes Selbst hat die Verantwortung für die Gefühle des inneren Kindes . So ist es, mein Freund.

Einfach weg, ich will sie auslöschen, es ist nicht meine Schuld, ich zerreiße das Bild, ich muss es verbrennen, in Luft auflösen.Das schaffe ich nicht. Oh, doch – sie darf das, ich erlaube es der kleinen Anna.

Soll ich das jetzt wirklich machen? fragt Anna unsicher und setzt sich wieder.

Fragst du mich?.

Sie wollte schon wieder den strengen „Vater“ fragen – eingebrannte Muster sind hartnäckig.

Anna steht wieder auf, sucht Schere und Streichhölzer, geht zum Bild, mit zitternden Händen schneidet sie das schwarze Kreuz aus dem Bild, geht damit in den Garten und verbrennt das Kreuz. Diogenes steht, für Anna nicht sichtbar, hinter ihr. Mit glitzernden Augen schaut sie in das Feuer, ihr Körper entspannt sich, sogar ein leichtes Lächeln huscht über ihre Lippen. Mit den strahlenden Augen eines Kindes, das gerade etwas „Verbotenes“ getan hat, kommt sie zurück ins Atelier. Diogenes hat gerade noch genug Zeit, um wieder seinen Platz einzunehmen.

Und – wie hat es sich angefühlt, Anna?, fragt Diogenes sichtlich erleichtert.

Das war ein gutes Gefühl eben, anfangs schwierig, aber es hat sich gelohnt, beim Ausschneiden hatte ich gemischte Gefühle, die Zerstörung meines Bildes, ich meine: Es war ja ein Teil von mir, sagt man doch so – oder? Mit der Aussicht, das Schuldgefühl zu verbrennen, da ging es dann wieder.

Die Wut auf sich selbst, ist nicht nur Annas Thema. Sie ist unser aller Thema. Die SELBST-Zerstörung ist unser aller Thema hier. Wenn die Wut zum Hass auf das ICH wird, ausgelöst durch ein starkes Gefühl der Abwertung, sind suizidale Gedanken die Folge. Wird dieser Hass auf andere Menschen projiziert, dann sind Mord und Todschlag die Folge. Diese andauernde Abwertung, die Anna durch ihren Vater erdulden musste, ist die Ursache für die gefühlte Wut. Hinter dieser Wut steht die Angst, ein Leben zu führen, das nicht lebenswert ist- ein falsches abwertendes Selbstbild hat sich bei Anna eingenistet. Viele Kinder haben Angst davor, ihre Wut zu zeigen, Angst vor Repressalien, Angst, die Zuneigung der Eltern zu verlieren, Angst vor dem Liebesentzug. Über diese Dynamik muss ich mit Anna noch sprechen, mit den anderen auch, wir müssen das verstehen, bevor wir den nächsten Schritt machen.

Verstehe, ja, dieser symbolische Prozess des Verbrennens ist wichtig und oft notwendig, um etwas Neuem Raum zu geben. Das Schuldgefühl nahm sich zu viel Raum, das belastet, hat dich belastet, Anna. Wie geht es Dir jetzt mit der Wut?

Es stimmt, es hat wirklich gut getan eben, aber sie kommt sicher wieder. Die Wut, ich weiß nicht, ich spüre sie gegenwärtig nicht, vielleicht habe ich sie mit verbrannt. Geht so was überhaupt?

Auch die Wut ist nur ein Gefühl, eine neuronale Verschaltung, wie du es vorhin bezeichnet hast. Es sind Bilder im Kopf, die durch dein Denken und deine Erinnerung ein Teil von deinem EGO geworden sind. Du hast diese inneren Bilder jetzt im Außen bearbeitet, verändert und neu integriert. Die Schuld, sie darf auch sein, nur das Ziel war, dieser Schuld die Macht über dein SELBST zu nehmen. Sie war eine Konstruktion der Angst in dir. Das hat dich wütend gemacht. Die Angst, den Vater zu verlieren, falls du es wagen würdest, ihm zu widersprechen oder ihn gar anzuschreien. Deshalb wolltest du immer alles richtig machen. Kannst du diese Hypothese annehmen?

Nicht nur als Hypothese, es stimmt, ich musste immer perfekt sein, dafür habe ich ihn schon gehasst.

Verstehe, nun, wie wir wissen, können wir Erlebtes nicht total auslöschen. Sehr wohl können wir aber lernen, anders damit umzugehen. Gedanken an die Vergangenheit sind oft sehr belastend, aber es sind nur Gedanken des EGO. Du als Neurobiologin weißt ja, wie es ist mit den Neuronen und Synapsen im Langzeitgedächtnis bestellt ist, sie erinnern uns immer wieder an Unangenehmes, vor allem wenn die Angst mit im Spiel ist. Die Amygdala, das Zentrum der Angst, da kennst du dich sicher besser aus als ich, merkt sich diesbezüglich alles.

Was du nicht sagst! Ja, Diogenes, bitte, langweile mich nicht, was soll das, alles alte Hüte!

Ja, Diogenes und? Das habe ich schon öfters gehört - war nicht sehr hilfreich – sorry!

Verstehe – Anna, wenn du jetzt an deinen Vorgesetzten denkst, diese Geschichte mit den Kindern in Westafrika, dann an deinen Vater und die Schuldgefühle – was fällt dir dabei auf?

Ja, klar erkenne ich den Zusammenhang, der Pharmaboss, dieses Fettgesicht, wollte mir die Schuld unterjubeln, genauso wie es mein Vater immer gemacht hat. Aber mit mir nicht – nicht mehr.

Sehr gut - und jetzt einer meiner Lieblingssprüche: Gedanken und Gefühle, sie kommen und gehen, ich halte nicht an ihnen fest! Es geht immer um das Rauslassen und Loslassen von Gedankenmustern.

Gut, dem Spruch kann ich was abgewinnen - ihn zu leben ist was anderes. Soll ich die Synapsen in meinem Gehirn durchschneiden?

Das wird zurzeit nur bei Mäusen im Labor gemacht – wir könnten es aber mit einer imaginären Schere versuchen.

Anna – es ist immer nur ein Gefühl, du denkst, dass es dich belastet, du kannst es wieder ziehen lassen, die Dirigentin in dir bestimmt, welches Gefühl im Orchester gerade den Ton angibt – du hast immer eine Wahl. Du kannst dein Gefühl einfach beobachten, und ohne Bewertung gehen lassen.

Eine Wahl, sagst du – und wenn ich falsch entscheide, habe ich wieder die Schuld.

Du entscheidest immer richtig, Anna, da gibt es keine Schuld. Es ist so wie mit einer Besucherin, die zu dir kommt, die du gut kennst, rede mit ihr, ich meine jetzt mit der Schuld, erkläre ihr freundlich, dass sie wieder dorthin gehen kann, wo ihr Zuhause ist, das ist bei deinen Eltern. Sie schickten sie dir immer wieder, die Schuld, denn sie konnten mit ihrer eigenen – vielleicht auch „vererbten“ – Schuld nicht umgehen, sie verleugneten sie, sie glaubten, sich davon befreien zu können, indem sie dir die Schuld zuwiesen. Immer das gleiche Muster. Gib die Schuld deinen Eltern freundlich, aber bestimmt zurück. Das wäre die eine Variante. Die andere Variante hast du soeben erlebt. Manchmal muss man belastende Gefühle auch „verbrennen“, symbolisch in Rauch verwandeln, dann hast du keinen „Zugriff“ mehr auf sie. Dieses Bild des Verbrennens im Kontext mit Schuld wird nicht nur eine neue, eine für dich positive Verschaltung deiner Neuronen anregen, sondern es geht ein in ein universelles Bewusstsein, in die unbegrenzte Bewusstheit, zugänglich für das Bewusstsein aller Menschen.

Unbegrenzte Bewusstheit - von mir aus, dennoch möchte ich die Schuld und die Abwertung meinen Eltern zurückgeben.

Wenn du willst, Anna, können wir das auch symbolisch versuchen. Dort auf der Bank liegt ein Kissen, und da steht ein leerer Stuhl. So, das Kissen ist die Schuld, auf dem Stuhl sitzen in deiner Vorstellung dein Vater oder deine Mutter oder beide, wie auch immer. Jetzt greif dir bitte das Kissen und gib es – ich weiß nicht, wer soll auf dem Stuhl sitzen?

Mein Vater!

Gut, Anna, dann gib das Kissen stellvertretend für die Schuld und die Abwertung deinem Vater zurück und überlege dir, was du ihm noch sagen willst.

Lieber Vater, wieso „lieber Vater“, ich empfinde ihn nicht als lieb, egal, ich wollte dir … Ich weiß nicht, ich schaffe das nicht, Diogenes, ich habe Angst.

Anna, du denkst, du hast Angst, das ist auch in Ordnung so, denk jetzt an eine Situation in deinem Leben, in der du sehr mutig warst. Eine Situation, in der du deine Meinung gesagt hast, wo du etwas getan hast, was all deinen Mut und all deine Kraft gefordert hat.

Das war, als ich gekündigt habe, eigentlich bin ich gemobbt worden, da hab ich es meinem Chef ordentlich reingesagt, was ich von ihm halte und so, ich war auf tausend, danach habe ich mich sauwohl gefühlt.

Ja, ich hab es, kein Problem, na ja – fast kein Problem, sagt Anna sichtlich aufgeregt.

Genau, Anna, denk bitte jetzt an dieses Gefühl, das du dabei hattest, hol es dir, und versuche es dann noch einmal.

Mit wird ganz heiß, mir klopft das Herz bis zum Hals, das steh ich nicht durch, geht es Anna durch den Kopf.

Gut … Vater, … du hast mir Unrecht getan, … ich, nein – immer war ich an allem schuld, immer habe ich alles falsch gemacht, nie konnte ich es dir recht machen, dabei habe ich mich so bemüht, aber du hast mich ignoriert, ich habe fast schon gebettelt um dein Lob, um ein wenig Anerkennung, es war demütigend und abwertend, wie du mich behandelt hast, das hat weh getan. Ich war doch dein Kind, wie konntest du nur so gemein sein?

Anna kann ihre Emotionen nicht mehr zurückhalten, sie wird laut, legt das Kissen auf den leeren Stuhl, atmet schwer.

Ich gebe dir jetzt diese beschissene Schuld zurück, es ist deine Schuld, ich habe keinen Platz mehr für sie, ja, bitte, du kannst sie haben, deine Scheißschuld, schreit Anna. Sie nimmt das Kissen wieder in die Hand, wirft es auf den Stuhl und schlägt mit den Fäusten ein paar Mal fest darauf ein. Ihre Schläge werden langsamer und ihre Tränen werden immer mehr, ein Heulkrampf entwickelt sich und wird sogleich „erstickt“, indem Anna ihr Gesicht in das Kissen drückt. Diogenes bleibt konzentriert mit zufriedenem Gesichtsausdruck im Hintergrund, gibt ihr Zeit. Anna setzt sich wieder mit stolzer Haltung auf ihren Platz, wischt entspannt lächelnd die letzten Tränen von ihren Wangen.

Wenn ich jetzt deine Gedanken richtig lese, dann hättest du auch gerne einmal deinem Vater die Meinung gesagt? Ja, darum beneide ich Anna jetzt fast ein wenig.

Anna, das war jetzt eine große Leistung – Gratulation! Hast du jetzt den Zusammenhang zwischen deinem Vater und den Ereignissen in der Pharmafirma, mit deinem Vorgesetzten, mit deinen Schuldgefühlen, was den Tod der Kinder in Westafrika betrifft, auch emotional erlebt? Vielleicht schwingt da auch der Tod deiner verstorbenen Schwester mit?

Ja, sicher, das ist mir jetzt klar geworden. Ich habe keine Schuld an dieser Tragödie, auch nicht am Tod meiner kleinen Schwester. Ich war dafür nicht verantwortlich!!

Das war ein super Satz, Anna, wie fühlt sich das jetzt an?

Wie sich das anfühlt? Verdammt gut! Vorhin dachte ich, das stehe ich nicht durch, aber dann … das hätte ich Vater schon lange… ich war schon ein paar Mal so knapp davor, hatte aber nie den Mut.

Vorhin hattest du aber den Mut, du dachtest nur, du hättest ihn nicht, du konntest loslassen, du hast es getan, verstehst du, Anna, du hast von einem alten Muster losgelassen, das war doch fantastisch! Was könnte denn die kleine Anna in dir noch benötigen, jetzt, in diesem Moment?

Noch benötigen? ...ich glaube, sie will einfach anerkannt werden, ja, anerkannt, so, wie sie ist.

Genau, das spüre ich auch – vom wem soll sie anerkannt werden?

Von mir, das ist schon klar, das weiß ich ja, Diogenes, aber es ist mir bis jetzt immer so schwer gefallen. Ich dachte immer, die Anerkennung von außen…. So ein Schwachsinn!

Könnte es sein, dass dein erwachsenes ICH das abwertende Muster deines Vaters übernommen hat, dass du dich und damit die kleine Anna in dir unbewusst auch abgewertet hast? Jetzt muss sie den Ball nur noch über die Linie bringen.

Das stimmt, ich war immer unzufrieden mit dem, was ich tat, ich wollte immer noch besser sein, noch mehr erreichen, keinen Spaß habe ich mir erlaubt, immer nur lernen, ich musste die Beste sein. Es war wie ein Zwang, die totale Überforderung, ich musste das Gehirn erforschen. Wie funktioniert es? Wieso denken Menschen so, warum handeln sie so, warum sind sie so gemein? Verstehst du, Diogenes? Ich war wie besessen, die Neurobiologie hat mich aufgefressen, aber Antworten bekam ich nicht, zumindest keine befriedigenden. Zu Männern hatte ich kaum Kontakt, Sex machte mir keinen Spaß, es fand alles nur im Kopf statt. In meiner Einsamkeit begann ich dann zu malen, das einzige „Vergnügen“ – eigentlich arm, oder?

So denkst du, Anna, noch mal, es sind nur Gedanken deines EGO. Tritt einen Schritt zurück und richte den Blick der erwachsenen Frau auf das Kind in dir. Versuche, nicht zu bewerten, nicht zu urteilen, beobachte sie nur, die kleine Anna, beobachte ihre Gefühle, das ist schon alles. Noch mal, was spürst du, was braucht sie?

Anna beißt sich in die Oberlippe, sie wirkt sehr angespannt.

Sie will geliebt werden.

Von wem, Anna?

Von mir, von der erwachsenen Anna.

Super, Anna, ist doch gar nicht so schwer - bitte versuch jetzt die Abwertung in Liebe zu verwandeln, also der kleinen Anna in dir die Wertschätzung und Liebe zu geben, die sie berechtigterweise fordert. Du kannst das jetzt genauso symbolisch mit dem Kissen machen, nur dieses Mal ist das Kissen die Wertschätzung, und auf dem leeren Stuhl sitzt die kleine Anna. Möchtest du das jetzt tun?

Sie wird es tun, ich bin jetzt für sie der gute „Papa“.

Und ob ich das will, strahlt Anna spontan. Wie soll ich das jetzt machen?

Ich bin mir sicher, du weißt, was die kleine Anna hören will.

Meine liebe kleine Anna, es tut mir leid, dass ich dich immer überfordert habe, dass ich alles, was du geleistet hast, nicht genug geschätzt habe. Du sollst wissen, dass ich dich liebe, und deshalb möchte ich dir meine aufrichtige Wertschätzung geben, du bist schwer in Ordnung. Ich … ich … ich liebe dich!

Anna ist sehr berührt, sie legt das Kissen behutsam auf den leeren Stuhl, lächelt unter Tränen. Auch Diogenes zeigt Emotionen, hat feuchte Augen bekommen, er wartet geduldig, gibt Anna Zeit.

Anna, und wie fühlt es sich jetzt an?

Ich bin so gut, ich halt das gar nicht aus, danke, … ja, danke, das war…

Plötzlich springt Anna auf Diogenes zu, umarmt ihn, drückt ihn.

Entschuldige, aber das musste sein.

Das geht schon in Ordnung, Anna, ich freue mich für dich.

Anna bemerkt Diogenes’ Verlegenheit und wie er krampfhaft versucht, seine Gefühle zu kontrollieren, und ein Schmunzeln huscht über ihre Lippen, als sie sich leise bedankt.

Bedanke dich bei der erwachsenen- und bei der kleinen Anna, ihr seid jetzt ein Team, sagt Diogenes, um Fassung bemüht.

Das hat dir gut getan, ich spüre das. Diese körperliche Nähe zu einer Frau. Wie lange musstest du das entbehren?