Arabischer Frühling ohne Sommer? - Martin Pabst - E-Book

Arabischer Frühling ohne Sommer? E-Book

Martin Pabst

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Beschreibung

When the population took to the streets of Tunisia on 17 December 2010 to protest against the autocratic regime and living conditions, it resulted not only in the overthrow of the country=s own government: it went on to trigger further protests in rapid succession in other Arab countries such as Algeria and Egypt. One of the central goals of the protests was to install democratic forms of government, so that they optimistically came to be called the "Arab Spring". Today, some 10 years after the events, the results are sobering. As Martin Pabst shows in his balanced account, jihadism, civil wars and terror were able to spread in the wake of the "Arab Spring" . The book provides a well-founded overview of developments in the "Arab world" as a major region, stretching from the Maghreb to the Near East and Middle East. A historical and geographic introduction is followed by insights into the region=s various cultures, ethnic groups and languages. The various economic forms, population developments and supply situations are analysed. The intensifying Saudi-Iranian conflict is also placed in this context, and the question is raised of whether the conflict is primarily a religious war or a power struggle. Against the background of these general developments, the "Arab Spring" is described with a focus on important points in the transition process: the armed conflicts, social unrest, political upheavals, etc. in Syria and Iraq, the failed state of Libya, Egypt as a key country and the Gulf monarchies, which initially stood at a distance but then became increasingly involved and came under pressure to reform. In conclusion, the book outlines development trajectories towards a new order in the future. To provide quick and targeted access, the book is structured according to common topics rather than countries. This mainly thematic structure has two further advantages - it avoids repetition and brings out the general connections within the large region. The book can be used to provide an overview and introduction to the history and current politics of this important region.

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Der Autor

 

Dr. phil. Martin Pabst ist selbständiger Politikwissenschaftler und Publizist. Er ist Verfasser des Buchs Der Nahostkonflikt (Stuttgart: Kohlhammer Verlag, Urban Taschenbuch, 2018), Mitverfasser des Buchs Der Arabische Umbruch. Eine Zwischenbilanz: Interne Dynamik und externe Einmischung (zusammen mit Said AlDailami, München: Hanns-Seidel-Stiftung, Berichte & Studien 99, 2014) und Verfasser weiterer politikwissenschaftlicher Bücher. Regelmäßig publiziert er in Fachzeitschriften wie Europäische Sicherheit & Technik (ES&T), Österreichische Militärische Zeitschrift (ÖMZ), Politische Studien, S+F Sicherheit und Frieden – Security and Peace, Vereinte Nationen/German Review on the United Nations, Zeitschrift für Außen- und Sicherheitspolitik (ZfAS). Den »Arabischen Frühling« der Jahre 2011/12 erlebte der Verfasser zunächst in Algier, später in Kairo mit.

Seine Forschungsschwerpunkte sind Außen- und Sicherheitspolitik, Vereinte Nationen, Konfliktverhinderung, Konfliktmanagement und Konfliktlösung, Peacekeeping, Demokratisierungsprozesse, Minderheitenfragen und religiöser Extremismus mit dem regionalen Schwerpunkt Nordafrika, Naher und Mittlerer Osten. Er ist außerdem Vorsitzender des Landesverbands Bayern der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen (DGVN).

Martin Pabst

Arabischer Frühling ohne Sommer?

Die schwierige Neuordnung einer Großregion

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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Es konnten nicht alle Rechtsinhaber von Abbildungen ermittelt werden. Sollte dem Verlag gegenüber der Nachweis der Rechtsinhaberschaft geführt werden, wird das branchenübliche Honorar nachträglich gezahlt.

Umschlagbild: Arabische Flaggenläufer mit der »Flamme der Freiheit«: in der Reihenfolge der Revolutionen rennen Tunesien, Ägypten und vorne Libyen mit der Flamme auf sich entgegen streckende Hände zu; diese Hände stammen nach der Beschriftung auf den Ärmeln aus Syrien und Jemen, aufgenommen am 16.03.2012. © picture-alliance, zb/Matthias Tödt, Mediennummer: Nr. 30842321.

1. Auflage 2021

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-035741-9

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-035742-6

epub:   ISBN 978-3-17-035743-3

mobi:   ISBN 978-3-17-035744-0

Für den Inhalt abgedruckter oder verlinkter Websites ist ausschließlich der jeweilige Betreiber verantwortlich. Die W. Kohlhammer GmbH hat keinen Einfluss auf die verknüpften Seiten und übernimmt hierfür keinerlei Haftung.

»Das Volk hat mir die Verantwortung übertragen, die Zukunft dieser Nation zu gestalten. Und ich habe diese Aufgabe ehrenhaft erfüllt.«1

Der ägyptische Staatspräsident Hosni Mubarak 2003

»Wir haben uns die Macht mit Waffen genommen, und wir wollten sie behalten. Wer sie haben will, der muss sie uns mit Waffen nehmen.«2

Mustafa Tlass, langjähriger syrischer Verteidigungsminister 2005

»Wenn die repressive Situation in den arabischen Ländern anhält, wird es wahrscheinlich zu einer Konfliktverschärfung kommen. […] Manche könnten versucht sein, zu gewaltsamem Protest zu greifen, was innere Unruhen verursachen mag. Dies könnte zu chaotischen Umwälzungen führen, die eine Machtübertragung in arabischen Ländern erzwingen. Ein solcher Wechsel könnte bewaffnete Gewalt und menschliche Verluste beinhalten […].«3

UNDP, Arab Human Development Report 2004

»Allein im letzten Jahr gab es 1 000 illegale Streiks in Ägypten. Ich glaube, das Land steht kurz vor einem großen Wandel. Fast jeder spürt das.«4

Der regimekritische ägyptische Schriftsteller Alaa Al-Aswani im Jahr 2008

»Ich wollte mich verbrennen, weil ich in meinem Innern brannte.«5

Der 31-jährige Tunesier Adel Dridi, der sich im Mai 2017wie zahlreiche Menschen 2011 in der arabischen Weltaus Verzweiflung angezündet, aber überlebt hat

»Brot, Freiheit, Würde!«6

Forderung auf dem Kairoer Tahrir-Platz 2011

»Diejenigen, die mich nicht lieben, haben es nicht verdient zu leben.«7

Der libysche »Bruder Führer« Muammar al-Gaddafi 2011

»Diese Krise ist keine interne Krise. Es ist ein externer Krieg, der von inneren Elementen geführt wird.«8

Der syrische Staatspräsident Baschar al-Assad 2013

»Wie wird der Mensch zur Bestie? Plötzlich oder allmählich? […] Genauso plötzlich, wie die Revolution ausbrach, tauchten die Bestien auf und besiedelten die Stadt, bewohnten die Häuser, schlichen sich in die Versammlungen. Sie schlugen und ohrfeigten, mordeten und zerstörten eine ganze Geschichte menschlicher Beziehungen.«9

Dima Wannous, syrische Schriftstellerin, 2018

»Nachdem sie [die Syrer; Vf.] die Freiheit geschmeckt haben, werden sie nicht aufhören, danach zu streben.«10

Der syrische Dichter und Oppositionelle Ugar 2015

»Wir müssen die Mentalität in der Gesellschaft ändern, die dieses Regime hervorgebracht hat und es ihm erlaubt zu existieren und sich an der Macht zu halten. Die Menschen hier wissen nicht, was Demokratie oder Menschenrechte bedeuten, weil sie sie nie erlebt haben. Fünf Jahrzehnte lang war die Gesellschaft ›eingefroren‹; jetzt ist sie explodiert. Die Menschen wollen Freiheit und Würde; sie sind sich noch nicht sicher, wie sie dorthin gelangen sollen. Sie müssen den Weg selbst finden. Es ist ein Prozess, der Zeit braucht.«11

Kamal al-Labwani, syrischer Dissident, 2011

»Demokratie ist der richtige Weg für den Nahen und Mittleren Osten, doch wird sie nicht im Entferntesten so aussehen, wie Ihr Euch das vorstellt, und ich denke nicht, daß Ihr dafür Verständnis zeigen werdet.«12

Abd-al Fattah as-Sisi 2006, seit 2014 Staatspräsident von Ägypten

1     Zit. nach Abou El-Magd, Nadja 2003: Health Crisis‹ Interrupts Mubarak Speech, in: APNEWS, 19.11. (Übersetzung Vf.), URL: https://apnews.com/543b41cf9372cce5be3fee964d0946d2 [11.2.2020].

2     Zit. nach Koelbl, Susanne 2005: Syrien. Das Einmaleins der Diktatur, in: Der Spiegel, 21.02., URL: https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-39447054.html [11.2.2020].

3     United Nations Development Programme 2005, 119 (Übersetzung Vf.).

4     Zit. nach Stryjak, Jürgen, 2008: Brotunruhen und Streiks. Ein Generalstreik am 4. Mai kam nicht zustande. Doch im Land brodelt es, in: ver.di Publik, 5, URL: http://publik.verdi.de/2008/ausgabe_05/gewerkschaft/international/seite_8/A2 [11.2. 2020].

5     Zit. nach Blaise, Lilia 2017: Self-Immolation, Catalyst of the Arab Spring, Is Now a Grim Trend, in: New York Times, 9.7. (Übersetzung Vf.), URL: https://www.nytim es.com/2017/07/09/world/africa/self-immolation-catalyst-of-the-arab-spring-is-now-a-g rim-trend.html [11.2.2020].

6     Zit. nach Swelam, Ashraf 2012: Wo bleiben Brot, Freiheit, Würde? in: Süddeutsche Zeitung, 25.1., URL: https://www.sueddeutsche.de/politik/ein-jahr-arabischer-fruehling-muss-die-aegyptische-revolution-gerettet-werden-1.1261995 [11.2.2020].

7     Zit. nach Sengupta, Kim 2011: A Fiery Message from Gaddafi: My Enemies Deserve to Die, in: The Independent, 2.9. (Übersetzung Vf.), URL: https://www.indepen dent.co.uk/news/world/africa/a-fiery-message-from-gaddafi-my-enemies-deserve-to-d ie-2347914.html [11.2.2020].

8     Assad’s Speech: Key Quotes 2012, in: Al Jazeera, 3.6. (Übersetzung Vf.), URL: https://www.aljazeera.com/news/middleeast/2012/06/20126311348547454.html [11.2.2020].

9     Wannous 2018, 93.

10  Ugar 2015: In Syria, the Place of my Birth, People Do not Know the Meaning of Freedom, in: ICORN, 8.9. (Übersetzung Vf.), URL: https://www.icorn.org/article/syria-place-my-birth-people-do-not-know-meaning-freedom [11.2.2020].

11  Al-Labwani, Kamal 2012: The True Revolution Won’t Come Until Assad Has Gone, in: Qantara, 31.10., URL: https://en.qantara.de/content/the-syrian-dissident-kamal-al-labwani-the-true-revolution-wont-come-until-assad-has-gone.

12  Gemäß seinem Lehrer Stephen Gerras am US War College in Pennsylvania im Jahr 2006, siehe Khalifa 2015, 230 (Übersetzung Vf.).

Inhaltsverzeichnis

1 Frühling ohne Sommer? Zerfall oder Neuordnung?

1.1 Frühling, Winter, Umbruch, Revolution, Erwachen?

1.2 Der Niedergang der arabischen Welt

1.3 Das Umbruchjahr 1979

1.4 Machtzuwachs der Regionalmächte nach 1990

1.5 Reformaktivisten, Trittbrettfahrer und Gegner

1.6 Externe Akteure greifen ein

1.7 Zwischenbilanz nach einem Jahrzehnt

2 Wegmarken seit 2011

2.1 Überregionale strukturelle Defizite

2.2 Der Funke springt von Tunesien nach Ägypten

2.3 Der ägyptische Kontrapunkt 2013

2.4 Interventionen von außen

2.5 Gewinner unter den externen Mächten

2.6 Verringerung des US-Engagements

2.7 Die Haltung der EU

2.8 Saudi-Arabien, Katar und die Türkei

3 Ursachen der Protestbewegung

3.1 Konfliktursachen und -beschleuniger

3.2 Der »autoritäre Gesellschaftsvertrag« funktioniert nicht mehr

3.3 Krise der Ideologien und des traditionellen Islams

4 Die zentrale Bedeutung von Gruppenidentität und Gruppensolidarität

4.1 Fortwirkende Gruppenidentitäten

4.2 Kein Konfessionskrieg: der saudisch-iranische Machtkampf

5 Die geostrategische Relevanz der Großregion

5.1 China errichtet eine »Neue Seidenstraße«

5.2 Die Bedeutung von Erdöl und Erdgas

5.3 Instabilität und Gewalt lösen Massenmigrationen aus

5.4 Die atomare Herausforderung

6 Schwerpunkte des Umbruchs

6.1 Hoffnungsträger Tunesien

6.2 Schlüsselland Ägypten

6.3 Failed State Libyen

6.4 Aufstand und Stellvertreterkrieg in Syrien

6.5 Jemen – Land im freien Fall

6.6 Volk ohne Staat: die Kurden

7 Die »Arabische Straße« meldet sich zurück

7.1 Sturz der Potentaten in Algerien und dem Sudan

7.2 Massenproteste im Iran und Libanon

7.3 Welche Auswirkungen wird COVID-19 haben?

8 Ausblick

Anmerkungen

Quellen- und Literaturverzeichnis

Abbildungsnachweis

Register

 

 

1          Frühling ohne Sommer? Zerfall oder Neuordnung?

 

 

 

Die zum Jahresbeginn 2011 ausbrechenden Massenproteste in der arabischen Welt und der Sturz langjähriger Despoten wie Zine El Abidine Ben Ali (Tunesien) und Hosni Mubarak (Ägypten) lösten die optimistische Erwartung aus, dass sich eine der letzten autoritär geführten Weltregionen endlich demokratisieren würde.1

Viele Beobachter im Westen räumten nun das Ende eines angeblichen »Arabischen Exzeptionalismus«2 ein. Mit diesem Begriff war – nicht uneigennützig – ein autoritärer Sonderweg der Araber postuliert worden. Er bezog sich auf die Tatsache, dass nach dem Ende des Kalten Kriegs nur in dieser Weltregion in großem Umfang autoritäre und repressive Regime an der Macht geblieben waren. Die jahrhundertelange Beherrschung eines Großteils der Staaten durch das feudale Osmanische Reich, kulturelle, religiöse und tribale Prägungen sowie die Folgen einer ausschließlichen Erdölökonomie wurden herangezogen, um das Ausbleiben von Demokratie und Pluralismus zu erklären.

Die autoritären Herrschaftsformen waren revolutionär legitimierte Ein-Personen- und Clanherrschaften wie in Libyen und Syrien, Einparteiensysteme wie in Tunesien, autoritär gelenkte »Halbdemokratien« wie in Ägypten, konstitutionelle Monarchien mit starken Machtbefugnissen des Königs wie in Jordanien und Marokko sowie absolute Monarchien in den arabischen Golfstaaten. Ausnahmen bildeten lediglich der Libanon mit seiner 1943 etablierten Proporz- und Konsensdemokratie und die Republik Irak mit ihrer nach 2003 unter Besatzungsherrschaft installierten föderalen Demokratie. Doch auch in diesen Staaten standen egoistisch vorgetragene Gruppeninteressen und eine hohe gesellschaftliche Gewaltbereitschaft der freien demokratischen Willensbildung entgegen.

Autoritäre Regierungen sind für China und Russland bequeme Partner. Aber auch westliche Regierungen haben gut mit ihnen zusammengearbeitet – bei Handelsabkommen und Investitionen, bei Migrationsabwehr und Terrorismusbekämpfung. So unterzeichnete Italiens Regierungschef Silvio Berlusconi im Jahr 2008 mit Libyens despotischem Machthaber Muammar al-Gaddafi einen »Freundschaftspakt«, der Entschädigungszahlungen für die Kolonialzeit zugestand. Im Gegenzug räumte Libyen italienischen Firmen bevorzugt Zugang zum Energiesektor ein. Auch verpflichtete sich das nordafrikanische Land, das nicht einmal die Genfer Flüchtlingskonvention unterzeichnet hatte, die irreguläre Migration nach Italien zu unterbinden. Auch die Europäische Union (EU) strebte 2011 ein ähnliches Abkommen mit al-Gaddafi an.3

Manche westlichen Politiker und Wissenschaftler hatten sich sogar dazu verstiegen, den angeblichen »autoritären Sonderweg« mit einem angeborenen Bedürfnis »des Arabers« nach Unterordnung unter einen starken Führer erklären zu müssen. Dabei blendeten sie die fatalen Begleitumstände wie Willkür, Ungerechtigkeit, Repression und Folter aus.

Nun wurden sie eines Besseren belehrt. Gerade junge Menschen waren es leid, fremdbestimmt zu werden, die alltägliche Propaganda zu ertragen und die dauernden politischen und ökonomischen Demütigungen hinzunehmen. Mutig gingen sie auf die Straße und riskierten in der Konfrontation mit brutalen Sicherheitskräften Leben, Gesundheit und Karriere. »Würde« (karama) wurde zum zentralen Schlagwort. Nach und nach zogen sie auch die Angehörigen der angstbehafteten älteren Generation nach.

1.1       Frühling, Winter, Umbruch, Revolution, Erwachen?

Die begriffliche Kennzeichnung der Protestbewegung wurde in der Folgezeit kontrovers diskutiert. Optimistische Beobachter wollten in Anlehnung an den »Völkerfrühling« von 1848 und den »Prager Frühling« von 1968 einen »Arabischen Frühling« erkennen. Sie sahen die Großregion wie zwei Jahrzehnte zuvor Osteuropa auf einem unumkehrbaren Weg zu Demokratie und Marktwirtschaft (und übersahen bei dieser Wortwahl, dass auch die Frühlinge von 1848 und 1968 gescheitert waren). Für einen solchen optimistischen Ansatz steht z. B. der frühere deutsche Außenminister Guido Westerwelle, der am 9. Februar 2011 im Deutschen Bundestag schwärmte:

»Entgegen der Meinung derer, die vor der Globalisierung als irgendeinem kapitalistischen Phänomen immer wieder gewarnt haben, erleben wir jetzt, dass eine Globalisierung der Aufklärung, eine Globalisierung von Werten und eine Globalisierung von Freiheitswerten stattfinden.«4

Doch wurde der Beitrag der jugendlichen, säkularen Netzaktivisten stark überschätzt, und andere Akteure wurden ausgeblendet. Man übersah, dass Autoritarismus und Despotie seit vielen Jahrhunderten in der Großregion verwurzelt sind. Das Bemühen der Regierungen um flächendeckenden, effizienten Schulunterricht ist häufig nur ein Lippenbekenntnis. Viele autoritäre Herrscher sind nicht ernsthaft an gut gebildeten und kritisch denkenden Staatsbürgern interessiert. Gemäß der Weltbank sind heute 29 % der Ägypter, 26 % der Marokkaner und 19 % der Algerier über 15 Jahren Analphabeten. Die letzten belastbaren Zahlen für den Jemen aus dem Jahr 2004 gingen von 46 % Analphabeten aus.5 Damit kann ein beträchtlicher Teil der Bevölkerung bei Wahlen über gelenkte Massenmedien bzw. über Moscheen indoktriniert und manipuliert werden. Wie die syrische Schriftstellerin Dima Wannous eindrucksvoll schildert, sind Schulen Institutionen zur Einübung von Macht, Unterordnung, Angst, gegenseitigem Misstrauen, politisierten Gruppenidentitäten und damit verbundenen Ressentiments.6

Was der Geschäftsführer des deutschen Nah- und Mittelost-Vereins Reinhard Hüber im Jahr 1954 schrieb, gilt in Teilen auch heute:

»Billige Schlagworte von der ›Demokratie‹ etwa helfen Nahost nicht weiter, weil dafür die echten Voraussetzungen fehlen. Im Orient hat nur der die Macht, welcher die Machtinstrumente in der Hand hält: das angestammte Herrscherhaus, der Usurpator, die Offiziersgruppe, der Politiker, der die Apparatur von Militär und Polizei beherrscht. Nirgends hat es ja dort etwas wie ein bürgerliches Jahrhundert gegeben. Der ›Staatsbürger‹ muß erst entwickelt werden, der ›Untertan‹ ist das Normale. Der Staat wird meist gefürchtet, da die Despotie nur zu oft der Tradition entspricht.«7

Auch nahm man zu Unrecht an, dass der militante Islamismus und Dschihadismus besiegt seien. Denn just zu jener Zeit, am 2. Mai 2011, töteten US-Spezialkräfte den al-Kaida-Chef Osama bin Laden in seinem pakistanischen Unterschlupf. Es war aber nur ein Pyrrhussieg. Der von al-Kaida angeführte »Dschihadismus der zweiten Generation« war bereits zuvor gescheitert. Im Entstehen war der vom »Islamischen Staat« (IS) verkörperte, weit brutalere »Dschihadismus der Dritten Generation« (Kap. 1.5).8

Manchen Beobachtern war die Frühlingsmetapher daher zu optimistisch – mit einem gesunden Maß Realismus setzten sie auf ergebnisoffenere Kennzeichnungen: auf die von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung propagierten Begriffe »Arabellion« und »Arabische Revolte« oder auf die Zustandsbeschreibung »Arabischer Umbruch«. Denn die Gesellschaften hatten keine geschichtlichen Erfahrungen mit der Staatsform der Demokratie, unter den Demonstranten waren auch Nationalisten, Kommunisten und Radikalislamisten, die mit pluralistischer Demokratie wenig verbanden, und in der Region gab es gewichtige Akteure, die eine Demokratisierung zu verhindern suchten. Andere Stimmen erklärten den »Arabischen Frühling« schon 2012 für gescheitert und ersetzten ihn durch einen »Arabischen Winter«9 oder gar durch einen »Islamistischen Winter«.10

Im arabischen Raum wird der Begriff »Arabischer Frühling« überwiegend als westliche und ideologisch aufgeladene Wortschöpfung abgelehnt.11 US-amerikanische Journalisten hatten diesen Begriff bereits 2005 unter dem Eindruck der antisyrischen Proteste im Libanon nach der Ermordung von Rafik Hariri geprägt, um Präsident George W. Bushs Invasion im Irak und seine »Freedom Agenda« für Nahmittelost zu rechtfertigen.12 Im arabischen Raum werden die Termini »Arabische Revolution« (al-thaurat al-arabia) oder »Zweites Arabisches Erwachen« bevorzugt,13 bezugnehmend auf das Buch Arab Awakening (1938) des libanesischen Historikers George Habib Antonius.14 Mit dieser Bezeichnung hatte er den arabischen Volkswiderstand der 1920er- und 1930er-Jahre gegen die Kolonialherrschaft charakterisiert. In diese Tradition wollen demokratische Aktivisten ihre arabische Protestbewegung stellen. Der Begriff soll individuellen Freiheitsdrang mit dem Streben nach menschlicher und nationaler Würde verbinden.

1.2       Der Niedergang der arabischen Welt

Der Niedergang der arabischen Welt begann mit der mongolischen Invasion im 13. Jahrhundert und setzte sich mit den Eroberungen der türkischen Osmanen im 16. Jahrhundert fort. Zwar wurden die überwiegend muslimischen Araber von einem muslimischen Sultan regiert, doch saß er im fernen Konstantinopel, seine Beamten und Soldaten verhielten sich vor Ort oft autokratisch, nahmen wenig Rücksicht auf die arabische Kultur und forderten von den Bewohnern hohe Abgaben.15

Ein erster, tiefgreifender Schock war der Einfall des französischen Generals Napoléon Bonaparte in Ägypten und Palästina in den Jahren 1798 bis 1801, auch wenn das kühne Unternehmen schon bald scheiterte. Er führte den Arabern das immer größer werdende Machtgefälle gegenüber dem Abendland vor Augen. Versuche der osmanischen Vizekönige in Ägypten, ihr Staatswesen aus eigener Kraft zu reformieren, wurden von den europäischen Mächten geschickt vereitelt, indem sie Ägypten in die Staatsverschuldung trieben.

Mit der französischen Eroberung Algeriens ab dem Jahr 1830 setzten sich die Europäer in der arabischen Welt als Kolonialmächte fest. Ab 1882 kontrollierte Großbritannien das Schlüsselland Ägypten, durch das die geostrategisch wichtige Suezpassage nach Britisch-Indien verlief.

Im Ersten Weltkrieg gewann Großbritannien arabische Bundesgenossen unter Führung der Haschemiten-Dynastie in Mekka. Doch wurde ihnen nach dem Sieg der versprochene arabische Großstaat verweigert. Stattdessen wurden die arabischen Gebiete des Osmanischen Reichs den europäischen Siegermächten als »Völkerbundsmandate« übertragen. Sie zerschnitten sie durch neu gezogene Grenzen und richteten sie auf die Bedürfnisse der externen Mächte aus. So unterblieb eine Industrialisierung, wie sie z. B. die unabhängige Türkei durchführte. Denn die arabischen Mandatsgebiete sollten Agrarprodukte und Rohstoffe liefern und im Gegenzug Fertigwaren europäischer Mächte importieren. Frankreich, Großbritannien und Italien stützten sich auf gefügige arabische Eliten, die auch nach der Gewährung einer formalen »Unabhängigkeit« (Ägypten 1922, Irak 1932, Libanon 1943) bereitwillig die europäischen Interessen förderten.

Damit noch nicht genug: Mit offizieller Unterstützung des Völkerbunds und der Mandatsmacht Großbritannien wurde in dem 1918 zu fast 90 % arabisch besiedelten Palästina durch großzügige Einwanderungsförderung eine »jüdische nationale Heimstätte« begründet. 1948 rief die zionistische Bewegung einen neuen Staat Israel aus, erweiterte einseitig dessen Grenzen und vertrieb über 700 000 arabisch-palästinensische Bewohner in die Nachbarstaaten.

Die Abschaffung des Kalifats durch den türkischen Staatspräsidenten Mustafa Kemal Atatürk im Jahr 1924 beraubte die (überwiegend muslimischen) Araber eines letzten einigenden Bandes und akzentuierte den Macht- und Identitätsverlust des Morgenlands gegenüber dem Abendland. Als Reaktion auf diese Entwicklungen wurden säkular-nationalistische und islamistische Bewegungen gegründet, die beide den Europäern den Kampf ansagten.

Der Zweite Weltkrieg eröffnete den Arabern eine neue Chance. Frankreich, Großbritannien und Italien wurden erheblich geschwächt, während die USA und die Sowjetunion zu Weltmächten aufstiegen und die Entlassung der europäischen Kolonien in die Unabhängigkeit betrieben. Die Entkolonialisierung unterstützten auch die 1945 gegründeten Vereinten Nationen. In drei Artikeln der UN-Charta wird das »Selbstbestimmungsrecht der Völker« hervorgehoben.16

Getragen von einer Welle überregionaler Begeisterung konnten in Schlüsselstaaten wie Ägypten, Algerien, Irak und Syrien nationalistische und sozialistische Massenparteien die Macht erobern. Bewegungen wie die »Nasseristen« (benannt nach dem ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser) und »Baathisten« (von baath, d. h. Wiedergeburt) versprachen eine rasche und gerechte Wirtschaftsentwicklung, den Aufbau einer starken und geeinten großarabischen Nation sowie die Befreiung Palästinas. Im Interesse einer schnellen Modernisierung von oben wurden Demokratie und Freiheitsrechte geringgeachtet oder auf später verschoben. Liberale oder sozialdemokratische Strömungen konnten sich nicht durchsetzen. Ihnen haftete auch der Makel an, Annexe ihrer europäischen Vorbilder zu sein und deren Interessen zu vertreten.

Die politischen und ökonomischen Versprechungen wurden allerdings nicht erfüllt. Es wurden autoritäre Regime etabliert, die den Volkswillen für sich vereinnahmten, aber nicht umsetzten. Militärs,

Abb. 1: Gegenspieler: Der progressive ägyptische Präsident Gamal Abdel Nasser (links) und der konservative saudische König Faisal (Mitte), rechts Palästinenserführer Jassir Arafat, September 1970.

hohe Polizei- und Geheimdienstoffiziere, Beamte, vom System begünstigte Händler und Unternehmer sowie kooptierte Intellektuelle, Geistliche und Stammesführer bildeten die neuen Eliten. Außerdem geriet die arabische Welt im Kalten Krieg in neue Abhängigkeiten: Das progressiv-linksnationalistische arabische Lager wurde von der Sowjetunion vereinnahmt, das konservativ-traditionalistische Lager von den USA.

Repression und Korruption, sozioökonomische Ungleichheit sowie Armut und Arbeitslosigkeit nahmen insbesondere in den rohstoffarmen arabischen Staaten seit den 1970er-Jahren stetig zu. Auch vergrößerte sich der Abstand zu den westlichen Industriestaaten, wie die seit 2002 veröffentlichten Arab Human Development Reports des Weltentwicklungsprogramms (United Nations Development Programme/UNDP) aufzeigen.

1.3       Das Umbruchjahr 1979

Ein Schlüsseljahr für alle weiteren Entwicklungen war 1979, nach islamischer Zeitrechnung das symbolhafte Jahr 1400.17 Am islamischen Neujahrstag stürmten wahabitische Extremisten die Große Moschee in Mekka. Der Wahabismus ist eine vor allem in Saudi-Arabien praktizierte, fundamentalistisch-puristische Form des sunnitischen Islam, die der apokalyptische Führer der Moscheebesetzer, Dschuhaiman al-Utaibi, noch radikalisierte (siehe S. 22 f.). Angesichts des angeblich bevorstehenden Jüngsten Gerichts rief er zum Sturz der »korrupten« Dynastie al-Saud und der Errichtung eines endzeitlichen Gottesstaates auf. Erst nach zweiwöchigen Kämpfen und 1 000 Toten konnten die Extremisten in der heiligsten Moschee des Islam niedergekämpft werden. Doch lebten ihre Ideen bei von Saudi-Arabien unterstützten arabischen Freiwilligen im bald ausbrechenden Afghanistan-Krieg weiter und mündeten schließlich in den Dschihadismus von al-Kaida und vom Islamischen Staat (IS).

Im selben Jahr 1979 stürzte Ajatollah Ruhollah Chomeini im Iran die Monarchie und etablierte eine von Geistlichen kontrollierte »Islamische Republik Iran« als Gegenmodell sowohl zum westlichen Kapitalismus als auch zum östlichen Kommunismus. Chomeini sah die vom Versprechen sozialer Gerechtigkeit begleitete Islamische Revolution im Iran nicht als nationale bzw. innerschiitische Entwicklung, sondern auch als emanzipatorisches Modell für die gesamte islamische Welt, ja sogar für den gesamten globalen Süden. Entsprechend intensivierte die Islamische Republik Iran ihre revolutionären Anstrengungen zum Aufbau verwandter Bewegungen und der Gewinnung von Partnern im sunnitischen wie im schiitischen Lager.

Auch eine dritte islamistische Strömung hatte nach 1979 Aufwind: die sunnitische Muslimbruderschaft. Vom ägyptischen Lehrer Hasan al-Banna 1928 als Reaktion auf die koloniale Fremdherrschaft, die jüdische Einwanderung in Palästina und die Abschaffung des Kalifats gegründet, bekämpfte die Geheimorganisation den europäischen Imperialismus. Über Mission (dawaa) und Erziehung (tarbiah) versuchte sie, alle Institutionen zu durchdringen.

Die Muslimbrüder versprachen Stärke durch die Errichtung eines übernationalen Gemeinwesens auf islamischer Grundlage. Um dieses Ziel zu erreichen, etablierten sie ein hierarchisch strukturiertes, logenartiges und nach außen abgeschirmtes System. Geeignete Neulinge werden individuell angeworben und in »Familien« mit den politischen Ideen der Bewegung vertraut gemacht und sozialisiert. Bei Bewährung können sie in höhere Grade aufstiegen. Die Erziehung zum höchsten Grad des aktiven »Bruders« (akhmal) dauert fünf bis acht Jahre. Über den »Familien« stehen Zweige, Gebiete, Gouvernorate, das Allgemeine Schura-Komitee und an der Spitze das Führungsbüro (maktab al-irschad) sowie der Oberste Führer (murschid al-amm), denen mit einem Eid absoluter Gehorsam zu leisten ist. Zum Schutz der Organisation kennen die jeweiligen Zellen nur ihre jeweils vorgesetzten Führer. Auf allen Ebenen werden geeigneten Muslimbrüdern bestimmte Fachressorts übertragen. Sie sind auch aufgefordert, sich für Führungspositionen in Gewerkschaften, Berufsverbänden, an Schulen und Universitäten zu bewerben.18

Über das Internationales Büro in Kairo wurden ab 1936 verwandte Bruderschaften in anderen arabischen Staaten gegründet. Im Jahr 1954 wurde die Muslimbruderschaft in Ägypten verboten, hielt jedoch Strukturen im Untergrund aufrecht. Weitere arabische Staaten, wie z. B. Libyen und Syrien, erließen ebenfalls Verbote, doch in einigen Ländern, wie z. B. Jordanien und Kuwait, konnten die Muslimbrüder weiterhin legal auftreten.

Die desaströse Niederlage säkularer arabischer Staaten 1967 gegen Israel, ihre Zerstrittenheit und ihre ökonomische Misere führten zum schleichenden Niedergang des arabischen Nationalismus und Sozialismus. Viele Araber wandten sich enttäuscht dem politischen Islam (Islamismus) zu, der ihnen politische Macht, ökonomischen Aufschwung, soziale Gerechtigkeit und überstaatliche Einheit auf islamischer Grundlage versprach. So nahmen die in Ägypten seit Mitte der 1970er-Jahre wieder tolerierten Muslimbrüder mit wachsendem Erfolg als »Unabhängige« an den Parlamentswahlen teil.

Die Muslimbrüder sind davon überzeugt, dass ihr Staats- und Gesellschaftsmodell gottgewollt und allen anderen Modellen überlegen ist, sodass es zu einem bestimmten Zeitpunkt gewissermaßen mit geschichtlich-religiöser Notwendigkeit umgesetzt werden wird. Doch kamen immer wieder Stimmen auf, die die geschichtliche Entwicklung durch Gewalteinsatz zu beschleunigen versuchten. Die ägyptische Muslimbruderschaft hatte für den antikolonialen Kampf einen bewaffneten Flügel gegründet. Ihr Verhältnis zum Gewalteinsatz war ambivalent. Der unter Präsident Abdel Nasser hingerichtete Vordenker der Muslimbrüder, Sajid Kutb (1906–1966), hatte die muslimischen Gesellschaften und Staaten als vom Islam abgefallen erklärt und zum dschihad einer kleinen Avantgarde gegen die in dschahilija (Unwissenheit) verfangenen arabischen Herrscher wie auch zum Kampf gegen den dekadenten Westen aufgerufen. Anfang der 1970er-Jahre lösten die ägyptischen Muslimbrüder den bewaffneten »Sonderapparat« offiziell auf und entsagten der Gewalt. Doch blieben Schriften Kutbs in ihren »Familien« Pflichtlektüre.19

Kutbs Denken beeinflusste den radikalen Flügel der syrischen Muslimbrüder, die von 1976 bis 1982 einen schließlich brutal niedergeschlagenen Aufstand gegen die Regierung von Präsident Hafes al-Assad wagten. Der palästinensisch-jordanische Muslimbruder und Rechtsgelehrte Abdallah Assam zog 1984 nach Peschawar (Pakistan), um dort zusammen mit seinem Schüler Osama bin Laden ein »Büro für Mudschahedin-Dienste« in Afghanistan aufzubauen. Assam forderte von jedem Gläubigen eine »individuelle Verpflichtung« zum dschihad ein. 1988 rief er zur Bildung einer al-kaida as-sulba (soliden Basis) erprobter und ideologisch gefestigter Kämpfer auf. Osama bin Laden, der in den 1970er-Jahren bis zu seinem Ausschluß wegen Ungehorsams Muslimbruder gewesen war, setzte dies nach der ein Jahr später erfolgten Ermordung Assams um. Seine Anhänger sahen sich nach dem Rückzug der Roten Armee (1989) als gottgewollte Sieger und Vollender einer islamischen Weltrevolution. Auch der Theoretiker des »Dschihads der Dritten Generation«, Mustafa Netmariam Nasar alias Abu Mussab al-Suri, begann seine politische Karriere in Syrien bei den Muslimbrüdern. Prägend wurde dann allerdings salafistisches Gedankengut.20

Ab den 1970er-Jahren traten zunehmend nichtstaatliche Akteure in Erscheinung. So wurde 1973 letztmals ein konventioneller, zwischenstaatlicher Nahostkrieg zwischen Israel und arabischen Staaten geführt, danach kam es dort immer wieder zu bewaffneten Konflikten Israels mit zivilen Aktivisten, Befreiungsbewegungen oder Terrorgruppen. Kampfmittel wie Sabotage, Geiselnahmen und terroristische Anschläge wurden nun immer häufiger eingesetzt – zunächst von säkular-nationalistischen und säkular-sozialistischen Bewegungen, später auch von militanten islamistischen und dschihadistischen Gruppierungen.

Neu war auch, dass nun Ressentiments gegen ethnische bzw. religiöse Gruppen gezielt angefacht wurden, um Anhänger zu mobilisieren und identitätsstiftende Feindbilder zu schaffen. Erstmals war dies im libanesischen Bürgerkrieg (1975–1990) zu beobachten. Der Libanon war auch ein Vorreiter des Zusammenbruchs von Staatlichkeit, wie heute im Irak, Jemen, Libyen oder Syrien zu beobachten.

Das saudische Königshaus sah sich durch die Ereignisse von 1979 in dreifacher Weise bedroht – von saudisch-wahabitischen Extremisten, vom iranischen Chomeinismus und von den im Aufwind befindlichen Muslimbrüdern. Fortan förderte Riad mit seinen Ölmilliarden die wahabitische Weltmission, um im eigenen Land sowie international an Legitimität zu gewinnen. Der französische Soziologe und Arabist Gilles Kepel spricht von einem islamistischen »Überbietungswettbewerb« zwischen Saudi-Arabien, dem Iran und der Muslimbruderschaft.21

Moderate Islamisten nehmen am parteipolitischen Wettbewerb teil und greifen nicht zu Gewalt. Radikale Islamisten kämpfen mit begrenztem Einsatz von Gewalt in einem bestimmten Land für ein bestimmtes Ziel, wie z. B. für den Ersatz einer ungerechten Regierung durch eine islamisch geprägte Ordnung oder für die Befreiung Palästinas. Davon zu unterscheiden sind global agierende »Dschihadisten«, die nicht mehr lokal verortet sind, sich in einer apokalyptischen Entscheidungsschlacht zwischen dem christlichen Westen und der islamischen Welt sehen, zu unbegrenzter Gewalt greifen und auf eine islamistische Weltrevolution hinarbeiten. Ihre Ideologie ist ein radikalisierter Salafismus/Wahabismus.22

Der Wahabismus ist eine ultrakonservative Richtung des Islam. Er fußt auf der konservativen Rechtsschule der Hanbaliten.23 Entwickelt wurde er von dem Theologen Muhammad ibn Abd al-Wahab (ca. 1703–1792) aus Nedschd, einer Region im Innern der arabischen Halbinsel. Im Vordergrund steht bei ihm das aktive Bekenntnis zur absoluten Einheit Gottes (tauhid). Alle Abweichungen davon sind tabu. Der Wahabismus fordert nicht nur Orthodoxie, sondern auch Orthopraxie. Es genüge nicht, sich als Muslim zu bekennen, sondern tägliches, sichtbares Erfüllen der religiösen Pflichten sei notwendig. Ein islamisches Gemeinwesen müsse mithilfe strikter Vorgaben und harter Strafen gewährleisten, dass die Menschen nicht von diesem Pfad abweichen.

Jegliche Überhöhung des Menschen ist gemäß Abd al-Wahab strikt verboten, weswegen z. B. Geburtstagsfeiern und Grabdenkmäler abgelehnt werden. Nicht nur Heiden, sondern auch Juden, Christen, Schiiten und sogar sich abweichend verhaltende Sunniten erachtet Abd al-Wahab als Ungläubige bzw. vom Glauben Abgefallene. Der rechtgläubige Muslim habe den Kontakt mit ihnen zu meiden und sie zu bekämpfen. In der Urgemeinde von Medina erkennt er die ideale politische und soziale Ordnung. Das islamische Recht müsse auf wörtliche Auslegung von Koran und Sunna fußen. Auf die Tradition der Gelehrten wird nicht rekurriert. Die Altvorderen (salaf) seien die Vorbilder, die Zeit Muhammads und seiner ersten vier Nachfolger sei die strikt nachzuahmende »Goldene Zeit« des Islam.

Abd al-Wahab schloss 1744 mit Emir Muhammad ibn Saud einen Pakt mit wechselseitigem Treueid. Er erkannte die Herrschaft der Familie Saud an, während sich Muhammad ibn al-Saud verpflichtete, Wahabs religiöse Botschaft in seinem Machtbereich durchzusetzen. Dieser Pakt gilt bis heute im 1932 zum Königreich erhobenen Staat Saudi-Arabien. Auch im Emirat Katar ist der Wahabismus Staatsreligion. Er wird aber nicht so rigide wie in Saudi-Arabien durchgesetzt.

Ähnliche Ideen wie der Wahabismus vertritt die islamische Bewegung der Salafisten – in ihrem Namen steckt die Rückbesinnung auf Religionsverständnis und Religionspraxis der Altvorderen (salaf). Zunächst war die salafija eine Reformbewegung im 19. Jahrhundert, die den übermächtigen Einfluss der Tradition bekämpfte und dem Gläubigen wieder einen direkten Zugang zu Gott eröffnen und ihn von Aberglauben und Übertreibungen befreien wollte. Die durchaus vernunftorientierte salafija des 19. und frühen 20. Jahrhunderts ist heute allerdings überwiegend von einem dogmatischen, rückwärtsgewandten Salafismus verdrängt worden. Anders als beim staatsgeleiteten Wahabismus gibt es in der salafija viele Strömungen.24

Radikalislamistische und dschihadistische Terrorbewegungen wie al-Kaida und der IS berufen sich auf salafistisches bzw. wahabitisches Gedankengut. Doch ist im Gegenzug nicht jeder Salafist militant oder dschihadistisch orientiert. Das dogmatische Weltbild ist jedoch mit demokratischen Vorstellungen kaum vereinbar und kann als Ausgangspunkt für eine spätere Radikalisierung dienen. Al-Kaida wurde zur ersten weltweit agierenden dschihadistischen Organisation. Der »korrupten« Dynastie al-Saud erklärte sie den Krieg. Nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 und vermehrten al-Kaida-Attacken in Saudi-Arabien bekämpfte das Königreich die Terrorbewegung in seinem Land und initiierte Deradikalisierungsprogramme. Doch fern der eigenen Grenzen nahm man es auch danach mit den Partnern nicht so genau, solange sie den eigenen außenpolitischen Zielen dienten. Das ebenfalls wahabitische Emirat Katar praktizierte noch viel länger eine riskante Außenpolitik und pflegte enge Beziehungen nicht nur zu den Muslimbrüdern, sondern auch zu Gruppierungen, die al-Kaida nahestanden. Darüber hinaus kamen erhebliche Finanzmittel für Dschihadisten auch von reichen Privatspendern und religiösen Stiftungen zahlreicher Länder.

Saudi-Arabien schürte ab den 1980er-Jahren konfessionelle Ressentiments gegen Schiiten, um den wachsenden geostrategischen und ideologischen Einfluss der Islamischen Republik Iran einzudämmen. Der saudisch-iranische Machtkampf eskalierte, als der Irak, die dritte Regionalmacht am Persischen Golf, ab 2003 durch die US-Militärintervention destabilisiert wurde und als eigenständiger Akteur ausschied. Der von konfessionellen und ethnischen Ressentiments aufgeladene Machtkampf zwischen Saudi-Arabien und dem Iran spaltete nicht nur Gesellschaften, sondern auch die arabische Staatenwelt, er ließ sogar den lange dominierenden israelisch-palästinensischen Konflikt in den Hintergrund treten. Saudi-Arabien verbündete sich vielerorts mit radikalen sunnitischen Gruppierungen, solange sie nur antischiitisch und antiiranisch waren.25

Auch in den USA gab es Befürworter dieser Strategie. Eine vom US-Militär finanzierte Studie der RAND Corporation identifizierte 2008 eine vereinigte und radikal antiwestliche islamische Welt als zentrale Bedrohung für die USA. Als Gegenstrategien wurden u. a. verschiedene Optionen einer »Teile und herrsche«-Politik entwickelt. So wurde zur Diskussion gestellt, entweder den sunnitisch-schiitischen Gegensatz grundsätzlich anzufachen oder die antischiitische Politik Saudi-Arabiens aktiv zu unterstützen. Letztere Option hätte den doppelten Vorteil, dass einerseits Druck auf den Iran ausgeübt würde und zugleich die Energien von al-Kaida statt auf die USA auf den neuen Hauptfeind Iran gelenkt würden.26

1.4       Machtzuwachs der Regionalmächte nach 1990

Nach 1990 veränderte sich die externe Akteurskonstellation in der arabischen Welt. Zu den USA und Russland sind die Türkei, der Iran und Saudi-Arabien als relevante Regionalmächte hinzugekommen, ergänzt durch das diskret im Hintergrund agierende Israel. Unverändert ist das Phänomen externer Abhängigkeit – der Handlungsspielraum vieler arabischer Staaten ist aufgrund ihrer politischen und ökonomischen Schwäche im Vergleich zu früher sogar geringer geworden. Nur die Golfmonarchien haben aufgrund der von 1998 bis 2008 stark steigenden Ölpreise erheblich an Bedeutung gewonnen. Kuwait-Stadt, Manama, Doha, Abu Dhabi, Dubai, Riad und Dschidda sind zu Zentren rasanter wirtschaftlicher Entwicklung geworden.

Die UN-mandatierte »Koalition der Willigen« (1991) nach der irakischen Annexion von Kuwait dokumentierte den vorübergehenden Aufstieg der USA zur unipolaren Supermacht. Die Koalitionsstreitkräfte unter Führung der USA umfassten 22 Staaten, darunter aus Nordafrika und Nahmittelost Ägypten, Bahrain, Kuwait, Marokko, Oman, Saudi-Arabien, Türkei, die Vereinigten Arabischen Emirate (VAE) und sogar das bislang im sowjetischen Lager stehende Syrien.

Im Jahr 2003 initiierten die USA einen nicht vom UN-Sicherheitsrat genehmigten Krieg gegen den Irak. Hierfür brachten sie sogar eine 43köpfige »Koalition der Willigen« zustande. Aus Nordafrika, dem Nahen und Mittleren Osten zählten diesmal Jordanien, Katar, Kuwait, Oman, Saudi-Arabien, die Türkei und die VAE dazu. Sie unterstützten die Koalition politisch, aber keines dieser Länder entsandte Truppen. Saudi-Arabien und andere arabische Staaten lehnten den Krieg grundsätzlich ab, da sie zu Recht befürchteten, dass der Sturz Saddam Husseins die arabische Regionalmacht Irak destabilisieren und im Gegenzug den Einfluss des Irans stärken würde.

Das ehrgeizige Projekt von US-Staatspräsident George W. Bush zur Demokratisierung des »Greater Middle East« unter seiner im Jahr 2005 verkündeten »Freedom Agenda« scheiterte.27 Der Irak konnte nicht als »Leuchtturm« der Demokratisierung dienen, sondern entwickelte sich im Gegenteil zum regionalen Brandherd und zu einem gescheiterten Staat. Das Mächtegleichgewicht in Nahmittelost war zerstört. Im Irak erodierte der gesellschaftliche Zusammenhalt. Nationalistische und dschihadistische Kräfte erhielten Auftrieb, und Nachbarstaaten strebten danach, das neu entstandene Vakuum zu besetzen. Ab 2011 breitete sich die Instabilität vom Irak auf andere arabische Staaten wie Jemen und Syrien aus.

In der arabischen Welt bestand 2011 ein doppeltes Machtvakuum. Zum einen hatten vielerorts die Regierungen durch ihre repressive Herrschaft, die ineffiziente Verwaltung und die politische und ökonomische Erfolglosigkeit das Vertrauen ihrer Bürger verspielt, zum anderen waren die von externen Mächten nach 1918 zumeist in künstlichen Grenzen geschaffenen arabischen Staaten tendenziell schwach und in ihrer Fortexistenz bedroht. Ein »nation buildung« war misslungen, erst gar nicht ernsthaft versucht oder sogar von privilegierten Machteliten bewusst hintertrieben worden.

Im Schlüsseljahr 2011 kulminierten die aufgezeigten Entwicklungen. Von der politischen und ökonomischen Misere frustrierte Jugendliche mit überwiegend säkularem Hintergrund organisierten Proteste. Ihr Ziel war es, freiere und gerechtere Gesellschaften mit demokratischen Teilhaberechten der Bürger zu etablieren. Allmählich rissen sie die tendenziell passive und angstbehaftete Elterngeneration mit. Wenn in einzelnen Staaten, wie z. B. Ägypten, kritische Nichtregierungsorganisationen bestanden, schlossen sich diese bald den Protesten an oder waren von Anfang an daran beteiligt. Aus dem Kreis der Gewerkschaften und Berufsverbände unterstützten zumindest Teile ihrer Mitglieder die Proteste. Insbesondere in den ressourcenarmen Staaten erhielten die Demonstrationen Zulauf, und die dortigen Regierungen konnten die Unzufriedenheit nicht mit finanziellen Ausgleichsmaßnahmen auffangen.

1.5       Reformaktivisten, Trittbrettfahrer und Gegner

Die Initiatoren der Proteste waren vorwiegend gebildete, im Umgang mit modernen Kommunikationsmitteln erfahrene Abiturienten bzw. junge Akademiker. Die dezentrale Mobilisierung und Führung der Demonstrationen über Mobiltelefon waren ein wesentlicher Teil ihres anfänglichen Erfolges. Vielerorts gelang es den Initiatoren, auch frustrierte Angehörige der Mittelschicht sowie unzufriedene Arbeiter und die Unterschichten zu mobilisieren. Beispielsweise begannen sie Proteste am Stadtrand und zogen dann gezielt durch arme Viertel. Damit wurde eine kritische Masse erzeugt, die hinreichenden Druck auf die Regierungen ausübte und Veränderungen erzwingen konnte.28

Eine starke Beteiligung von Frauen war erkennbar. In den UNDP-Berichten über die Menschliche Entwicklung im arabischen Raum wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass die hinter den Möglichkeiten zurückfallenden Fortschritte auch der zu geringen Nutzung des Potenzials der arabischen Frauen geschuldet waren. Nun nutzten Frauen die Gelegenheit, sich zusammen mit Männern nicht nur für politische Veränderungen einzusetzen, sondern auch größere politische und gesellschaftliche Freiräume für die weibliche Bevölkerung einzufordern.29

Abb. 2: In der »Tahrir Lounge« im Goethe-Institut Kairo tauschten sich 2011/12 unter dem Motto »Positiv zum Wandel beitragen« zivilgesellschaftliche Vertreter aller Richtungen bei Diskussionen, Veranstaltungen und Workshops aus.

Die zunächst zögerliche Muslimbruderschaft sprang schon bald auf den Zug der Veränderung auf und versuchte, ihre gesellschaftliche Popularität und ihre gut ausgebauten organisatorischen Strukturen bei Wahlen umzumünzen. Insbesondere jüngere Muslimbrüder sympathisierten mit den Zielen der Protestbewegung und hatten an Demonstrationen teilgenommen.

Dschihadisten wie al-Kaida wurden zunächst von den Entwicklungen überrascht und an den Rand gedrängt. Doch als mancherorts die Proteste zu bewaffneten Konflikten mit den Machthabern eskalierten bzw. verstärkte Repression die Überhand gewann, nutzten die Dschihadisten ihre Chance. In Libyen, Syrien oder im Jemen nisteten sie sich in Gebieten ein, aus denen sich die Staatsmacht zurückgezogen hatte, und sie inszenierten sich als die entschiedensten Kämpfer für eine gerechte Ordnung.

Der französische Islamwissenschaftler Gilles Kepel unterscheidet drei Generationen des Dschihadismus: Die erste Generation bestand aus Afghanistan-Heimkehrern, die vergeblich danach strebten, in ihren Heimatländern wie Ägypten und Algerien die »ungläubigen« Regime zu stürzen. Die zweite Generation bildete al-Kaida mit dem neuen strategischen Ziel, den »fernen Feind« USA zum Kampf herauszufordern und zu besiegen. Doch habe man hierfür weder Ressourcen noch Anhänger in genügendem Maß mobilisieren können. Mustafa Netmariam Nasar alias Abu Mussab al-Suri habe mit seinem Manifest Aufruf zum weltweiten islamischen Widerstand (2005) den Dschihadismus der dritten Generation formuliert: einen führerlosen, netzwerkartigen Dschihad von unten mit extremer Brutalität gegen den »nahen Feind«, ergänzt durch individuell ausgeübte Attentate in Europa von dort lebenden Muslimen. Über Gewaltaufrufe und Siegesmeldungen in sozialen Medien sollten die Muslime weltweit mobilisiert und radikalisiert werden.30

Als der »Arabische Frühling« begann, entstand gerade der »Islamische Staat« (IS) als Verkörperung jenes »Dschihadismus der Dritten Generation«. Neu war auch sein Konzept, in »befreiten Gebieten« sukzessive ein »Kalifat« zu errichten. Dies war das radikalste Gegenmodell sowohl zur autoritären Despotie als auch zur westlich-liberalen Demokratie. Seinen Unterstützern versprach der IS das Kalifat nicht als fernen Endzustand wie al-Kaida, sondern er setzte es mit sofortiger Wirkung um. Dies trieb dem IS abenteuerlustige, gewaltbereite und hoffnungsvolle Unterstützer aus aller Welt zu. Ab 2013 dominierte er die Medien mit seinen erstaunlichen militärischen Erfolgen vor Ort und seinen terroristischen Attentaten in Europa.31

Al-Kaida und der IS erhielten nicht nur von Staaten, sondern auch von reichen Personen und religiösen Stiftungen Unterstützung. Auf Internetseiten konnten Zuwendungen mittels eines Klicks erfolgen, beispielsweise wurden »Patenschaften« für bestimmte Waffen angeboten. Mitunter war der Kampfbeitrag auch als humanitäre Hilfsleistung getarnt. Die dschihadistischen Organisationen machten sich die laxe Kontrolle von Finanzströmen in bestimmten Staaten zunutze. Insbesondere Kuwait spielte eine unrühmliche Rolle. So brachte die »Kuwait Scholars’ Union« Millionen Dollar zusammen, um Luftabwehrraketen, rateketengetriebene Granaten und Kämpfer für al-Kaidas syrischen Alliierten Dschabat al-Nusra (Front der Unterstützer) zu finanzieren. KSU-Präsident Nabil al-Awadi verkündete im Juni 2013 stolz in Bezug auf Syrien, dass man bereits 8 700 Mudschahedin für den Einsatz vorbereitet habe.32 Nach massivem Druck der USA erließ das Emirat 2017 strengere Regelungen der Finanzströme, designierte Individuen und Organisationen als »terroristisch« und startete Deradikalisierungsprogramme.

Abb. 3: Das Militär hat in den arabischen Staaten eine einflussreiche Stellung, hier Offiziere bei einer Huldigung an den König in Marokko, Oktober 2008.

Im Laufe der Protestbewegung 2011 kristallisierten sich fünf zentrale interne Akteure des Umbruchprozesses heraus:

1.  das Reformlager,

2.  der zwischen Reform und Reaktion stehende moderate politische Islam,

3.  die militanten Islamisten und Dschihadisten,

4.  die alten Eliten sowie

5.  die Sicherheitskräfte.

In der Auseinandersetzung zwischen diesen Akteuren wurde um eine neue Ordnung gestritten. Auch mischten sich angesichts der Schwäche der Staaten externe Akteure in den Umbruchprozess ein, um ihre Interessen durchzusetzen und ihren Einfluss zu mehren.

1.6       Externe Akteure greifen ein

Bald wurde deutlich, dass die USA in der multipolaren Welt des 21. Jahrhunderts nicht mehr bereit bzw. fähig sind, ihre Rolle als Hegemonialmacht in Nahmittelost aufrechtzuhalten. Zum einen war Washington durch zwei langdauernde, gleichzeitige Kriege (Afghanistan, Irak) und eine desaströse Banken- und Finanzkrise politisch, militärisch und wirtschaftlich geschwächt. Zum anderen musste es sich der Konkurrenz mit dem auf die Weltbühne zurückgekehrten Russland, der aufstrebenden Weltmacht China sowie erstarkten Regionalmächten stellen.

Drei langjährige Regionalmächte im Zentrum der arabischen Welt waren 2011 paralysiert: der von bewaffneten Gruppenkonflikten und terroristischen Attentaten erschütterte Irak, Ägypten aufgrund seiner überalterten Führung und seinen anwachsenden inneren Spannungen sowie Syrien aufgrund des eskalierenden Bürgerkriegs.

Dadurch entstand ein von Libyen über Ägypten und Syrien bis in den Irak reichendes Vakuum. Es wurde zum primären Austragungsort externer Einflussnahme.

Eine regionale Führungsrolle beanspruchte das Königreich Saudi-Arabien mit seinen gigantischen Devisenreserven von an die 500 Mrd. USD im Umbruchjahr 2011.33 In seinem Windschatten segelten die immer selbstbewussteren VAE, und in offener Konkurrenz zu Saudi-Arabien agierte der ehrgeizige Emporkömmling Katar. Das kleine Emirat mit seinen immensen Erdgasreserven versuchte, seine ebenfalls erheblichen Devisenreserven (ca. 30 Mrd. USD) und seine beträchtliche Softpower (z. B. den Satellitensender al-Dschasira) in außenpolitischen Einfluss zu tauschen.34

Deutlich an Macht und Einfluss hatten die nichtarabischen Regionalmächte gewonnen:

•  das hochgerüstete Israel mit seiner technologisch weit fortgeschrittenen Volkswirtschaft und seiner kleinen, schlagkräftigen Armee,

•  der ebenfalls hochgerüstete Iran mit seinen bis in den Libanon und den Gasa-Streifen reichenden, politisch-religiösen sowie militärischen Netzwerken sowie

•  die nach erfolgreicher wirtschaftlicher Liberalisierung boomende Türkei mit ihrer starken Militärmacht und attraktiven Softpower (ökonomische Vorbildfunktion, Entwicklungshilfe, kulturelle Attraktivität, Tourismusziel, Hochschulstipendien, islamische Mission).

Israel, der Iran, die Türkei und die Golfmonarchien Katar, Saudi-Arabien und die VAE scheuten nicht vor robusten Eingriffen zurück. An einer Demokratisierung der Region waren sie nicht oder nur bedingt interessiert und setzten vor Ort auf die stärksten Bataillone. Entsprechend agierte auch Russland, das ab 2015 vom Brückenkopf Syrien aus politisch und militärisch in die Geschehnisse eingriff und seinen politischen und ökonomischen Einfluss in Nahmittelost und Nordafrika zu erweitern sucht. Die USA agierten zögerlich und waren bestrebt, regionale Verbündete wie Katar und die Türkei vorzuschicken. Die EU blieb blass und fand bis heute zu keiner einheitlichen Linie.

1.7       Zwischenbilanz nach einem Jahrzehnt

In den meisten Staaten ebbte die Protestbewegung schon bald ab. Als Schwäche stellte sich heraus, dass sie wusste, wogegen sie war: die Regierung, den Polizeiterror, die Korruption, die Ungleichheit, die würdelosen Lebensbedingungen. Doch gab es keine hinreichende programmatische Klarheit und Übereinstimmung. Auch zögerten die Aktivisten, Strukturen und Führer herauszubilden, da sie der staatlichen Repression keine Angriffsfläche bieten wollten. Dieses zunächst erfolgreiche Verhalten wurde später zu einem Nachteil. Auch war gegenseitiges Misstrauen verbreitet – ein Erbe jahrzehntelanger autoritärer Herrschaft. Negativ wirkten sich die geringen finanziellen Mittel und die unzureichende Organisationserfahrung aus. Schließlich gelang es nicht, die breite gesellschaftliche Protestkoalition der ersten Monate über einen längeren Zeitraum aufrechtzuhalten.

Parlamentarisch agierende Islamisten sind infolge des Verbots und der Zerschlagung der Muslimbruderschaft in Ägypten und vielen Golfmonarchien erheblich geschwächt worden. Wo islamistische Parteien und Bewegungen noch agieren können, haben ihr politischer Spielraum und ihre Attraktivität bei den Bevölkerungen abgenommen. Istanbul ist heute neben London und Doha der wichtigste Exilort der Muslimbruderschaft. Ein Grund für die Ermordung des saudischen Dissidenten Dschamal Kaschoggi durch ein Mordkommando des Königreichs am 2. Oktober 2018 war sicherlich, dass er zu dieser Zeit in Istanbul den Aufbau eines Netzwerks islamistischer und nichtislamistischer Exilpolitiker zur Wiederbelebung des »Arabischen Frühlings« betrieb. Es forderte freie Wahlen anstelle autoritärer Herrschaft, wollte sich aber auch nicht zum Erfüllungsgehilfen von US-Interessen machen. Der Muslimbruderschaft hatte Kaschoggi in seiner Jugend angehört, und diese Verbindung hatte er wieder aufgenommen.35

Finanzstarke und gut organisierte »neu-alte Regime«36 haben vielerorts Protestbewegung und Islamisten gegeneinander ausgespielt, um wieder die Macht zurückzugewinnen. Militärs und Wirtschaftseliten verfügen über eingespielte Verbindungen entweder zu westlichen Staaten oder zu Russland und China. Ägypten zeigt exemplarisch auf, wie ein Bündnis zwischen »neu-alten« Eliten und der Armeeführung den Reformprozess 2013 stoppen konnte. Warnungen vor Instabilität, Bürgerkrieg, Terrorismus und Dschihadismus erwiesen sich in diversen Ländern als probate Instrumente, um die Risikobereitschaft in der Bevölkerung zu reduzieren und politische Resignation zu fördern.

In manchen Staaten wie Algerien, Jordanien oder Marokko wurden unter dem Druck der Proteste Reformen von oben angestoßen. Doch gehen diese Reformen vielen Einwohnern nicht weit genug. Die Golfmonarchien setzen auf eine Liberalisierung der Wirtschaft und mehr soziale und kulturelle Freiheiten, doch bleibt es bei einer autoritären Führung, die in den letzten Jahren sogar noch verstärkt wurde. Libyen, der Jemen und Syrien sind in lang andauernden bewaffneten Konflikten versunken, die von externen Einflussmächten befeuert werden.

Die Bereitschaft zur gewaltsamen Austragung ethnischer, konfessioneller oder tribaler Gruppenkonflikte erodiert staatliche Macht – umgekehrt fördert staatliche Schwäche den Rückzug auf die Gruppenzugehörigkeit und die Austragung von Verteilungskämpfen mit anderen Gruppen. Ressentiments zwischen Gruppen werden zudem aus machtpolitischen Erwägungen von Konfliktakteuren gezielt geschürt. Hält diese Tendenz weiter an, könnte am Ende der Zerfall einzelner Staaten wie Jemen, Libyen oder Syrien oder sogar des gesamten arabischen Staatensystems stehen.

Nur im geostrategisch relativ unbedeutenden Tunesien ist ein Transformationsprozess angelaufen, der mehrere freie Wahlen und eine neue Verfassung hervorgebracht hat, aber immer wieder von Rückschlägen begleitet wird.

Nach acht Jahren wurden einige Staaten wie Algerien, Irak, der Libanon und Sudan, die 2011 nicht in der vordersten Reihe standen, von Massendemonstrationen erschüttert. Ob sich daraus eine die Großregion erfassende neue Protestwelle entwickelt, ist noch nicht absehbar.

Nach den Einschnitten von 1918, 1945, 1979 und 1990 vollzieht sich seit 2011 eine epochale Neuordnung der arabischen Staatenwelt, die mit Sicherheit noch ein weiteres Jahrzehnt andauern wird. Voraussetzungen für eine stabile neue Ordnung wären gesellschaftlicher Konsens, bürgerschaftlicher Patriotismus sowie Kompromissbereitschaft aufseiten der externen Einflussmächte.

 

 

2          Wegmarken seit 2011

 

 

 

Der »Arabische Frühling« wurde durch die Selbstverbrennung des jungen Gemüsehändlers Mohamed Bouasisi am 17. Dezember 2010 in der südlichen Provinzstadt Sidi Bousid ausgelöst. Er hatte die Oberschule besucht, konnte es sich aber nach dem frühen Tod des Vaters ohne wasta (Beziehungen) nicht leisten, das Abitur abzulegen oder gar zu studieren. Als informeller Gemüsehändler musste er seine Familie durchbringen. Von der Polizei wurde er schikaniert, zu wiederholten Bestechungsgeldern gedrängt, seiner elektronischen Waage beraubt und wahrscheinlich sogar von einer Beamtin geschlagen. Bei nachfolgenden Beschwerden auf der Polizeiwache und am Gouverneurssitz gedemütigt und weggejagt, übergoss sich der verzweifelte junge Mann spontan auf dem Hauptplatz mit Benzin und zündete sich an.1

Der traurige Vorfall wurde zum Fanal einer Arabien-weiten Protestbewegung, die soziale, religiöse, ethnische und tribale Grenzen überwand. Denn er schien symptomatisch für die Misere Tunesiens und vieler arabischer Länder, zeigte er doch wie in einem Brennglas die verbreiteten Missstände auf: die Chancenlosigkeit einer zahlenmäßig rasch wachsenden Jugend, desaströse ökonomische Verhältnisse für viele Einwohner, Ausbeutung, Korruption und Ineffizienz der Verwaltung, Polizei- und Staatswillkür, Rechtlosigkeit und Entwürdigung des Bürgers sowie Vernachlässigung der Provinz durch die wohlhabenden Eliten in der Hauptstadt.

Zur Empörung hatte auch beigetragen, dass die investigative Internetplattform Wikileaks kurz vor Bouasisis Selbstverbrennung im Dezember 2010 geheime US-Botschaftsdepeschen veröffentlicht hatte, in denen die maßlose Korruption des Ben Ali/Trabelsi-Clans dokumentiert wurde. So hatte im Jahr 2009 der US-Botschafter nach Washington berichtet, dass Ben Alis Schwiegersohn Mohamed Sakhr El-Materi in seiner Luxusvilla im Badeort Hammamet regelmäßig von seinen Dienern Hühner an seinen gehätschelten Haustiger »Pascha« verfüttern ließ und sich in einem Luxusferienort in der Nähe von Tunis einen noch prächtigeren Palast baute. Mit (Zwangs-)Beteiligungen waren die Schwiegersöhne des Präsidenten und die Brüder seiner Ehefrau Leila aus der Familie Trabelsi Teilhaber unzähliger Firmen – wer nicht kooperierte, musste mit der Steuerfahndung und anderen Schikanen rechnen, bei fortgesetzter Intransigenz auch mit schlimmeren Konsequenzen. Der US-Botschafter räumte ein, dass die Mitglieder des Ben Ali/Trabelsi-Clans höchst unbeliebt seien, ja sogar gehasst würden.2 Versuche der Regierung, Wikileaks zu blockieren, hatten nicht funktioniert.

Zwanzig Jahre früher hätte der Fall Bouasisi zwar vor Ort Aufsehen erregt, aber nie überregionale Bedeutung erlangt. Doch über die sozialen Medien und private Satellitensender wurde das Ereignis im Nu bis in die Hauptstadt Tunis und von dort in die gesamte arabische Welt weitergetragen. Bilder erster Demonstrationen von Verwandten am Tag nach dem Vorfall wurden geteilt und weitergeleitet. Bald kam es auch in der Hauptstadt zu größeren Solidaritätskundgebungen, die sich in den Medien rasch verbreiteten.

Akzentuiert wurde das Ereignis durch die Tatsache, dass Bouasisi noch bis zum 4. Januar im Krankenhaus lag, bevor er dann seinen schweren Brandverletzungen erlag. Das Bild des weiß einbandagierten Körpers wurde zur Ikone des Opfers staatlicher Repression. Auch der Besuch von Staatspräsident Zine El Abidine Ben Ali am Bett des sterbenden Bouasisi konnte daran nichts ändern – im Gegenteil: Allzu spät hatte der autoritär regierende Präsident auf den Vorfall reagiert. Der in den Medien herausgestellte Krankenhausbesuch ähnelte den allgegenwärtigen steifen Politinszenierungen, und das der Mutter angebotene Handgeld in Höhe von 10 000 Euro hinterließ einen schalen Beigeschmack.

Nur zehn Tage nach Bouasisis Tod war Ben Alis Herrschaft zu Ende. Zunächst in der Provinz, dann in der Hauptstadt kam es zu anwachsenden Protesten und Streiks, die von der hier trotz aller staatlichen Behinderungen in Ansätzen existierenden Zivilgesellschaft unterstützt wurden: Gewerkschaftsfunktionäre, Journalisten, Menschenrechtsanwälte

Abb. 4: Tunesiens autokratischer Staatspräsident Zine El Abidine Ben Ali herrschte mittels der Einheitspartei RCD, unterstützt durch Polizei und Geheimdienste.

und Stammesälteste stellten sich hinter die Proteste. Die Repression von Polizei, Präsidentengarde und Geheimdiensten fachte die Wut der Bürger nur noch an. Parolen wie »Nein zu Ben Ali« und »Ben Ali tritt zurück« wurden in dem zuvor rigide kontrollierten Land von immer mehr Menschen gerufen. Als der Staatspräsident am 13. Januar den Armeechef Raschid Amar bat, ihm zu Hilfe zu kommen, lehnte dieser ab. Auf einer Kundgebung erklärte er: »Die Armee ist die Garantin der Revolution«.3 Im Unterschied zu Polizei und Geheimdiensten war die kleine Wehrpflichtigenarmee denn auch in der Vergangenheit vom Staatspräsidenten schlecht behandelt und kurz gehalten worden. Die regierungsferne Stellung der Armee war eine Besonderheit Tunesiens und erleichterte hier den Sturz des Regimes. In anderen arabischen Staaten ist die Armeeführung entweder eng mit dem Regime vernetzt oder sogar selbst der primäre Machtfaktor.

Erzürnt entließ Ben Ali seinen Armeechef, doch half ihm auch dieser Schritt nichts mehr. Nach eskalierenden Protesten kündigte Ben Ali am Abend des 13. Januar im Fernsehen an, nicht erneut für das Präsidentenamt kandidieren zu wollen. Einen Tag später folgte der in Panik geratene Autokrat seiner bereits nach Dubai geflohenen Frau Leila in seinem Regierungsflugzeug ins Exil am Golf – der frühere Mentor Frankreich wollte ihn nun nicht mehr aufnehmen. Die »Jasmin-Revolution« hatte gesiegt. Bezeichnenderweise war es das autokratische Saudi-Arabien, das dem Ehepaar schließlich Zuflucht gewährte.

In Dschidda konnte Ben Ali bis zu seinem Tod im September 2019 gut leben: Gemäß einer Untersuchung der Weltbank von 2014 zweigte der gierige Ben Ali/Trabelsi-Clan, der über 200 Unternehmen kontrollierte, 21 % der Gewinne des Privatsektors ab. Im Verlauf der über 20-jährigen Regierung kamen auf diese Weise an die 50 Mrd. USD zusammen, die teilweise ins Ausland transferiert wurden.4 Dem nicht genug: Bei ihrer Flucht soll Leila Ben Ali auch noch Goldbarren in großem Umfang aus der Staatsbank entwendet haben.5

Bis zum Schluss seiner Herrschaft genoss Ben Ali die Unterstützung der französischen Regierung. Zum Jahreswechsel 2010/11 verbrachte die französische Verteidigungsministerin Michèle Alliot-Marie ihren Urlaub in einem Hotel des tunesischen Geschäftsmannes Asis Miled aus dem engsten Umfeld von Ben Ali und war von dessen Privatjet abgeholt worden. Ihre Familie machte Immobiliengeschäfte mit dem tunesischen Unternehmer. Auf dem Höhepunkt der Proteste sagte die Ministerin der tunesischen Regierung polizeiliche Hilfe und Ausrüstungsunterstützung zu. Erst kurz vor Ben Alis Flucht blockierte das Außenministerium die bereits auf dem Pariser Flughafen verladenen Tränengasgranaten und anderen Ausrüstungsgegenstände.6

2.1       Überregionale strukturelle Defizite

Bouasisis Selbstverbrennung war der Auslöser für eine Protestwelle – die Ursachen lagen tiefer. Die 22 arabischen Staaten litten an strukturellen politischen, ökonomischen, demographischen und ökologischen Defiziten. Die Unfähigkeit bzw. der Unwillen der Regierungen, diese Probleme zu lösen, kulminierten in einer nicht überraschenden übernationalen Protestbewegung.

Machtarroganz, Repression, die Ineffizienz der Verwaltung, miserable Lebensbedingungen für einen Großteil der Bürger sowie außenpolitische und wirtschaftliche Marginalisierung hatten zu wachsender Unzufriedenheit geführt und die staatliche Legitimität infrage gestellt. Durch ein hohes jährliches Bevölkerungswachstum von durchschnittlich 2 % waren die Gesellschaften sehr jung, und ein Viertel bis ein Drittel der Jugendlichen in den arabischen Staaten war arbeitslos. Dem stand eine z. T. massiv überalterte Führungsschicht entgegen, die ihre Privilegien hartnäckig verteidigte.

Die Nutzung moderner Medien gab protestierenden Jugendlichen zumindest für kurze Zeit einen gewissen Vorsprung vor den staatlichen Sicherheitskräften, die auf diesem Gebiet noch Nachholbedarf hatten. In dreierlei Hinsicht nutzten sie erfolgreich neue Medien: Erstens konnten die Jugendlichen damit überregional Unterstützer werben und zu Protesten aufrufen, zweitens hatten sie nun mithilfe von Mobiltelefon und Messengerdiensten ein dem Polizeifunk ebenbürtiges Führungsmittel bei Demonstrationen zur Verfügung, drittens konnten sie ihre politischen Ziele übers Internet und die sozialen Netzwerke im In- und Ausland kommunizieren und die Regierungen durch Bilder brutaler Polizeigewalt delegitimieren.

Angefacht wurde die Unzufriedenheit durch überteuerte Grundnahrungsmittel. Im Jahr 2008 war es infolge des Klimawandels wie auch infolge vermehrter Produktion von Biotreibstoffen zu einer Welternährungskrise gekommen. Besonders Syrien war schwer getroffen, wo zusätzlich von 2006 bis 2010 eine extreme Dürre herrschte. Hinzu kam, dass China 2010 eine Missernte hatte. Daher kaufte es auf dem Weltmarkt überproportional viel Getreide auf, weswegen die Preise ab Jahresmitte in die Höhe schossen.7

Energieexportierende Staaten wie Algerien und die Golfmonarchien glichen den Preisanstieg mit großzügigen staatlichen Subventionserhöhungen, Gehaltsanhebungen für Staatsbeamte, der Schaffung neuer Arbeitsstellen und Schuldenerlass aus. Beispielsweise nahm der saudische König Abdullah im Februar 2011 stolze 37 Milliarden USD für ein solches Maßnahmenpaket in die Hand. Die Menschen in den energiereichen Staaten wurden daher nur in begrenztem Maß von der Protestwelle erschüttert. Hingegen war dieses Instrument für ärmere Staaten wie Ägypten, Jemen, Syrien oder Tunesien nicht möglich. Hier kam es zu starken Protesten.

2.2       Der Funke springt von Tunesien nach Ägypten

Es war nicht überraschend, dass der Funke der tunesischen Revolution ins benachbarte Ägypten überschwappte. Das Nachbarland war nach außen liberaler, hier waren im Unterschied zu Tunesien halblegale zivilgesellschaftliche Gruppierungen geduldet. Die Entwicklungen im Nachbarland gaben diesen Auftrieb und Selbstvertrauen. Beherzt nutzten sie die Gunst der Stunde und riefen dazu auf, das seit 1981 dauernde Regime von Staatspräsident Hosni Mubarak zu beenden.8

In Ägypten hatten die sozialen Netzwerke bereits in den Monaten zuvor ein Klima der Entrüstung geschaffen. Am 6. Juni 2010 schlugen und traten zwei Zivilpolizisten in Alexandria den 28-jährigen Blogger Khaled Said auf offener Straße zu Tode. Zuvor hatte er im Internet Fälle von Polizeikorruption enthüllt. Die Polizei behauptete, er sei an dem Haschischbeutel gestorben, den er angeblich verschluckt habe, um einer Kontrolle zu entgehen. Doch Passanten hatten den Vorfall beobachtet und enttarnten die Lüge. Es kam zu spontanen Demonstrationen, und auf Facebook forderte die vielbesuchte Seite »Wir sind alle Khaled Said« mit aus dem Leichenschauhaus geschmuggelten Bildern seines völlig zerschlagenen Kopfes rückhaltlose Aufklärung und die Bestrafung der Täter.