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Am 16. April 1944 wurden 468 Holländer in Beverwijk als Geiseln verhaftet und zunächst zum polizeilichen Durchgangslager Amersfoort gebracht. Nach Angaben des Niederländischen Reichsinstituts für Kriegsdokumentationen sind am 6. und 28. Juni 1944 Transporte mit 726 Geiseln von Amersfoort zu den Arbeitsämtern in Halle (Saale) und Merseburg abgefahren. Unter diesen Deportierten befanden sich auch die Geiseln von Beverswijk, die zuerst ins Arbeitserziehungslager Spergau bei Merseburg eingeliefert wurden. Nach der Zerstörung des Lagers Spergau durch einen Luftangriff am 29. Juli 1944 kamen die holländischen Geiseln in das Lager Schkopau/Korbetha. Nach Aufbau des Lagers Zöschen im September 1944 wurden die holländischen Geiseln dorthin gebracht. Ein Außenkommando, bestehend aus holländischen Häftlingen, arbeitete später beim Aufbau eines Flugplatzes bei Schafstädt. Von dort gelangten die Überlebenden in ein Lager in Ammendorf. In seiner verdienstvollen Dokumentation beschreibt der Cuxhavener Autor Martin Pabst, der sich bis zu seinem Tod im Jahr 2002 diesem Spezialgebiet geschichtlicher Forschung zugewandt hat, das Leben, Leiden und Sterben der holländischen Häftlinge in den sogenannten Arbeitserziehungslagern Mitteldeutschlands anhand von Augenzeugenberichten und Dokumentationen aus Merseburger Archiven und erschließt uns auf diese Weise Tatsachen, die bisher wenig oder gar nicht bekannt gewesen waren.
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Seitenzahl: 165
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Am 16. April 1944 wurden 468 Holländer in Beverwijk als Geiseln verhaftet und zunächst zum polizeilichen Durchgangslager Amersfoort gebracht. Nach Angaben des Niederländischen Reichsinstituts für Kriegsdokumentationen sind am 6. und 28. Juni 1944 Transporte mit 726 Geiseln von Amersfoort zu den Arbeitsämtern in Halle (Saale) und Merseburg abgefahren. Unter diesen Deportierten befanden sich auch die Geiseln von Beverswijk, die zuerst ins Arbeitserziehungslager Spergau bei Merseburg eingeliefert wurden. Nach der Zerstörung des Lagers Spergau durch einen Luftangriff am 29. Juli 1944 kamen die holländischen Geiseln zunächst in das Lager Schkopau/Korbetha. Nach Aufbau des Lagers Zöschen im September 1944 wurden die holländischen Geiseln dorthin gebracht. Ein Außenkommando, bestehend aus holländischen Häftlingen, arbeitete später beim Aufbau eines Flugplatzes bei Schafstädt. Von dort gelangten die Überlebenden in ein Lager in Ammendorf.
In seiner verdienstvollen Dokumentation beschreibt der Cuxhavener Autor Martin Pabst, der sich bis zu seinem Tod im Jahr 2002 diesem Spezialgebiet geschichtlicher Forschung zugewandt hat, das Leben, Leiden und Sterben der holländischen Häftlinge in den sogenannten Arbeitserziehungslagern Mitteldeutschlands anhand von Augenzeugenberichten und Dokumentationen aus Merseburger Archiven und erschließt uns auf diese Weise Tatsachen, die bisher wenig oder gar nicht bekannt gewesen waren.
Holländische Geiseln und Widerstandskämpfer 1944/45 in den Arbeitserziehungslagern Zöschen, Schafstädt und Ammendorf/Osendorf
Augenzeugenberichte holländischer Häftlinge und deutscher Anwohner, Dokumente aus Merseburger Archiven
Vorwort
Frans Buschers Leidenszeit in Zöschen
Der Marsch der holländischen Häftlinge von Spergau nach Zöschen
Der Aufbau des Lagers Zöschen
Maurerarbeiten am Hauptgebäude
Zählappell am Morgen und am Abend
Erlebnisse bei Fliegeralarm im Stollen und beim Bombenentschärfen auf dem Sportplatz
Schikanen und Misshandlungen
Bohnenpflücken auf dem Felde
Zementsäcke schleppen
Prügel durch den Wachmann Gerbsch
Flucht aus dem Lager
Die Lagerstrafen
Unumschränkter Herrscher Tod - Wie Jan Hettema starb
Wie Peet starb
Wegen Mundraubs totgeschlagen
Wie der englische Pfarrer von den Kanalinseln starb
Lagerarzt, Krankenzelt und Beerdigungen - Der Eid des Hippokrates
Im Krankenzelt
Quarantäne und Entlausung
Es gab auch gute Deutsche
Gespräche mit Einheimischen
Die Entlassung der Holländer aus dem Lager
Zu Gast bei deutschen Familien in Zöschen
Das Ende des Lagers Zöschen
Zwölf Fragen an Frans Busschers
Gefangen im Schafstall - Joop Epskamp erinnert sich
Unterkunft auf dem Flugplatz in Schafstädt
Entlassung aus dem Krankenrevier Ammendorf - Freier Arbeiter bei Paul Geheb in Merseburg
Acht Fragen an Joop Epskamp zum Lager Zöschen
Sechs Fragen an Joop Epskamp zum Einsatz in Schafstädt
Aus dem Tagebuch von Herman Poelma
In Begleitung eines SS-Mannes vom Krankenhaus Halle-Dölau zum Lager Zöschen
Nichts als Elend - Ankunft im E.-Lager
Auf Todeskommando - Räumarbeiten in den Leuna-Werken nach Luftangriffen
Zu Hundert im Viehwagen in die Wildnis
Grausiger Kriegsalltag auf dem Flugplatz
Die Gummiknüppel der Schinder
Ein Pole wird zu Tode geprügelt
Die Leichen im Lager Ammendorf/Osendorf
Der Leidensweg des Christian Wolgemoed
Christian Wolgemoed erinnert sich
Anmerkungen von Frans Busschers zum Bericht von Christian Wolgemoed
Nachts träumten wir von Brot und Schinken - Rückschau eines unbekannten Holländers
Das deutsche Lagerpersonal
Personaldaten
Anzahl, Dienstantritt und Herkunft des Wachpersonals
Dreizehn Fragen an Frans Busschers zum Wachpersonal
Verfahrensprotokolle und Berichte aus holländischen Tageszeitungen über Prozesse niederländischer Gerichte gegen Wachmänner
Aus der Vernehmung von C. D
.
Zeitungsberichte aus Amsterdam
„Het Paroll“ vom 13. Oktober 1947
„Het Parol“ vom 12. Mai 1948
Unbekannte Amsterdamer Tageszeitung vom 11. Mai 1948
Unbekannte Amsterdamer Tageszeitung vom 12. Mai 1948
Dokumente, Anwerbung und Rekrutierung des deutschen Wachpersonals betreffend
Reichsgesetzblatt 1938, Teil 1, Nr. 170, vom 15. Oktober 1938
Reichsblatt, Jahrgang 1939, Teil 1, vom 8. Juli 1939
Schreiben von Dr. Schaumburg, Leuna, an Filmfabrik Wolfen vom 29. Juni 1942
Bericht des Dr. Buergin, Bitterfeld, vom 26. Juni 1943
Aus dem Protokoll über das ehemalige Erziehungslager der Elbe AG in Piesteritz vom 11. März 1964
Aktenvermerk vom 29. September 1944
Holländische und andere Todesopfer auf dem Auefriedhof in Zöschen
Liste der Gräber vom 10. Oktober 1945
Schreiben des Landrats, Kreis Merseburg, 21. Juni 1946, an den Bürgermeister in Zöschen
Schreiben des Landrats, Kreis Merseburg, 30. April 1947, an den Gemeinderat in Zöschen
Schreiben des Landrats, Kreis Merseburg, 19. September 1947, an alle Bürgermeister
Liste der exhumierten Niederländer
Schreiben des Gemeinderates Zöschen, 20. April 1948; an die Kommandantur in Merseburg
Schreiben des Dienst Identificatie en Berging vom 5. Juni 1948 an den Bürgermeister Zöschens
Handgeschriebene Anmerkung der Gemeindeverwaltung Zöschen
Schreiben des Dienst Identificatie en Berging vom 22. Nov. 1948 an den Bürgermeister Merseburgs
Schreiben des französischen Ministeriums für Kriegsteilnehmer und Kriegsopfer; 21. Dezember 1950 an den Bürgermeister in Zöschen
Den Menschen zur Mahnung - Die Wiederherstellung des Zöschener Ehrenfriedhofs
Die Bürgermeisterin Edda Schaaf berichtet
Aus einer Rede des CDU-Landtagsabgeordneten Cornelius Nägler vom 28. Mai 1995
Ansprache von Edda Schaaf am 27. Mai 1996
Auszug aus der Predigt des Pastors H. Richter
Brief Frans Busschers vom 30. Mai 1997
Anlagen
Erlass zur Errichtung von AEL vom 28. Mai 1941
Lagerordnung für AEL vom 12. Dezember 1941
Allgemeine Lagerordnung
Das Schweigen der Angst - Erinnerungen deutscher Augenzeugen
Zweihundert Leute in einer Baracke - Otto Hofmann, 23. September 1992
Zementsäcke für die Bestattung - Otto Hofmann, 23. März 1997
Fußtritte für die Erschöpften - Sidonie Häusler am 30. Juni 1995
Befehlsempfänger in Holzpantinen - von Winfried Czepluch, damals Lehrling
Schreiben von Johanna Krupke aus Schafstädt vom 16. Juli 1996 an den Autor
Schreiben des Landkreises Merseburg-Querfurt, vom 13. Mai 1996 an den Autor
Nachrichten über die Anzahl der Häftlinge
Niederländisches Reichsinstitut für Kriegsdokumentation, Schreiben vom 25. März 1996
Notiz des Personalbüros BUNA, 31. Juli 1944
Notiz über eine Besprechung des Dr. Ecarius
,
BUNA, mit Herrn Elsner, Berlin, 4. August 1944
Notiz über eine Besprechung des Dr. Ecarius mit Dr. von Soiron am 10. August 1944
Zusammenstellung des Personalbüros Leuna vom 11. März 1945
Tagebuch von Walter Müller, 1. Mai 1945
Schreiben des AEL Zöschen vom 22. März 1945 an die Verwaltung des KZ‘s Buchenwald
Sterbefälle holländischer Häftlinge
Quellenangaben
Nachtrag
Am 16. April 1944 wurden 468 Holländer in Beverwijk als Geiseln verhaftet und zunächst zum polizeilichen Durchgangslager Amersfoort gebracht. Nach Angaben des Niederländischen Reichsinstituts für Kriegsdokumentationen sind am 6. und 28. Juni 1944 Transporte mit 726 Geiseln von Amersfoort zu den Arbeitsämtern in Halle (Saale) und Merseburg abgefahren. Unter diesen Deportierten befanden sich auch die Geiseln von Beverswijk, die zuerst ins Arbeitserziehungslager Spergau bei Merseburg eingeliefert wurden.
Über das Schicksal der Holländer in Spergau handelt meine Broschüre „Das Arbeitserziehungslager Spergau bei Merseburg“, die 1996 in der Reihe des Geschichtsstammtischs Leuna erschienen und über die Robert-Bosch-Stiftung Stuttgart zu beziehen ist. Nach der Zerstörung des Lagers Spergau durch einen Luftangriff am 29. Juli 1944 kamen die holländischen Geiseln zunächst in das Lager Schkopau/ Korbetha. Nach Aufbau des Lagers Zöschen im September 1944 wurden die holländischen Geiseln dorthin gebracht. Von Zöschen aus wurde ein Kommando holländischer Häftlinge zum Aufbau eines Flugplatzes nach Schafstädt geschickt. Von dort gelangten die Überlebenden in ein Lager in Ammendorf.
Das vorliegende Buch beschreibt das Schicksal der holländischen Häftlinge in Zöschen, Schafstädt und Ammendorf. Herrn Frans Busschers aus Enschede und Herrn Joop Epskamp danke ich für umfangreiche Berichte. Beide Herren habe ich bei einer Gedenkfeier in Zöschen persönlich kennengelernt und stehe mit ihnen in brieflicher und telefonischer Verbindung.
Die Tagebuchaufzeichnungen von Herman Poelma, die bereits in holländischer Sprache in einem Buch von Harm Reinders veröffentlicht wurden, habe ich in einer deutschen Übersetzung von Frau Hannelore Hauptmann aus Zöschen bekommen.
Die Todesfälle unter den holländischen Häftlingen wurden nach Meldung der Gestapo bei den zuständigen Standesämtern eingetragen. Die Grabstellen waren: Auefriedhof in Zöschen, Gertraudenfriedhof in Halle (Saale) und Alter Friedhof in Obhausen. Nach einer Liste vom 21. Dezember 1991 wurden 98 sterbliche Überreste von holländischen Häftlingen nach Holland überführt. 46 Urnen von holländischen Häftlingen müssten noch auf dem Ehrenfriedhof in der Aue ruhen, der aufgrund der Verdienste von Frau Edda Schaaf 1991 wieder auf seinem ursprünglichen Platz geweiht wurde.
Nach gründlicher Prüfung habe ich beschlossen, eine Liste mit den Namen aller holländischen Todesopfer zu veröffentlichen; sie findet sich im Anhang dieses Buches.
Meine Arbeit wurde finanziell unterstützt vom Heimatverein Zöschen, dem Verein Sachzeugen der chemischen Industrie, dem Landrat des Landkreises Merseburg-Querfurt, dem Regierungspräsidium Halle (Saale) und dem Olefinverbund Schkopau.
Den Mitarbeitern der Urkundenstelle der Kreisverwaltung Merseburg-Querfurt, der Verwaltungsgemeinschaft Kötzschau in Zöschen, dem Kreisarchiv Merseburg, dem Landesarchiv Merseburg, den Werksarchiven Leuna und BUNA, die mir bei meiner schwierigen Arbeit geholfen haben, gilt mein besonderer Dank.
Cuxhaven, den 5. September 1997, Martin Pabst
Am Abend, in der Dämmerung, mussten wir antreten, und unter Aufsicht von halb und völlig betrunkenen Wachtmeistern marschierten wir los. Es schien uns eine Ewigkeit unter dem ständigen Geschrei der Wachtmeister. Gott sei Dank waren sie nicht imstande, uns zu schlagen. Als dann endlich das Kommando „Stillgestanden!“ kam, bemerkten wir, dass wir wieder in Schkopau waren. Wir durften in die Baracken wegtreten und uns aufs Bett legen. Obwohl wir alle todmüde waren, konnten doch einige unter uns wegen des Hungers nicht sofort einschlafen. Ich fühlte mich zugleich glücklich und schuldig. Glücklich, weil wir zu dritt - durch meine Kenntnisse in der deutschen Sprache - Essen bekommen hatten, und schuldig, weil wir das den anderen verschwiegen hatten. Je länger unsere Gefangenschaft dauerte, desto klarer wurde mir, dass zwischen drei oder vier Personen zwar eine gute Freundschaft möglich war, aber auch jeder für sich selbst ums Überleben kämpfen musste.
Am nächsten Morgen, beim Appell, sahen wir, dass es dieselbe Baracke war, die wir am 6. Juli 1944 verlassen hatten. Noch immer rundherum mit Stacheldraht umgeben; aber jetzt waren auch Franzosen da. Dort gab es auch Duschen, und so konnten wir uns endlich einmal richtig säubern und die Unterwäsche waschen. Da wurde uns klar, dass unser Gepäck mit Unterwäsche, Oberbekleidung, Wintersachen und Schuhen verloren war beim letzten Angriff auf das Leuna-Werk und das Lager. Alles, was übrig geblieben war, war mein grauer Häftlingsanzug mit der Nummer 8136 und einem großen, gelben E auf dem Rücken und die Angst, was nun weiter mit uns geschehen würde.
Anfang August fuhren alle holländischen Geiseln mit dem Zug nach Zöschen und zurück, um dort ein neues Lager zu bauen. Das war ein Grundstück, auf dem man das Korn bereits abgeerntet hatte. Am Straßenrand ein großes Feld mit Tomaten und daneben kohlartige Pflanzen mit einer harten, grünen, apfelartigen Frucht. Dem Lager gegenüber wohnte der Landwirt und Gärtner Zschäpe. Einige Baracken standen schon da, gebaut aus Betonpfählen und Betonplatten. Das Lager sollte gebaut werden durch Otto Schweigel aus Weißenfels. Der Name stand auf dem Materialwagen. Der Hauptpolier war Alwin, ein alter Mann, der jeden Morgen mit dem Moped angefahren kam. Dann war noch ein Polier dabei, den nannten wir „langer Ernst“, und der Maurerpolier Franz, der beste Mann im ganzen Lager. Die erste Arbeit war für uns, Löcher zu graben mit Hacke und Schaufel, dicke Telefonpfähle da hinein zu stellen und mit Beton auszugießen. Hier stellte sich schon heraus, wer Bauarbeiter war und wer nicht. Für die letzte Gruppe blieb fast nur Schwerstarbeit übrig, die musste Erde ausschachten für die Fundamente der Baracken, und Betonstützen setzen für Fundamente und Fußböden. Das geschah alles unter Aufsicht der Poliere von Schweigel. In der Nähe standen SS-Wachen, um aufs Tempo zu drücken. Die Poliere haben zwar oft gemeckert, uns aber nie geschlagen.
Ich war unter anderem mit mehreren Häftlingen beschäftigt, die Stacheldrahtsperren rings um das Lager anzubringen hatten, außerdem die Drahtsperren zwischen den Häftlingsbaracken und den Baracken der Wachmannschaften, der Schreibstube, der Kleiderkammer, der Küche und dem Frauenlager. Zwischen der Küche und dem Frauenlager gab es darüber hinaus eine Biberfarm. In der Stacheldrahtsperre, zwischen dem Häftlingslager und den SS-Baracken, stand ein großes, doppelflügliges Tor.
Als wir nach etwa zehn Tagen, immer zwischen Schkopau und Zöschen hin und her reisend, die letzten der Absperrungen fertig hatten, wurden auch die Wachtürme aufgebaut und die von Schweigel angefertigten Silos (sogenannte Zelte) aufgestellt (siehe die Abbildung auf Seite 17). Letztere waren in zwei Reihen nebeneinander platziert. Insgesamt zwanzig bis fünfundzwanzig Stück. Die „Zelte“ waren aus Hartfaserplatten, Durchmesser sechs bis sieben Meter, die Wände 1,60 bis 1,80 Meter hoch. Auch das Dach bestand aus Hartfaserplatten, zum Mittelpunkt hin schräg aufsteigend bis in eine Höhe von 2,40 Meter, mit einem Luftloch im Zentrum, das wiederum mit Hartfaserplatten abgedeckt war. Auf dem Boden lagen zehn bis fünfzehn Zentimeter Stroh und eine Pferdedecke pro Person.
Wachtmeister Pabst muss auch ein Maurerpolier gewesen sein, denn als die Maurer mit den Außenwänden anfingen, fragte er, wie viele Mauerverbände ich schaffen könnte. Da ich es nicht in deutscher Sprache erklären konnte, habe ich mit einem Nagel sechs oder sieben Verbände in den Sand gezeichnet.
Als der Wachtmeister einige Tage später mit einer Kelle kam, sagte er:
„Ich will doch mal sehen, wer die meisten Steine gut vermauert hat“, und dann: „Ich bin mit euch zufrieden!“
Von diesem Augenblick an war er für unsere Gruppe nicht mehr der Wachmann mit dem Knüppel.
Mittlerweile hatten die Häftlinge angefangen, die Erde auszuschachten für einen Keller des Hauptgebäudes, das heute noch steht. Das alles geschah mit Schaufel und Schubkarre. Man musste über Bretter die Schubkarre ungefähr drei Meter nach oben schicken. Die ersten Materialien, die man zum Bau des Hauptgebäudes brauchte, waren Kies und Zement. Es gab auch Kommandos für die Kiesgrube. Der Kies wurde von russischen Zwangsarbeitern mit Pferd und Wagen ins Lager gebracht.
Ende September hatten wir das Hauptgebäude so gut wie hochgezogen, nur das Dach musste noch aufgesetzt werden. Die Räume im Keller waren verputzt und wurden als Kartoffelkeller benutzt. Im Oktober waren die meisten Baracken nahezu fertig, auch die Wachräume für die Wachmänner. Wir Holländer lebten immer noch in den Zelten und immer mehr Häftlinge und Wachmänner kamen ins Lager. Mitte November war es bereits eisig kalt, und wir versuchten, die Krankenbaracke vor Einbruch des Winters fertig zu bekommen.
Wenn beim Zählappell die Nummern der Häftlinge aufgerufen wurden, übersetzte man sie zuerst ins Deutsche, dann ins Französische und zuletzt ins Polnische und Russische. Die Häftlinge hatten dann mit „Hier“ oder „Ja“ zu antworten. Auf dem Appellplatz standen sie in schnurgeraden Linien im Karree, die erste bis zur letzten mit derselben Anzahl an Häftlingen. Diejenigen, die übrig blieben, waren ein Stück abseits hinter der letzten Reihe aufgestellt. Dann wurden die Reihen samt dem verbliebenen Rest addiert. Wenn alles klappte, dauerten die täglichen Zählappelle eine Dreiviertel- bis eine volle Stunde. Gab es Probleme, waren zwei Stunden oder mehr keine Ausnahme.
Bei der abendlichen Rückkehr des Kommandos ins Lager musste die Anzahl der Häftlinge genauestens stimmen - egal, ob die Leute tot oder lebendig waren. Die tagsüber gestorben waren, mussten von den Häftlingen des Außenkommandos mitgeschleppt und im Lager abgeliefert werden, denn der Wachführer verglich penibel die Anzahl derer, die am frühen Morgen in Kommandos das Lager verlassen hatten, mit der jener, die am Abend wieder ins Lager zurückkehrten. Wenn die Zahlen nicht übereinstimmten, gab es, gelinde gesagt, Ärger. Dann standen wir stundenlang auf dem Appellplatz stramm, bis man den Fehler ermittelt hatte. Die Toten, die am Abend ins Lager zurückgebracht worden waren, wurden durch die Nummern auf ihrem Rücken identifiziert.
Im Anschluss an den Morgenappell um 6:00 Uhr - zuvor waren wir mit Stockschlägen aus den Zelten hinaus getrieben worden - gab es eine Tasse Malzkaffee. Nun wurden die Kommandos für Leuna, BUNA und die Kiesgrube zusammengestellt. Die meisten Holländer blieben jedoch im Lager. Regnete es, verdreckte das gesamte Lager wegen des Lehmbodens, und manchmal verloren wir im Schlamm unsere Holzschuhe. Ich erinnere mich an eine polnische oder russische Frau, die von einem Wachmann aus der Schreibstube geworfen worden war und in Wasser und Lehmmatsch hin und her rollte, weinte und jammerte. Das einzige, was ich verstehen konnte, war: „Mein Sohn, mein Sohn!“ Nach dem Abendappell bekamen wir unsere Kalt- und Warmverpflegung: ein Stück Brot (ein- oder zweimal pro Woche mit einem Klecks Butter dazu), so groß wie eine Streichholzschachtel, und eine Schüssel Suppe aus Rübenblättern mit ein oder zwei schlechten Kartoffeln.
Als uns eines Tages ein Wachmann, den ich vorher noch nie gesehen hatte, bei unserem Kommando abmeldete, fragte er: „Wo hast du Deutsch gelernt?“
Während ich es ihm erklärte, zündete er eine Zigarette an, und ich war verblüfft, als auch ich eine angeboten bekam. Ich denke, das wird für ihn wohl sein allererster Tag als Wachmann bei uns gewesen sein. Er war an der Ostfront gewesen und hatte einen Arm verloren.
Er sagte: „Für euch Häftlinge gibt es keinen Luftschutzbunker mehr, und ich will versuchen, ein gutes Versteck zu finden.“
Als dann später Luftalarm gegeben wurde, nahm er uns mit in Richtung Eisenbahn. Unten war ein Fluss und an beiden Seiten des Wassers ein Fußpfad. Dort gab es eine Art Gewölbe, in das wir uns setzen konnten. Der Wachmann stand außerhalb unseres Unterschlupfes und suchte den Himmel nach den näher kommenden Flugverbänden ab. Bald trafen mehr und mehr Zivildeutsche ein, die sich auf ihre Gasmaskenbehälter setzten und uns mit den Worten: „Haut ab, Häftlinge gehören nicht hier ‘rein!“ verdrängen wollten. Als das unser Wachmann mitkriegte, kämpfte er mit Schimpftiraden und Drohungen unsere Plätze wieder frei. Ob die Zivildeutschen sich im nachhinein beim Lagerführer beschwert haben, weiß ich nicht. Jedenfalls habe ich diesen Wachmann später nicht wiedergesehen.
Ungefähr zwei Tage nach dem letzten Luftangriff ging es mit einem Kommando nach Leuna, wo wir in verschiedene Gruppen aufgeteilt wurden. Jupp und ich blieben allein mit einem Wachmann zurück und gingen mit ihm zu einem Fußballfeld. Vor lauter Bombentrichtern war dort kein Rasen mehr zu erkennen. In etwa zweihundert bis dreihundert Metern Entfernung erkannten wir eine Menge eiserner Röhren auf einem fünf oder sechs Meter hohen Gerüst, die fast alle zerstört in die Gegend kragten. An dieser Stelle war ein Blindgänger eingeschlagen.
Der Wachmann hatte eine Arschruhe und sagte: „Die Bombe da muss freigelegt werden. Ihr könnt Deutsch. Wenn ihr meine Anweisungen genau befolgt, kann nichts schiefgehen.“
Als ich auf dem Koppelschloss des Mannes die Inschrift „Gott mit uns“ las , dachte ich: ‚Genau das wünschen wir uns!‘ Wir haben sehr vorsichtig und langsam gegraben. Zum Glück ist alles gutgegangen.
Anfang November 1944. Unsere Gruppe stand beim Abendappell: Weil dem Wachmann unsere Leistung zu niedrig erschien, durften wir nicht in die „Zelte“ wegtreten, sondern mussten auf dem Appellplatz stehen bleiben.
„Rührt euch nicht vom Fleck!“ lautete sein Befehl. Als der Wachmann wegen der Kälte seine warme Baracke aufsuchte, stellten wir uns dicht aneinander, um uns, so gut es ging, gegen die Kälte zu schützen. Kaum kam der Wachmann zurück und wies an, dass wir uns wieder „ordentlich“ in Reih’ und Glied zu stellen hatten, kippte einer von uns um und war tot.
Ab und zu wurden am Ende des Abendappells Nummern in deutscher, französischer und russischer Sprache aufgerufen, Nummern von Häftlingen, die freigelassen werden sollten. Für diese Gelegenheit hatten sich zwei Wachmänner eine besondere Schikane ausgedacht: Eine Nummer wurde aufgerufen, und sobald der Häftling sich meldete, bekam er den Auftrag, so schnell wie möglich ans Ende des Lagers zu laufen und dort seine Nummer zu rufen.
Diesmal traf es einen Holländer aus Groningen. Als er vom anderen Ende des Lagers her seine Nummer rief, standen die Wachmänner mit der Hand als Schalltrichter am Ohr und grölten zurück:
„Lauter, wir verstehen nichts!“