Arenlai Pan - Alex C. Weiss - E-Book

Arenlai Pan E-Book

Alex C. Weiss

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Beschreibung

Von ihrem gewalttätigem Vater aus dem Haus geworfen, schließt Pan sich dem fahrenden Volk an. Kurz darauf verschwinden zwei Frauen aus der Gruppe. Auch in der nahegelegenen Stadt werden Frauen und Kinder entführt. Die Spielmannstruppe gerät in Verdacht und muss fliehen. Von nun an überstürzen sich die Ereignisse. Alben, eigentlich unsterbliche Wesen, werden tot aufgefunden und Frauen mit schwarz verfärbten Augen greifen die Dörfer an. Die Schutzgeister Arenlais bitten die Menschen um Hilfe und Pan macht sich mit ihren neuen Freunden auf den Weg, die Ursache des Übels zu ergründen.

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Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1 - Abschied

Kapitel 2 - Das fahrende Volk

Kapitel 3 - Enaras

Kapitel 4 - Die Flucht

Kapitel 5 - Die Schlucht

Kapital 6 - Earfens Labyrinth

Kapitel 7 - Das Tal der blühenden Bäume

Kapitel 8 - Sentek

Kapitel 9 - Das Meer

Kapitel 10 - Gaszerat

Kapitel 11 - Die Fähre

Kapitel 12 - Sircalorn

Kapitel 13 - Zurna

Kapitel 14 - Die Ebene

Kapitel 15 - Die einsame Stadt

Kapitel 16 - Kanuras

Kapitel 17 - Am Marktplatz

Kapitel 18 - Die Höhle

Kapitel 19 - Der erste Schnee

Kapitel 20 - Weiße Mauern

Kapitel 21 - Die Hütte

Kapitel 22 - Die weißen Ebenen

Kapitel 23 - Gespräche

Kapitel 24 - Die Wölfe

Kapitel 25 - Die Händler

Kapitel 25 - Das Armenviertel

Kapitel 26 - Das Kinderhaus

Kapitel 27 - Der Palast

Kapitel 28 - Die Königin

Kapitel 29 - Der Tod

Am Anfang war das Dunkel. Und ein Geist wohnte in ihm, der es ausfüllte und belebte. Aus ihm entsprangen die Zwei, die doch eins waren. Und der eine Geist gab ihnen die Fähigkeit zu Schaffen. Er hauchte ihnen Seele und Willen ein. Dann zog der Einende sich zurück und hieß seine Kinder, die Leere des Universums zu füllen.

Kapitel 1 - Abschied

Pan sah die Faust kommen, doch es war zu spät. Sie konnte nicht ausweichen. Ein leises Krachen war zu hören, dann raubte der Schmerz ihr jeden vernünftigen Gedanken. Das Rauschen ihres Blutes und das überlaute Klopfen ihres Herzens drängten die Stimme ihres Vaters in den Hintergrund.

„Verschwinde endlich. Raus hier! Ich schlag dich tot, wenn du nicht verschwindest!“

Pan sah vor Schmerz kaum etwas. Schwankend tastete sie sich an der Wand entlang. Ihre Nase schwoll an. Sie taumelte zur Tür und ergriff, was auf einer Truhe neben dem Ausgang lag. Es war ein schwarzer Mantel aus Wolle und ein großes Tuch. Unter dem Stoff spürte sie kaltes Metall.

„Verschwinde jetzt. Raus aus meinem Haus! Ich wollte dich hier noch nie haben, du nichtsnutziges Aas.“ Er packte sie an der Schulter.

Pan zog einen kleinen Dolch aus den Falten des Tuches und hielt ihn ihrem Angreifer vors Gesicht. Der lachte lauthals. Nur raus hier dachte Pan und schlich rückwärts zur Tür. Mit gefletschten Zähnen pirschte ihr Vater hinterher. Er sah aus wie ein Raubtier. Langsam bewegte sie sich, ohne ihren Peiniger dabei aus den Augen zu lassen. Sie stieß die Tür auf und sprang über die Schwelle. Endlich war Pan draußen. Die paar Häuser um sie herum beachtete sie nicht. Die Stimmen, die nach ihr riefen, waren ihr gleichgültig. Nur weg hier, weg, für immer. Sie rannte die wenigen Meter bis zum Wald.

Das Grün umfing sie, schütze sie, versteckte sie. Pan verschwand im Dickicht und lief weiter, so schnell sie konnte. Kam er hinter ihr her? Sie umklammerte den Dolch, unter dem Arm hatte sie den Mantel und das Tuch geklemmt. Die Äste der Bäume peitschten ihr ins Gesicht, doch Schmerz empfand Pan nicht. Die Angst verlieh ihr mehr Kraft, als sie in sich vermutet hätte. Sie rannte und rannte. Den Weg würde sie mit geschlossenen Augen finden. Tausendmal war sie hier entlanggelaufen und hatte sich versteckt.

Irgendwann wurden ihre Beine langsamer. Sie hastete weiter, sah sich immer wieder um und horchte. Doch nur die Stimmen des Waldes waren zu hören. Ihr Weg führte sie zum Fluss. Pan durchquerte ihn an einer seichten Stelle. Ihre Schritte wurden langsamer. Ihr Herzschlag beruhige sich. Doch mit der Ruhe schwoll der Schmerz an. Sie hielt erst an, als sie sicher war, dass niemand ihr folgte, dann wusch sie sich das Blut aus dem Gesicht. Das kühle Wasser betäubte die Qual ein wenig. Pan betastete ihre Nase. Eine Beule oder eher ein Knick war am Nasenrücken zu spüren. Sie versuchte den Knochen wieder in die richtige Form zu pressen, doch ihr wurde schwarz vor Augen. Sie schüttelte sich benommen und kühlte noch einmal ihr Gesicht. Die gebrochene Nase war nicht die einzige Verletzung. Ihre Haut war zerkratzt und an vielen Stellen hatte sie blaue Flecken, ältere und neue. Ihre Hände sanken zu Boden, stützen sich im Moos ab. Wie oft hatte sie hier gesessen, wie oft ihre Wunden mit Flusswasser gekühlt, ihre Gedanken beruhigt?

Das Plätschern der Wellen verfehlte nicht seine Wirkung. Die Bäume vermittelten ihr mehr Geborgenheit, als jeder andere Ort es je getan hatte. Aber hier, so nahe am Haus ihres Vaters wollte sie auf keinen Fall bleiben. Der Fluss führte südlich zum Meer und nördlich ins Gebirge. Sie entschied sich für den Norden. Vielleicht würde sie sich in einem der Dörfer dort niederlassen. Sie stand auf und wanderte den Fluss entlang. Nun hatte sie es nicht mehr eilig. Er würde ihr nicht folgen. Niemand würde sie vermissen.

Der Tag verstrich. In kurzen Pausen kühlte sie am Wasser ihre Verletzungen. Beeren und ein paar Pilze, gaben eine kleine Mahlzeit ab. Eine Leichtigkeit befiel Pan, trotz der Schmerzen. Jegliche Bürde fiel von ihr ab. Von selbst hätte sie ihren Vater nie verlassen. Er hatte ihr diesen Schritt aufgezwungen und doch war sie froh über die Wendung in ihrem Leben.

Die Dämmerung brach herein und Pan suchte eine geeignete Astgabel, um sich nach Art der Talraner ein Lager oben in den Bäumen zu bauen, dort war es nachts sicherer als am Boden. Schnell fand Pan einen Platz dafür und schaffte Äste und Zweige hinauf, um es sich gemütlich einzurichten. Sie sah in die Baumkronen. Die letzten Strahlen Ifras schickten ein warmes rötliches Licht durch die Blätter, die sich sanft im Wind bewegten. Ihr Rauschen war Musik in Pans Ohren. Das Zwitschern der Vögel, das letzte Lied, ehe die Wesen der Nacht ihre Stimmen erhoben, begleitete Pan in traumlosen Schlaf. Viel zu früh schreckte Pan hoch. Zwei gelbe Augen leuchteten in der Dunkelheit. Angestrengt starrte sie in die Finsternis. Es dauerte eine Weile, bis sie erkannte, was da vor ihr saß. Es war ein Nachtalb. Schon als Kind hatte man Pan erzählt, dass sie sich vor den schwarzen Alben hüten sollte und nachts nicht allein in den Wald gehen dürfe. Pan hatte gedacht, das wären nur Geschichten. Doch jetzt saß er vor ihr und sah sie an. Er hatte ihren Mantel in der Hand.

„Nein! Lass das! Der gehört mir!“, schrie Pan den Alb an. Er legte den Kopf schief und grinste. Dann ließ er den Mantel vom Baum segeln. Ein zweiter Alb fing ihn unten auf.

„Lasss dasss!“, äffte der Nachtalb Pan nach. Er war klein und schlank. Seine Haut war vollkommen schwarz. Er hatte keinerlei Haare an seinem Körper. Als er sich hinuntergleiten ließ, sah Pan einen langen Schwanz, der ihm beim Klettern dienlich war. Pan hangelte sich hinterher, doch der Alb war bei weitem schneller als sie und verschwand in der Dunkelheit. Der Zweite trampelte auf ihrem Kleidungsstück herum. Pan sprang auf ihn zu, da suchte auch dieser das Weite. Der Mantel war nass und dreckig. Sie schüttelte ihn aus und starrte ärgerlich in die Dunkelheit. Nach Schlafen war ihr nicht mehr zumute, also packte sie ihre Sachen unter ihren Arm, legte sich das Tuch um die Schultern und machte sich wieder auf den Weg. Von nun an wickelte sie sich nachts in ihren Mantel, obwohl es nicht kalt war. Das Tuch verwendete sie als Kissen. Die Tage verstrichen, die Schwellung ihrer Nase ließ nach, die Beule schwoll ab, doch ein kleiner Knick im Nasenrücken blieb.

Die Ruhe des Waldes tat Pan gut. Es war schon immer so gewesen. In der Einsamkeit des Waldes fühlte sie sich geborgen.

Kapitel 2 - Das fahrende Volk

Pan konnte später nicht mehr sagen, wie lange sie allein gewesen war, bevor sie das erste Mal eine menschliche Stimme hörte. Es war eine schöne Stimme. Sie sang in einer fremden Sprache. Trommeln gesellten sich dazu. Weitere Tonlagen vermischten sich zu einem Raunen. Gelächter drang durch die Bäume. Vorsichtig kletterte Pan an einem der Baumstämme hoch. Fast so behände wie ein Nachtalb ließ sie sich durch die Äste gleiten, von Baum zu Baum, bis sie die Urheber der waldfremden Geräusche sah.

Unweit entfernt erkannte sie in der Abenddämmerung die Umrisse einiger Häuser. Direkt unter Pan tanzte auf einer Lichtung eine junge Frau. Ein Trommler und ein Sänger saßen auf einem Baumstamm. Hinter ihnen waren drei große Wagen im Halbkreis aufgestellt, dahinter sah Pan einige Tiere grasen.

Der Tanz des Mädchens war kraftvoll und anmutig. Als das Lied verklang, verbeugte sie sich und die Umstehenden, die Pan erst jetzt auffielen, klatschten und pfiffen. Die junge Frau verließ den Platz und ein Mann, um dessen Füße ein Fuchs schlich, trat an ihre Stelle.

Irgendwie sah der Kerl ebenfalls aus wie ein Fuchs. Er hatte eine spitze Nase und lange rote Haare, in die Bänder geflochten waren. Mit großen Gesten verbeugte er sich.

„Mein Name ist Flip der Zauberer. Seht nun die verborgene Kunst der Magie, die ihr nur aus euren Träumen kennt.“

Es war faszinierend ihm zuzusehen. Seine Gesten und seine Mimik waren ausladend.

„Ta Parsa ur Visar!“, rief er laut und aus seinen Händen strömte eine Wasserfontäne nach oben. Dann rieselte das Wasser in winzigen Tröpfchen auf die Umstehenden. Das Publikum war begeistert. Der Zauberer verbeugte sich und genoss den Applaus. Dann rieb er seine Handflächen aneinander. Als er sie öffnete und seine Arme ausbreitete, brannten seine Hände. Es war blaues helles Feuer, das sich in den Augen der Umstehenden spiegelte. Flip klatschte und die Flammen erloschen. Stattdessen kam Wind auf und allem Anschein nach beherrschte der junge Mann ihn, denn mit den Bewegungen seiner Hände, ließ er die Blätter auf dem Waldboden tanzen. Pan sah, dass eine grüne Substanz an seinen Handinnenflächen klebte. Wieder klatschten die Umstehenden. Flip rieb die Hände aneinander und ließ sie dann über den Boden gleiten. Unter seinen Bewegungen formte sich aus der Erde der Leib einer Frau. Die Hände des Zauberers wirbelten durch die Luft und mit ihm tanzte die Erdfrau einen seltsamen Reigen. Sobald Flip klatschte, zerfiel sie zu trockenem Staub. Der Applaus wollte gar nicht verebben, als der Zauberer seine Vorstellung beendete. Schließlich bedankte er sich beim Publikum und kündigte an:

„Seht nun Garbotak, den Herrn des Feuers!“

Der Mann, der jetzt den Platz betrat, strahlte so viel Kraft, und Souveränität aus, dass es schon fast zu viel des Guten war. Pan war sich nicht sicher, ob sie Angst vor ihm hatte, oder ihn wunderbar fand. Er war groß, muskulös und hatte etwas Wildes, Ungebändigtes an sich. Sein Haar war dunkel und kurz, die Augen fast schwarz. Er war kein junger Mann mehr, in seinem unrasierten Gesicht machten sich zwischen den schwarzen Barthaaren einige graue breit. Er trug einen Wasserschlauch und eine brennende Fackel mit sich. Eine Frau folgte ihm, etwas älter als Pan. Sie hatte ebenso schwarzes Haar wie Pan selbst, vielleicht war sie eine Talranerin. Auch sie trug eine Fackel mit sich.

Garbotak nahm einen Schluck aus dem Schlauch und spuckte die Flüssigkeit gegen die Flamme der Fackel. Eine riesige Feuerfontäne wuchs gen Himmel. Mehrmals wiederholte er das Spiel und die Zuschauer waren begeistert von dem leuchtenden Spektakel, die er für sie erscheinen ließ.

Dann zog er sein Hemd aus und rieb sich mit der Flüssigkeit aus dem Schlauch die Haut ein. Die junge Frau entzündete Garbotaks Oberkörper. Mit brennender Haut stolzierte er an der Reihe der Umstehenden entlang. Das Publikum stöhnte, manch ein entsetzter Schrei war zu hören. Doch der Feuerkünstler schien keine Schmerzen zu kennen. Er breitete die Arme aus und ließ sich bestaunen. Nach und nach erlosch das Feuer. Zurück blieb leicht gerötete, glänzende Haut, völlig unverletzt.

Nun holte er einen langen Stab, den die junge Frau an beiden Seiten entzündete. Der Akrobat ließ den Stock um seinen Körper wirbeln und erschuf damit Bilder aus Flammen und Licht. Die Nacht brach herein und von Garbotak war kaum mehr etwas zu sehen. Nur seine Gebilde aus Feuer durchbrachen die Dunkelheit.

Die junge Frau hatte zwei Ketten, an deren Enden Kugeln befestigt waren. Sie zündete diese an und gesellte sich in anmutigen Tanz zu Garbotak. Trommeln erklangen und das Mädchen vervollständigte die Feuerfiguren mit ihren eigenen. Pan hatte nie etwas Schöneres gesehen. Als das Feuer erlosch und die beiden sich verbeugten, übertraf der Applaus noch den des vorherigen Künstlers. Eine Weile unterhielten sich die Leute unten. Vor einem der Wagen entstand eine Schlange. Es wurde immer nur einer hineingelassen und erst, wenn er wieder hinausging, war es dem Nächsten gestattet den Innenraum zu betreten. Pan fragte sich, was in dem Wagen vor sich ging. Spätnachts kehrte Ruhe ein und Pan schlich sich davon.

Der Morgen graute, Pan war schon lange wach und beobachtete die Leute vom fahrenden Volk, sie folgte ihnen, als sie aufbrachen. Leise huschte sie von Baum zu Baum, kaum hörbar. Machten sie eine Pause, so hielt sich auch Pan still, aß ein paar Beeren und Pilze und achtete darauf, möglichst keine Geräusche zu erzeugen. Fuhren sie weiter, so bewegte sich auch Pan. Es war nicht schwer, ihnen zu folgen, sie waren langsam mit ihren Tieren und Wagen.

Als Pan sich abends wieder ein Lager auf einem Baum baute, hörte sie eine Stimme. Vor Schreck wäre sie fast heruntergefallen.

„Na, willst du dich nicht zu uns gesellen?“ Es war eine zauberhafte Stimme, warm und tief. Eine alte Frau stand unter dem Baum und sah herauf. Sie hatte blaue Augen und langes weißes Haar mit hellblauen Strähnen darin. Pan kletterte herunter und folgte der Alten.

„Ich bin Semris und wie ist dein Name?“

„Pan.“

Semris hob die Augenbrauen. „Das hört sich nicht gerade talranisch an.“

„Eigentlich heiße ich Panrah, aber alle nennen mich Pan.“

Die Alte nickte. „Warum folgst du uns? Willst du weg aus deinem Dorf?“

„Nein ich bin nicht aus dem Dorf. Ich bin schon länger unterwegs und hab euch zufällig gesehen.“

„Schon länger unterwegs? So ein junges Ding?“

Pan zuckte mit den Schultern. Sie hatte keine Lust, es zu erklären. Warum auch? Trotzig presste sie ihre Lippen zusammen.

Semris lächelte. „Schon gut, schon gut. Du wirst deine Gründe haben. Nun wärm dich erst mal am Feuer und iss etwas mit uns.“

Beklommen trat Pan hinter der Alten zu den anderen ans Lagerfeuer. Garbotak starrte sie misstrauisch an.

Flip hingegen kam freundlich auf sie zu und reichte ihr die Hand. „Freut mich, freut mich. Ich bin Flip. Was führt dich zu uns?“

Semris antwortete für sie. „Das ist Panrah, sie wird uns eine Weile begleiten.“

Pan ergriff Flips Hand. „Pan, nur Pan bitte.“

Flip nickte. „Pan, setz dich doch. Hast du Hunger? Er hielt ihr eine Keule entgegen.“

Pan verzog das Gesicht. „Danke, ich hab meinen eigenen Proviant.“

„Isst wohl kein Fleisch? Talraner eben, seltsames Volk, wenn du mich fragst.“, äußerte Garbotak abfällig.

„Jeder isst was er möchte!“, Pan sah ihm direkt in die Augen.

Er hob die Hände. „Schon gut!“

Nach und nach stellte Semris die anderen vor, die zur Gruppe gehörten. Neben Garbotak saß die junge Frau, die mit ihm den Feuertanz aufgeführt hatte. Tualah war ihr Name. Sie sah aus wie eine Talranerin. Nur ihre Haut war hell und nicht grün, wie Pans. Flip hatte sich wieder gesetzt. Sein Fuchs rollte sich zu seinen Füßen ein. Daneben saß ein Mann, der noch größer als Garbotak war. Semris stellte ihn als Talar vor. Neben ihm saß sein Sohn, der sich sehr von ihm unterschied. Talar war ein Riese und ein Muskelprotz. Piro hingegen war zwar groß, aber schmal. Pan vermutete, sie kämen beide aus Rashland, so wie Semris und die kleine Tänzerin. Sie hieß Isone und hatte wunderschöne blaue Augen und auch blaues Haar. Außerdem war Liar, ein Mann aus Gard und zwei Frauen und ein Mann aus Nureen bei der Gruppe. Die Nureenerinnen hießen Dakre und Raya. Rayas Mann hieß Torkas. Pan fand sie wunderschön. Ihre Haut war wie schwarzer Samt.

Pan war still. Es fiel nicht so auf, da Flip neben ihr ununterbrochen redete. Sie beobachtete die anderen und sie bemerkte, wie auch sie nicht aus den Augen gelassen wurde. An diesem Abend war sie einsamer als an all den Tagen und Nächten im Wald, die sie allein verbracht hatte. Semris bot ihr einen Schlafplatz in ihrem Wagen an, den Pan annahm. Die Alte ging spät schlafen, so dass Pan das Gefährt vorerst für sich hatte. Es dauerte nicht lange, bis sie einschlief.

Morgens wusste sie erst einmal nicht, wo sie war. Über sich sah sie Kräuterbündel und kleine schwarze Beeren baumeln. Es duftete angenehm. Sie rappelte sich hoch und sah sich um. Da fiel ihr alles wieder ein. Sie schälte sich aus der Decke, die sie bekommen hatte und stand auf. Semris war nicht zu sehen. Draußen zog das erste Morgenlicht über die Lichtung.

„Kleine! Panrah! Komm rüber!“, rief die Alte.

Sie zeigte hinüber zu Flip und Isone, die mit dem Abbau eines Zeltes beschäftigt waren.

„Geh ihnen zur Hand. Mach dich nützlich!“

Es dauerte nicht lange, bis die Reisezelte abgebaut und verstaut waren. Die drei großen Ebur wurden vor die Wagen gespannt. Pan hatte bisher nie mit diesen Tieren zu tun gehabt. Im Wald nutze man sie nicht oft. Sie waren dunkelgrau und muskulös, ideale Zugtiere. Ihre kleinen runden Ohren bewegten sich unablässig.

Talar und Piro stiegen auf die beiden Irjan, die zuvor hinter den Wagen angebunden gewesen waren. Es waren rotbraune Reittiere, mit einem stattlichen und doch filigranen Geweih.

„Was stehst du so rum? Steig auf Mädchen, wir fahren!“, rief Semris. „Los jetzt!“

Pan sprang zu ihr hinauf. Die Alte reichte ihr die Zügel.

„Das kann ich nicht!“.

Semris schüttelte unwillig den Kopf. „Dann lernst du es!“ So nahm Pan die Zügel entgegen. Die alte Frau schnalzte mit der Zunge und der Tross setze sich in Bewegung. Angestrengt hielt Pan die schmalen Lederriemen. Hin und wieder erklärte Semris, wie man die Ebur am besten lenkte. Pan war so konzentriert, dass sie vergaß, sich Sorgen zu machen, und nicht mehr darüber nachdachte, dass sie unter fremden Leuten war.

Die ersten Tage reisten sie durch den dichten Wald Talrus Richtung Enaras. Nur ein schmaler unbefestigter Weg führte durch die Bäume. Immer wieder befürchtete Pan, einer der Wagen würde umkippen. Doch die Truppe wusste genau, wie sie zu fahren hatte, und sie kamen ohne Zwischenfälle der Hauptstadt Talrus näher.

Isone und Flip hatten kein eigenes Gefährt und reisten abwechselnd bei den anderen mit. Dakre, Raya und Torkas teilten den vordersten Wagen. Anschließend folgte Garbotak, mit Liar und Tualah.

Pan genoss die Gesellschaft von Isone. Sie erzählte viel und hatte ausgezeichnete Laune. Von Flip hingegen konnte man einiges lernen. Er hatte für jeden Zweck ein Pülverchen oder Fläschchen in einer seiner vielen Taschen. Den größten Teil des Tages ging Pan ihm und Semris zur Hand. Die beiden sammelten unterwegs neue Zutaten für ihre Mittelchen oder zerrieben, trockneten und kochten irgendwas. Die alte Kräuterfrau wusste sogar, wie man den Garletsaft zubereitete, der in Talru so gern getrunken wurde und zeigte es Pan, die sich einen kleinen Vorrat davon anlegte.

Semris sammelte auch die Blätter der Goldweide.

Pan warnte sie erschrocken: „Die sind giftig!“, doch die Alte fuhr seelenruhig fort.

„Ich weiß, ich weiß Mädchen. Aber es gibt nichts was nur schlecht oder nur gut ist. Ein winziges Stück eines Blattes der Goldweide gemischt mit gemahlenen Kanit aus Nureen kann die Nasgatkrankheit hinauszögern. Zu viel davon und du stirbst. So ist es bei vielen Dingen! Das richtige Maß ist einzuhalten.“

Die Tage verstrichen und Pan erfuhr auf ihrer Reise von Semris mehr über seltsame Krankheiten und ihre Heilung oder Linderung, als sie es je für möglich gehalten hatte. Schnell fand sie Gefallen daran, alte Rezepte aus Semris’ Büchern zu lesen, Pflanzen und Steine zu suchen und Zutaten zu mischen.

Abends saßen alle zusammen am Lagerfeuer. Nicht jeder war Pan gegenüber aufgeschlossen. Sie gab sich meist mit Flip oder Isone ab.

Eines Abends erzählte Isone Pan, dass Dakre in die Zukunft sehen konnte. „Ich hab mir nie etwas vorhersagen lassen. Stell dir vor, sie sagt dir etwas ganz Schlimmes. Da kannst du dein Leben doch nicht mehr genießen!“

Sie nickte hinüber zu Liar. „Er ist kein reiner Gardener, weißt du. Auch wenn er so aussieht. Seine Mutter war eine Rashu. Gardener haben noch weißeres Haar und weißere Haut als er. Ich war nie in Gard, du?“

Pan schüttelte den Kopf. Isone war nähergekommen und saß jetzt nah bei Pan. Ihre Arme berührten sich und es fühlte sich seltsam an. Richtig und falsch gleichzeitig. Nach und nach begaben sich alle zu ihren Schlafstätten. Sogar Semris verabschiedete sich früh. Pan blieb mit I-sone zurück, die sie anlächelte. Ihre blauen Augen strahlten Pan an. Schweigend saßen sie beieinander. Gerade überlegte Pan, ob sie lieber auch gehen sollte, da nahm Isone ihre Hand. Pan zog sie ruckartig weg und stand auf. Die junge Frau neben ihr erhob sich langsam. Ein sanftes Lächeln kräuselte ihre Lippen. Sie hob die Hand und strich Pan das Haar aus dem Gesicht. Dann küsste sie sie auf den Mund. Erschrocken schreckte Pan zuerst zurück, doch es fühlte sich gut an. Isones Lippen waren weich. Ihre Zunge fuhr über Pans Lippen und Pans Mund öffnete sich.

Dann drückte Isone ihre Hüfte gegen Pan und Pans Verwirrung stieg. Sie entzog sich der Umarmung. „Du bist kein Mädchen.“

Isone lachte. „Nein! Und Doch! Irgendwie bin ich beides.“

Pan schüttelte den Kopf.

„Denk nicht so schwarz-weiß, Pan.“

Und Isone zog Pan wieder in ihre Arme und küsste sie erneut. Kurz ließ sie es geschehen, doch dann entzog sie sich und schüttelte den Kopf. „Ich muss schlafen!“, sagte sie und rannte davon.

Sie stolperte über Garbotaks Bein. Er stand lässig an Semris’ Wagen gelehnt und grinste sie an.

Schnell schlüpfte Pan an ihm vorbei. Ihre Wangen glühten und ihre Gedanken rasten. Mit klopfenden Herzen legte sie sich unter ihre Decke. Es dauerte lange, bis der Schlaf sie von der quälenden Unruhe erlöste.

Als Pan erwachte, herrschte Aufruhr. Rufe durchbrachen die Nacht.

Sie fuhr hoch. „Was ist los?“

Semris war nicht im Wagen. Pan stürmte nach draußen.

Flip kam ihr entgegen. „Raya und Isone sind verschwunden!“

„Was?“ Verständnislos sah Pan ihn an.

„Verschwunden!“, keifte er und ließ sie stehen.

Garbotak und Tualah suchten bereits den Waldrand ab.

Beide riefen immer wieder nach Raya und Isone. Liar hörte Pan im Wald rufen. Talar und sein Sohn durchkämmten die Gegend auf der entgegengesetzten Seite der Lichtung. Pan begann in die Wagen und Zelte zu sehen. „Haben wir schon gemacht!“, schrie Flip sie an.

Sie suchten bis zum Morgen, dann gaben sie auf.

Garbotak hatte Isones Fußkettchen entdeckt. Pan waren ein paar blaue Haare an einem Ast aufgefallen. Tualah hatte ein Stück lila Stoff gefunden, dass zu Rayas Kleid passte. Torkas saß verzweifelt bei einem der Wagen. Er barg sein Gesicht in seinen Händen. Dakre versuchte, ihn zu trösten, doch er schüttelte sie nur ab.

Zwölf Tage blieben sie dort und suchten immer wieder die Umgebung ab. Zwölf Tage warteten sie, bis Semris sagte:

„Es hat keinen Sinn hier zu verharren. Die Hauptstadt ist nicht mehr weit. Vielleicht haben sich die beiden bis dahin durchgeschlagen. Vielleicht erfahren wir dort mehr.“ Pan konnte sich nicht vorstellen, dass die beiden einfach nach Enaras verschwunden waren. Warum sollten sie das tun? Sie alle waren sehr still, sie aßen wenig und sprachen kaum. Die Reise in Talrus Hauptstadt dauerte nicht lange und doch schien sie Pan unter diesen Umständen ewig.

Kapitel 3 - Enaras

Trotz ihrer Traurigkeit konnte sich Pan dem Anblick Enaras nicht entziehen. Sie saß staunend mit Semris auf dem Wagen, als sie in der Hauptstadt ankamen.

Das Stadttor war aus den Ästen alter Garletbäume gebogen, Wachen standen davor und überprüften die Ankömmlinge. Pan hörte nicht zu, während Semris mit ihnen sprach. Sie sah nach oben, denn direkt neben dem Tor war ein hölzerner Turm, dessen Ende Pan zwischen den Wipfeln der Bäume nicht ausmachen konnte.

Als sich schließlich das Tor öffnete, lenkte Pan den Wagen hinter den anderen hindurch. Es sah nicht danach aus, als wäre Enaras nach einem Plan gebaut worden. Vielmehr, vermutete Pan, wurden die Gebäude dort gefertigt, wo zwischen den Bäumen Platz war. Ein großer Teil der Bauten waren Baumhäuser. Kleinere Häuser, teilweise auf Stelzen und winzige Hütten standen dazwischen. Auch abgestorbene alte Garletbäume waren als Bausubstanz verwendet worden. Es wurden beim Bau so wenig Bäume wie möglich gefällt, erzählte Semris, das gab der Stadt einen chaotischen, aber dennoch gefälligen Anblick. Je weiter sie in die Hauptstadt vordrangen, desto imposanter wurden die Gebäude. Sie hielten auf einem riesigen freien Platz, an dessen Ende ein Haus in den größten Garletbaum gebaut worden war, den Pan je gesehen hatte. Der Baum war tot, doch an seinen Seiten wuchsen Ableger, die hoch in den Himmel ragten. Ein Tor, kunstvoll mit Eisen verziert, und Fenster aus farbigem Glas gaben dem Gebäude einen seltsamen Anblick. „Das ist der große Sitz des Rates! Du bist doch Talranerin, davon musst du doch gehört haben?“ Semris sah sie fragend an.

„Sicher, ja, aber in Realität sieht es anders aus.“

Ihr fiel alles ein, was sie über den hohen Rat gelesen hatte. Hier wurden die Gesetze und Vorschriften für Talru erlassen. Urteile gefällt und Vertreter anderer Länder empfangen.

„Hier bekommt man eine Genehmigung, um auf dem Marktplatz aufzutreten!“

„Auftreten? Findest du denn, dass das passend ist, jetzt wo Raya und Isone verschwunden sind?“

Semris legte ihr die Hand auf den Arm. „Wir brauchen Münzen und Vorräte. Außerdem können wir bei einem Auftritt am meisten Informationen sammeln.“

Pan nickte. Sie folgte ihr in das Innere des Garletbaumes. Dort waren die Dimensionen des Bauwerkes erst erkennbar. Sie standen in einer weiten Halle. Unzählige Türen und Treppen gingen von ihr ab. An der rechten Seite befanden sich große hölzerne Tische, hinter denen jeweils ein Talraner saß. Alle waren in schwarze Talars gekleidet, die typische Tracht dieses Landes. Überall hatten sich lange Schlangen gebildet. Semris drängte Pan zu einem der Tische, an dem nicht so viele Leute warteten. Langsam schoben sich die Menschen vorwärts. Quälend verstrichen die Minuten. Semris war still und sah finster nach vorne. Pan war es recht. Sie genoss es, nicht sprechen zu müssen. Stattdessen beobachtete sie die Leute um sich herum. Wo kamen sie her? Was wollten sie hier? Pan hörte immer wieder Gesprächsfetzen. Etwas ließ sie aufhorchen.

„“…verschwunden! Gerade war sie noch da und dann „Kann doch nicht…!“

„… ja ja, noch ein Mädchen, gerade 13 geworden.“

„… nicht die erste! Estahs Tochter ist vor drei Tagen …“

Pan drehte sich suchend um. Die Stimmen gehörten zu zwei älteren Männern, beide hatten graues Haar, doch ihre grüne Haut ordnete sie eindeutig den Talranern zu. Pan näherte sich ihnen langsam.

Höflich fragte sie: „Entschuldigt bitte. Ich habe zufällig mitgehört. Ist jemand verschwunden?“

Verwundert sahen die beiden Pan an. Einer von ihnen war selbst für einen Talraner recht klein und außerdem sehr rundlich. „Hast du denn nichts davon gehört? In Enaras redet man von nichts anderem. Woher kommst du denn?“

Sie schüttelte den Kopf. „Nein, ich bin nicht von hier. Bin gerade erst angekommen.“

Der größere der beiden Männer musterte sie.

„Es sind in den letzten Tagen neun Mädchen verschwunden. Alle waren noch sehr jung. Keiner weiß mehr darüber. Es wurden keinerlei Spuren gefunden.“

Der Kleinere nickte. „Wenn ich du wäre, würde ich gut auf mich Acht geben. Geh nicht allein! Hast du keine Familie?“

„Doch, doch …“ wiegelte Pan ab. „Vielen Dank!“

Semris war gerade fertig und kam zu ihr. Sie nickte den beiden Männern zu und zog Pan mit sich. „Pass auf was du hier sagst. Ich hab das Gefühl, die Stadt ist in Aufruhr. Und weißt du wer immer als erstes verdächtig ist, wenn etwas schiefläuft?“

Pan schüttelte den Kopf.

„Na wir. Das fahrende Volk!“, die Alte flüsterte. „Was hast du herausgefunden?“

Pan erzählte Semris von den verschwundenen Mädchen. Sie nickte. „Du solltest wirklich auf dich aufpassen. Du und auch Tualah und Dakre.“

Als sie zu den anderen kamen, hatten die schon dieselben Neuigkeiten gehört. Semris mahnte alle, die jungen Frauen in der Gruppe nicht allein zu lassen.

„Was ist nur los? Wer hat die Mädchen geholt? Es gibt keine Spuren? Was gibt es denn für Gründe junge Frauen zu entführen?“ Piro war entsetzt und ratlos.

Pan hingegen konnte sich einige Motive vorstellen, warum jemand so etwas tat. Keines davon war sonderlich erfreulich und sie behielt ihre Gedanken für sich. Am Abend gab es eine Darbietung. Flip, Garbotak und Tualah zeigten fast dasselbe, wie an jenem Tag im Wald. Torkas war ein Akrobat, doch ohne seine Frau funktionierten seine Figuren nicht. Er trottete zwischen den Menschen umher und hörte sich nach Neuigkeiten um. Talar trat ebenfalls auf. Gegen ihn konnte man kämpfen. Drei Männer versuchten es. Es waren keine kleinen Männer und auch keine Schwächlinge, doch niemand krümmte dem Hünen ein Haar. Pan stand in der ersten Reihe, als Tualah sie ansprach. Sie hatte bisher kein Wort an sie gerichtet.

„Was ist den beiden nur passiert?“, fragte sie jetzt.

Pan schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht.“

„Isone ist nicht mal n richtiges Mädchen! Wenn sie nur Frauen entführen, dann ist Isone doch völlig falsch dort, wo auch immer sie jetzt sind.“, schluchzte Tualah.

„Das sieht man nicht. Ich hab es auch erst nicht bemerkt. Vielleicht tun sie ihm gar nichts. Vielleicht geschieht den beiden nichts.“

„Vielleicht, vielleicht …!“ Tualah hielt die Tränen zurück. Trotzig und wütend sah sie Pan an. „Du hast doch keine Ahnung vom Leben! Du kennst die schmutzigen bösen Seiten der Welt noch gar nicht! Wer sollte sie denn entführen und dann ganz lieb zu ihnen sein?“

Pan hätte einiges zu sagen gehabt, hätte von den dunklen Seiten in ihrem Leben erzählen können, von Schlägen und Einsamkeit, von Desinteresse und Isolation. Vieles ging ihr durch den Kopf. Doch sie sagte nichts. Stattdessen legte sie einen Arm um Tualahs Schulter und zog sie an sich. Tualah ließ es geschehen und weinte leise. Die jungen Frauen sahen sich auf den ersten Blick ähnlich. Beide hatten langes glattes schwarzes Haar, waren schlank und etwa gleich groß. Doch Tualah hatte nicht die grüne Haut der Talraner. Ihre Mutter war eine Rashu und ihre Haut war wie die Isones hell, nur zartgebräunt. Und Tualahs Augen waren von dunklem Türkis, mehr blau als grün. Ihre Lippen waren voller als Pans und ihr Körper kurviger. Für Pan hatte sie alles, was sie selbst nicht hatte. Sie fühlte sich farblos neben Tualah.

„Ein Nichts“, hatte ihr Vater immer gesagt. „Du bist nichts! Niemand wollte dich je. Deine Mutter wollte dich nicht, ich will dich nicht! Du bist gar nichts!“

Und so fühlte sie sich an diesem Abend. Als alle zusammen am Feuer saßen und miteinander darüber sprachen, was sie herausgefunden hatten und nun machen sollten. Was tat sie hier eigentlich? Was hatte sie mit diesen Leuten zu tun? Warum gaben sie sich überhaupt mit ihr ab? Wie konnte sie dazu beitragen, Raja und I-sone wieder zu finden? Doch was sollte sie sonst tun? Allein konnte sie jetzt erst recht nicht mehr reisen. Das Risiko war zu groß. Pan schwieg, während die anderen sprachen. Sie wiederholten sowieso immer das Gleiche. Nur Vermutungen. Niemand hatte mehr herausgefunden. Es gab keine Spuren. Tualah hatte wieder ihre harte selbstbewusste Miene aufgesetzt. Doch Pan wusste jetzt, dass auch sie trauerte und verunsichert war. Später an diesem Abend begab Pan sich zu Dakres Wagen. Sie klopfte zaghaft an und trat ein, ohne abzuwarten. Sie bereute es sofort. Dakre war nackt. Pan blieben die Worte im Hals stecken.

Verlegen sah sie zu Boden. „Entschuldige!“

„Nicht so schlimm.“, Dakre schlüpfte in ein dunkelrotes Kleid.

Sie lächelte Pan an. „Was gibt es denn?“

Nervös sah Pan sie an, nestelte an ihren Haaren herum, wusste nicht, wo sie hinsehen sollte. „Ich wollte fragen, ob du vielleicht, naja, ob du was über Isone und Raya weißt? Ob du was gesehen hast? Ihre Zukunft?“

Dakre schüttelte den Kopf. „Denkst du wirklich, wenn ich etwas wüsste, hätte ich das nicht längst gesagt? Denkst du, ich würde den beiden nicht sofort helfen, wenn ich könnte?“

Pan sackte in sich zusammen. „Es war nur so eine Idee.“ Dakre nickte. „Ich hab es versucht. Aber ich sehe gar nichts. Nein das ist nicht richtig. Wenn ich mich auf die beiden konzentriere ist da Dunkelheit. Alles schwarz. Ich weiß nicht was das bedeutet.“

„Sind sie tot?“, entfuhr es Pan.

„Wenn jemand stirbt, dann sehe ich normalerweise seinen Tod. Ich sehe Blut oder Wasser, ein Schwert, irgendwas. Aber da ist nur Dunkelheit. Vielleicht ist das ein gutes Zeichen, vielleicht auch nicht. Ich weiß es nicht.“

Dakre band sich ihre Locken mit einem Tuch zusammen. Sie musterte Pan mit ihren schwarzen Augen. „Soll ich dir die Zukunft vorhersagen?“, sie nahm Pans Hand. Es begann unangenehm zu prickeln. Pan zog die Hand ruckartig weg. Draußen erklangen aufgeregte Stimmen. Glocken waren zu hören und schlagartig wurde es laut. Hinter Dakre lief Pan aus dem Zelt, insgeheim froh über die Unterbrechung. Überall kamen Menschen aus ihren Behausungen. Sie rannten in Richtung des Marktplatzes. Pan lief mit den anderen dort hin. Einige Frauen standen vor dem Haus des Rates. Sie weinten und klagten lauthals.

„Was ist passiert?“, fragte Pan einen der Umstehenden. „Es sind wieder welche verschwunden. Fünf oder sechs kleine Mädchen. Die jüngste ist erst drei Jahre!“

Pan sah sich um. Semris stand nicht weit von ihr und winkte sie heran. Die anderen rief sie ebenfalls zu sich und schickte sie zurück zu ihren Wagen. Ihre sonst so gütigen, vergnüglichen Züge waren zutiefst erschrocken. Sie drängte alle, sich sofort reisefertig zu machen.

„Semris, was ist denn? Warum sollen wir abreisen?“ Doch sie wiegelte Pan ab und herrschte sie an, sich zu beeilen. Sie rissen die Zelte ab, warfen alles durcheinander in die Wagen und stiegen auf, sobald die Ebur eingespannt waren.

Kapitel 4 - Die Flucht

Semris überließ Pan diesmal nicht die Zügel. Sie schnalzte mit der Zunge. Eilig fuhr die Gruppe aus dem Stadttor. Der Wächter war wohl auch zum Marktplatz gegangen, niemand behelligte sie. Doch Semris machte keinen Halt, auch nicht, als sie im Wald verschwunden waren. Sie erklärte nichts, grimmig saß sie auf dem Wagen und führte diesmal die Gruppe an. Sie hielt nicht bei einer Lichtung, die hervorragend für eine Rast geeignet gewesen wäre. Die ganze Nacht hindurch fuhren sie und den kommenden Tag. Semris wechselte sich bei Dunkelheit mit Pan ab, damit jeder ein paar Stündchen Schlaf bekam. Die anderen machten es ebenso. Doch sie hielten nicht an. Erst drei Tage später schien die Alte sich etwas zu entspannen. Auf einer kleinen Lichtung, die in einem Tal des Waldes lag, richteten sie ihr Lager ein.

Niemand sagte etwas, während sie die Zelte errichteten und die Ebur striegelten. Die Tiere Irjan waren völlig erschöpft und mussten trockengerieben und versorgt werden.

Als sie später am Abend um ein kleines Feuer saßen, sprach anfangs immer noch keiner. Tualah lehnte sich an Garbotak und er ließ es sich gefallen und streichelte ihre Schultern. Semris war es schließlich, die das Wort ergriff. Nachdem sie jedem eine Schüssel Braka, einen Getreidebrei aus Früchten und Brak gegeben hatte, setzte sie sich.

„Irgendwas Großes ist da im Gange. Etwas Böses passiert da. Etwas abgrundtief Böses.“

Garbotak nickte. „Das Gefühl hab ich allmählich auch.“

„Nun übertreibt nicht. Ihr macht den Mädchen Angst. Es ist irgendein Verrückter. Wir verschwinden hier und lassen das ganze hinter uns!“, meinte Liar.

„Und was ist dann mit Raya und Isone?“, flüsterte Pan. Sie sah Liar an.

Er schüttelte den Kopf. „Für die können wir nichts mehr tun!“

„Wieso mussten wir überhaupt verschwinden? Vielleicht hätten wir noch etwas rausfinden können. Vielleicht hätte es Spuren gegeben.“

Semris sah sie traurig an. „Erinnerst du dich nicht daran, was ich dir gesagt habe? Wenn irgendwas Schlimmes passiert, wer ist dann schuld?“

„Das fahrende Volk!“, antwortete Garbotak an Pans Stelle. „Du hast das nie erlebt, Kleine. Wohlbehütet in deinem kleinen Talrudörfchen. Wir hingegen sind nicht erst seit ein paar Wochen unterwegs. Gibt es ein Verbrechen? Wurde etwas gestohlen? Ist jemand verletzt? Es waren die vom fahrenden Volk. Das Gesindel. Unehrlich, Diebe, Mörder, … das hören wir uns an, jedes Mal, wenn wir in eine Stadt kommen. Gibt es eine Schlägerei? Wir haben natürlich angefangen.“

Semris nickte. „Ja, so ist es leider. So gern sie unsre Vorstellung sehen. Sonst wollen sie nichts mit uns zu tun haben, ihr beschauliches Leben nicht durcheinanderbringen. Wir leben nicht nach ihren Regeln und das macht ihnen Angst. Es ist leicht uns zum Bösewicht zu machen, uns zu beschuldigen. Wir sind die Fremden.“

Garbotak sah Pan in die Augen. „Der große Rat der Talru ist da nicht anders. In Enaras wird bei Mord die Todesstrafe ausgerufen. Was denkst du sagen sie, wer die Mädchen entführt hat? Wer wird zum Tode verurteilt?“ Pan verstand. Sie hatte immer gedacht, der Rat wäre gerecht und tugendhaft. Das wurde jedem Talraner so erzählt. Aber es waren auch nur Menschen. Und niemand war dagegen gefeit unrecht oder falsch zu urteilen. Ihre eigene Naivität wurde ihr bewusst. Garbotak starrte sie noch immer an. Sie hielt seinem Blick stand, doch sie sagte nichts mehr.

Dakre hatte die Idee, jedem von ihnen die Zukunft vorauszusagen. Es wäre ja möglich, dass bei einem von ihnen etwas über die Geschehnisse herauszufinden war. Pan fand das unheimlich. Was hatte Isone damals gesagt? Was, wenn sie etwas Schlimmes vorhersagt? Doch es blieb ihr nichts anderes übrig. Nacheinander stattete jeder von ihnen Dakres Wagen einen Besuch ab. Einer nach dem anderen ließ sich die Zukunft vorhersagen,