Aroda - Kerstin Panthel - E-Book

Aroda E-Book

Kerstin Panthel

0,0

Beschreibung

Ein Amulett in zwei Teile zerfallen, das andere unerreichbar auf der Erde. Und die Passage ... zerstört? "Nur" für immer verschlossen? Hope ist nicht in der Lage, festzustellen, ob ihr Bruder Peter und Gina den Durchtritt überlebt haben, der Rückweg ist versperrt. Zu alldem müssen sie, ihr Großvater Nubrin und Nim-To erkennen, dass sie nicht alle Hinweise entdeckt haben, die Hopes Mutter Ela-Ina hinterlassen hat. Die Ereignisse überschlagen sich erneut in mehrfacher Hinsicht, aber auch diesmal ist nicht die Magie der Passage alleine dafür verantwortlich: Ihr alter Widersacher Targwin und dessen Helfershelfer setzen alles daran, doch noch den Sieg davonzutragen. Wird diese magische Welt überdauern? Welches Schicksal erwartet Hope? "Aroda - Das Amulett" setzt die Geschichte des ersten Bandes "Aroda - Die Pforte" fort.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 788

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



„Denn der Fehler liegt im Anfang, und der Anfang, heißt es, ist die Hälfte des Ganzen, sodass also auch ein kleiner Fehler im Beginn entsprechend große Fehler im weiteren Verlauf zur Folge hat.“

Aristoteles (384 - 322 v. Chr.), griechischer Philosoph

Inhaltsverzeichnis

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 1

Sonntag, 4. Eisig

Aroda

Der Wind hatte zusehends nachgelassen und auf dem kleinen Zeltplatz an der windabgewandten Seite des Berges war er kaum mehr zu spüren. Es hatte jedoch zu schneien begonnen und ich legte den Kopf in den Nacken, um nach oben zu schauen. Trotz der einsetzenden Dämmerung waren die Schneekristalle auch für mich noch zu erkennen. Jede, die das Pech hatte, auf meinem Gesicht zu landen, starb einen kleinen Wärmetod und hinterließ eine winzige Schmelzwasserträne. Ich wischte sie nicht weg, aber tief in mir bedauerte ich, dass sie nur ein kurzes Leben gehabt hatten. Auch wenn sie immerhin auf ihrem Weg von oben Aroda hatten sehen dürfen.

Seine Arme legten sich behutsam von hinten um meine Schultern und ich lehnte den Kopf an.

„Sie sind perfekt!“, flüsterte ich tonlos.

„Wer?“

„Schneeflocken! Sie sind perfekt, ist dir das je aufgefallen? So viel Schönheit, die da herabrieselt! Jede von ihnen ist einzigartig und jede für sich genommen ist schon perfekt. Doch gemeinsam schaffen sie etwas, das fast noch schöner ist als eine alleine, sie vollenden ein Kunstwerk aus lauter perfekten Einzelteilen. Das ist wunderschön! Und sie bringen Stille mit, denn sie sind absolut still! Sie machen weder ein Geräusch, wenn sie fallen, noch, wenn sie irgendwo landen. Aber wenn sie ein Geräusch machen würden, wäre es sicher ebenfalls wunderschön – wie ein leises, sanftes Klingen. Doch sie sind still und sie dämpfen jedes Geräusch.“

Ich drehte den Kopf um eine Winzigkeit und betrachtete ein paar kahle Äste schräg über mir. Neben all den vielen Nadelbäumen ein Laubbaum. Seine Äste waren von einer dünnen Eis- und Zuckerschicht überzogen und bewegten sich nur ganz leise.

„Das ist wunderschön!“, flüsterte ich.

„Das ist es, ja“, flüsterte er als Antwort.

Es verging eine ganze Weile und irgendwann – ich konnte die Schneeflocken schon nicht mehr erkennen, fühlte sie aber immer noch auf meinem Gesicht landen und spürte, wie sie starben und ihre äußere Form dabei hergaben – unterbrach er die Stille.

„Hope, ich mache mir Sorgen um dich. Ich habe Angst. Du hast seit gestern kaum ein Wort geredet, weder mit mir noch mit sonst wem. Ich weiß nicht, was ich tun soll, damit es dir besser geht! Ich sehe dir zu, wie du … schweigst!“

„Ist schon okay“, schloss ich die Augen, ohne jedoch das immer wiederkehrende Bild der explosionsartig auftauchenden Passage und das Bild des in zwei Teile zerfallenen Amuletts ausblenden zu können. Das Letzte, was ich gestern Abend beim Einschlafen gesehen hatte und das Erste, das mir heute Morgen vor Augen stand. Das, was ich ständig sah, wenn ich die Augen schloss und meine Aufmerksamkeit nicht auf irgendetwas anderes richtete.

Vier Personen waren in dieses Licht gezogen worden, darunter mein Bruder. Und niemand wusste, ob sie angekommen waren. Nein, niemand wusste, ob sie überhaupt noch ‚waren‘ oder ob wir zu spät etwas unternommen hatten und eine Nachttrostexplosion sie alle …

„Nein, es ist nicht ‚okay‘! Hope, rede mit mir, sag mir, was in dir vorgeht!“, drehte er mich zu sich herum.

„Das … kann ich nicht“, lächelte ich und fühlte gleichzeitig, dass mein Lächeln nicht einmal beide Mundwinkel gleichzeitig zu heben imstande war. „Weil ich … Da ist im Moment nichts. Da ist … nichts! Ich kann nicht denken und schon gar nicht nachdenken!“

Er stöhnte, schloss für einen Moment die Augen und zog mich dann wieder an sich.

„Also gut. Wie kann ich dir helfen? Wir werden einen Weg finden, aber wie kann ich dir bis dahin helfen?“

„Ist schon gut“, flüsterte ich zum hundertsten Mal und längst automatisch.

Er schwieg. Lange. Es war längst finster und das Glas mit Nachttrost hinter uns war viel zu klein und steckte zu tief im Schnee, um genügend Licht für die ganze Lichtung abzugeben.

„Möchtest du zurück oder nach Tegoz in Serafinas Gasthaus?“, fragte er irgendwann und ich machte mich los.

„Nein. Wenn du sagst, dass wir hier oben auch heute Nacht nicht erfrieren werden, dann möchte ich hierbleiben.“

„Wir werden nicht erfrieren, das hier ist ein Winterzelt. Aber du solltest etwas essen. Lass uns ins Zelt gehen.“

„Noch eine Minute.“

Ich drehte den Kopf und sah hinunter zur Burg. Die Wehrgänge waren wie jeden Abend in regelmäßigen Abständen von Nachttrost erleuchtet und im Inneren des Hofes glommen ebenfalls überall große Gläser. Es sah märchenhaft aus, aber bei dem Gedanken, was diese Substanz anzurichten imstande war …

Ich schauderte.

„Die Minute ist um. Wenn du jetzt nicht mitkommst …“

„Ist schon gut“, nickte ich, mir der Unglaubwürdigkeit dieser längst abgedroschenen Phrase durchaus bewusst. Der Anblick der verschneiten, beleuchteten Burg hatte sowieso an Schönheit verloren und ich bückte mich freiwillig durch den Eingang, den Nim sofort sorgfältig hinter uns verschloss.

Er hatte gestern einen großen Rucksack mit Vorräten und weitere Decken hier heraufgeschleppt als ich nach dem Verschwinden der vier Wechsler irgendwann schweigend aufgestanden und hinausgegangen war, meine Jacke erst im Hof überziehend. Er hatte nicht gefragt, war mir nur um die Burg herum und dann den Hang hinauf zu diesem Platz gefolgt. Und nachdem er sich davon überzeugt hatte, dass ich keine Selbstmordabsichten hegte, hatte er sich erneut aufgemacht und tauchte etwa eine halbe Stunde später mit allem Nötigen wieder auf. Auch jetzt packte er wieder zahlreiche Nahrungsmittel aus, aber ich nahm kaum Notiz davon. Wenn er mir nicht eines der kleinen Brote in die Hand gedrückt und aus einer Isolierflasche allenfalls noch warmen Tee eingegossen hätte, hätte ich nichts gegessen. Weil ich keinen Hunger verspürte.

Und genauso willenlos ließ ich es wenig später über mich ergehen, dass er mir seine Jacke als Kopfkissen zur Verfügung stellte, mich auf das breite, gemeinsame Lager zog, auf und unter mehrere Schichten isolierender Decken packte und dann in seine Arme nahm. Warm. Geborgen.

Ich holte tief Luft. Seit gestern war dies der einzige Platz, an dem ich ohne Beklemmung atmen konnte.

„Wir werden morgen zur Burg hinuntergehen. Ich möchte, dass sich ein Arzt dich ansieht, Hope“, murmelte er an meiner Schläfe.

„Mir geht es gut. Aber wenn du meinst …“

„Es geht dir nicht gut! Allmählich verstehe ich, was dein Bruder meinte, als er sagte, dass du nach dem Tod deiner Mutter lange Zeit nicht …“

„Nicht jetzt, Nim! Ich will nicht darüber reden!“

„Das ist es ja! Ich will dich zu nichts drängen, aber ich kann auch nicht tatenlos dabei zusehen, wie du in dir selbst verschwindest und vor der Realität davonläufst! Ich weiß, dass das hier genau das ist, was du nicht wolltest, aber wenn ich dich da nicht wieder herausbekomme … Wenn wir eine Lösung finden, wenn wir für dich einen Weg zurück finden wollen, dann musst du da herauskommen!“

Ich atmete leise aus und tastete vorsichtig nach den beiden Einzelteilen unter meiner Jacke. Wertlose, separierte Anhänger.

„Die Realität … Die Pforte hat sie nicht zurückgebracht, weder Jurims Freund Gabael noch diese Sidena. Und auch nicht Jurim, Zibuk oder Gina. Was wir da sahen, war explosionsartig, Nim; niemand weiß also, ob sie überhaupt ankamen und wenn ja, ob an der richtigen Stelle und in der richtigen Zeit. Ob überhaupt, können wir nicht herausfinden, denn mein Amulett ist zerstört und wenn ja, ist Lili-An für die Menschen drüben spurlos verschwunden und Peter könnte verdächtigt werden, sie … was weiß ich mit ihr gemacht zu haben. Ich bin verschwunden und niemand außer Peter weiß, wo ich bin.

Ich laufe nicht vor der Realität davon und sehe den Tatsachen ins Auge, aber im Moment ist das alles zu viel auf einmal und gibt es keinen Weg da heraus“, zählte ich auf und legte meine Hand wieder auf seine Brust. „Das hier ist das Einzige, das mir geblieben ist. Mal wieder zehre ich von dir und halte mich an dir fest. Ich kann nicht … weiter darüber nachdenken oder über die Folgen, denn ich hänge im Moment an einem einzigen, dünnen Faden. Wenn ich nicht abreißen und wegsegeln will, dann muss ich warten.“

„Du wartest?“, fragte er.

„Ja.“

„Worauf?“

„Ich weiß es nicht. Ich muss warten. Auf mich. Oder auf … irgendwas.“

„Auf dich?“

„Ich muss zu mir selbst aufschließen, verstehst du? Ich muss warten, bis ich wieder nachdenken kann, denn in mir ist nur ein einziger Gedanke: der an gestern. Und was der mit sich bringt, ist zu entsetzlich, als dass ich schon darüber nachdenken könnte. Also warte ich, bis ich es wieder kann.“

Er holte tief Luft.

„Also schön, dann warten wir. Ich werde warten, egal wie lange es dauert, Hope. Und ich werde dich halten, damit du dich an mir festhalten kannst, bis du loslassen willst. Ist das für dich in Ordnung?“

Ich drehte den Kopf, um ihn im Liegen ansehen zu können.

„Das ist alles, was ich brauche! Nim, ich will dich nicht loslassen, das wollte ich nie, aber ich hätte diese Entscheidung jetzt nicht …“

„Ich weiß! Und es ist in Ordnung, wirklich! Ich wusste es von Anfang an und hätte nie verlangt …“

„Nicht jetzt!“, unterbrach ich ihn und hob den Kopf.

Seine Augen mit den großen Pupillen zeigten noch immer seine Sorge und etwas davon sickerte in mein Bewusstsein durch.

„Mach dir nicht so viele Gedanken um mich. Ich werde schon damit zurechtkommen. Aber ich brauche Zeit. Und das hier ist meine Art, Wahrheiten langsam an mich heranzulassen und daran zu arbeiten, Stück für Stück. Ich weiß, dass auch du Angst hast. Um Gina. Und ich weiß, wie egoistisch ich mal wieder bin. Ich weiß, dass Gina jetzt sagen würde, dass meine Art eine feige Art ist, aber so schaffe ich es ohne größere Blessuren … wenn die Wahrheiten mich nach und nach einholen.“

„Selbstschutz. Ich verstehe das sehr gut. Ich liebe dich, weißt du das?“

„Ich weiß. Und das macht alles nur noch schwerer.“

„Wieso? Warum macht es dir alles nur noch …“

„Ich hab mich in dich verliebt. Aber ich will dir nicht wehtun, also wie soll ich …“

„Nicht! Hope, ich möchte, dass du etwas für mich tust, ja?“

„Was?“

„Warte auch damit! Stell das ganz ans Ende aller Überlegungen! Glaub mir, du tust mir nicht weh, indem du das hier mit mir teilst. Wir auf Aroda sind imstande, jeden solchen Augenblick als Geschenk zu nehmen. Wir denken nicht darüber nach, dass oder ob es irgendwann vorüber sein könnte. Das ist nicht unsere Art, nicht unser Wesen. Und wenn ich noch offener sein darf …“

„Ich kann nichts weniger brauchen als beschönigende Worte! Lass eure übliche Aroda-Männer-Zurückhaltung endlich weg, sag mir immer die Wahrheit und lass mich dann auf meine Weise damit umgehen!“, murmelte ich. „Das würde es mir so viel leichter machen.“

„Ich werde es versuchen.“

Ich sah ihm an, wie schwer es ihm dennoch fiel.

„Versuchs theoretisch. Allgemein“, bot ich an und er nickte.

„Jede Art von Beziehung zwischen Mann und Frau hat hier auf Aroda eine sehr eigene und persönliche Form und Gestaltung. Wenn eine Frau wählt, heißt das nicht, dass sie es für den Rest ihres Lebens dabei bewenden lässt. Es kann durchaus sein, dass sie sich nur mit einem einzigen Mann teilt und mit ihm zusammenbleibt bis zuletzt. Es kann sein, dass sie sich irgendwann anders entscheidet, es kann sein, dass sie sich nur mit einem Mann teilt, aber andere Aspekte ihres Lebens lieber mit anderen Männern teilt. Jemanden zu lieben und sich körperlich und seelisch mit ihm zu teilen oder mit Freunden alles zum Beispiel um seine Berufung herum zu teilen, können zwei völlig verschiedene Dinge sein. Eifersucht hat darin keinen Platz, denn wir betrachten dies sehr separiert – und dies gilt umgekehrt ebenso. Es ist kein Betrug, es sei denn, man akzeptiert eine Wahl und macht gleichzeitig einer anderen Frau deutlich, dass man viel lieber von ihr gewählt werden möchte.“

„So wie Targwin.“

„So wie Targwin! Und er war deutlicher, als ich je gehört habe! Ich könnte also beispielsweise in Gina niemals eine Frau sehen, mit der ich das hier würde teilen wollen. Liebe und Sympathie und gemeinsame Interessen, Talente und Ziele können sehr verschiedene Dinge sein …

Was du mir gibst, gibst du in diesem Moment nur mir, niemandem sonst. Es ist ein Geschenk. Es ist Liebe und es ist die dir derzeit größtmögliche Nähe und es ist das Teilen deiner Gedanken und Sorgen. Ich halte dich. Und selbst wenn du irgendwann in der Lage sein würdest, noch ein wenig weiter zu gehen, würdest du mich nicht damit verletzen, wenn es irgendwann … enden würde, so oder so. Denn es schmälert nicht das, was wir hatten, es war etwas für dich und mich. Etwas, das du nur mir gegeben hast, weil du es in diesem Moment nur mir geben wolltest. Und das macht es unauslöschlich und unvergesslich.

Ich wäre traurig, aber ich wäre noch viel mehr als das glücklich, es erlebt zu haben, weil es in mir bleibt, weil es Teil von mir wird. Stell diese Dinge und deine Angst, mir wehtun zu können, ganz, ganz hintenan!“

Ich hatte ihm atemlos zugehört. „Das ist … schwer nachzuvollziehen! Klar gibt es bei uns auch Freundschaft zwischen Männern und Frauen, aber offenbar kann das bei euch auch noch andere… Dimensionen annehmen?“

„Kann es.“

Ich nagte an meiner Unterlippe.

„Welche? Wie … weit kann das gehen?“

„Wie weit? So weit, dass es nicht den anderen verletzt, weil es ihn herabmindert. Kein Betrug.“

Er sah mir offenbar an, dass mir diese Antwort nicht genügte, also holte er tief Luft und wurde etwas deutlicher.

„Kein Sex, Hope. Niemand hätte etwas gegen eine Umarmung, niemand würde Anstoß daran nehmen, wenn man sich in einer Nacht wie dieser gemeinsam ein Zelt teilt und diese Nähe zu dem anderen sogar genießt. Als angenehm empfindet. Als erfreulich.“

„Verstehe schon.“

„Ich hätte meine Ressourcen mit Gina geteilt, wenn es nötig gewesen wäre, und ich habe sie umarmt. Zum Abschied. Erinnerst du dich? Sie ist meine Nachbarin, Verbündete und beste Freundin – nach dir! Aber ich könnte niemals mit ihr … schlafen. In deiner Bedeutung.“

„Oh … Alles andere also außer Sex? Und dem, was wir schon hatten? Ich meine… Berühren? Küsse?“

„Richtig. Das würde ich nur mit dir wollen.“

„Nur mit mir …“

„Ja.“

Ich holte tief Luft und hielt seinen Blick lange fest.

„Ihr seid nicht so wahnsinnig anders als wir. Aber irgendwie doch total anders! Wir würden eifersüchtig werden, wenn wir hören, dass unser Partner mit einer anderen Frau oder einem anderen Mann … so viel Nähe hat. Ich verstehe das jetzt allerdings allmählich ein bisschen besser und könnte es sicher lernen.“

Wenn Gina irgendwann wieder zurückkommen würde!

Ich schloss die Augen für einen Moment, um diesen Gedanken wieder loszuwerden, dann sah ich ihn wieder an.

„Diese Decken toppen alles, was ich bisher an Iso-Decken kenne. Mir ist total warm.“

„Das ist auch gut so! Ich habe restlos alles, was ich im Schrank im Treppenhaus an Decken fand, eingepackt und hier raufgeschleppt. Immerhin weiß ich, dass du nicht von Aroda bist. Tamara wird verwundert sein, sich aber denken können, dass …“

„Wird es heute Nacht noch kälter werden?“

„Schon, ja, aber das hier wird mehr als genügen, vertrau mir.“

„Sturm?“

„Nein. Es ist noch immer zu früh für die Eisigstürme und wir sind hier ohnehin auf der windabgewandten Seite, die Böen erreichen hier selten die Höchstgeschwin…“

Ich richtete mich auf, zog den Reißverschluss der Jacke auf und schälte mich etwas mühsam heraus. Die Anhänger klimperten und ich zog sie über den Kopf, um sie achtlos auf die Jacke zu werfen. Und nach einem weiteren Blick auf Nims fragende Miene zog ich mir den Pullover über den Kopf, fröstelte kurz in der kalten Luft und kroch zurück zu ihm unter die vielen Decken.

„Werde ich so erfrieren?“

„Hier drin und wenn wir uns weiterhin gegenseitig wärmen? Nein. Ich würde dich ohnehin rechtzeitig an Pullover und Jacke erinnern!“, flüsterte er und legte vorsichtig seine Hand an meine Seite.

„Würdest du so erfrieren?“

„Mit dir zusammen? Unmöglich!“, kam die leise Antwort.

Ich zog an seinem Pullover und zerrte ihn über seinen Kopf – und erschauerte wieder, als er ebenfalls zurück unter die Decken rutschte.

„Mir ist warm“, flüsterte ich. „Sehr warm.“

„Hope, das hier ist atemberaubend und du bist wunderschön! Aber das hier ist nicht das, was du jetzt willst!“

„Ich weiß im Moment nicht genau, was ich will, doch eines weiß ich: Ich will jetzt nur bei dir sein. Ein bisschen mehr als beim letzten Mal. Ich muss spüren, dass du da bist, ganz nah bei mir, aber wenn ich es dir hiermit nicht zu schwer mache, dann …“

„Komm her!“, zog er mich näher zu sich heran. „Es ist nicht leicht, aber es ist auch wunderschön und erfüllend, dich so zu spüren!“

Ich seufzte erleichtert und holte hörbar Atem, als er seine Hand über meinen Nacken und Hals und dann über mein Brustbein herabgleiten ließ. Er machte keine Anstalten, meinen BH zu öffnen.

„Nicht mehr! Ich gehe nicht weiter! Aber das hier wird unvergesslich sein für mich!“, hauchte er wie zur Bestätigung und zog mich an seine Brust.

Und mindestens eine Stunde voller Wärme, Nähe, Streicheln und abwechselnd erregender und beruhigender Zärtlichkeiten später konnte ich meine Augen zum ersten Mal schließen, ohne die grelle Lichtexplosion zu sehen.

Montag, 5. Eisig

Aroda

Er war schneller auf, als ich aus dem Schlaf auftauchen konnte, und er war schneller angezogen und aus dem Zelt verschwunden, als ich mich vollends aufgerichtet hatte. Kein Wunder, denn ich sah mal wieder kaum etwas. Und hörte erst jetzt etwas!

„Guten Morgen. Es tut mir aufrichtig leid, euch zu stören, Nim, aber Alfrin lässt durch mich fragen, ob ihr bereit wäret, ihn zu sehen. Und … ich würde gerne wissen, wie es Hope geht. Wenn sie mich jedoch nicht sehen will, kann ich das verstehen.“

Nubrin! Er war alleine den steilen, verschneiten Hang heraufgeklettert?

Und das Nachttrost war entladen! Ich tastete blind nach meinem Pullover und zerrte ihn hastig über, dann erst zog ich auch die beiden Amulette wieder über den Kopf und stopfte sie in den Halsausschnitt. Sie fühlten sich eiskalt an. Unter den vielen Decken und auf den dicken Filzunterlagen hatten wir von den gesunkenen Temperaturen nichts mitbekommen, aber ich stellte mir vor, dass mein Atem selbst hier drin nach dieser langen, kalten Nacht kleine Dampfwölkchen in der Luft erzeugte.

„Du störst nicht, guten Morgen. Du bist den Weg alleine hier heraufgekommen? Das war leichtsinnig!“

„Ja, bin ich. Und nein, war es nicht. Ich bin hierfür durchaus noch gut genug zu Fuß und wollte nicht, dass irgendjemand sonst von diesem Platz erfährt. Du hast übrigens gut daran getan, das Nachttrost abzuschirmen, es war von der Burg aus nicht zu sehen. Nicht, wenn man nicht angestrengt danach suchte jedenfalls.“

Gott, er hatte ganz sicher angestrengt und besorgt danach gesucht! Ich fuhr mit den Fingern ein paarmal über meine Haare, dann schnappte ich meine Jacke, um aus dem Zelt zu stürzen – und mit hochrotem Gesicht und völlig überhastet fast hinzufallen. Es hatte sicher fünf Zentimeter Neuschnee gegeben und ich sah erst wieder etwas, nachdem meine Augen sich an die Helligkeit gewöhnt hatten.

Okay, keine Dampfwölkchen im Zelt, denn gegen hier draußen war dessen vom Schnee zusätzlich isoliertes Inneres ein warmer Ofen!

„Guten Morgen. Mir geht es gut“, murmelte ich.

„Das freut mich zu hören“, atmete er erleichtert auf, wenn auch mit ein wenig skeptisch gerunzelter Stirn. „Ich bin froh, dass du Nim hast, Hope!“

„Ich auch“, wurde ich noch roter. „Aber es ist nicht … Es war nicht …“

„Du bist nicht wütend, dass ich heraufgekommen bin?“, überging er meine Verlegenheit vollkommen gelassen.

„Nein. Warum sollte ich?“, zog ich endlich die Jacke über und fühlte erleichtert ihre Wärme.

„Weil ich mitschuldig bin an deiner Lage und das nicht verkenne.“

„Du hättest nichts ändern können“, versetzte ich leise und wechselte schnell das Thema. „Alfrin will uns sehen?“,

„Ja. Er bedauert, was passiert ist und möchte, dass ihr wisst, was seither geschah und als Nächstes geplant ist. Zumal es da möglicherweise etwas gibt, das … ein Hoffnungsschimmer sein könnte. Könnte!“, betonte er mit einigem Nachdruck.

Ich hielt inne, meine Mütze noch in den Händen. „Hoffnungsschimmer?“

Er nickte, wenn auch besorgt. „Ja. Aber ich möchte dich bitten, das nur unter allergrößtem Vorbehalt …“

„Was ist es?“, stieß ich hervor und hielt den Atem an.

„Eigentlich eher wer: Jurim. Er ist … von der Pforte abgesetzt worden. Oder zurückgelassen. Oder ausgespuckt, zurücktransportiert … Wir wissen es nicht. Er wurde gefunden, halb erfroren und halb bewusstlos. Er war zu Fuß unterwegs, um sich Richtung Darkwood durchzuschlagen. Wäre der Schlitten nur zehn Minuten später vorbeigekommen, wäre er möglicherweise zusammengebrochen und in der Kälte eingeschlafen, so aber hatte er Glück. Keine Erfrierungen, wohl aber stark unterkühlt.“

„Er hat es … überlebt?“, wisperte ich.

„Er lebt“, verbesserte Nubrin mit einem eigenartigen Tonfall. „Wir wissen noch nicht, was wirklich passiert ist, deshalb wissen wir nicht, was er überlebt hat, Hope. Bitte knüpfe nicht zu viele Erwartungen daran.“

Das würde mir schwerfallen. Jurim lebte, warum auch immer. Und er war hier.

„Wir erwarten ihn in etwa zwei oder drei Stunden in der Burg. Er hat sich geweigert, in der Krankenstation in Darkwood zu bleiben, und hat einen Eilboten vorausgeschickt. Er kommt in einem Schlitten nach, damit er wenigstens nicht selbst reitet und warm eingepackt ist.“

„Jurim lebt!“, stieß ich hervor. „Und … die anderen?“

„Hope, er ist im Moment der Einzige und wir wissen bislang nicht mehr, als dass er auf der Straße nach Darkwood aufgelesen wurde. Er hätte niemals jemandem Einzelheiten mitgeteilt. Nur wir können also wissen, was er dort zu suchen hatte und auch wenn dort schon überall nachgesucht wird … Geh vorläufig bitte davon aus, dass er alleine war.“

Ich nickte und krächzte: „Er hätte sonst dem Boten schon etwas gesagt, er weiß bestimmt, dass wir uns Sorgen machen.“

„Ganz bestimmt sogar. Wir wissen allerdings auch nicht, ob er sich an alles erinnert, also …“

„Wir kommen“, versetzte Nim. „Wir packen hier ein wenig zusammen und kommen mit. Du solltest warten und nicht alleine diesen Weg hinauf- oder herunterklettern, Nubrin.“

„Das sehe ich ähnlich“, murmelte ich und schaffte es endlich, den Reißverschluss meiner Jacke bis unter die Nase zuzuziehen.

„Ich bin langsamer als früher einmal, aber weniger eingerostet, als alle immer denken“, lächelte er. „Und ich bin im vergangenen Jahr sehr oft hier oben gewesen. Alleine. Manchmal wundere ich mich, dass das hier noch niemand entdeckt hat! Wo haben die Leute ihre Augen?“

Nim war schon im Zelt verschwunden und ich schob meine Hände in die Taschen, um dann verlegen Nubrins Blick auszuweichen. Egal, wie gelassen man hier so etwas sah, ich hatte theoretisch und praktisch zum wiederholten Mal eine Nacht mit einem Typen in einem Zelt verbracht und mein Grandpa hatte das mitbekommen.

„Ich glaube nicht, dass viele Leute Interesse daran haben, die steilen Hänge heraufzuklettern und sich durch dichtes Gebüsch zu zwängen in der Hoffnung, irgendwo einen Zeltplatz zu finden. Nicht, wenn die Burg in unmittelbarer Nähe ist“, konnten wir Nim durch die Zeltwand hören. „Nicht, wenn von unten alles nach undurchdringlichem, steilem Wald aussieht.“

„Mag sein, aber es entgeht ihnen vieles, wenn sie nicht wenigstens hin und wieder einen anderen Weg nehmen. Sei es auch nur um des Weges willen“, seufzte Nubrin und warf einen Blick ins Tal.

„Du bist nicht hier aufgewachsen, du bist aus Darkwood“, merkte ich an, nur um etwas zu sagen.

„Das ist richtig. Aber inzwischen lebe ich schon so lange hier, dass ich nicht mehr sagen könnte, was mehr meine Heimat ist und man nennt mich kaum noch Nubrin von Darkwood.“

„Bedauerst du das?“

„Bedauern? Nein. Burg Tegoz ist jedoch eine Münze mit zwei Seiten: Auf der einen Seite ist sie wie ein Horst, in dem man sich sicher und geborgen fühlt und wie ein zentrales Refugium, in dem alles aus Felden zusammenläuft wie im Herzen eines Organismus‘ – eine ungeheuer verlockende Vorstellung also! Auf der anderen Seite aber lässt es die Menschen, die ständig in ihr leben, auch manchmal vergessen, dass da draußen eine wunderbare Weite ist und dass das Leben mehr beinhaltet als diese kleine Welt da drin für sich!

Burg Tegoz mag stets offen sein für alle, die kommen und gehen – und das sind nicht gerade wenige! – aber es kann auch manchmal wie ein enges Gefängnis sein. Entflieht man ihm für eine Weile, fühlt man sehr schnell wieder die Sehnsucht danach – es ist ein ständiges Wechselbad der Gefühle, das ich in all den Jahren hier erlebt habe. Ich freue mich also über jede Reise, die ich unternehmen kann und sehne dennoch den Tag herbei, an dem ich die Burg wiedersehen darf.

Aber das hier oben, dieser Platz… Das ist der Platz, an dem ich irgendwann einmal würde sterben wollen! Hier hat man beides: Burg und Freiheit.“

Ich schluckte. Er hatte mir bei den letzten Worten den Rücken zugewandt und ich konnte nur Nims Gesichtsausdruck sehen, als er jetzt, den Rucksack über eine Schulter geworfen und damit nur halb auf dem Rücken, gebückt aus dem Zelt trat und den Eingang sorgfältig verschloss.

„Ich kann nur hoffen, dass du dir damit noch sehr, sehr lange Zeit lässt, Bibliothekar von Felden!“, versetzte er energisch.

Nubrin lachte leise, dann drehte er sich wieder zu uns herum.

„Das hoffe ich ebenfalls, glaub mir! Ich habe noch eine Menge zu tun und dafür brauche ich noch eine Weile.“

„Wie geht es dir?“, fragte ich sofort. „Du siehst nicht mehr ganz so müde aus wie gestern.“

„Es geht mir besser, mach dir keine Sorgen“, lächelte er.

„Das sagst du mir ständig!“, schnaubte ich. „Könntest du mir mal die Wahrheit sagen? Entschuldige, ich weiß genau, wie sich das jetzt angehört hat, aber ich habe immer den Eindruck, dass man mich nicht für voll nimmt, wenn ich ständig nur solche nichtssagenden Auskünfte kriege!“

Er legte den Kopf ein wenig schräg, dann nickte er.

„Kann sein, dass ich ein bisschen zu sehr versuche, meine gebeutelte Enkelin zu schonen, aber ich fühle mich tatsächlich schon wesentlich besser als gestern noch. Tamara hat vor Kurzem erst neue Kräuter zusammen mit irgendeiner geriebenen Knolle oder Wurzel unter ihre bisherige Teemischung gegeben. Offenbar hilft das besser und nachhaltiger, ergänzt und unterstützt zumindest die Wirkung.“

„Du wirst ausschließlich mit Kräutern behandelt?“

„Ja. Den größten Teil sämtlicher Medizin auf Aroda stellen wir meines Wissens aus Pflanzen her. Ihre Inhaltsbeziehungsweise Wirkstoffe zu synthetisieren ist aufwendig und immer fehlen irgendwelche entscheidenden sekundären Stoffe darin, die ihre Wirkung verstärken oder unterstützen oder was weiß ich.

Jedenfalls hat Tamara mit meinem Arzt gesprochen und der hat ihr empfohlen, diese neue Zusammensetzung für mich zu versuchen. Und eine Nacht Schlaf dank ihres Tees hat schon immer Wunder gewirkt. Meine Lungenkrankheit ist zwar nicht reversibel, aber sie lässt sich definitiv auf diese Weise in Schach halten. Vor allem, seit ich neuerdings zusätzlich Tropfen eines Extraktes nehme, den sie ebenfalls mit diesen neuen Pflanzenwirkstoffen verbessern will.

Auskunft genug, zumindest vorerst? Ich erzähle dir gerne mehr, aber ich finde, diese Thematik ist derzeit zweitrangig und ein wenig kompliziert. Ich wollte dich nicht kränken, ich nehme dich sehr wohl für ‚voll‘, Hope.“

„Tut mir leid“, murmelte ich erneut. „Ich bin da wohl ein bisschen empfindlich.“

„Kein Grund, dich zu entschuldigen. Bereit?“

„Ja. Zwangsläufig.“

Er nickte verstehend, schwieg jedoch dazu.

Nim machte den Anfang und ich war erstaunt, wie geschickt und mühelos Nubrin selbst die steilen Stücke meisterte. Er streikte jedoch, als Nim anbot, durch die Mauer zu kriechen.

„Nehmt es mir nicht übel, aber das ist dann doch nichts mehr für mich! Ich werde wie schon auf dem Hinweg einen Spaziergang um die Burg herum machen.“

„Ich komme mit!“, schoss ich sofort hervor. „Wenn ich darf“, schränkte ich ein.

„Natürlich. Es ist noch Zeit genug. Nim?“

„Ich bleibe bei euch.“

Ich atmete leise auf. Nim war bei mir und ich würde Antworten erhalten. Ich war mir noch nicht ganz sicher, auf welche Fragen, aber ich würde jetzt von Nubrin ein paar Antworten erhalten und später hoffentlich von Jurim. Nach einer friedlichen Nacht Zeit, ein wenig Realität an mich heranzulassen.

Der Weg war, bis auf Nubrins Spuren, frisch verschneit, aber genügend breit und gut ausgebaut. Er erklärte mir, dass man, wenn man ihm bergauf weiter folge, automatisch zu den beiden Zisternen gelange.

„Sie sind groß genug, um die gesamte Burg zu versorgen, und umsichtig und mit viel Köpfchen gebaut. Da nicht die gesamte Zisterne jeweils in massiven Fels gesprengt wurde, hat man an den übrigen Seiten je eine Doppelwand errichtet, die es gestattet, das eigentliche Wasserbecken auf Undichtigkeiten zu überprüfen. Es gibt in jeder eine kleine Kammer mit einem Schott und einem Notausstieg. Bislang war nie eine größere Reparatur nötig, es sind meisterhafte Bauwerke … Aber das interessiert dich sicher nicht sonderlich, oder?“

„Doch, tut es. Sie wurden aus dem Fels gesprengt?“ Jetzt wusste ich, wie meine erste Frage lauten würde! „Wie gefährlich ist Nachttrost wirklich?“

„In seinem natürlichen Vorkommen kennst du es bereits. Würdest du ein Streichholz an einen Klumpen halten, gäbe es hier und da ein paar winzige Stichflämmchen, die sofort wieder verlöschen würden. Schlicht und ergreifend weil die entzündlichen Anteile zu gering und überall darin verteilt sind.

Etwas mehr in ein größeres und damit heißeres Feuer geworfen fielen die Stichflammen schon ein wenig größer aus, aber wieder nur, wenn du es nicht gerade als Klumpen hineinfallen lässt. Denn dann würden seine entzündlichen Anteile einfach von außen nach innen abbrennen, sobald sie heiß genug werden und auch nur soweit, wie äußere Stückchen wegbrechen und das Feuer überhaupt noch Sauerstoff bekommt. Es muss tatsächlich von anderen Bestandteilen gereinigt, hochverdichtet und angereichert sein, um eine Explosion zu bewirken.“

Ich schauderte, fragte aber sofort weiter.

„Und die Zeltheringe?“

„Enthalten gerade genug davon in einer so eben ausreichenden Konzentration, um in einer sehr kleinen, von der Wirkung her einfach nur gezielt gesteuerten Explosion einen spitzen Metallpflock in gefrorenen Boden zu bekommen. Nicht in Felsen, Hope, dafür genügt es nicht. Und es musste schon jemand wie Sidena sein, die sich damit auskennt und die nötigen Mittel hatte, um es selbst und unbemerkt zu produzieren.“

Nim fasste nach meiner Hand und drückte sie. Und hielt sie fest. Er verstand, warum ich fragte, aber er sagte nichts und wartete einfach ab.

Eine Weile schwiegen wir jetzt alle drei und während wir die erste Ecke der Burg hinter uns ließen und ich hin und wieder zu den fensterlosen Mauern und kleinen Öffnungen der Wehrgänge hochsah, war das einzige Geräusch das unserer Schritte im Schnee.

Die Mauer sah auch jetzt bei eher gedämpftem Tageslicht nicht wirklich bedrohlich aus, aber ich konnte mir vorstellen, dass es einen Grund gegeben haben musste, eine zweite um die ursprünglich erste zu errichten. Ich fragte Nubrin danach. Vielleicht würde mich das auf meine nächste Frage bringen.

„Offen gesagt: Ich weiß es nicht. Ich weiß zwar, dass diese Art von Doppelmauer schon von euren Römern beschrieben wurden …“

„Von den Römern? Echt?“

„Ja. Zwei parallele Mauern, dazwischen ein Hohlraum, der mit gestampftem Schutt befüllt wurde. Nicht leicht zu zerstören, aber aufwändig, zu bauen! Kann also sein, dass die Menschen, die hier siedelten, zwar eine Burg ähnlich wie zu Hause haben wollten, aber zunächst nicht die nötige Zeit, die nötigen Mittel und die Muße hatten, diese Bauweise zu wählen. Kann sein, dass man später gegen mögliche Bedrohungen gewappnet sein wollte – was ich allerdings für äußerst unwahrscheinlich halte, denn immerhin nutzten alle Völker die gleiche Pforte und in keiner Bibliothek finden sich Hinweise auf irgendwelche Auseinandersetzungen, im Gegenteil!

Jedenfalls wurde das heutige Aussehen der Burg im Rahmen größerer Bau-, Umbau- beziehungsweise Renovierungsmaßnahmen auch optisch perfektioniert. Ich weiß zum Beispiel, dass sich am Fuß der älteren Gebäude und Gebäudeteile die ersten Vorrichtungen finden, die die heißen, unter ihrem Eigendruck aufsteigenden Quellen anzapften. Mit dieser Technik kenne ich mich nicht aus, aber ich weiß, dass die Burg nicht genau darübersteht, man hat ein natürliches Felsplateau für ihre Erbauung genutzt. Diese Versorgungsanlagen wurden später umfassend erneuert und die alten stillgelegt oder abgerissen. Möglich also auch, dass sich am Fuß der alten Mauer in den alten Vorbauten noch Anlagen oder deren Reste fänden, die später zugemauert und aufgestockt wurden. Das hier wirkt wie eine Trutzburg, aber sie wurde nie angegriffen, hat nie echte Wehrtürme besessen oder einen Graben vor dem Tor. Wehrgänge ja und an jeder Ecke ein kleines vorspringendes Türmchen, aber das war auch schon alles an passiver Abwehr. Keine Pechnasen oder sonstigen Raffinessen. Selbst die Mauern sind viel zu niedrig, um mit einer eurer Mittelalterburgen konkurrieren zu können.“

„Ist das dann nicht erst recht ein unsinniger Verbrauch von Material und Arbeitszeit gewesen?“

„Aus unserer Sicht ja, aber wir kennen nicht die Intentionen derer, die diese zweite Mauer und den geheimen Ausgang haben wollten, auch wenn ich vermute, dass dies alles dem Schutz des Schlüsselbewahrers galt. Nirgends steht etwas darüber, es gibt nicht einmal mehr Pläne der ursprünglichen Burg, nur noch ein paar unvollständige Skizzen. Ich hab lediglich mal in einem alten Brief, den ich in einem der Geschäftsbücher der Burg fand, gelesen, dass der damalige Tegoz recht anspruchsvoll und der Baumeister sehr ehrgeizig sei, was zusammengenommen den Finanzen nicht guttue.“

„Waren sie mit Targwin verwandt?“, schnaubte ich.

Er schmunzelte lediglich.

„Schon gut. Irgendwie faszinierend, das Ganze!“, lenkte ich ein.

Targwin! Er würde meine nächste Frage sein.

„Wie dem auch sei, Burg Tegoz ist einmalig auf Aroda – vielleicht hat ihnen diese Aussicht genügt“, fuhr Nubrin fort. „Vielleicht fand man ja tatsächlich nur, dass das Reich, in dem die Pforte liegt und wo die Schlüssel bewahrt werden, so etwas Trutziges, Einmaliges braucht.“

„Eines habe ich bis heute nicht verstanden: Wenn die Menschen hier zuerst andere Kontinente bewohnten, wie kam dann die Pforte hierher? Oder umgekehrt: Wenn die Pforte von Anfang an hier war, wieso blieben die Menschen nicht hier?“

„Sie war möglicherweise nicht von Anfang an hier. Durchaus möglich, dass sie sie damals genau wie du überall öffnen konnten. Das alles hängt meiner Meinung nach damit zusammen, wo die Halter der Schlüssel sich niederlassen und offenbar hielt man es für sinnvoll, dass die Pforte abseits dieser Residenz liegen sollte. Hier ‚residiert‘ seit der Erbauung schließlich stets der Tegoz, der einen der Schlüssel hält.“

„Und hier lebt der jeweilige Bibliothekar, der den anderen hält. Die anderen Reiche haben also keine Burg?“

„Nicht solche, nein. Sie haben sich nach und nach zwar große und imponierende Gebäudekomplexe geschaffen, die jweils ebenfalls auf einem Berg oder einer Erhöhung über einem Ort liegen, aber jeder von ihnen könnte auch als großer Amtssitz oder kleine, unbefestigte Residenz durchgehen.“

„Wo leben die Ratsmitglieder?“

„Der Rat von Felden? Einige Mitglieder haben in oder etwas außerhalb von Tegoz ein eigenes Haus, in dem sie mit ihrer Familie leben. Manche behalten ihre Häuser in ihrer Heimat, aber auf die Dauer wäre es zu aufwändig und langwierig, ständig hin und her zu pendeln, also nutzen sie ein gemietetes Haus im Ort. Die Stellvertreter begnügen sich meines Wissens lieber mit gemieteten oder gekauften Wohnungen, sofern sie keine Familie haben. Wenn Versammlungen stattfinden oder Feste oder Feiern anstehen, sind sie Gäste des Tegoz‘ in seinem Haus, aber kaum jemand besteht darauf, ständig eine eigene Zimmerflucht in der Burg zu haben. Alfrin hatte immer nur mit einem Probleme, der am liebsten eine komplette eigene Wohnung in Tegoz‘ Haus gehabt hätte.“

„Targwin“, murmelte ich, bemüht, etwas weniger feindselig zu klingen. Es gelang mir nur zum Teil.

„Targwin“, nickte er ernst, aber bedacht.

Er würde mir nur dann meine Frage beantworten, wenn ich ihm zeigte, dass ich meinen Hass auf ihn zumindest bremsen konnte. Es lag an mir, nicht an ihm, erkannte ich, denn ich sah ihm an, dass er genau wusste, worauf ich hinauswollte. Also holte ich noch einmal Luft, um noch ein paar Augenblicke zu haben, um mich zu fangen.

„Kein Wunder, dass das Haus des Tegoz‘ so groß ist und so viele kleine Arbeitszimmer hat“, erwiderte ich möglichst beherrscht. „Es ist sein Haus, aber nur zum Teil. Und da ist nicht nur der Sitzungssaal, er muss einen Haufen Leute unterbringen können. Hat Alfrin Familie?“

„Nein. Er ist alleinstehend, aber er war bis vor knapp drei Jahren mit einer Frau zusammen, die dann zurück nach Gilden ging. Seine Mutter lebt jedoch noch.“

„Wo? In der Burg? In Alfrins Haus?“

„Nein, in meinem. Tamara ist seine Mutter“, lächelte er.

„Tamara?“, echote ich und riss die Augen auf. „Tamara ist seine Mutter?“

„Ja.“

„Aber er sagte doch, dass er Mum nicht gekannt habe!“

„Auch das ist richtig. Bedenke, dass Ela-Ina schon vor zweiundzwanzig Jahren wegging. Alfrin hat ein paar Jahre bei seinem Vater gelebt, bevor er hierherkam und ebenfalls hier zur Schule ging. Sie mögen sich begegnet sein, aber das ist auch schon alles.“

Ich nickte. Und dann endlich konnte ich mich zu der Frage durchringen, die mir seit gestern ständig durch den Kopf ging.

„Grandpa, was passiert jetzt mit Targwin? Wo ist er jetzt?“

Nim holte tief Luft und wie ich fixierte er Nubrin nun eindringlich. Der verlangsamte und blieb schließlich stehen.

„Targwin ist in jeder Hinsicht erledigt. Mit einstimmigem Beschluss wurde er noch gestern seines Amtes enthoben, sein gesamter Besitz ist vorläufig sichergestellt und wird eingehend durchsucht. Der von Sidena übrigens auch. Er wurde über Nacht im Keller des Hauses festgehalten und heute Morgen noch vor der Dämmerung in eine Gefängniszelle der Wachen im Ort verlegt, wo er rund um die Uhr von jeweils wenigstens einem bewaffneten Aufseher bewacht wird.

Ihm wird der Prozess gemacht und wir hoffen auf dein Einverständnis, deine Beweise dazu nutzen zu dürfen. Lili-An wird gegen ihn aussagen, weil sie hofft, dann mit einer Verbannung nach Ehern davonzukommen – was ich nicht bezweifle – und Sidena wird bei ihrer Rückkehr ebenfalls vor Gericht gestellt. Alfrin und ich werden alles daran setzen, dass du nicht aussagen musst, schließlich ist die Beweislast auch so erdrückend. Alle waren Zeugen der Ereignisse.“

„Verstehe. Was kann ihm schlimmstenfalls blühen?“, murmelte ich.

„Schlimmstenfalls? Wir kennen keine Todesstrafe, falls du das meinst, aber wir kennen neben Verbannung auch lebenslange Haft ohne die Chance auf Begnadigung. Wenn wir uns ansehen, was er getan und was er mit seinem Tun riskiert hat …

Ich denke, er wird bis an sein Lebensende mittellos in irgendeiner Anstalt in Ehern eingesperrt bleiben und für seine Unterbringung, Kleidung und Verpflegung arbeiten müssen. Nicht in unmenschlichen Verhältnissen, versteh mich also nicht falsch, aber doch so, dass er jeden Tag aufs Neue erkennen muss, dass jeder hier für sein Schicksal verantwortlich ist und dass er ohne Arbeit kein Brot zu erwarten hat. Er wird lernen, was es heißt, sein Getreide zu säen, einzubringen und zu dreschen, Mehl daraus zu mahlen und zu Brot zu verbacken. Im übertragenen Sinne, verstehst du? Er wird, möglicherweise bis zu seinem Tod, jeden Tag wieder neu lernen, dass auch er nur ein kleiner Teil eines Ganzen ist und dass er dieses Ganze fast vernichtet hätte.“

Ich schluckte. Er brachte all das derart beherrscht vor … und ich kämpfte mit der Enge in meiner Kehle, die mir nur von Wut und Hass zugeschnürt wurde. Er hatte ganz Aroda riskiert! Und Peter!

„Du hältst diese Strafe für zu hart?“, wollte er wissen, als ich nichts sagte und ich räusperte mich rasch.

„Nein. Nein. Was er getan hat … Ich weiß nicht, ob ich ihn nicht sogar … Wenn ich mir überlege, wie viele Menschen … Eine ganze Welt! Er hat riskiert, eine ganze Welt auszulöschen! Kann ja sein, dass es nicht so weit gekommen wäre, kann sein, dass die Passage tatsächlich zerstört ist und Aroda trotzdem noch immer existiert, aber das konnte er nicht wissen, er hat es also bewusst riskiert! Und ich weiß ehrlich gesagt nicht, ob ich so nachsichtig wäre.“ Ich atmete tief durch. „Er kann also im Prinzip selbst für sich sorgen?“

„Das wird er müssen, falls man ihm diese Strafe auferlegt! Was er selbst nicht erzeugen kann, wird er eintauschen müssen. Von seiner Hände Arbeit leben, wie die ersten Siedler von Aroda. Wie wir alle im Prinzip.

Wenn er zu alt dafür wird, wird man für ihn sorgen. Zu diesem Zweck wird sein Eigentum einbehalten, nutzbringend verwaltet und dann nach und nach verkauft, der Rest würde an seine Töchter oder an eine gemeinnützige Einrichtung gehen, aber bis dahin …

Falls es diese Strafe sein wird, ich bin nicht sein Richter. Und das ist auch gut so!“, grollte er abschließend, jetzt zum ersten Mal Emotionen zeigend. „Es wird schwer genug sein für jeden Richter. Diesmal wird sich niemand finden, der absolut unbefangen ein Urteil sprechen könnte, denn es ging um jeden Einzelnen. Und auch das wird Targwin noch klar werden.“

Ich schauderte und war froh, als wir jetzt weitergingen. Es dauerte bis zur nächsten Ecke und damit bis zur Sichtweite des Tores, bis ich wieder etwas sagte:

„Nim? Ich würde gerne zuerst in den Stall gehen, wenigstens kurz. Ich schulde Sena eine Karotte.“

Kapitel 2

Nubrin hatte uns gleich hinter dem Tor verlassen – mit dem Hinweis, uns im Wohnzimmer zu erwarten. Nim stellte seinen Rucksack jetzt neben der Stalltür ab und zog sie zu.

Es war warm hier drin und die Luft eine Mischung aus Geruch nach Pferd, Stroh, Heu, Leder und einer Menge Dinge, die ich nicht zuordnen konnte.

Es war auch hell hier drin, ohne dass das Tageslicht jedoch geblendet hätte. Wir standen in einem großen Vorraum. Der Gang, der in beide Richtungen führte, war sauber gefegt und abgesehen von einer Leiter, die durch eine Luke nach oben führte, und ein paar ineinandergestapelten Eimern an der Wand neben der Tür stand nichts herum. Alles war fein säuberlich aufgehängt oder in irgendwelche Regale sortiert. Was auch immer da hing oder lag oder stand und mit Pferden zu tun hatte.

Die Tiere selbst befanden sich in großen Boxen, von denen sich von hier aus eine lange Doppelreihe in beide Richtungen erstreckte, alle mit halbhohen Türen. Ich hörte ihr Schnauben und das Rascheln ihrer Hufe im Stroh und erschrak fast vor meinem eigenen Mut, als ich sah, wie sich gleich mehrere Köpfe neugierig über die Türen herausstreckten und uns musterten.

Sie waren alle so riesig wie Sena! Mindestens!

Meine Mütze und meinen Schal ließ ich gleich auf Nims Rucksack fallen und nachdem ich meine Jacke geöffnet hatte, hatte ich auch meinen Rundblick beendet. Offenbar war außer uns niemand hier.

„Wow. Das sind eine ganze Menge großer Tiere!“, murmelte ich zaghaft.

„Die wenigsten Boxen waren besetzt, als ich vor zwei Jahren hier wegging. Ich glaube nicht, dass Alfrin oder sonst jemand daran etwas geändert hat, die meisten Stellplätze sind für Pferde von Besuchern vorgesehen und diese Tiere hier für Boten oder Patrouillenritte.“

„Hat hier nicht jeder ein Pferd?“

„Nein. Nicht auf der Burg und wohl auch nicht unten im Ort. Bis auf ein, zwei Tiere sind sie hier oben so etwas wie Allgemeingut. Tamey achtet jedoch darauf, dass nur besonnene Reiter sie nutzen. Und vier waren damals reine Zugpferde.“

Ich nickte und warf einen Blick in einen Raum gleich gegenüber der Stalltür, der zusammen mit diesem Raum die Boxenreihen rechts und links trennte. Außer einigen Säcken mit unbekanntem Inhalt bemerkte ich gleich neben dem Durchgang das Körbchen, das mir schon gestern in der Hand des älteren Mannes aufgefallen war. Es war erneut randvoll mit Möhren.

„Darf ich?“, deutete ich. „Wo finde ich Sena?“

„Klar, dafür sind sie da. Senas Box ist hier drüben, die vierte. War es zumindest … Da, sie hat dich gehört“, lächelte er und nickte in Richtung des rechten Ganges.

„Wohl eher dich!“, murmelte ich beklommen, angelte eine besonders große Karotte aus dem Korb und trat langsam und vorsichtig an den übrigen Pferden vorbei.

„Hi! Ähm … Hallo Sena. Ich bin eigentlich nur gekommen, weil ich dir eine kleine Gegenleistung für deine Geduld mitbringen wollte. Was hältst du davon?“

„Leg sie auf deine flache Hand, dann kann sie sie dir vorsichtig abnehmen“, riet Nim und blieb hinter mir stehen.

„Okay. So?“

„Genau.“

Ihr weiches Maul hatte die Möhre von meiner Hand genommen, ehe ich mich versah, und die beiden Enden fielen vor der Box zu Boden, als sie sie mit lautem Knacken zerbiss und hörbar darauf herumkaute.

Möglichst langsam ging ich in die Knie und hob sie auf, um sie ihr erneut auf der flachen Hand anzubieten.

„Es ist gut, dass du keine plötzlichen Bewegungen machst, das kann ein Pferd wie Sena erschrecken. Du musst dich allerdings auch nicht so langsam bewegen, als ob du unter einem Sedativ stehst. Und sie mag auch Äpfel, aber davon sollte sie nicht zu viele bekommen. Hier. Ich muss jetzt allerdings weiter, meinen Sohn suchen. Morgen wird endlich die neue Glocke geliefert und er soll mir helfen, den Flaschenzug zu kontrollieren.“

Tamey war wie aus dem Nichts aufgetaucht und ich zuckte leicht zusammen, als er mir einen gelbgrünen Apfel zuwarf und sich sofort wieder umdrehte.

„Oh … Okay, danke“, meinte ich rasch und fing ihn ungeschickt mit der anderen Hand auf, während Sena zeitgleich die Möhrenreste in ihr Maul nahm und einen Sabberfaden an meiner Handfläche hinterließ. Also reichte ich ihr auch noch den kleinen, offenbar festen Apfel und sah schweigend zu, wie sie auch ihn mit lautem Knacken zerbiss. Dann aber musste ich grinsen, als sie den Kopf vorstreckte und mich offenbar anzustupsen versuchte.

„Tut mir leid, mehr gibt es heute nicht! Aber ich könnte ja morgen wiederkommen.“

Ich brach ab. Morgen. Und übermorgen. Und vermutlich jeden weiteren Tag.

Nein, so durfte ich im Moment nicht denken, denn ich wusste nicht, ob Jurim nicht mehr als wir wusste.

Sie sah mich mit einem ihrer großen, braunen Augen an und drehte ihn dann auf die andere Seite der Tür. Mit anderen Worten: ‚Wenn ich nichts mehr kriege, dann warte auch nicht darauf, dass ich dir länger zuhöre!‘

Ich musste schon wieder grinsen.

Nim deutete auf einen Eimer mit offenbar frischem Wasser und reichte mir ein Tuch, das an einem Nagel daneben hing. Ich wusch Senas Sabber von meinen Fingern und meinte: „Ich hab keine Ahnung vom Leben eines Pferdes, aber ist das nicht ziemlich eintönig hier drin? Kommen die Tiere hier hin und wieder mal raus?“

„Soweit ich weiß findet sich fast jeden Tag jemand, der mit ihnen in den Ort oder auch einfach nur so reitet, ja. Und sobald es wärmer wird, haben sie weiter unten am Hang eine große Weide.“

Ich seufzte. „Ich glaube nicht, dass ich jemals bereit wäre, alleine auf ein Pferd zu steigen. Es sei denn, es ist aus Holz und hat Kufen.“

Er lachte leise.

„Gibt es hier Fahrräder?“, wollte ich wissen.

„Gibt es. Dort hinten um die Ecke ist die Verbindungstür zu den Unterständen für die Wagen und Schlitten. Da stehen auch mehrere Fahrräder, teilweise sogar richtig moderne. Wir kennen Gangschaltungen!“, ließ er die Augenbrauen auf und ab zucken.

Ich musste grinsen.

„Toiletten statt Latrinen, fließend heißes und kaltes Wasser, keine Kerker … Solarenergie … Ich bin beeindruckt! Was hältst du davon, wenn du mir ein bisschen von der Schule zeigst? Habt ihr Computer da drin?“

„Einen. Er hat zehn Stäbe mit je zehn verschiebbaren Kugeln und wir teilen ihn uns.“

Ich blieb noch im Gang stehen und starrte ihn an.

„Einen Abakus? Ihr …“

Er schmunzelte und ich schnaubte.

„Was ist? Das war lustig!“

„Findest du? Okay, mach nur so weiter!“, grollte ich gespielt. Dann japste ich nach Luft, als er mich ruckartig an sich zog und küsste, dass mir Hören und Sehen verging.

Buchstäblich, denn mir waren sogar die vielen Pferdezuschauer egal!

Und als er mich wieder freigab, flüsterte ich: „Okay! Mach bitte so weiter!“

„Nur zu gerne! Aber vielleicht später. Die Schule? Und den solarbetriebenen Abakus?“

Ich seufzte.

„Du lässt mir die Wahl zwischen Schule und dem hier?“

„Nicht die Wahl, denn du kannst beides haben. Höchstens also die Wahl der Reihenfolge!“

„Reihenfolge! Möchtest du eine vernünftige Antwort oder eine unvernünftige?“

„Du könntest unvernünftig sein? Ich gestehe, dass ich das gerne einmal erleben möchte! Ich hätte nur nicht gedacht, dass du in einem Pferdestall unvernünftig sein könntest.“

„Hmpf! Schon kapiert! Und ich kann sehr unvernünftig sein, nur zu deiner Information! Wer weiß, ob du mich dann immer noch magst!“

„Es gäbe nichts, das etwas an meinen Gefühlen für dich ändern könnte!“, flüsterte er sofort, hauchte einen letzten Kuss auf meinen Mund und ließ mich jetzt auch aus seinen Armen frei.

Ich stöhnte übertrieben und erwiderte schnell und um nicht weiter über diese Versicherung nachzudenken:

„Na gut, wenn’s sein muss… Schule also.“

„Hier entlang“, reichte er mir lächelnd Mütze und Schal, nahm seinen Rucksack und schob die Tür wieder auf. Doch auf dem kurzen Weg über den Hof blieb ich schon nach wenigen Metern wieder stehen. Zum ersten Mal seit meiner Ankunft sah ich eine Katze. Zumindest registrierte ich eine solche zum ersten Mal wirklich aufmerksam, denn ich hatte sowohl ein, zwei Hunde als auch diese kleinen Tiger hier und da schon bemerkt. Jetzt fragte ich mich unwillkürlich, ob das eine dieser Maripas war, von denen Grandpa gesprochen hatte. Diese hier jedenfalls war bildschön und pechschwarz. Sie schüttelte ihre Pfötchen einzeln und nach jedem Schritt durch den Schnee und schien zuletzt entweder all ihren Mut zusammenzunehmen oder die Nase voll von dem kalten Weiß zu haben, denn sie sprintete plötzlich – wenn auch ein wenig hopsend – an uns vorbei Richtung Stall. Mit einem eleganten Satz sprang sie dort gleich neben der Tür auf eine Holzkiste und befreite ihre Pfoten schüttelnd und schleckend vom Schnee. Und verschwand mit einem Satz im Inneren, als Ulf angerannt kam und die Tür aufriss.

„Geht der jemals langsam?“, wollte ich, einmal abgelenkt, wissen. „Wann immer ich ihn sehe, hat er es eilig.“

„Ulf und langsam? Ich glaube nicht. Er ist vormittags sogar schneller als nachmittags. Erst so gegen drei Uhr wird er ein wenig langsamer.“

„Was? Wieso?“, wollte ich wissen.

Er hielt mir die schwere Eingangstür aus dunkelbraunem, massivem Holz auf und wartete, bis sie sich selbsttätig hinter uns geschlossen hatte und den kalten Wind aussperrte, bevor er mir die Jacke abnahm – und neben mehrere andere hängte.

„Unterricht! Jetzt ist Unterricht! Daran hab ich nicht gedacht.“

„Ulf schon! Er ist offenbar der unerschütterlichen Ansicht, dass er nur schnell genug sein muss, damit ihn niemand dauerhaft dazu verdonnert, hier irgendwo zu sitzen. Und Unterricht ist nicht richtig, bis zum Ende der Raunächte sind Ferien. Im Moment sind nur einige wenige Schüler hier, die ebenfalls schnell genug sind, falls ein Lehrer ihren Weg kreuzt.“

Ich musste wider Willen kichern.

„Ich hätte auch oft genug was darum gegeben …“, grinste ich und fühlte prompt eine innere Leere, als ich an meine Schule und vor allem an Helen denken musste. Schlagartig ernüchtert verschwand auch mein Lächeln und ich wandte mich ab.

„Hope, wir werden einen Weg für dich finden!“, meinte er sofort leise. „Wir finden einen Weg zurück! Wenn das hier zu schmerzhaft für dich ist, dann können wir …“

„Nein. Das ist es nicht. Es wird mir überall passieren, Nim. Ich werde etwas sehen oder hören und das wird wieder einen Gedanken hervorrufen …

Helen. Ich musste an meine Schule und an Helen denken. Wir haben uns in Mathe oft gewünscht, einfach durch ein Loch im Fußboden verschwinden zu können. Sie ist meine beste Freundin, seit wir damals nach Fairfax zogen. Jack, der Mann, dem ihr auf dem Friedhof begegnet seid, ist ihr Dad. Er unterrichtet Biologie und Chemie an der gleichen Schule, aber Biologie war noch ganz okay.

Mum und er hatten gerade angefangen, sich anzufreunden, waren ein paarmal miteinander aus … Ich weiß nicht, ob mehr als gute Freundschaft daraus geworden wäre, und irgendwie glaube ich auch nicht daran. Jetzt wird Helen sich vielleicht schon fragen, wo ich bin. Und Peter … Man wird auf ihn kommen, sobald Lili-An als vermisst gemeldet wird. Man wird ihn befragen, dann wird womöglich aus diesen Befragungen ein Verhör werden, weil er der Letzte war, mit dem sie gesehen wurde.“

„Ich weiß. Aber noch sind die Raunächte nicht vorbei, warten wir also ab, was Jurim uns erzählen kann. Wer weiß, vielleicht ergibt sich daraus schon etwas, das wir nutzen können. Etwas, das uns weiterbringt.“

Ich schloss die Augen und atmete langsam aus, um die Anspannung loszuwerden. Dann nickte ich.

„Okay, schon wieder gut. Fangen wir an.“

„Sicher?“

„Sicher.“

Er zögerte noch kurz, dann öffnete er eine Tür gleich links. Ein großer Raum voller heller Tische und Stühle, eine lange Theke, fast über die gesamte Länge …

„Eure Mensa.“

„Richtig. Lehrer und Schüler nutzen sie gemeinsam.“

Die Fenster zum Hof ließen viel Licht in diesen Raum und er wirkte – abgesehen von dem dunklen Holzboden – wie jeder gemeinschaftliche Speiseraum. Irgendwo hinter der Theke befand sich offenbar ein Wirtschaftsraum, aus dem trotz der unterrichtsfreien Zeit Stimmen und Geschirrklappern ertönten. Nim ließ die Tür wieder zufallen.

„Da geht es in die kleine Küche. Das Mittagessen wird allerdings drüben in der Hauptküche zubereitet, auch für die Schüler, die aus dem Ort kommen. Und da“, zeigte er auf mehrere Türen auf der rechten Seite des Eingangsbereiches, „sind Büros, Abstellkammern und Materialräume, Besprechungsraum und Toiletten.“

Er fasste meine Hand und zog mich regelrecht aufgekratzt weiter und zu einem kleinen Flur neben der großen Treppe. Er führte zu einer Art Aula, in der jetzt jedoch ebenfalls Tische und Stühle standen.

„Zum Lernen, für Hausaufgaben, als Versammlungsraum, für Referate und Ansprachen, zu festlichen Anlässen, für Prüfungen… Das hier steht jedem offen.“

„Wie viele gehen hier zur Schule?“

„Nicht viele, es ist eine kleine Schule. Neun Jahrgänge zu gewöhnlich zehn, in seltenen Fällen schon mal zwölf oder dreizehn Schülern. Dazu kommen die Anwärter im Antragsjahr; zehn Jahrgänge also, wenn du sie mitrechnest.“

Ich runzelte die Stirn. Bis zu maximal einhundertsiebzehn Schüler zuzüglich der Antragssteller – das auszurechnen gelang sogar meinen mathephobischen Gehirnzellen! Wo waren die Unterrichtsräume für so viele? Dennoch wenig für eine Eliteschule.

„Aber hier wird doch eine erste Vorauswahl für die Wechsler getroffen!“

„Richtig, aber nicht nur hier. Jeder Tegozsitz hat eine solche Schule, auch wenn die letzten beiden Jahrgänge sich hier durchaus aus Schülern aller vier Reiche zusammensetzen. Notfalls werden diese Jahrgänge dann geteilt – sofern die Zahl über zwanzig liegt, was kaum einmal vorkommt. Schon da entscheiden sich die ersten, ob sie ihren Antrag auf Lehrjahre stellen oder davon absehen wollen.“

„Verstehe. Aber so groß ist das Gebäude doch gar nicht! Gut einhundertzwanzig Schüler?“

„Maximal, Hope! Diese Zahl wird kaum einmal erreicht, denn Schulen gibt es überall. Real sind in Spitzenzeiten an die einhundert Schüler, von denen nicht mal ein Viertel hier wohnt. Es funktioniert, weil wir Aula und Mensa mitbenutzen und weil mancher Kurs unabhängig von den Jahrgängen gegeben wird. Musik, Kunst … Hin und wieder lernen auch zwei Jahrgänge gemeinsam, aber das ist eher selten.

Abgesehen davon wird auch das Gemeindehaus im Ort oder der Versammlungsraum im Haus des Tegoz genutzt. Oder für kleinere Gruppen einer der Räume davor, in die du einen Blick geworfen hast. Oben findest du daher nur vier Unterrichtsräume und zwei, in denen Musikinstrumente beziehungsweise Staffeleien und Farben zur Verfügung gestellt werden. Töpfern zum Beispiel können sie im Ort in einer Lehrwerkstatt, ebenfalls jede andere Art von handwerklicher Betätigung. Unterricht erstreckt sich nicht nur auf das, was hier stattfindet.“

„Wow. Kann sein, dass ich lieber hier zur Schule gegangen wäre … Aber ich nehme mal an, dass hier nur Überflieger angenommen werden, also …“

„Überflieger?“

„Echte Asse!“

Er hielt mich auf halber Treppe zurück.

„Das ist dein Eindruck? Immer noch?“

Ich seufzte leise.

„Nim, was soll ich denn anders glauben? Mum war ein Genie in Mathematik! Ihr siebt aus, wer herkommen darf, wer als Wechsler infrage kommt! Bis zu einhundertzwanzig Schüler, zuletzt Kandidaten aus vier Reichen in zwei Jahrgängen, in denen sich spätestens die Antragsteller finden …“

„Und in den anderen Reichen ebenso! Nicht nur wir wählen aus, Interessenten und Bewerber werden in allen vier Reichen auf die jeweilige Schule des Ratssitzes entsandt! Lediglich über die letzte Bewilligung nach Ablauf des Antragsjahres wird hier entschieden, gemeinsam mit dem jeweiligen Tutor. Und ich versichere dir, dass auch ich kein Genie bin! Ich bin Durchschnitt, Hope, wie die überwiegende Mehrheit. Es kommt nicht auf schulische Glanzleistungen an, der Mensch zählt!“

Er brach ab. Ich hatte ihm schweigend zugehört und nur ganz langsam erkannte ich, dass er verletzt war. Weil ich ihn als Genie ansah?

„Offenbar mache ich ständig etwas falsch!“, flüsterte ich. „Ich dachte echt, dass jeder, der nach drüben gehen durfte, wenigstens auf seinem Gebiet eine Kapazität ist.“

„Muss man auf der Erde eine Kapazität sein, um etwas zu studieren?“, konterte er vorsichtig.

„Nein. Es ist hilfreich, wenn man halbwegs … Nein. Es tut mir leid. Es ist irgendwie seltsam, sich dafür zu entschuldigen, dass man sein Gegenüber für eine Intelligenzbestie hält und ich glaube noch immer, dass ihr alle mir eine Menge voraushabt, aber es tut mir leid. Ich wollte dich nicht verletzen.“

„Hast du nicht. Nicht wirklich. Ich habe nur Angst, dass du mich auf einen Sockel stellst und ich irgendwann deinem Bild von mir nicht mehr gerecht werde. Menschen wie deine Mutter sind Ausnahmegenies, an die kaum jemand auf Aroda heranreicht. Und eine Gabe zu haben bedeutet nicht gleichzeitig, jemals meisterhaft darin zu sein oder als meisterhaft zu gelten.“

„Verstehe. Wirklich. Das alles hier ist also einfach nur eine normale Schule mit normalen Kindern und normalen Lehrern.“

„Eine Schule, in der allenfalls in den letzten beiden Jahrgängen junge Erwachsene unterrichtet werden, die sich in irgendeiner Form hervortun, wenn es um Qualitäten geht, die Aroda zugutekommen könnten. Oder die sich schlicht und ergreifend schon sehr früh sehr für die Möglichkeit eines Wechsels interessieren. Mitunter einfach nur Qualitäten wie eine hohe Einsatzbereitschaft, wenn es um das Allgemeinwohl geht.“

„Wie zum Beispiel jemandem während einer Epidemie das Leben zu retten, nachdem man eine Ewigkeit lang Kranke versorgt hat“, meinte ich kleinlaut.

Er lächelte sachte, wenn auch ein wenig unglücklich bei dem Gedanken an Gina.

„Oder mit Tieren und praktisch im Freien aufgewachsen und absolut zuverlässig und verschwiegen zu sein, während man jedem, der darum bittet, zu helfen bereit ist. Wie Ulf. Er mag den Unterricht noch immer meiden wie die Pest, aber er wird irgendwann seine Kurzbesuche hier drin ausdehnen, davon sind offenbar alle überzeugt. Chancengleichheit. Aroda könnte sonst ein Talent entgehen.“

„Und eure Lehrer sind nicht alle so ehrfurchtgebietend wie Nubrin.“

Jetzt schmunzelte er.

„Ohne einen Vergleich mit euren Lehrern anstellen zu können behaupte ich, dass Nubrin ein einsames Beispiel ist. Und dass unter den Lehrern hier ähnliche Charaktere vertreten sind wie bei euch.

Zwei Beispiele: Nistra unterrichtet hier Mathematik. Ich kenne sie noch und sie neigt dazu, alles hundertmal durchzukauen, bis es einem zu den Ohren herauskommt. Und vom derzeitigen Oban Hen sagt man, dass er ein eigenbrötlerischer, hartnäckiger Pedant ist, bei dem kein Komma schiefsitzen darf.“

„Sagt man? Sagt wer? Ulf?“

„Verrat es nicht, aber Tamara sagt das. In der Nacht unserer Ankunft hier haben wir lange geredet und sie hat mir bei dieser Gelegenheit ein paar Neuigkeiten erzählt. Wichtig ist: Wir sind normal und das hier ist eine normale Schule, die euren gegenüber allerhöchstens den Vorteil hat, dass wir nicht so leistungsorientiert sind wie ihr, allenfalls talentorientiert.“

Ich legte meine Arme um seine Mitte und meine Stirn an seine Brust. Aroda brauchte Menschen wie Nim, das wurde mir von Tag zu Tag klarer. Aber das sprach ich jetzt nicht aus.

„Aroda hat eine Menge Vorteile“, flüsterte ich stattdessen, doch er hatte mich gehört.

„Hat es. Aber ich bin voreingenommen, fürchte ich.“

„Verständlicherweise. Zeigst du mir den Rest?“

„Natürlich. Komm. Ich nehme an, dass die Schüler, die während der Ferien hiergeblieben sind, irgendwo in der Burg unterwegs sind oder bei den Vorbereitungen für das Mittagessen helfen müssen“, zog er mich weiter und öffnete in der nächsten Etage nacheinander vier Türen, die auf den nach rechts und links abgehenden Gängen in je einen großen Raum führten. In je zweien gingen große Fenster auf den Hof hinaus, in den anderen beiden, die an die Außenmauer stießen, waren große Dachfenster eingebaut, die viel Licht hereinließen. Helle Räume mit hellen Holztischen und Stühlen und je einer riesigen Tafel.