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"Und was wird dann mit dir?" "Mir bliebe die Hoffnung, dass das Amulett gegen Ende der nächsten fünfhundert Jahre einen weiteren Phönixgeborenen findet." Ein Amulett, ein Mythos ... und eine Stimme, die aus dem Nichts zu kommen scheint. Während Cam - Camryn - noch an ihrem Verstand zweifelt, steht sie, ohne es zu wissen, vor der wichtigsten Entscheidung ihres Lebens. Hinter der Stimme steckt Jared, einst Mensch, nun Phönix in einer Welt jenseits der Erde: Phandra. Dort kämpft er einen verzweifelten Kampf gegen Drachen. Einen Kampf, deren letzte Schlacht er verlor. Um wieder aus seiner Asche aufsteigen zu können, benötigt er Cams Hilfe. Die wurde zwar auserwählt, er jedoch beabsichtigt, sie nach seiner Wiedergeburt unverzüglich wieder zurückzuversetzen. Einmal in der jenseitigen Welt will Cam jedoch mehr erfahren. Mehr über das Volk von Phandra, mehr über das Dasein und die Aufgaben eines Phönix - und mehr über Jared. Doch da ist Dragan, der mit allen Mitteln Jagd auf den Phönix macht. Nun auch auf sie?
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Seitenzahl: 647
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Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Epilog
Drachen zeugen Drachen, Phönixe brüten Phönixe aus. Aus China
Er wartete schon lange. Zu lange. Im Augenblick und seit mindestens einer Stunde sah er schon wieder zu, wie die Frau Schachteln zu dem bunten Chaos in das Heck ihres alten Vans lud – eine nach der anderen. Kartons, deren Inhalt sie bei einer Art Auktion erstanden hatte. Zuletzt hatte sie Mühe, die Klappe zu schließen. Wenn sie an ihren Wochenenden nicht von Garagenverkauf zu Flohmarkt zu Garagenverkauf eilte, drückte sie sich bei solchen Versteigerungen herum, bei denen ganze Haushalte aufgelöst wurden.
Eine ganze Reihe ähnlicher Fahrzeuge standen auch diesmal zu beiden Seiten der Straße und ihre Besitzer waren eifrig damit beschäftigt, Möbel und Einrichtungsgegenstände wegzuschleppen. Das junge Ehepaar, dem das Haus nun gehörte, stand frierend und ein wenig verloren neben dem Eingang…
Er richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf die Frau, die jetzt aufatmend auf den Fahrersitz kletterte. Er würde weiter warten. Weil er musste. Und allmählich konnte er nur hoffen, dass ihm die Zeit nicht davonlaufen würde.
„Dad? Ich bin da!“
Die Stille, die mich empfing, war die Gleiche wie jedes Mal, wenn ich nach Hause kam. Obwohl ich genau wusste, dass ich niemanden antreffen würde, war dieses Ritual immer das Gleiche: Ich schloss die Haustür auf, kündigte mich an, während ich meine Tasche noch im Flur auf den Boden fallen ließ, und durchquerte den schmalen Flur neben der Treppe, um erst einen Blick ins Wohnzimmer, dann in die Küche zu werfen. Wo ich dann gelegentlich einen Zettel vorfand, entweder auf dem Tisch oder am Kühlschrank.
Die Wochenenden fingen für meinen Vater oft erst am Freitagabend an und hin und wieder trank er dann nach Büroschluss noch ein Bier mit seinem Freund und Kollegen Peter. Und daraus wurde nicht selten ein Abendessen.
Heute klebte jedoch weder eine Nachricht an der Kühlschranktür, noch lag eine auf dem Tisch. Erst als ich auf die Idee kam, den blinkenden Anrufbeantworter abzuhören, bekam ich meine Erklärung:
„Hi Cam. Ich komme heute etwas später, hab eine Verabredung vergessen; tut mir leid. Ich konnte dich nicht erreichen, offenbar ist dein Handy schon wieder kaputt, du brauchst dringend ein neues … Mach dir etwas zu essen, warte nicht auf mich. Wenn du zu faul bist, bestell dir einfach eine Pizza oder so, du weißt, wo das Geld liegt. Wir sehen uns später. Oder morgen. Bis dann, Kleines, hab dich lieb!“
Seufzend hörte ich die Nachricht ein zweites Mal ab, bevor ich sie löschte, dann erst zog ich meine Jacke aus und schob die Stiefel von den Füßen. Sollte ich mich nun ärgern? Vermutlich nicht, denn eigentlich war ich es nicht anders gewöhnt. Dad war nun mal Dad und ich ahnte, dass es wieder mal seiner mangelnden Organisation, seinem siebähnlichen Gedächtnis – was private Dinge anging – oder schlicht seiner Unaufmerksamkeit zuzuschreiben war, dass er mir nicht schon früher Bescheid gesagt hatte. Mein Handy hatte zwar tatsächlich endgültig den Geist aufgegeben, aber schon zu Beginn der Woche (was ich ihm bereits zweimal gesagt hatte!) und für alle Fälle hatte er schließlich auch Annas Nummer; meine Freundin in der Highschool. Er hätte sie anrufen können.
Auf Strümpfen betrat ich die Küche erneut, meinen selbstverschuldeten Schneepfützchen ausweichend. In der Schublade, in der so ziemlich sämtlicher denkbarer Krempel sein Stelldichein feierte, fand ich tatsächlich sowohl das wöchentliche Haushaltsgeld als auch ein paar zusätzliche Dollarscheine vor. Es war durchaus schon vorgekommen, dass er zwar angekündigt hatte, mir Geld dalassen zu wollen, es dann jedoch vergessen hatte.
Erneut seufzend schob ich es beiseite – und fischte die Krawatte heraus, die er am Montag noch so verzweifelt gesucht hatte und doch selbst dort hinein verbannt haben musste. Ordnung war ein Begriff, der ihm fremd war und wenn ich mich hier umsah, dann sollte ich wohl nicht länger zögern, sondern das Wochenende wie üblich mit Aufräumen und Putzen beginnen. Vermutlich würde er sich beim Nachhausekommen wundern, wieder beide Pantoffeln zur Verfügung zu haben. Wie auch immer er das schaffte, er hatte einen davon hierher und unter den Tisch geschleift.
Meine langen, braunen Haare neu und etwas fester am Hinterkopf zusammendrehend und mit der Greifklammer erneut befestigend schob ich mit der Hüfte die Schublade zu.
„Auf in den Kampf!“, murmelte ich und ignorierte standhaft meinen hungrig knurrenden Magen.
Gut drei Stunden später, frisch geduscht und in einem alten, ausgeleierten Pullover, Jogginghose und dicken Stricksocken, nahm ich meine heißersehnte Pizza an der Haustür entgegen. Der Bote hatte zwei Stöpsel in den Ohren, die ihn daran hinderten, irgendetwas außer seiner lauten Rockmusik zu hören. Ich hatte Mühe, ihm klarzumachen, dass nicht der ganze Restbetrag für ihn sei, nein. Erst als ich ihm genervt mit einem schnellen Griff einen Pfropfen am Kabel aus dem linken Ohr zog und er wütend hochging, wurde auch ich wütend.
„Wie du meinst! Ich krieg dann fünf Dollar zurück, nicht nur zwei. Und sag Luigi, dass ich beim nächsten Mal wieder meinen gewohnten Fahrer haben will, mit dem ist wenigstens Konversation möglich!“, giftete ich zurück und reichte ihm den Geldschein.
„Na toll! Ich liebe es, wenn die Kunden ihre miese Laune an mir auslassen! Hier. Und danke für nichts!“, schnaubte er, drehte sich auf dem Absatz um und stapfte die Treppe hinab durch den frisch gefallenen Schnee zurück zu seinem Lieferwagen.
Anstatt die Haustür wütend zuzuwerfen, schob ich sie betont vorsichtig ins Schloss, holte tief Luft und hob dann fröstelnd die Schultern.
Seit ich denken konnte, war Luigi unser Lieblingsitaliener und nachdem Mum uns verlassen hatte, saßen wir einmal pro Woche entweder bei ihm oder nahmen seinen Lieferservice in Anspruch. Doch seit er ein zweites Restaurant eröffnet hatte, in dem jetzt die Hälfte seines Stammpersonals arbeitete, mussten wir uns mit nörgelnden Aushilfen – meist Studenten, die sich etwas dazuverdienen wollten – abfinden.
Okay, vermutlich hätte ich ihn ein wenig freundlicher behandeln sollen, aber ich hasste es nun mal wie die Pest, wenn mein Gegenüber mir nicht zuhörte, ob aus Desinteresse, Unhöflichkeit oder wie vorhin wegen überlauter Musik, die in seine Ohren wummerte!
Eher lustlos schaltete ich den Fernseher ein, ließ mich mit meinem Abendessen auf dem Sofa nieder, zog die Decke über die Beine und zappte durch ein paar Kanäle, bis ich bei einer Dokumentation hängenblieb. Ein Bericht, bei dem es um Ausgrabungen einer steinzeitlichen Siedlung irgendwo in Europa ging. Für gewöhnlich konnte mich so etwas durchaus fesseln, aber heute schaltete ich schon nach fünf Minuten geistig ab, kaute hungrig auf der Pizza mit extra Käse herum – und hob erstaunt die Augenbrauen, als ich draußen Dads SUV zu hören glaubte. Und richtig: Das Garagentor öffnete und schloss sich kurz darauf. Offenbar eine denkbar kurze Verabredung, es war noch nicht mal acht Uhr.
„Hi Dad!“, rief ich nuschelnd, nachdem die Tür ins Schloss gefallen war. „Schon da?“
„Hi! Hm, riecht gut! Luigi?“
„Klar!“
„Da hätten wir heute auch hingehen sollen!“, kam es gedehnt zurück, dann polterten seine Schuhe im Flur auf den Boden und mein Dad kam auf bestrumpften Füßen ins Wohnzimmer, warf sich in den Sessel und seine Krawatte auf den Tisch und angelte ein Pizzaachtel aus der Schachtel.
„Mit Schinken? Darf ich?“
„Hmhm“, kaute ich.
„Danke, ich verhungere!“
„Was war mit deiner Verabredung? Ich hab nach deiner Nachricht damit gerechnet, dass du zum Essen wegbleibst.“
„Das? War auch eigentlich so geplant, aber dann kam etwas dazwischen“, zuckte er eine Schulter. Mit vollem Mund klang er undeutlich.
„Okay… Und was war das für eine Freitagabend-Verabredung? Du scheinst von der Arbeit gleich dorthin gegangen zu sein“, bohrte ich neugierig nach und musterte seine dunkelblonden Haare. „Du warst beim Frisör!“
„Heute Nachmittag, ja. Ich hab früher Feierabend gemacht.“
Ich hörte auf zu kauen und starrte ihn an, doch er wich meinem Blick aus.
„Du hast jemanden kennengelernt? Für Peter lässt du gewöhnlich kein Fell.“
Ich machte mir keine Illusionen, dass mein Dad nicht auch ein sehr privates Privatleben hatte. Und dazu gehörten nun mal auch ein paar intime Details, über die ich ihn jedoch nicht ausquetschte. Na ja, nicht allzu sehr zumindest.
„Nein, nicht so!“, widersprach er, nahm einen weiteren Bissen und warf mir nur einen ganz kurzen Blick zu. Das kannte ich schon: Er war das personifizierte schlechte Gewissen!
„Auch okay! Wenn du nicht darüber reden willst … Nein, nicht wirklich, also sag’s mir: Wo hast du sie kennengelernt? Eine Kundin? Ein Versicherungsfall? Neue Kollegin? Sachverständige? Gutachterin? Callgirl?“
Noch immer war mir absolut schleierhaft, wie mein unordentlicher bis chaotischer Dad einen durch und durch von Organisation und Korrektheit abhängigen Beruf hatte ergreifen können. Aber vermutlich brauchte er dort tagsüber einfach nur all sein dahingehendes Vermögen auf, für sein Privatleben blieb dann davon nichts mehr übrig.
Er seufzte übertrieben und ließ sein Pizzastück sinken.
„Nein. Wenn du es genau wissen willst: Es war deine Mom. Sie rief mich am Dienstag an und bat um ein Treffen.“
„Mom!“, echote ich und ließ meine Hand ebenfalls sinken. „Am Dienstag! Du weißt es seit Dienstag und hinterlässt mir eine Nachricht auf dem AB?“
Er nickte schuldbewusst. Und als ich ihn weiterhin nur schweigend und auffordernd ansah, seufzte er erneut. „Ich wusste nicht, wie du reagieren würdest. Sie lebt seit Anfang November wieder hier in der Gegend und …“
„Hier!“, unterbrach ich ihn ungläubig.
„Ja. Und sie hat auch ihren alten Job wieder. Offenbar war Ted – Mr. Bellers – froh, sie zurückzubekommen, ihrem Ersatz jedenfalls wurde gekündigt. Sie hat abgewartet, bis sie hier wieder Fuß gefasst …“
„Was wollte sie?“, unterbrach ich ihn. Dann setzte ich so gelassen wie möglich nach: „Ich meine, es muss ja wohl einen Grund geben, weshalb sie sich nach all den Jahren wieder bei dir meldet, ohne dass es um irgendwelche finanziellen Dinge oder etwas Versicherungstechnisches geht, oder? Und du warst wegen ihr beim Frisör!“
Ich hörte selbst, wie vorwurfsvoll ich klang.
Er holte tief Luft und legte den Rest seines Pizzaachtels zurück in die Schachtel.
„Es ging nicht immer nur um solche Sachen, Cam. Soll ich jetzt erzählen oder nicht?“
Auch ich atmete daraufhin tief durch, nickte stumm und schob das restliche, viel zu große Stück in den Mund, um mich selbst am Reden zu hindern. Mein Verhältnis zu Mum war nur mit viel gutem Willen freundlich zu nennen. Bis heute konnte ich, obwohl inzwischen erwachsen, mich nicht damit abfinden, dass sie mitten in einer meiner schwersten Phasen ihre Koffer gepackt hatte, um zu einem Freund zu ziehen.
Freund!
Dad unterbrach diesen Gedanken: „Cam, sie bereut längst zutiefst, was sie getan hat, und wir haben drei Stunden lang nur geredet. So, wie wir lange nicht mehr miteinander geredet haben. Wenn du verstehst, was ich meine.“
Er machte eine Pause, aber jetzt kaute ich betont langsam und ließ ihn nicht aus den Augen. Eine stumme und demonstrative Haltung.
„Sie hat schon vor einem Jahr Schluss gemacht mit diesem Mick und ihn aus der gemeinsamen Wohnung rausgeworfen. Offenbar hat sie ein paar Dinge dazugelernt und so wie sie sagt, hat er sie von Anfang an betrogen.“
Ich hob vielsagend eine Augenbraue. Das hatte sie Dad ja wohl auch, wenn ich richtig lag! Offensichtlich deutete er meinen Blick richtig, denn er verzog das Gesicht.
„Ich hab nicht gesagt, dass ich sie mit offenen Armen empfangen habe, aber ich hab sie auch nicht eiskalt abblitzen lassen! Alles, was sie möchte, ist, wieder mehr Kontakt zu uns zu haben. Sie hofft, dass du ihr eine zweite Chance gibst, wie auch immer die aussieht.“
Ich schluckte krampfhaft das noch viel zu große Stück herunter.
„Das ich ihr eine zweite Chance gebe? Nicht wir? Wow! Und all das habt ihr in den letzten drei Stunden bequatscht?“
Er presste kurz unwillig die Lippen aufeinander, also hob ich entschuldigend beide Hände.
„Sorry, aber für mich kommt das alles ein wenig überraschend, ich hatte keine Vorwarnzeit. Und meine Fragen sind ja wohl berechtigt!“
„Nein, haben wir nicht. Wir telefonieren schon seit mehreren Monaten immer wieder miteinander und der heutige Abend… Na ja, er war nicht gerade perfekt geplant und ist nicht perfekt gelaufen, schließlich kam ihr zuletzt etwas dazwischen, aber der heutige Abend war …nicht schlecht. Er hat ein paar Dinge geklärt.“
„Und das heißt? Nur so, um mir auch ein paar Klarheiten zu verschaffen“, hakte ich mit einer hörbaren Portion Missfallen nach.
„Das heißt, dass es deine Entscheidung ist, ob du sie sehen willst, was sonst?“, erwiderte er betont geduldig. „Du bist alt genug, um zu wissen, was du willst. Und mit achtzehn erwachsen genug, um ein paar Dinge aus einer anderen Perspektive sehen zu können als ein Mädchen, das gerade in die Pubertät kommt.“
Ich schnaubte. Mit dieser nicht ganz fairen Bemerkung hatte er mich am Haken – und das wusste er genau. Würde ich jetzt von vornherein jeden auch nur etwas intensiveren Kontakt ablehnen, outete ich mich als pubertäre Göre.
„Und wie stellt sie sich das vor? Außer ihren Geldgeschenken zum Geburtstag und zu Weihnachten mit Karte und Schleifchen und netten Phrasen besuche ich sie zukünftig in den Ferien? Ich bin tatsächlich ein bisschen zu erwachsen für so etwas und nicht ich bin abgehauen!“, konterte ich angriffslustig, lehnte mich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Aber das ist ja jetzt wohl hinfällig, weil sie nicht mehr in Toronto lebt. Wenn sie mich sehen oder sprechen wollte, hätte sie anrufen können, oder? Oder mailen, eine SMS schreiben oder was auch immer. Eine Karte mit Schleifchen und Herzchen schicken.“
„Ich will sie nicht verteidigen, aber ich darf dich daran erinnern, dass du das zuletzt immer abgelehnt hast. Und denkst du nicht, dass Mail und SMS keine passenden Wege sind und dass sie Schuldgefühle plagen? Im Übrigen habe ich ihr abgeraten, dich anzurufen und bevor du fragst: Nicht sie bat mich darum, bei dir vorzufühlen, ich habe es ihr angeboten. Sie möchte dich sehen und sprechen, aber zu deinen Bedingungen und wenn du bereit bist. Also überlässt sie dir den ersten Schritt, um dir nichts aufzuzwingen.“
Ich verzog den Mund. Damit hatte sie mir den Ball zugespielt, der jetzt in meiner Spielfeldhälfte lag. Und Dad hatte mir nun auch den restlichen Wind aus den Segeln genommen, denn mein nächster Vorwurf wäre in diese Richtung gegangen. Das letzte Mal hatte ich sie vor knapp einem Jahr gesehen, einen Tag vor meinem achtzehnten Geburtstag. Und damit – wie ich jetzt wusste – kurz bevor oder kurz nachdem sie Schluss mit ihrem ‚Freund‘ gemacht hatte. Sie war wie immer persönlich gekommen – und nach einer wie immer quälend krampfigen, wortkargen Stunde wieder gefahren.
„Um mir nichts aufzuzwingen, aha! Die treffendere Formulierung wäre wohl: Um mir nicht wieder etwas aufzuzwingen, mich nicht wieder vor vollendete Tatsachen zu stellen!“
„Ich ahnte, dass du so reagieren würdest“, gab er zurück.
„Weshalb du mir vorher nichts von alldem gesagt hast, richtig?“ Ich warf ihm einen forschenden Blick zu. „Und wie siehst du das? Kannst du ihr verzeihen? Hierbei geht es ja wohl nicht nur um mich, wie ich die Sache sehe.“ Noch immer klang ich ziemlich kampflustig, stellte ich fest.
Nun lehnte auch er sich zurück und fuhr mit gespreizten Fingern durch seine Haare.
„Hm …“, machte er und pausierte. „Ich denke schon. Nicht so schnell, aber ich denke schon, dass ich das kann. Schließlich hab ich sie mal aus einem guten Grund geheiratet, Cam. Und bei unseren Telefonaten und erst recht heute Abend ist mir aufgegangen, dass da …“
„Dass da was?“, hakte ich nach, als er nachdenklich abbrach.
„Da ist anscheinend noch etwas zwischen uns“, murmelte er gedehnt, runzelte die Stirn und zuckte ratlos die Schultern. „Ich hab nach dieser langen Zeit keine Ahnung, was das ist, was daraus werden und ob es nochmal für mehr als eine Freundschaft reichen könnte, aber ich werde ihr nach all der Zeit zumindest verzeihen können, denke ich. Ich finde es jedenfalls besser, mit ihr befreundet zu sein, als in einem kalten Krieg festzusitzen. Das erleichtert das Leben, weißt du?!“
Ich hatte den Atem angehalten. Dad schloss einen Neuanfang nicht aus? Dad schloss einen Neuanfang nicht aus!
„Wow!“, stieß ich hervor, durchaus provokant.
Und verletzt? Ich horchte vergeblich in mich hinein, denn er konterte sofort:
„Nichts ‚wow‘! Alles, was ich gesagt habe, war, dass meine Tür für sie inzwischen wieder einen Spalt offen steht, mehr nicht. Denk darüber nach, das ist alles, worum sie dich bittet.“
Er erhob sich, reckte sich kurz und seufzte dann, als er meinen Gesichtsausdruck bemerkte.
„Denk einfach darüber nach. Und lass dir ruhig Zeit dazu, okay? So, wenn du nichts dagegen hast, würde ich gerne nach oben gehen und duschen, mich umziehen … Denkst du, wir könnten Luigis Lieferanten heute nochmal bemühen? Ich habe einen Bärenhunger, denn ich musste heute schon das Mittagessen ausfallen lassen, um früher gehen zu können.“
„Der kommt auch ein drittes Mal!“, grummelte ich. „Bei dem Trinkgeld, das er hier absahnt … Und gerade heute wird er hocherfreut sein, schätze ich. Aber du kannst den Rest von mir haben, ich schaffe sie ohnehin nicht alleine.“
„Danke, aber davon werde ich heute nicht satt. Rufst du an und bestellst mir eine mit extra Käse, Peperoni, Tomaten und Salami?“
„Geht klar“, lächelte ich ein wenig mühevoll und erntete ein ebenso schiefes Lächeln.
„Zwischen uns alles okay?“, wollte er noch in der Tür wissen. Er sah tatsächlich besorgt aus!
„Klar, alles okay“, erwiderte ich sofort und unterdrückte erfolgreich das eigenartige Gefühl, dass Mom es geschafft hatte, einen Fuß in seine Tür zu schieben. Es war seine Entscheidung und er sollte glücklich sein, sie sollte ihn nicht noch einmal verletzen. Aber: Es war seine Entscheidung!
„Ich hoffe jedenfalls, dass du das vorhin nicht so aufgefasst hast, als ob ich dich … ähm … kritisiere? Es ist deine Entscheidung, ob du sie sehen willst“, wedelte ich mit der imaginären Friedensfahne.
„Hab ich nicht, keine Sorge“, winkte er ab. „Bis gleich. Und danke fürs Aufräumen und Putzen. Es fällt mir durchaus auf und ich gelobe Besserung.“
„Klar! Wie jede Woche!“, grinste ich. „Hier, vergiss deine Krawatte nicht, sonst landet sie noch im Kühlschrank!“
„Machst du das mit Absicht oder was? Oder war was mit der ersten Pizza? Reklamationen sind an Luigi zu richten, aber ich weiß genau, dass ich sie heiß abgeliefert hab! Noch dazu bei dem Wetter …“
Es schneite mittlerweile heftig, was die Unfreundlichkeit des Hardrockfans und Pizzalieferanten offenbar verdoppelte. Auf der anderen Straßenseite rollte der Lieferwagen unserer Nachbarin besonders langsam um die Ecke, bevor seine Bremslichter erneut aufleuchteten und er allmählich zum Stehen kam. Selbst die Spuren, die mein Gegenüber mit dem Wagen auf der Fahrbahn hinterlassen hatte, waren schon wieder halb zugeschneit.
„Ja und nein. Ich bin Etappenesserin, also sehen wir uns in einer Stunde, wenn ich die nächste Pizza ordere. Und weil du diesmal nur zu fünfzig Prozent was auf den Ohren hast, ist der Rest für dich, okay? Ein Tipp noch: Freundlichkeit verdoppelt deine Chancen auf Trinkgeld. Fahr vorsichtig!“
Er murmelte etwas Unverständliches, schob das Geld in seine Geldtasche, nuschelte ein ‚Danke‘ und schlitterte den Weg zur Straße zurück.
Ich wartete noch, bis ich sicher sein konnte, dass er sich nicht auf die Nase legen, sondern heil im Wagen ankommen würde, dann schob ich die Tür wieder zu und sperrte gleich auch für die Nacht ab. Unsere Wohngegend war zwar sicher, aber mir verschaffte es trotz Dad im Haus ein besseres Gefühl.
Der restliche Abend war abwechselnd in einträchtigem Schweigen oder in den üblichen Berichten über die Ereignisse des Tages – Mom ausgenommen! – vergangen. Nachdem ich irgendwann müde nach oben verschwunden war und einen letzten Blick aus dem Fenster auf den verschneiten Vorgarten und die Straße geworfen hatte, bearbeitete ich das Kissen unter meinem Kopf und kuschelte mich dann gähnend unter die dicke Decke.
Ich war nicht mal halb so selbstsicher, wie ich dem Pizzaboten gegenüber getan hatte, das war nur mein aufbrausendes Temperament. Ich hatte lernen müssen, möglichst niemanden sehen zu lassen, wie es in mir drin wirklich aussah. Die dicke Haut, die ich mir darüber scheinbar zugelegt hatte, bewirkte zumindest, dass man mich im Allgemeinen angemessen behandelte oder aber in Ruhe ließ.
Selbst meine Einstellung Mom gegenüber war nicht einmal halb so cool und distanziert wie sie wirkte, denn tief in mir drin war ich noch immer wütend und verletzt. Sie hatte Dad verlassen, aber sie hatte auch mich verlassen. Die Zwiespältigkeit der Gefühle, die nach dem Gespräch mit Dad heute Abend in mir herrschte, würde sicher noch eine ganze Weile vorherrschen. Denn während ich den tatsächlich kindischen Impuls verspürte, Mom eiskalt auflaufen zu lassen, sehnte ich mich zu meiner eigenen Verwunderung offenbar doch ein kleines bisschen danach, in ihr wieder wie früher als Kind eine Mom sehen zu können.
Ich hörte, wie Dad über den Flur nach nebenan schlich, und sah den schummrigen Lichtschein der Scheinwerfer, als draußen ein weiteres Auto sehr langsam vorbeirollte, während nahezu alle Geräusche vom vielen Schnee geschluckt wurden.
Morgen früh würden wir eine Menge davon zu schaufeln haben, um die Treppe zum Eingang und den Gehweg freizubekommen …
Mom … Machte meine große Ähnlichkeit mit ihr es Dad wohl noch schwerer als ohnehin schon?
Seufzend schloss ich die Augen, aber es dauerte lange, bis ich endlich einschlafen konnte!
Offenbar hatte sie nicht die Absicht, ihren Van noch auszuladen. Die gesamte heute nicht verkaufte wie auch die neu ersteigerte Ware würde die Nacht in dessen Laderaum verbringen. Das bedeutete, dass er eine Winternacht im Freien verbringen würde. Nicht, dass ihn das störte, der heutige Tag stellte damit jedoch wieder einen erfolglosen Tag dar. Vertane Zeit.
…
Nach einer Weile fing er an, den Anblick der friedlich herabrieselnden Flocken zu genießen – und die Stille, die der Schnee in diese laute, schnelle Welt brachte …
Scharrende Geräusche vor dem Haus weckten mich und als ich benommen den Kopf hob und lauschte, ging mir auf, dass ich verschlafen hatte. Offenbar war die gesamte Nachbarschaft schon damit beschäftigt, Schnee zu schaufeln, genau wie Dad.
Schnell warf ich die Decke zurück und schwenkte die Beine aus dem Bett, um barfuß ans Fenster zu flitzen und die Jalousie nach oben zu ziehen. Er hatte nicht nur bereits damit begonnen, er war schon beinahe fertig!
Schnell trat ich wieder ans Bett zurück, zog den Pullover von gestern Abend über, schob die Füße in die Pantoffeln, um kurz in meinem kleinen Bad zu verschwinden und dann nach unten zu laufen. Wenigstens war ich früh genug, um für ein spätes Frühstück zu sorgen. Das Wasser bahnte sich bald darauf gurgelnd den Weg durch den Kaffeefilter, zwei Frühstückseier köchelten auf dem Herd ihrer Garzeit entgegen und ich flocht nach einem weiteren Blick nach draußen meine Haare rasch zu einem losen Zopf. Nachdem ich anschließend Geschirr und Besteck auf den kleinen Tisch vor dem Fenster verteilt hatte, plünderte ich den erstaunlich reich bestückten Kühlschrank. Wie ich schon gestern hatte feststellen können, war Dad nicht nur freiwillig beim Frisör, sondern sogar einkaufen gewesen. Eine beträchtliche Entwicklung! Auf den ersten Blick fehlte kaum etwas, was mir diesmal meinen samstäglichen Einkauf ersparte.
Alleine dafür und für das Schneeräumen hätte ihm eigentlich die erste Tasse gebührt. Mein Eigennutz überwog: Ich ließ mich damit auf meinen Platz nieder, zog die Füße auf die Stuhlkante und suchte mit den Blicken nach der Person, mit der Dad sich offenbar quer über die Straße hinweg lauthals unterhielt. Dank der dick verschneiten Büsche und Hecken hier wie drüben konnte ich nichts sehen, doch der antwortenden Stimme zufolge schien es Mrs. Pear zu sein, die Nachbarin um die Ecke. Gerade bot Dad ihr an, ihr bei irgendwas zu helfen, aber offenbar bekam er eine ablehnende Antwort, denn er rief soeben zurück, dass sie sich nur melden müsse, falls sie Hilfe benötige. Kurz darauf hörte ich dann, wie er auf dem Weg zur Haustür den Schnee von den Stiefeln stampfte und hereinkam.
„Küche!“, rief ich und sprang gleichzeitig mit dem Scheppern des Weckers auf, um die Eier abzugießen.
„Morgen! Du bist schon auf?“, begrüßte er mich.
„Du ja auch und offenbar warst du schon fleißig! Kaffee?“, reichte ich ihm meine Tasse.
„Ich bin sofort da“, lehnte er ab.
Sein Gesicht war von der Kälte gerötet und als er seine Mütze vom Kopf zog, waren seine Haare entsprechend verwuschelt – was ihn nicht kümmerte. Im Gegenteil folgte er mir an seinen Pantoffeln vorbei auf Socken in die Küche, warf sich auf seinen Stuhl und bedankte sich, als ich ihm Kaffee eingoss.
„Danke, das ist jetzt genau richtig! … Und? Am Wochenende schon was vor?“, pustete er in seine Tasse.
„Nein. Anna ist erkältet und will sich lieber auskurieren und ich muss ein paar Hausaufgaben erledigen. Danke übrigens, dass du mir das Einkaufen erspart hast.“
Er holte tief Atem und schüttelte dann entschieden den Kopf.
„Dafür solltest du dich nicht bedanken müssen, Cam! Ich lass dich mit dem ganzen Haushaltskram ganz schön hängen, oder? Du warst vorgestern auch schon wieder für mich in der Reinigung. Deine Freizeit ist ziemlich spärlich …“
„Das geht schon, ich mach das gerne, echt. So riesig ist das Haus ja schließlich nicht und im Winter hab ich eher selten Gartenarbeit.“
Mich nach hinten reckend angelte ich die beiden ersten Toasts aus dem Toaster, um sofort wieder neue nachzuschieben.
„Das entschuldigt es nicht, denn du siehst ständig nach dem Rechten, wäschst, bügelst …“
Die Butter schmolz auf dem noch warmen Brot und ich äugte misstrauisch zu ihm hinüber.
„Ich bin kein Aschenputtel, Dad! Kann es sein, dass irgendwas hinter diesen Bemerkungen steckt?“
„Der Umstand, dass du im Sommer aufs College gehst?“, bot er an und belegte seinen Toast mit Käse.
„Der Umstand, dass du mit Mom geredet hast? Drei Stunden lang? Viele Telefonate in den letzten Monaten?“, konterte ich schnaubend.
Er hielt inne.
„Erwischt! Aber zu meiner Verteidigung: Nicht ausschließlich, weil ich mit Shannon gesprochen hab. Mir ist das auch ohne sie endlich klar geworden. Cam, ich bin in diesem Haushalt eigentlich der … na ja, nicht mehr der einzige Erwachsene, aber der, der die Verantwortung trägt. Tragen sollte. Die letzten Jahre waren nicht eben leicht für dich und ich hab es dir noch ein bisschen schwerer gemacht.“
„Hör auf damit, ich komme sehr gut klar, okay?“, versetzte ich erbost. „Ich mach das gerne, es ist mein Beitrag, und das College zählt nicht, ich wohne schließlich weiterhin hier zu Hause, ich hab’s nicht weit.“
„Das ändert nichts daran, dass ich dich hab hängen lassen“, widersprach er. „Du hast kaum Zeit für Freunde.“
„Anna beschwert sich nicht. Und andere Freunde hab ich nicht“, fiel ich ein. „Jedenfalls keine Richtigen, es sind eher Bekannte.“
„Solltest du vielleicht aber haben! Und auf dem College werden neue dazukommen. Also: Ich habe für mich selbst ein paar neue Regeln aufgestellt und zu denen gehört, dass ich ab sofort ein paar Dinge übernehme. Dazu gehört der wöchentliche Einkauf, das Aufräumen und für den Anfang wechsle ich mich mit dir beim Putzen ab und fahre zur Reinigung. Meine Hemden kriege ich schon selbst gebügelt, schließlich hab ich das früher auch geschafft. Aber wenn du vorerst das Waschen übernehmen könntest … Ich fürchte, dass ich sonst mit bonbonrosa Hemden und eingelaufenen Krawatten zur Arbeit gehen würde.“
„Krawatten wäscht man nicht, man bringt auch sie in die Reinigung. Genau wie deine Anzüge. Was mich daran erinnert, dass ich zwei davon noch abholen muss, sie waren noch nicht fertig“, fiel ich ihm ins Wort.
„Das erledige ich nachher.“
Sein wie mein Frühstück war noch immer unangetastet und jetzt ließ ich mich ruckartig nach hinten gegen die Lehne fallen.
„Das klingt, als ob du annimmst, dass mich das überfordert! Ich bin nicht über…“
„Das weiß ich. Aber es ist nicht richtig, Cam! Und offen gestanden ist das kein Thema, das zur Diskussion steht, es ist … richterliche Anordnung, Kraft meines Amtes. Eigentlich hatte ich damit gerechnet, dass du ein wenig erfreuter reagieren würdest. Du überraschst mich.“
„Weil ich das alles gerne übernommen hab! Ist das so schwer zu verstehen? Für dich bleibt immer noch genug. Ich bin noch immer eine miserable Köchin und du bist derjenige, der das Geld verdient und mir das College bezahlt.“
„Nicht alleine …“ dehnte er unbehaglich und jetzt riss ich die Augen auf.
„Mom! Deshalb!“
„Sie beteiligt sich daran, Cam, das war von Anfang an so vorgesehen. Der Umstand, dass sie mich … uns verlassen hat, beinhaltete nicht, dass sie dich aufgeben wollte. Von mir wie von ihr kamen monatliche …“
„Nicht aufgeben? Moment!“, hob ich die Hand und unterbrach ihn. „Nur, um das klarzustellen: Sie war diejenige, die urplötzlich und ohne jede Erklärung verschwand, oder? Sie war feige, hat nur einen Zettel hinterlassen! Die Erklärung hast du für sie übernehmen müssen und selbst von Mick hab ich auf Umwegen erfahren!“
„Ich weiß und ich entschuldige das auch nicht. Ich will auch nicht mit dir streiten, aber rede mit ihr darüber, Cam, nicht mit mir. Nur ein Tipp: Denk mal darüber nach, ob du nicht jeden Erklärungsversuch abgeblockt hast, nachdem du begriffen hast, dass sie nicht zurückkommen würde, weil da auf einmal ein anderer Mann war.“
Mein Unterkiefer sank schön langsam nach unten und erst als er sich vorbeugte und seinen Arm ausstreckte, um seine Hand neben meinem Teller auf den Tisch zu legen, klappte ich ihn wieder zu.
„Nein, das war kein Vorwurf! Du warst noch ein Kind und hattest jedes Recht, so zu reagieren! Aber inzwischen sind ein paar Jährchen vergangen …“
„Schon kapiert, Dad, ich werde darüber nachdenken!“, schnappte ich zurück, schob den Stuhl zurück und nahm Teller und Tasse. „Wenn du nichts dagegen hast, esse ich oben, ich hab noch eine Menge Hausaufgaben zu erledigen.“
Seufzend sank er wieder nach hinten.
„Klar. Wir sehen uns später.“
Ohne ein weiteres Wort verließ ich die Küche. Mom war noch nicht einmal wieder… Nein, sie war nicht mehr Mitglied unserer Familie, aber dennoch mischte sie sich ein!
Es war kurz vor Mittag, als ich meine Aufgaben erledigt hatte. Dank der Ablenkung und dank lauter Musik hatte ich es geschafft, keinen weiteren Gedanken an das Gesprächsthema vom Morgen zu verschwenden. Als ich jetzt vom Schreibtisch aufstand, mich streckte und einen Blick aus dem Fenster warf, registrierte ich erfreut, dass der Himmel endlich aufzureißen begann und die Sonne alles in blendende Helle tauchte. Offenbar würde es ein toller Wintertag werden.
Dad war vorhin erst losgefahren, vermutlich zur Reinigung und zum samstäglichen Tanken. Den Kopf drehend und in die andere Richtung blickend bemerkte ich nun auch, warum er Mrs. Pear seine Hilfe angeboten hatte: Von hier oben konnte ich beobachten, wie sie über den frisch geräumten Weg zu ihrem Van ging, die Seitentür zuschob, stattdessen die Heckklappe öffnete und umständlich einen von vielen Kartons herausnahm. Was immer er enthielt, er schien schwer zu sein und ich fragte mich nicht zum ersten Mal, weshalb sie sich nicht endlich eine Sackkarre zulegte, wenn sie unentwegt so viel herumtransportierte. Was immer sie ständig in diesen Kisten zum Haus und wieder heraus schleppte, es wirkte, als wäre sie permanent mit ihrem Ein- und Auszug beschäftigt.
Mein Frühstücksgeschirr schnappend tappte ich nach unten und ordnete es gleich in die erst halbvolle Spülmaschine ein, bevor ich mich umsah. Die Ordnung war noch immer vorhanden und ein Blick in den Raum hinter der angebauten Garage zeigte mir, dass Dad mutig die Wäsche aus der Maschine in den Trockner gestopft hatte. Offenbar und glücklicherweise ohne seine Hemden, denn die hingen auf Kleiderbügeln an der Leine. Anscheinend war er lernfähig.
… und ich gestand mir widerstrebend ein, dass er zumindest nicht ganz unrecht hatte. Vor Jahren schon hatte ich nach und nach alle anfallenden Haushaltspflichten übernommen, zuletzt und seit ich im Besitz eines Führerscheins und eines kleinen gebrauchten Seat war auch alle Einkäufe und Erledigungen.
Zum ersten Mal seit Langem stand ich daher an einem Samstag untätig herum und fragte mich, was ich als Nächstes tun sollte. Die Garage hatte ich erst letztes Wochenende gründlich ausgefegt und der Schnee war geräumt …
Ehe ich mich versah, stand ich im Flur und schob meine Füße in die Stiefel.
„Ganz klar: Anna hat recht, du leidest am Helfersyndrom, Cam!“, murmelte ich und zog den Reißverschluss der Jacke bis unters Kinn, bevor ich meinen Schal um den Hals wickelte. Sie hatte mich irgendwann einmal eiskalt erwischt und mir dies mit in die Seiten gestemmten Fäusten auf den Kopf zugesagt.
‚So was gibt’s wirklich, ich hab’s gegoogelt, Cam, keine Chance! Und sag jetzt nicht, dass das auf dich nicht zutrifft, denn offenbar kannst du schon gar nicht mehr anders! Wenn du allerdings für Freitag absagst, rede ich mindestens eine Woche lang nicht mit dir, kapiert?‘
Es war um eine Geburtstagsparty gegangen, glaubte ich mich zu erinnern. Noch dazu eine, die wider Erwarten Spaß gemacht hatte, auch wenn es mir zu voll und zu laut gewesen war.
Auf dem Weg die Straße hinunter zu Mrs. Pears Haus an der Ecke schob ich schnaubend die Hände in die Jackentaschen. Und zog sie sofort wieder heraus und rannte los, als ich sah, dass sie einen weiteren Karton auslud, unter deren Last sie beinahe zusammenzubrechen drohte.
„Warten Sie, ich fasse mit an!“, rief ich und kam gerade noch rechtzeitig, um zu verhindern, dass der Boden unter dem Gewicht aufging und der Inhalt auf dem Gehweg landen würde.
„Danke dir“, seufzte sie erleichtert und fasste nach. „Der ist wohl doch ein wenig zu voll, ich sollte es eigentlich besser wissen. Man lernt nie aus.“
„Schon gut. Wohin damit?“
„In die Garage, ich muss das Zeug noch durchsehen und vorsortieren. Das hier sind Bücher.“
Schnaufend legten wir den leicht ansteigenden Weg zu ihrer Garage zurück und nachdem wir den Karton neben einem ansehnlichen Stapel seiner Kollegen und einer Menge Gerümpel abgestellt hatten, stemmte sie die Hände ins Kreuz.
„Was haben Sie mit all dem Zeug vor, Mrs. Pear? Wenn ich fragen darf“, sah ich mich um. Es sah aus, als ob sie zu einem Garagenverkauf rüsten würde, zu dem sie auch noch Zeug von wer weiß wo anschleppte.
„Damit? Ich verkaufe es wieder und verdiene mir auf diese Weise schon seit einiger Zeit ein wenig Geld dazu, was denkst du? Zugegeben, nicht von Anfang an in diesem Umfang, ich hab mit Büchern, Schmuck und anderen Kleinigkeiten angefangen; es ist anstrengend und zeitraubend, aber es lohnt sich. Das hier alles hab ich zum Beispiel erst gestern für ein paar Dollar gekauft; die Leute waren froh, dass das Haus geräumt wird und sie einziehen können. Ich hab bei ähnlichen Gelegenheiten schon so manches Schätzchen gefunden“, lächelte sie zufrieden.
„Sie verkaufen das? Das wusste ich gar nicht!“
„Na ja, der Großteil läuft ja auch übers Internet, aber vieles auch auf Flohmärkten, an Antiquitätenläden, Antiquariate… Wenn du willst, sieh dich um, ich muss nochmal an den Van.“
„Ich helfe Ihnen“, begann ich, aber sie winkte ab.
„Was da jetzt noch drin ist, bleibt drin, das bringe ich morgen einem Käufer vorbei. Ich hol nur noch eine kleine Schachtel und schließe ihn ab, also schau dich ruhig um. Vielleicht gefällt dir ja etwas!“, deutete sie geschäftstüchtig.
Mäßig interessiert, allenfalls neugierig warf ich erst einen Blick in den Karton, den wir gerade hereingeschleppt hatten, dann besah ich mir die nichtverpackten Gegenstände, die dicht an dicht oder aufeinandergestapelt hier drin standen. Überwiegend Kleinmöbel und Dekorationsgegenstände, aber es waren überraschenderweise auch ein paar wirklich interessante Sachen dabei: Ein riesiges Buch mit dicken Pappseiten, das sich als ein uraltes Fotoalbum erwies, voll mit vergilbten Bildern aus dem letzten oder sogar vorletzten Jahrhundert. Ausnahmslos steife Männer in noch steiferen, akkuraten Anzügen mit hohen Kragen, fast noch steifere Frauen in engen, hochgeschlossenen, panzerartigen Kleidern, allesamt mit würdevoll erstarrten Mienen, mit dem Lineal gezogenen Scheiteln und fast noch akkurater sortierten, schmerzhaft straff aussehenden Steckfrisuren.
Dann fiel mir ein leerer Bilderrahmen ins Auge, von dem stellenweise die goldene Farbe abplatzte, was ihm erst das gewisse Etwas gab. Und ein schwerer Spiegel, der matt und dunkel wirkte, sowie mehrere unterschiedlich große Kistchen und Kästchen aus Holz, mehr oder weniger reich verziert. Auch ein großer Kleiderständer auf Rollen fiel auf: Angefangen bei einem alten, langen, cremeweißen Spitzenkleid mit Stehkragen und Schleifen bis hin zu einem schreiend bunten Hippie-Outfit war so ziemlich jede Mode darauf vertreten.
Ein weiterer Karton enthielt alte Schallplatten und CDs, einer noch mehr Bücher und so setzte sich dies fort. Ringsum an den Wänden stand alles voll und als sie nun zurückkam, in der Hand eine Hutschachtel, wollte ich mich schon verabschieden, aber sie winkte mich noch einmal heran.
„Nichts gefunden? Hier könnte was für dich dabei sein: Da drin ist Schmuck, der geht auf Flohmärkten meist gut weg. Wirf mal einen Blick rein!“
Sie stellte die Schachtel ab, zog ein dickes, dunkelblaues Tuch von ihrer Schulter und breitete es mit einem gekonnten Schwung über zwei der größeren, aufeinandergestapelten Kartons aus, um dann den Deckel abzuheben und den gesamten Inhalt vorsichtig darauf auszuleeren. Die wenigsten Stücke waren eingepackt oder eingewickelt oder steckten in kleinen Schächtelchen, doch innerhalb weniger Sekunden hatte sie auch diese alle geöffnet oder ausgepackt. Und gerade diese Stücke wirkten tatsächlich teurer als die anderen. Aber auch altmodischer oder zumindest sehr speziell, was den modischen Geschmack anging!
„Ähm … Danke, aber ich trage eigentlich keinen Schmuck, Mrs. Pear“, wand ich mich ein wenig, aber dann betrachtete ich doch halb neugierig, halb überrascht die recht ansehnliche Ansammlung, als sie sie mit wenigen Handgriffen und flinken Fingern geschickt ausbreitete.
„Hübsch, nicht wahr?“, lächelte sie und strich ihre langen schwarzen Locken hinter ihre Ohren. Noch eine Verkaufsstrategie? Ich konnte nur raten, doch sie trug selbst ebenfalls lange, schnörkelige Ohrringe. Sie war, wie ich wusste, alleinstehend weil verwitwet und halbtags in einer Apotheke angestellt – und überraschte mich mehr und mehr!
„Gestern hab ich endlich eine passende Schatulle mit vielen Fächern gefunden, da kann ich vieles hiervon reinlegen und muss es nicht immer wieder neu auf diesem Tuch verteilen, um es zu präsentieren. Und so was erlebt zurzeit eine kleine Renaissance, aber das hier ist echt und alt, wird so und in dieser Qualität heute kaum mehr hergestellt“, fuhr sie fort.
Ich hob eine Augenbraue und deutete auf einen schwarzen Ring, der rundum mit Runen versehen war, daneben einen mit einem Totenkopf.
Sie verzog das Gesicht.
„Okay, nicht alles, zugegeben. Das da gehört zu den Teilen neueren Datums, weshalb ich es auch vorsortieren muss. Manches sollte von einem Profi gereinigt werden, aber das überlasse ich meistens dem neuen Besitzer“, murmelte sie und schob schon die ersten Ringe, Ketten, Anhänger und Broschen hin und her, entwirrte das Chaos und strukturierte es zusehends. Sie bewies echte Routine.
Was sich mir hier bot, war allerdings auch in anderer Hinsicht ein heilloses Durcheinander. Neben echt und alt aussehenden Anhängern, in denen dunkelrote, blassweiße, blaue, grüne oder wie Diamantsplitter wirkende Steinchen oder Perlen schimmerten, sortierte sie zügig hübsche und hässliche Skarabäen aus Stein und Metall sowie Ankhs, die ägyptischen Henkelkreuze, auseinander. Weitere Anhänger, Ohrringe und Ringe mit Runen und Pentagrammen, Sternzeichenbildern und ähnlich symbolträchtige Schmuckstücke wanderten an die Seite, vor allem besagte verschnörkelten Stücke.
Die überwiegende Anzahl schien aus echtem, teils schwerem Silber gefertigt zu sein. Und obwohl bei einigen die Ketten fehlten oder gerissen waren, lagen zuletzt fünf unterschiedlich große und doch ansehnliche Grüppchen auf dem Tuch.
„Woher haben Sie das alles?“, wollte ich wissen und nahm das eine oder andere Teil in die Hand, um es näher zu betrachten. „Wo finden Sie so was?“
„Das ist unterschiedlich. Das meiste hiervon hab ich bei Versteigerungen und Hausräumungen wie der gestrigen erstanden: Ein Haus, dessen letzte Eigentümerin kinderlos verstarb und dessen neue Eigentümer – entfernte Verwandte – es einfach nur geräumt haben wollten und auf diese Weise noch ein paar Dollar daran verdienen konnten. Manchmal ist so was auch überraschend in einem Koffer, einer Jackentasche, einer Schublade oder einer Schachtel. Die Leute vergessen es darin. Dann muss ich jedes Mal den Verkäufer anrufen und fragen, ob er noch Interesse daran hat, aber das ist selten der Fall. Ein paar davon finde ich auf Flohmärkten, wenn ich mich dort umsehe. Manchmal kann ich dann zum Beispiel etwas zu einem passenden oder ähnlichen Satz ergänzen, der mir wieder mehr Gewinn einbringt. Manches bieten mir die Leute auch an, wenn ich selbst meinen Stand irgendwo aufgebaut habe und das sind dann oft die schönsten Stücke. … Und? Gefällt dir etwas davon? Lass dir ruhig Zeit.“
Sie wandte sich ab und kramte in einem weiteren Karton herum, aus dem sie jetzt nach und nach Bücher holte, den Titel und Umschlagtext studierte und sie in vier verschiedene, teils noch leere Pappkartons verteilte.
Ich senkte den Kopf und legte seufzend einen keltischen Lebensbaum wieder fort, um mehr aus Höflichkeit auch den Rest noch zu überfliegen…
Er löste sich von der Wand und trat näher, als sie sich mit eindeutig nur geheucheltem Interesse über das Sammelsurium an Schmuck beugte. Ihm entging keineswegs, dass sie es nicht wirklich betrachtete, dafür war ihr Blick viel zu oberflächlich und unaufmerksam, zu abwesend. Die Chancen standen schlecht …
Als jetzt jedoch ihr langer, locker geflochtener Zopf über ihre Schulter nach vorne rutschte, streifte er eines der viel zu großen, ovalen Stücke, die das Auge des Ra trugen, und schob es ein wenig zur Seite. Hätte er noch atmen müssen, hätte er denselben jetzt sicherlich angehalten, denn zum ersten Mal bemerkte er eine Reaktion: Sie runzelte die Stirn, warf erst mit einer ungeduldigen Bewegung den Pferdeschwanz wieder über ihre Schulter zurück und beugte sich noch ein wenig tiefer, um das Auge vollständig herunterzuheben und den darunterliegenden Anhänger mit Daumen und Zeigefinger zu ergreifen. So holte er nur bildlich gesprochen tief Luft, hielt den Atem an und starrte abwechselnd in ihr ernstes Gesicht und auf ihre Hand mit dem Anhänger.
„Du bist ganz sicher zu jung, um die Richtige zu sein, aber irgendwas daran sagt dir etwas, hab ich recht?“, murmelte er angespannt.
„Ähm … Mrs. Pear, was ist das hier?“, hob ich das eigenartige Teil an seiner stabilen Öse hoch. Ein ovales, aus Silber gefertigtes Stück von knapp drei mal vier Zentimetern Größe, das auf beiden Seiten einen ein wenig verdrehten Vogel mit langen Schwanzfedern zeigte. Eine Kette fehlte.
Sie richtete sich auf, ein Buch in der Rechten, vier weitere im linken Arm balancierend.
„Hm? Lass mal sehen …“, trat sie näher und hob die Augenbrauen. „Oh, das! Das Ding hab ich schon lange, eigenartigerweise interessiert sich niemand dafür. Ich bin nicht sicher, aber ich glaube, das soll ein Phönix sein. Sagt dir das was?“
„Dieser Vogel, der aus seiner eigenen Asche wiedergeboren wird?“
„Richtig.“ Sie hatte sich schon wieder halb abgewendet.
Ich betrachtete ihn erneut und wendete ihn dann. Die beiden Tiere würden sich ansehen, wenn sie auf der gleichen Seite wären, denn der eine sah nach links, der andere nach rechts. Sie waren nicht wirklich schön zu nennen, aber sie wirkten kunstvoll in ihren vielen, sorgfältig herausgearbeiteten Details und sogar die geschwungenen Federn…
„Woher haben Sie das?“
Ihre Augenbrauen wanderten überrascht noch ein wenig weiter nach oben.
„Keine Ahnung! Ich glaube, es war zwischen anderen Schmuckstücken, die ich mal gemeinsam in einer kleinen Kassette erworben habe. Gefällt es dir?“
Ich runzelte die Stirn.
Er trat noch einen Schritt näher an sie heran, um noch die kleinste Regung in ihrem Gesicht sehen zu können und sog – wieder nur sinnbildlich – heftig den Atem ein, als sie daraufhin zu erschauern schien. Ihre feinen Augenbrauen wanderten noch ein wenig weiter aufeinander zu.
„Also schön, spielen wir eine vage Möglichkeit durch: Komm schon, beantworte ihre Frage!“, murmelte er eindringlich, sich durchaus bewusst, dass sie ihn nicht hören konnte.
„Ich weiß nicht … Es hat was! Es ist nicht wirklich hübsch, aber … irgendwie … majestätisch! Sie wirken so würdevoll! Ein Phönix auf jeder Seite? Wissen Sie mehr darüber?“
Jetzt schnaubte sie und lachte leise. „Nein, tut mir leid. Mehr, als dass dieser Papagei darauf immer wieder verbrennt und aus seiner Asche aufsteigt, ist mir nicht bekannt.“
„Papagei!“, murmelte er ungehalten und verschwendete einen Moment darauf, dieser Mrs. Pear einen stechenden Blick zuzuwerfen.
„Ich recherchiere zwar hin und wieder mal ein wenig über die Sachen, die ich so kaufe und verkaufe, um den Kunden etwas darüber erzählen zu können, aber für das dort hab ich mir nie die Zeit genommen.
Ich sag‘ dir was: Es gehört dir, wenn du mir hilfst, eine Auswahl des altertümlichen Schmucks nett in die neue Schatulle zu verteilen und den Kleiderständer in eine Plane zu packen, in den Van zu tragen und dort zu verkeilen. Die Sachen werde ich am Montag einem Secondhand-Laden anbieten, ich möchte sie gerne loswerden.“
„Ich helfe Ihnen auch ohne Gegenleistung, Mrs. Pear. Und das hier ... Ich weiß nicht ...“, gab ich zurück und betrachtete erneut das Schmuckstück. Es wog schwer, war also sicher aus massivem Altsilber gefertigt und daher nicht ganz billig. Würde ich sie übervorteilen? Andererseits fehlte jeder Stempel, der es als echt ausgewiesen hätte, und sie schien es loswerden zu wollen. Okay, sie konnte tatsächlich bei dem unhandlichen Kleiderständer Hilfe brauchen.
„Du willst es weggeben? Na schön! Aber dann frag sie wenigstens, wann sie geboren ist! Los doch! Du hast das Symbol etliche Jahre mit dir herumgeschleppt und niemand hat sich dafür interessiert. Und jetzt … Himmel, frag sie schon! Ich kann nicht glauben, dass sie es ist, aber ich muss es wissen!“, zischte er Mrs. Pear zu, deren verkäuferische Aktivitäten er jetzt schon seit fast acht Jahren ertrug. Seit der Anhänger zusammen mit lauter Esoterikkram in einer kleinen Schachtel in ihre Hände gelangt war. Sie mochte sich nicht mehr daran erinnern, er jedoch sehr wohl!
Noch dichter an das Mädchen mit den langen braunen Haaren herantretend hob er die Hand und fuhr damit durch den Phönix.
„Kannst du das sehen, hm? Bist du die Richtige? Dann nimm ihn mit, komm schon!“
Ich öffnete den Mund, als das Auge des Vogels kurz rot aufzublitzen schien, dann war der Moment schon wieder vorüber und ich atmete langsam aus. Meine Fantasie spielte mir einen Streich.
„Du bist die Erste, die sich überhaupt dafür interessiert, also behalt es. Als kleine Anerkennung“, beharrte sie.
„Okay, meinetwegen. Ich sag ja: Das Ding ist nicht wirklich hübsch, aber es hat was!“, dehnte ich und lächelte schief, als sie nun breit grinsend die Schultern zuckte. Gleichzeitig fragte ich mich, ob ich es je tragen würde.
„Wenn du es sagst … Also schön, dann wollen wir mal!“, deutete sie auf den Kleiderständer und ich schloss meine Finger über dem Anhänger, bevor ich ihn tief in die Jackentasche schob. Oh ja, Mrs. Pear überraschte mich!
Ob sie es gesehen hatte? Sie musste es einfach gesehen haben!
Stumm sah er zu, wie die beiden Frauen sich mit dem schweren, unhandlichen Kleiderständer abmühten, und ballte die Hände zu Fäusten, weil er so wenig ausrichten konnte. Und als sie in den hinteren, beheizten Raum gewinkt wurde, um dort die von Mrs. Pear getroffene Vorauswahl möglichst dekorativ in die vielen leeren, mit gepolstertem Samt ausgeschlagenen Fächer zu sortieren, ging er vor ihr in die Hocke.
„Es wäre zu schön, um wahr zu sein, denn ich kann nicht noch einmal ein Menschenleben lang warten!“, flüsterte er unhörbar und sah zu, wie ihre schmalen Hände vorsichtig ein Stück nach dem anderen einsortierte. Fast andächtig!
„Danke für deine Hilfe, Cam. Ich werde mal sehen, ob ich noch ein Lederband oder eine schöne Kordel habe, dann kannst du dir den Wellensittich wenigstens auch umhängen.“
Sofort wehrte ich ab.
„Ich danke Ihnen, Mrs. Pear, es hat irgendwie sogar Spaß gemacht. Und nicht nötig, ich habe irgendwo noch so was rumliegen. … Wenn Sie nochmal Hilfe brauchen, sagen Sie einfach Bescheid. Wenn ich Zeit hab, komme ich rüber.“
Sie verzog ihren etwas zu breiten Mund zu einem sympathischen Grinsen und hob grüßend die Hand.
„Sei vorsichtig mit solchen Versprechen, du könntest auf jemanden treffen, der dich beim Wort nimmt!“
„Allerdings!“, grummelte er.
Ich lachte leise und lief dann ein wenig schneller die Straße hinauf, als ich Dads Wagen vorfahren sah. Offenbar gefiel es ihm gut in der Reinigung, denn ich konnte mich nicht erinnern, je so lange …
Oh! Schon klar, er war nicht nur in der Reinigung gewesen: Mom!
Sofort verlangsamte ich wieder, wartete misstrauisch ab, ob er alleine aussteigen würde, und beschleunigte erst wieder, als ich deutlich sehen konnte, dass niemand außer ihm im Wagen saß.
„Benimmst du dich immer so eigenartig? Wer ist das, hm?“, fragte er irritiert und passte sich ihrem Tempo erneut an.
Dad nahm die Bügel mit den Anzügen ein wenig umständlich aus dem Heck und beugte sich dann noch einmal vor, um etwas vom Rücksitz zu nehmen, also lief ich nun schneller.
„Hi Dad! Warte, ich helfe dir. Du hast ziemlich lange gebraucht“, nahm ich ihm die Anzüge ab.
„Dein Vater? Das ist euer Haus? Du lebst schon die ganze Zeit über hier in der Straße? Dann muss es ganz sicher mit deinem Alter zusammenhängen, du warst zu jung“, murmelte er und musterte erst interessiert das kleine Haus mit dem roten Dach und dann aufmerksam den Mann mit den hellbraunen Haaren und den braungrünen Augen. „Du siehst ihm nicht sehr ähnlich.“
„Danke. Ja, ich hab gleich noch ein paar Sachen erledigt“, zog er eine kleine Tüte heraus und schob sie unter seinen Arm, bevor er die Türen verriegelte.
„Ein paar Sachen …“, echote ich und marschierte neben ihm her die gemauerte Treppe zur Haustür hinauf. „Mom?“
Er lächelte schief.
„Würdest du es mir vorwerfen?“
Ich seufzte, als ich die Wahrheit auf seinem Gesicht las, und schüttelte dann den Kopf.
„Deine Mutter? Offenbar fehlen mir ein paar ganz grundlegende Informationen, allen voran, ob du die Richtige bist! Könntest du dir also bitte ein wenig Zeit für deinen neuen Anhänger nehmen, hm?“, seufzte er und folgte ihr ins Haus. „Weißt du eigentlich, wie zermürbend das hier ist?“
„Nein, würde ich nicht. Wie gesagt, es ist deine Entscheidung. Aber erwarte nicht, dass von jetzt an auf einmal alles eitel Sonnenschein ist, Dad! Das kann ich nicht, okay?“
„Das verlangt auch niemand, Cam. Ich sagte doch schon, dass du darüber in Ruhe nachdenken solltest. Aber vielleicht wäre das jetzt auch der geeignete Zeitpunkt, um ein paar Regeln aufzustellen.“
„Wie darf ich das denn verstehen?“, runzelte ich die Stirn, hängte erst die Bügel an die Garderobe und schob dann die Stiefel von den Füßen.
„Ich möchte, dass du mir ganz ehrlich sagst, wie ich in dieser Beziehung zukünftig mit dir umgehen soll. Ganz ernsthaft! Soll ich dir davon erzählen, wenn ich sie gesehen oder getroffen habe? Oder mit ihr telefoniert?“
„Verstehe! Sie lebt nicht hier bei euch.“
Ich seufzte lange und tief, dann schüttelte ich erst erneut den Kopf und zuckte die Schulter, hängte nachdenklich meine Jacke neben seine und schob zuletzt meine Hände in die Hosentaschen.
„Wenn ich frag, ist es okay, wenn du es mir sagst. Wenn ich mehr wissen will, frag ich weiter, ansonsten weiß ich noch nicht, was ich darüber hinaus wissen will. Nicht zu viel Information auf einmal, denke ich. Ansonsten … ist es natürlich okay, wenn du sie häufiger sehen willst“, begann ich, aber er unterbrach mich.
„Das finde ich gut, ehrlich. Also ja, ich war kurz bei ihr.“
„Alles klar!“, erwiderte ich betont lässig, ein etwas enges Gefühl in der Kehle. „Und was ist das da?“, deutete ich auf die kleine Tüte.
„Keine Chance, ich hab nämlich auch noch einen Weihnachtseinkauf getätigt!“, grinste er breit, schnappte sich die Anzüge und nahm zwei Stufen auf einmal, als er anschließend die Treppe hinauflief. „Was hältst du von einem Nudelauflauf zum Mittag?“, rief er noch.
„Viel! Aber du bist dran mit kochen, ich hab gestern schon die Küche gerockt!“
Seine Antwort war nicht zu verstehen, der Tonfall jedoch sehr wohl, er klang amüsiert.
Kichernd wollte ich mich schon abwenden und ins Wohnzimmer verschwinden, als mir der Anhänger wieder einfiel. Vielleicht sollte ich wirklich mal nach einer Schnur dafür suchen, aber zumindest sollte ich ihn aus der Jackentasche nehmen. Und ich würde versuchen, etwas über diese Unterart von Exoten-Papagei herauszufinden.
„Na endlich! Wie wäre es jetzt also, wenn du dich damit ein wenig befasst, hm?“
Das eigenartig hübsch-hässliche Stück in der Hand lief nun auch ich nach oben und in mein Zimmer. Dads gerufene Frage, ob ich ihm bei den Vorbereitungen helfen würde, beantwortete ich belustigt damit, dass ich bedauernd ablehnen müsse, auch weil ich erst noch etwas recherchieren wolle. Dann schob ich meine Zimmertür hinter mir zu und ließ mich zum zweiten Mal für heute an meinem Schreibtisch nieder, jetzt jedoch, um mein Laptop hochzufahren.
Gedankenverloren starrte ich den Anhänger an, während ich wartete, und fuhr zuletzt mit der Fingerspitze darüber. Er war massiv und jedes Detail war offenbar mit übergroßer Sorgfalt reliefartig aus dem Silber herausgearbeitet worden. Ich hatte absolut keine Ahnung davon, wie man Schmuck herstellte, aber ich war durchaus beeindruckt davon, wie genau darauf geachtet worden war, dass alles sehr plastisch und vor allem ausnahmslos mit runden Oberflächen gefertigt wurde. Nichts daran war flach und auch wenn es alt wirkte, waren bis heute sogar die feinen Konturen der Federn zu sehen und zu tasten, vor allem am Körper des Tieres. Und beide Seiten schienen sich exakt zu gleichen. Es war … eindrucks- und ausdrucksvoll!
„Was du da hast, ist kein hässliches Dekorationsstück, mach dir das klar!“, flehte er und nahm gleich neben ihrem Tisch Aufstellung. „Und in diesem Computer wirst du nichts darüber finden, denn es gibt heute kaum mehr jemanden, der mehr darüber weiß als die Sagen über den Phönix hergeben. Wiedergeboren aus seiner Asche. Verbrannt in seinem Nest“, erzählte er mit einigem Nachdruck. Aber ihre Aufmerksamkeit war schon auf den Bildschirm gerichtet und er musste hilflos zusehen, wie sie Zeit damit verschwendete, von einer Seite zur nächsten zu wechseln.
Was immer ich fand, es beschäftigte sich entweder mit den alten Griechen und Ägyptern, mit der Verwendung des Begriffes selbst oder mit dem Sternbild. Ein reiherartiger Vogel, der aus der Asche des Osiris ersteht, der am Ende seines drei- bis fünfhundert Jahre langen Lebens sein Nest baut und darin verbrennt. Übrig bleibt stets ein Ei, aus dem er wieder schlüpft. Ein Vogel, der sich bei Verletzungen selbst heilen kann, der alle fünfhundert Jahre am Todestag seines Vaters nach Heliopolis in Ägypten fliegt, aus Weihrauch ein Ei bastelt, das dessen Leichnam aufnehmen könnte und es zur Beerdigung in den Tempel trägt. Ein mystisches Tier mit vielfacher Verwendung in so mancher Literatur …
Zuletzt fand ich auch jede Menge an Bildmaterial, haufenweise mehr oder weniger hübsche Darstellungen des Vogels und auch Beispiele seiner Darstellung auf Schmuckstücken. Manche ähnelten entfernt dem, das ich in der Hand hielt, aber soweit ich es beurteilen konnte, war keines davon so … kunstvoll!
„Ich hab Mrs. Pear tatsächlich übervorteilt, fürchte ich“, murmelte ich und nahm den Anhänger erneut in die Hand, um ihn zu betrachten. Und zuckte, als ich erneut den Eindruck hatte, dass die winzige Mulde, die das Auge bildete, kurz rötlich aufleuchtete.
„Du siehst es, nicht wahr? Tu dir und mir einen Gefallen und leg es nicht direkt wieder fort!“, stöhnte er und fuhr erneut mit der Hand durch ihre und damit durch den Anhänger. Doch diesmal ließ sie ihn erschrocken auf den Tisch fallen und zog ruckartig die Hand zurück.
Beide Hände zu Fäusten geballt starrte ich ihn an. Das konnte nicht sein, das bildete ich mir nur ein. Suchend blickte ich herum, um festzustellen, ob sich irgendein rötliches Licht darin gespiegelt haben könnte, aber auf Anhieb konnte ich nichts finden. Also starrte ich noch einmal darauf hinunter und beugte mich mit angehaltenem Atem langsam vor.
„So funktioniert es nicht, du musst ihn in der Hand halten oder umhängen! Verstehst du das nicht?“, stieß er ungeduldig hervor. „Bitte, nimm ihn wieder auf!“
„Cam?“
Ich zuckte schon wieder zusammen und atmete dann erleichtert auf. Dad.
„Ja?“
„Nudeln, Paprika, Tomaten und Käse? Dazu Salat?“, tönte es laut von unten.
„Klingt gut!“, rief ich zurück und ließ mich mit klopfendem Herzen nach hinten sinken. Okay, für den Moment hatte ich genug von Feuervögeln!
Abwechselnd fasziniert, frustriert und ungeduldig sah er ihr den Rest des Tages zu, wie sie mit ihrem Vater Essen zubereitete, es anschließend zusammen mit ihm verzehrte, Hausarbeiten verrichtete und am frühen Abend mit dem Telefon am Ohr nach oben lief. Telefone!
„Anna? Hi, wie geht es dir? Hab ich dich geweckt?“
„Hi. Nein, hast du nicht. Und nicht besonders“, kam es näselnd und heiser. „Mich hat’s voll erwischt, fürchte ich. Das hab ich nur Tim zu verdanken, verdammt! Der Blödmann hat mich angesteckt!“ Sie brach hustend ab.
„Du Arme! Aber dafür kann er ja wohl nichts, oder? Oder lass mich die Frage anders stellen: Hast du dich gewehrt, als er dich geküsst hat?“
„Sehr richtig, er hat mich geküsst, nicht umgekehrt! Er hätte mir sagen können, dass er irgendwas ausbrütet, er weiß genau, dass ich mir immer alles einfange. Hoffentlich hab ich dich nicht auch noch angesteckt!“
„Ähm … Ich kann mich nicht erinnern, mit dir geknutscht zu haben!“, gab ich grinsend zurück.
„Sei froh, dass du außer Reichweite bist, denn sonst hätte ich dir jetzt einen Tritt verpasst! Du hast meine Cola ausgetrunken, schon vergessen?“
Ich ließ mich seufzend auf mein Bett fallen und starrte an die Decke.
„Ich nehme an, dass du am Montag nicht zur Schule kommst?!“
„Sieht schlecht aus, ja. Hast du schon für den Test in Bio gebüffelt?“, krächzte sie. „Gott, ich komme hier um vor Langeweile! Alle behandeln mich wie eine Aussätzige und mein Zimmer wie eine Quarantänestation!“
„Na ja, niemand will kurz vor Weihnachten im Bett landen. Abgesehen von dir und Tim“, stichelte ich wenig nett.
„Danke auch!“, kam es prompt.
„Tut mir leid, echt. Ich gebe dir die hochoffizielle Erlaubnis, es mir mit gleicher Münze heimzuzahlen, falls ich mich angesteckt haben sollte, okay? Und du darfst noch ein paar Zinsen obendrauf setzen.“
„Wenn du die Richtige bist, muss es nicht so weit kommen! Aber wer hört hier schon auf mich!“, grummelte er und blieb mit verschränkten Armen neben ihrem Bett stehen, um sie etwas eingehender zu betrachten.
Sie war hübsch! Sie war eigensinnig und dickköpfig, frech, musste immer das letzte Wort haben, war offenbar nachtragend und unversöhnlich, was ihre Mutter anging – wenn er auch einschränkend eingestand, dass er deren Geschichte noch nicht kannte – und darüber hinaus … hilfsbereit, wie es aussah. Und hübsch. Und zu jung, ganz sicher zu jung! Wie alt sie wohl war? Siebzehn? Ihrem Benehmen ihrem Vater gegenüber nach zu schließen eher sechzehn, ihrem Aussehen nach vielleicht achtzehn oder neunzehn. Zwanzig vielleicht sogar. Er trat zurück und lehnte sich an die Wand, um weiter zuzuhören.
„Ich nehme dich beim Wort, wart’s ab“, hörte ich.
„Du klingst echt nicht gut. Fieber?“
„Ein bisschen, hält sich in Grenzen.“
„Und Tim?“
„Mit dem hab ich vorhin telefoniert, dem geht es nicht viel besser. Geschieht ihm recht!“
Ich lachte leise. Tim war in unserem Jahrgang und leidenschaftlicher Schwimmer, der schon so manchen Wettbewerb gewonnen oder es zumindest auf einen der ersten drei Plätze geschafft hatte. Diesmal hatte er offenbar den Fehler gemacht, seine Mütze irgendwo zu verschusseln – etwas, das sein Trainer ihm immer wieder vorhielt: seine Schusseligkeit. Als Sportler mit Ambitionen, vielversprechenden Aussichten auf eine erfolgreiche Zukunft und mit der Absicht, sich um ein Sportstipendium zu bewerben, habe er seine Gedanken gefälligst zusammenzuhalten und sich nach dem Training in dieser Kälte warmzuhalten, vor allem seinen Hohlkopf.
Das Training würde er sich nun für ein paar Tage abschminken können.
„Er hätte sich die Haare längst wieder kurz schneiden sollen“, pflichtete ich ihr bei. Diesmal schien sie jedoch zu zögern.
„Das ist meine Schuld. Ich fand es irgendwie … sexy, mal in weiche Haare anstelle von kurzen Stoppeln zu fassen.“
„Dann gehören dir die Vorwürfe!“
„Hmpf!“
„Darf ich ihm das sagen? Sexy?“
„Kannst du dir sparen, ich habe diese Worte verwendet, um ihn dazu zu überreden. Sein Trainer ist nämlich offenbar wenig erbaut und mit Schwimmkappe sieht er echt blöd aus. Auch wenn der Rest von ihm mich immer noch anmacht, ist das Ding zusammen mit der Brille irgendwie ein echter Abtörner. Ich sollte ihm vermutlich nicht mehr zusehen bei seinen Wettkämpfen.“
Ich lachte leise, denn wann immer möglich saß sie in der vordersten Reihe; die beiden waren unzertrennlich und hatten gemeinsam Bewerbungen an die gleichen Universitäten gerichtet. Wo immer er landen würde, sie würde mitgehen, soviel war sicher.
Jetzt jedoch schnaubte sie.