"Fehde der Schattenwelten" und "Erbin des Schattenjägers" - Kerstin Panthel - E-Book

"Fehde der Schattenwelten" und "Erbin des Schattenjägers" E-Book

Kerstin Panthel

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Beschreibung

Zurück aus Irland lernt Germaine Benjamin Willow kennen, einen reinrassigen Vampir, der auf der Suche nach einer neuen Heimat ist. Sein mal lebenshungriges, mal geheimnisvolles Wesen übt einen eigentümlichen Reiz auf sie aus, doch so offen er sich auch gibt, er verschweigt etwas. Kann Germaine ihren Gefühlen trauen? Kann sie ihm trauen? Immerhin hat sie erst bei ihrer Rückkehr erfahren, welche unvorstellbaren Dinge Ashton McPherson getan und dass er einen weiteren Sohn hat: Angus' unbekannten Halbbruder, der eine nicht zu unterschätzende Bedrohung für sie alle darstellen könnte. Ist es Benjamin? Selbst für Phoebe ist er nicht zu durchschauen. *** Lilith White weiß nichts von ihrer Verwandtschaft mit John Aidan Dwyer. Noch weniger ahnt sie von ihrem Erbe, das bald ihr gesamtes Leben dramatisch verändern wird. Dies und schicksalhafte Begegnungen in der Vergangenheit sowie eine fatale Entscheidung haben ihren Weg schon vor ihrer Geburt vorgezeichnet. Ihre Mutter weigert sich dennoch strikt, etwas über ihre Familienchronik preiszugeben. Wie passt der plötzlich aufgetauchte Gideon Lewellyn ins Bild? Er weiß mehr als er sagt, zieht Lil zunehmend in seinen Bann ... und entpuppt sich als Vampir. Nur zu bald steht sie auch Rhiannon gegenüber - das Erbe in ihr erwacht endgültig! Doch wie kann das sein, wenn doch die Mächte ihr Wort gaben, Aidan sei der letzte Jäger der O'Brians gewesen? Lilith muss mehr als eine Entscheidung treffen.

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Für meinen Vater

‚NICHT FÜR DIE EWIGKEIT, NICHT FÜR ALLE ZEITEN WERDEN WIR SKLAVEN UNSERER WESENHEIT SEIN! NICHT DU NOCH ICH WERDEN ES ERLEBEN, ES WERDEN DIE KINDER UNSERER KINDER UNSERER KINDER SEIN, DIE DIE FRÜCHTE DIESES BAUMES KOSTEN DÜRFEN. UND SO PROPHEZEIE ICH EUCH EINE ZEIT DER EINSICHT UND DES WANDELS: EINE LEUCHTENDE WIRD KOMMEN, DIE SCHATTENWESEN VON IHREM HALBLEBEN ZU ERLÖSEN, ZU VERBINDEN, WAS GETRENNT UND ZU SCHEIDEN, WAS GEEINT! SIE WIRD ZWÄNGE AUFHEBEN UND PFORTEN AUFSTOßEN, DURCH DIE ZU GEHEN NUR DIE BERUFEN SIND, DIE GLEICHEN SINNES SIND!’

AUS DEN FRÜHEN PROPHEZEIUNGEN DES NAMID D. Ä.

‚ES IST UNMÖGLICH, DAS LICHT RICHTIG ZU WÜRDIGEN, OHNE DAS DUNKEL ZU KENNEN!’

QUELLE UNBEKANNT

Inhaltsverzeichnis

Kerstin Panthel: „Fehde der Schattenwelten“

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Epilog

Kerstin Panthel: „Erbin des Schattenjägers“

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Epilog

Kerstin Panthel

„Fehde der Schattenwelten“

Bruderkrieg

und

„Erbin des Schattenjägers“

Band 4 + 5 der Reihe im Doppelband

Handlung, Namen und Personen der folgenden Geschichte sind frei erfunden; Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen und realen Handlungen sind unbeabsichtigt und rein zufällig.

Prolog

Welche Motive treiben Menschen an? Welche Ziele verfolgen sie?

Je mehr Menschen man diese Frage stellt, desto mehr unterschiedliche Antworten erhält man. Aber vielen … nein, sicher den meisten Menschen ist doch etwas gemeinsam, wie eine Grundströmung, ein roter Faden, etwas, was noch hinter alldem steht, was sie aufzählen. Es ist nicht das, was sie aus diesen oder jenen Gründen anhäufen, erreichen, erringen oder erwerben wollen, es ist das, was sie zuletzt damit verbinden: Wenn ich dies erst besitze, wenn ich jenes erreicht habe, dann werde ich glücklich sein! Wenn ich das habe, bin ich glücklich!

Glück! Sie suchen ihr Quäntchen Glück und nur die Definition verändert sich von Person zu Person, variiert manchmal nur um eine Kleinigkeit …

Es mochte durchaus sein, dass ich falsch lag, aber ich glaubte immer und glaube noch, dass sie alle offenbar letztlich danach suchen, ohne daran zu denken, dass mitunter der Weg dorthin schon das Ziel sein oder dass man auf der Suche naheliegende Dinge bisweilen aus dem Blick verlieren könnte und so blindlings über das Ziel hinausschießt. Eine Erkenntnis, die auch mir erst sehr spät kam und ich konnte nur hoffen, dass es nicht zu spät war. Denn auch ich versuchte offenbar schon zeitlebens, einen Zipfel vom Glück zu erhaschen.

Lief auch ich somit schon zeitlebens einem Trugbild hinterher und erkannte nicht, was ich schon besaß? Denn die Frage sollte wohl auch lauten: Gibt es ‚das Glück’? Oder geht nicht die Suche irgendwann wieder von vorne los?

In den entscheidendsten Sekunden meines Lebens musste ich mich daher zuletzt fragen, wie ich persönlich mein ‚Glück’ würde definieren wollen.

Hatte ich zu viel gewollt oder sogar nach den falschen Dingen gesucht? Das konnte ich nicht glauben, doch wenigstens hin und wieder hätte ich vielleicht besser innehalten und mich fragen sollen, ob es nicht genügen und was es für mich beinhalten würde, zufrieden zu sein. Denn Zufriedenheit war etwas, was mitunter sogar in der Lage sein könnte, Glücksmomente aufzuwiegen. Oder sogar schwerer zu wiegen!

Nun, ich hatte mich die meiste Zeit meines Lebens als zufriedenen Menschen betrachtet! … Korrektur: als zufriedenen und oft glücklichen Halbmenschen. Und Halbvampir. Es gab in der Tat vieles, worüber ich glücklich und wofür ich dankbar war, nicht zuletzt auch dafür, dass es inzwischen sogar unter den Menschen solche gab, die mich mochten, die mich als das akzeptierten, was ich nun mal war. Dies von meinem eigenen Bruder zu erwarten, war selbstverständlich. Bei Meinesgleichen hatte ich bisher immer gedacht, wenigstens Akzeptanz voraussetzen zu dürfen …

Doch so wie es aussah, lernte ich jetzt, in ebendiesen entscheidendsten und erkenntnisreichen Sekunden meines Lebens, die Kehrseite der Medaille kennen und zum jetzigen Zeitpunkt konnte ich nicht sagen, ob ich noch lange genug leben würde, um diese erneut zu wenden.

Denn in seinen Augen lag blanker Hass.

Kapitel 1

Der Sommer hatte seinen Höhepunkt überschritten und es wurde so langsam Zeit, Beverly, Ellen und Roy von meiner Anwesenheit zu befreien. Möglichst, bevor sie mich rauswerfen würden.

Bev hatte im Juni einen gesunden, kräftigen Jungen zur Welt gebracht: Aidan Connor O’Donnel, den jüngsten Spross einer sehr alten Vampirlinie – und den letzten Sohn von Connor Braeden O‘Donnel.

Ursprünglich hatte er als ersten Vornamen den Namen John tragen sollen, aber seit den Ereignissen kurz nach Connors Tod war aus John Aidan Dwyer, dem zweiten Namensgeber ihres Sohnes, ein im wahrsten Sinne des Wortes anderer Mensch geworden. Er wurde seitdem von allen in die Geschehnisse Eingeweihten und allen direkt Beteiligten nur noch mit Aidan angeredet, um dieser Veränderung auch in rein äußerlicher Form Rechnung zu tragen.

Genau genommen hatte Rhiannon damit begonnen und alle anderen hatten sich dem angeschlossen. Jedenfalls änderte Beverly daraufhin den Namen ihres Sohnes ebenfalls und meinte, dass Connor damit sicher einverstanden gewesen wäre.

Als dieser im Dezember des letzten Jahres starb … Ich sollte wohl besser sagen: Als er sich freiwillig geopfert hatte, um Rhiannons Leben zu retten und für unser gemeinsames Friedensbündnis einzutreten, war ich zum ersten Mal seit dem Tod meiner leiblichen Eltern wieder zusammengebrochen. Unfassbarerweise und buchstäblich. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich mich eigentlich als starke Frau, als starke Persönlichkeit betrachtet. Offenbar hatte ich mich in meiner Naivität überschätzt und noch heute trug ich daher – wenn auch nicht nur deshalb – innerlich schwer daran, wie schwach ich mich nach dem Erhalt dieser Nachricht gegeben hatte und dass ich es noch nicht einmal fertiggebracht hatte, zu Connors Beisetzung herzukommen.

In meinen Augen war es keine und gab es auch keine Entschuldigung, doch es war erneut gewesen, als ob mir mit seinem Tod eine weitere Lebensader abgeschnitten worden wäre, die auch mich gehalten und getragen hatte, mich hatte wachsen lassen! Connor war – zeitlich gesehen – länger ein Vater für mich gewesen als es mein biologischer Vater damals hatte sein können. Nicht, dass ich ihn mehr oder meinen wirklichen Vater deshalb weniger geliebt hätte, aber der Erhalt dieser Nachricht war ein unglaublich schmerzhafter Schicksalsschlag. Connor war eines der letzten Bindeglieder zu meinen Eltern gewesen – und nun war er unwiederbringlich fort. Eine tiefe Lücke, von der ich noch immer nicht wusste, wie ich sie wieder füllen sollte und die ich beständig vor allen um mich herum geheimzuhalten versuchte, klaffte seither irgendwo in meinem Inneren.

Und danach hatte ich mich mehr als alles andere davor gefürchtet, Beverly, Ellen und Roy in die Augen sehen zu müssen und darin das gleiche Leid zu sehen, wie ich es innerlich empfand! Nein, noch größeres Leid, das zu lindern ich nicht in der Lage sein würde! Ellen und Roy standen mir so nahe wie leibliche Geschwister, was mein Fehlen nur noch schlimmer machte – ich war feiger gewesen als jemals zuvor in meinem Leben!

Vier Monate hatte ich gebraucht, um mich dazu durchzuringen, hierher zu fliegen – und damit auch dazu durchzuringen, dann persönlich Aidans Bekanntschaft zu machen, der in seiner ehemaligen Rolle als Jäger damals Rhiannon angegriffen hatte. Ich wusste genau, ich wusste nicht erst seit Phoebe und ihrem Grandpa Franklin George Forester ganz genau, dass er machtlos gewesen war gegen das, was da mit ihm geschah! Nicht zum ersten Mal hatte ich erlebt, was diese Mächte, Kräfte und Fähigkeiten mit einem Menschen anstellen konnten und Aidan hatte sich weiß der Himmel länger und stärker und erfolgreicher dagegen gewehrt als irgendjemand sonst! Aber Connor hatte sich während Aidans letzter Attacke gegen Rhiannon wider unsere Gesetze zwischen die beiden geworfen … und ich hatte bohrende Angst, dass mein Herz etwas anderes sagen könnte als mein Verstand.

Es war Roy, der mich nach diesem persönlichen Eingeständnis schon bei meiner ersten Ankunft im Mai behutsam und verständnisvoll an diese Thematik heranführte, mir Aidan vorstellte – und mir auch da hindurch half! Mit dem Ergebnis, dass ich Aidan nach meinen anfänglichen, durchaus ängstlichen Vorbehalten aus ganzem Herzen und ohne jeden Groll sehr bald in den Kreis meiner Freunde aufnehmen konnte.

Eine neue Erkenntnis ging zusätzlich damit einher, die mich mehr irritierte als ich vor mir selbst eingestand: Aus dem jungen Mann Roy, den ich praktisch schon mein Leben lang kannte, war in den vergangenen Monaten, in denen ich ihn nicht gesehen hatte, ein zutiefst ernstes, verantwortungsbewusstes Familienoberhaupt geworden. Er war jemand, an dem ich im Laufe meines Aufenthaltes hier erstaunt viele neue Seiten bemerkte, der seit seinem Weggang nach Australien und somit innerhalb verhältnismäßig kurzer Zeit gelernt hatte, genau wie sein Vater vor ihm eine ungeheuer ruhige Verlässlichkeit auszustrahlen. Und er war es auch, der mich im Laufe der Wochen davon überzeugte, dass mein Fernbleiben im Winter bei allen hier auf tiefes Verständnis gestoßen war. Mehr, als ich es mir auch nur im Entferntesten hätte ausmalen können!

Mehr, als ich verdient hatte, denn meine zweite Familie würde nach wie vor für mich da sein, auch ohne Connor. Und ich wieder für sie.

Inzwischen war ich seit annähernd vier Monaten hier und es wurde allerhöchste Zeit, an meine Heimkehr zu denken. In ein paar Stunden ging mein Flug von Dublin aus über London zurück nach Hause, aber schon seit Tagen verspürte ich eine eigenartige Ruhelosigkeit und Unzufriedenheit; etwas, was ich von mir in dieser Weise nicht kannte. Etwas, das mich noch kurz vor meinem Abschied nach draußen und zu einem etwas einsam gelegenen Platz auf einem der Hügel der Umgebung getrieben hatte. Hier konnte ich ungestört nachdenken. Und hier wurden mir beim Blick auf das Anwesen der O’Donnels auch die Gründe für meine Rastlosigkeit klar: Ich musste gehen, um mein eigenes Leben zu beginnen und würde doch nach meinem Abschied nicht nur Connor, sondern auch Irland, meine zweite Heimat, vermissen! Wenn ich ehrlich war, war es mir wie Dorian mehr Heimat als jedes andere Land, da ich hier nach dem Tod meiner Eltern neue Wurzeln gefunden hatte – unabhängig davon, wo wir gemeinsam mit ihnen in der Folgezeit gelebt hatten.

Noch mehr würde mir jetzt meine zweite Familie fehlen: Bev, Ellen, Roy … neben meinem Bruder Dorian diejenigen, die dem Begriff von Familie auch rein faktisch am nächsten kamen, Ellen und Roy waren nun einmal wie wir. Doch auch Phoebe, meine Schwägerin, und deren Cousine Eve … Sie waren mir wie zwei Schwestern geworden, die ich ebenso vermissen würde, wohin ich auch gehen würde. Die Größe des Planeten Erde war zwar mit Beginn der Luftfahrt geschrumpft, aber manchmal kam sie einem immer noch riesig vor. Meistens dann, wenn man nicht alle geliebten Personen gleichzeitig um sich haben konnte.

Mochte auch die Hoffnung auf eine bessere Zukunft als Lichtblick am Horizont stehen, die vielen Veränderungen, die in den letzten Monaten eingetreten waren, machten den Abschied diesmal noch schwerer.

Roy war mein Verschwinden zuerst aufgefallen; natürlich hatte er mich schnell aufgespürt und kam jetzt den Hügel hinauf.

„Germaine? Alles okay?“

„Hi. Ja natürlich, alles in Ordnung. Willst du dich zu mir setzen?“

Er ließ sich im Schneidersitz neben mir auf den Boden fallen.

„Du bist so still! Schon die ganzen letzten Wochen warst du so völlig anders als sonst, irgendetwas ist also doch! Möchtest du darüber reden?“

Die dahinter steckende Frage war unüberhörbar. Ich seufzte. „Ich bin schon zu lange hier! Und du bist zu scharfsichtig!“

Er zuckte schweigend die Schulter und sah mich geduldig abwartend an.

„Aber du hast recht, ich … fühle mich rastlos! Wie soll ich dir das nur erklären? Ich … bin nicht nur hier schon zu lange gewesen – ein echtes Wunder, dass ihr mir nicht schon längst meine Koffer vor die Tür gesetzt habt! – ich bin überall schon zu lange: Zu lange mit Dorian alleine gewesen, zu lange bei ihm und Phoebe, sogar nach deren Hochzeit noch zu oft. … Es ist, als ob ich auf einmal nicht mehr weiß, wohin ich gehöre! Ich bin eigentlich noch nie wirklich alleine gewesen in meinem Leben, aber ich weiß, dass es so nicht weitergehen kann.“

Ich sah, dass er zu einem Widerspruch ansetzte, aber ich kam ihm zuvor. „Nein, Roy, ich weiß, dass ich überall und jederzeit und allen willkommen bin. Das ist es nicht.“ Ich suchte nach Worten. „Jetzt, wo uns buchstäblich die Welt offensteht, weil Dorian und ich unsere Jäger nicht mehr fürchten müssen, muss ich endlich herausfinden, was ich mit meinem Leben anfangen will. Ich muss endlich meinen Weg finden, den von Germaine! Ich habe das Gefühl, ich war bisher immer ‚nur’ Dorians Schwester oder Phoebes Schwägerin oder Eves und Angus‘ Freundin … Ich muss endlich nach mir suchen. Mein Problem ist nur, dass ich nicht weiß, wo ich anfangen soll! Verstehst du, was ich sagen will? Ich fürchte, ich kann es überhaupt nicht richtig ausdrücken.“

Er nickte und mit einem wehmütigen Lächeln, das sogar seine Augen einen Ton dunkler werden ließ und mit dem er seinem weisen, verstorbenen Vater noch ein wenig ähnlicher sah, griff er nach kurzem Zögern nach meiner Hand und drückte sie, hielt sie fest.

„Ich verstehe dich besser als du denkst. Wir alle definieren uns lange Zeit über alles Mögliche: Über unsere Blutlinie, unsere Familie, unsere Vorbilder, über andere, die wie wir sind…Wenn sich dann deren Leben urplötzlich ändert oder wir, aus welchem Grund auch immer, plötzlich spüren, dass es an der Zeit ist, ein eigenes Leben zu beginnen, dann müssen wir feststellen, dass wir manchmal versäumt haben, an unserer Definition von uns selbst zu arbeiten!“

„Ja! Ja, genau! Du drückst es viel besser aus als ich.“, nickte ich, sah erst ihn an, dann auf unsere Hände und betrachtete rasch den Horizont.

Eine leise Verlegenheit machte sich in mir breit. Früher, als er noch der ‚alte’ Roy gewesen war, wäre seine Geste mir weit weniger persönlich, schon gar nicht intim erschienen, aber jetzt, wo sein Wesen diese neue Tiefe hatte …

Er musste meine Verlegenheit bemerkt haben, denn er tat einen tiefen Atemzug, ließ meine Finger wieder aus seiner Hand gleiten und wandte ebenfalls seinen Blick von mir ab.

„Germaine, im Laufe des letzten Jahres ist so ungeheuer viel passiert, dass unser aller Leben völlig auf den Kopf gestellt wurde! Damit zurechtzukommen ist alleine für sich genommen schon nicht einfach, für keinen von uns. Ich bin zwar kaum älter als du und bestimmt nicht klüger, aber ich glaube, dass Vater dir jetzt gesagt hätte, dass du dir Zeit lassen sollst, dich selbst zu finden! Und egal, wohin du gehst und damit beginnst, du wirst dich im Grunde überall finden! Selbst die Suche ist schon eine Erkenntnis und nur wer sich selbst sucht, wird auch gefunden! Kryptisch, nicht? Aber so was Ähnliches hat er mir mal gesagt. Es ist noch gar nicht so lange her.“

Ich seufzte und schluckte, lehnte dann meinen Kopf an seine Schulter. „Ich vermisse ihn! Sehr sogar! Noch immer warte ich ständig darauf, dass er plötzlich ins Haus tritt, Bev umarmt und fragt, wann es etwas zu Essen gibt … Er fehlt überall!“ Ich brach ab und blinzelte.

Seine Stimme klang belegt, als er antwortete. „Wir vermissen ihn alle! Schmerzlich! Aber Bev hat recht: Er hat uns mehr dagelassen als wir jetzt sehen können! Und wir haben eine neue Aufgabe übernommen … Wir haben viele große und kleine Aufgaben übernommen, die auf uns warten und die uns nach vorne sehen lassen sollten.“

„Ja, da hat sie wohl recht. ... Danke, Roy! Wieder mal!“

„Jederzeit, das weißt du. Hoffentlich!“

„Natürlich! An wen sollte ich mich sonst wenden, wenn es um etwas geht, das ich nicht mit Dorian bereden könnte?“

Er lächelte ein wenig schief, legte leicht den Arm um meine Schultern, zog mich kurz an sich und ich seufzte traurig.

Eine Weile sahen wir schweigend zu, wie die Schatten der vorüberziehenden Wolken die Landschaft vor uns in ein Wechselspiel von Hell und Dunkel tauchten und ich hoffte in diesem Moment inständig und mit laut klopfendem Herzen, dass es in meinem Leben zukünftig weniger wechselhaft zugehen würde. Dann sah ich zu ihm hoch und fragte mit einem seltsamen Gefühl in der Magengegend: „Was wirst du jetzt tun, wo alles sich langsam wieder einspielt? Ich weiß von Ellen, dass du Ende letzten Jahres eigentlich vorgehabt hast, schnellstmöglich wieder nach Australien zurückzugehen. War da nicht ein Mädchen? Ein Menschliches?“

Sein Lächeln verschwand und machte etwas anderem Platz. Wehmut? Bedauern? Wenn ich hätte raten sollen, dann hätte ich darauf getippt, dass er sich mit seiner Antwort zurückzog – innerlich, so als ob er nicht zu viel sagen, nicht zu viel von sich selbst preisgeben wollte.

„Eher eine Frau, Germaine, aber mehr als zwei harmlose Dates waren da nicht. Ich glaube nicht mal, dass ich es zu einer dritten Verabredung geführt hätte. Auch ich habe etwas gesucht. Etwas, das ich bei ihr nicht fand!“

Er zuckte die Achseln; es war kein Beklagen hinter dieser Bemerkung zu spüren. Eher so etwas wie die Sehnsucht nach etwas.

Es ging ihm offenbar wie jedem von uns, der eine Bindung mit einem Menschen aufzubauen versuchte: Nur wenn wir uns sehr sicher sein konnten, den oder die Richtige gefunden zu haben, konnten wir es wagen, uns zu ‚outen‘. Und bis dahin mussten wir suchend bleiben! Das Gefühl in meinem Magen blieb, aber es veränderte sich. War ich erleichtert, dass ihn nichts nach Australien zurückzog? Oder war ich einfach nur erleichtert, weil nicht gleich eine weitere Veränderung eintreten würde, kaum, dass wir eine hinter uns gebracht hatten? Vermutlich, denn wenn ich an Roy dachte, sah ich ihn hier, bei seiner Familie…

Seine nächsten Worte waren wie eine Bestätigung meines Gedankens.

„Nein, ich werde hierbleiben, solange ich in Bezug auf mein Alter noch nicht allzu sehr auffalle. Beverly möchte, dass Aidan Connor seine Kindheit hier in Irland verbringt und hier seine Wurzeln hat – wie Vater. Zur Not werden wir in den Norden gehen, aber wir werden hierbleiben, denn ich unterstütze diesen Wunsch aus tiefstem Herzen! Die beiden werden noch eine ganze Weile unsere – Ellens und meine – Unterstützung brauchen. Lass den kleinen Kerl mal seine ersten körperlichen Kräfte entwickeln, dann hat Bev das Nachsehen!“

Ich grinste. „Roy, das wird noch weit mehr als nur ein paar Jahre dauern!“, erinnerte ich ihn. „Er ist noch ein Baby!“

„Ich weiß, aber ich will es so. Ich habe es lange und sorgfältig überlegt und ich bin mir sicher. Ich habe Zeit. Ich kann warten.“

Er verstummte wieder und schien ins Leere zu blicken.

Wieder nickte ich. „Ich weiß. Man spürt, dass du dir darin sicher bist. Ellen ebenfalls. Ich gebe zu, dass ich euch ein wenig darum beneide.“

Ich richtete mich auf, erhob mich und klopfte mir ein paar zerdrückte Grashalme und Moosfäden von der Kleidung.

„Und deshalb werde ich mich auf den Weg machen, um herauszufinden, was und wohin ich gelangen will!“

Er sprang auf und legte mir mit ernstem Blick eine Hand auf den Arm. „Germaine, eins noch: Du hast bei uns immer ein Zuhause, vergiss das nie! Auch du bist nicht wurzellos; komm wieder, wann immer dir danach ist!“

„Roy, ihr wart Dorian und mir immer eine Familie; ich kann das gar nicht vergessen, niemals!“

Ich umarmte ihn und schluckte den Kloß, der sich sofort in meinem Hals bildete, herunter. Rasch ließ ich ihn wieder los.

„So, und jetzt sollte ich mal meine Taschen holen und mich von den anderen verabschieden, sonst verpass ich zuletzt doch noch den Flug.“

Er sah mich noch einmal kurz und ernst an, dann trat ein wenig von dem alten Funkeln in seine Augen. Mit einem kleinen Blick in die Runde vergewisserte er sich, dass niemand in der Nähe war, der uns sehen könnte, und grinste schief. „Dann lass uns mal sehen, wer schneller zurück am Haus ist!“

Ich hasste Abschiede und auch diesmal kürzte ich sie tunlichst ab. Aidan Connor lag in seiner Wiege und verschlief ohnehin alles; ich hatte ihn vorsichtig auf die Stirn geküsst und seinen wunderbaren, warmen Babygeruch noch einmal eingeatmet, dann war ich mit Bev und Ellen nach draußen gegangen, wo wir uns nacheinander in die Arme fielen. Obwohl ich wusste, dass ein Flieger mich jederzeit und innerhalb kürzester Frist wieder hierher bringen könnte, war mir mit einem Mal so, als ob wir uns diesmal für lange Zeit auf Wiedersehen sagen würden!

Dieses Gefühl schien abzufärben, denn Ellen umklammerte mich erneut und heftig und meinte: „Lass nicht zu viel Zeit vergehen, bis wir uns wiedersehen! Versprich mir das, Germaine!“

„Ich tue, was ich kann, Ellen. Passt auf euch auf, ihr alle!“, antwortete ich heiser und räusperte mich. Dann riss ich mich gewaltsam los und stieg zu Roy ins Auto. Ihm würde ich erst am Flughafen auf Wiedersehen sagen.

Während der Fahrt nach Dublin hatte ich dann blicklos und schweigend dagesessen und danach auch diesen Abschied so kurz wie möglich gestaltet. Er hatte mich zuletzt noch einmal wortlos, lange und ernst umarmt, Grüße an alle anderen auf den Weg mitgegeben und mir versichert, dass er immer für mich da sei. Nicht lange nachdem ich eingecheckt hatte, war schon der letzte Aufruf für meinen Flieger ertönt – ich war geflüchtet, auch und vor allem vor meiner eigenen Wehmut …

Erst als ich längst in der Luft war, ließ ich es zu, dass ein paar Tränen mir über die Wangen liefen. Froh darüber, einen Fensterplatz ergattert zu haben, drehte ich den Kopf dorthin und gab vor, hinauszusehen, während ich mir rasch über die Wangen wischte. Dann stieß ich leise den Atem aus. Manchmal kam mir mein Leben vor wie eine andauernde Aneinanderreihung von kleinen und großen Abschieden, aber dieses Empfinden durfte ich wohl vornehmlich den letzten zwölf Monaten zuschreiben. Denn obwohl ich meine Eltern immer noch vermisste, waren es viele andere Dinge und Abschiede, die mir durch den Kopf gingen.

Ich brauchte diesmal eine ganze Zeit, bis ich mich wieder gefangen hatte und um mich abzulenken, richtete ich meine Gedanken gewaltsam auf meine nächsten Vorhaben.

Als Erstes würde ich wie ohnehin geplant bei Dorian und Phoebe haltmachen und sie davon unterrichten, dass ich mich auf eigene Füße zu stellen gedachte. Von Dorian als meinem großen Bruder erwartete ich als Reaktion darauf eine Predigt. Ich hörte ihn schon: ‚Was soll das, bitte? Du musst wahrhaftig nicht fortgehen, um eigenständig zu leben! Niemand hier engt dich ein oder lässt dir keinen Freiraum, meinetwegen such dir eine eigene Wohnung, das sollte ja wohl genügen!‘. Bei dem Gedanken daran musste ich schon jetzt lächeln! Mein ‚großer’ Beschützer!

Auch bei Eve und Angus wollte ich vorbeisehen; seit ich Ende Mai zurück nach Irland geflogen war, hatte ich keinen von den Vieren wiedergesehen und freute mich jetzt schon darauf.

Eve war schon etwas Besonderes. Beide Forester-Frauen waren etwas Besonderes! Wann immer ich an sie dachte, überfiel mich ein Hauch von Ehrfurcht – und tiefe Zuneigung. Mir waren noch sehr lebhaft die Dinge in Erinnerung, die sich kurz vor meiner Abreise abgespielt hatten: Die Entführung von Phoebes Eltern durch Ashton, Angus’ ‚Vater’, und später dessen Tod … Verurteilung und Hinrichtung traf es wohl eher…Wir alle konnten von Glück sagen, dass es damals zu einem Happyend gekommen war! Ich kannte durch Mutter und Dorian das Gefühl, das sich in unsereinem ausbreitete, wenn man einem Familienoberhaupt Gehorsam leisten musste, aber ich hatte zum ersten Mal in meinem Leben die zutiefst bedrohliche Seite und den unglaublichen Zwang eines verlangten Gehorsams am eigenen Leib verspürt! Und auch wenn dieses Verlangen laut Neill nicht von einer blutsverwandten Seite, sondern ‚nur‘ von einem alten, erfahrenen und zu allem entschlossenen Schattenwesen gekommen war, war es dennoch … bedenkenlos, bezwingend, unterwerfend und unfassbar betäubend gewesen.

Beängstigend betäubend!

Es war sehr knapp gewesen!

Und ich würde nie vergessen, wie knapp es vor allem für Eve und – wieder einmal – für Phoebe gewesen war! Ich war erst zusammen mit Aidan zu Reggies Rettung aufgebrochen, als klar war, dass beide nicht mehr in Lebensgefahr schwebten.

Seitdem lebten Eve und Angus im ehemaligen Haus von Phoebes Großeltern in der Nähe von Marysville, Fredericton. Und offenbar sehr glücklich. Auf Eve freute ich mich besonders; wir hatten zwar nur wenige Tage miteinander verbracht, aber sie war mir schon in dieser kurzen Zeit so etwas wie eine Seelenverwandte geworden, zumindest jedoch eine sehr, sehr gute Freundin. Eines der kleinen Wunder, die sich immer wieder überall auf der Welt abspielten, denn ich war überzeugt, dass nicht nur die ausgestandene Gefahr uns zusammengeschweißt hatte. Vom ersten Tag an hatte uns etwas verbunden …

Ob die Verbindung mit Angus sie irgendwie verändert hatte? Und Angus selbst? Aus unseren Telefonaten glaubte ich schon, darauf schließen zu können, alles Weitere würde wohl erst die persönliche Begegnung zeigen.

Ich schloss die Augen, um ein wenig zu dösen und ließ meine Gedanken treiben. Dorian und Phoebe, Nova Scotia und Halifax waren noch weit …

Umso überraschter war ich, als mich am Flughafen anstelle von Dorian Eve und Angus erwarteten. Ich hatte kaum mein Gepäck auf dem Kofferwagen durch die Absperrung gefahren, als ich Eve bereits winken sah und laut rufen hörte. Nur wenige Augenblicke später fiel sie mir um den Hals und bewies gewisse Qualitäten eines Footballspielers: Wäre ich weniger groß und standfest, wären wir vermutlich auf dem Boden herumgekugelt oder hätten auf dem Gepäckwagen einer hinter mir stehenden älteren Dame gelegen, die uns nachsichtig lächelnd aber kopfschüttelnd umrundete.

„Germaine! Endlich! Echt, ich hab dich total vermisst! Es ist so schön, dass du wieder da bist.“

„Oookay!“, lachte ich und winkte dem weiter hinten stehenden und breit grinsenden Angus kurz zu, bevor ich mich wieder der Umarmung meiner Freundin widmete. „Ich habe dich auch vermisst und ich bin froh, wieder hier zu sein! Lass dich ansehen…Du siehst toll aus!“

Sie wirkte total zappelig und ihr Gesicht strahlte vor Wiedersehensfreude, aber das war es nicht alleine. Ihr kurzer Blick zu Angus bestätigte gleich darauf meine Vermutung: Ihre Liebe zu ihm erhellte ihr Wesen buchstäblich von innen heraus! Sie trug ihre langen, braunen Haare entgegen ihrer früheren (Ordnungs-) Gewohnheit jetzt offen und ihre braunen Augen blitzten mich aufgeregt an.

„Offenbar bekommt Angus dir – und umgekehrt. Sehr beruhigend! Hi Angus, es ist so schön, euch zu sehen! Aber wie kommt es, dass Dorian mich nicht abholt? Seid ihr jetzt extra wegen mir den ganzen Weg von Fredericton hierhergefahren?“

„Oh, das hast du Eve zu verdanken! Sie hat so lange gebettelt und sich an mein Bein geklammert, bis ich eingewilligt habe, dass wir dich abholen. Sie hat dich wirklich vermisst und wollte nicht einen Tag länger warten, dich wiederzusehen.“

„Ich klammere mich nicht an Beine, weder an deine, noch an die anderer, klar? Und du konntest es auch kaum mehr erwarten!“, schnaubte Eve.

„Ich gestehe! Hallo also erst einmal und willkommen zurück! Wie war der Flug?“

„Wie üblich. Ich werde so langsam zur Pendlerin, glaube ich. Ich sollte darüber nachdenken, mir ein eigenes Flugzeug zuzulegen.“

Ich musterte auch ihn unauffällig. Von dem ehemals so zurückgezogenen, abweisenden und zeitweise verbitterten Mann war nichts mehr übrig geblieben. Allenfalls ein kleiner Funke Wehmut – oder Leid? – in seinen Augen. Kein Wunder, gerade sein Leben dürfte kaum spurlos an ihm vorübergegangen sein. Doch selbst das wurde nun eindeutig aufgewogen durch etwas anderes, das man an ihm zuletzt vollkommen vermisst hatte: Lebensfreude! Und von der Liebe zu seiner Gefährtin!

„Anscheinend bekommt euch das behäbige Eheleben, ihr seht beide großartig aus!“

„Du aber auch! Ich wusste nicht, dass man in Irland braun werden kann; offenbar hat der kleine Aidan Connor dir genug Zeit gelassen, dich in der Sonne zu aalen.“

„Glaub das bloß nicht! Ich habe noch nie ein Baby erlebt, das so schnell weinerlich wird, wenn man sich nicht pausenlos mit ihm im Freien aufhält. Er ist schon jetzt ein Frischluftfanatiker und ich hab ihn fast immer mitgenommen, wenn ich draußen unterwegs war.“

„Was natürlich keinerlei Aussage darüber trifft, wie umfangreich deine Vergleiche mit anderen Babys sind!“, grinste Angus.

Ich verpasste ihm einen Hieb gegen den Oberarm und er rieb sich die Stelle sofort und mit übertrieben schmerzhaft verzogenem Gesicht, bevor auch er mich zur Begrüßung kurz und herzlich umarmte.

Eve hakte mich glücklich unter und überließ es Angus, den Wagen mit meinen Sachen hinter uns herzufahren. „Komm, das Auto steht im Parkverbot; beinahe wären wir nämlich zu spät gekommen!“ Sie warf ihrem Gefährten einen grimmigen, strafenden Blick zu. „Einer von uns beiden war mal wieder der Ansicht, dass man ruhig alle Geschwindigkeitsbeschränkungen ignorieren darf und deshalb später losfahren kann. Eines Tages sterbe ich noch den Heldentod auf dem Beifahrersitz!“

Ich sah mich zu dem Gescholtenen um und er zwinkerte mir zu.

Ich lächelte. Ich konnte ihn in gewisser Weise verstehen: Wenn man über ein enorm schnelles Reaktionsvermögen verfügte und wartende Geschwindigkeitskontrollen, Hindernisse oder Ähnliches schon von Weitem sehen oder hören konnte, dann trieb es einen schon mal zur Verzweiflung, wenn man gezwungen war, langsam fahren zu müssen!

Oder ob es ihm fehlte, sich hin und wieder einmal zu verausgaben? Ich grinste in mich hinein und unterließ jeden dahingehenden Kommentar – schließlich konnte man annehmen, dass er sich in anderer Hinsicht verausgabte.

Wir ließen den Kofferwagen zurück, denn Angus hatte natürlicherweise keinerlei Mühe damit, alles zum Auto zu tragen. Schon kurze Zeit später und nur knapp einem Strafzettel fürs Falschparken entgehend kurvte Angus uns bereits durch die Straßen in Richtung Bedford, zu Dorian und Phoebe.

SIE WAR IHM SCHON VORHIN AUFGEFALLEN, ALS SIE GEDULDIG UND LÄSSIG AUF IHR GEPÄCK WARTETE UND ES AUF IHREN WAGEN LUD. IHRE LEICHT GEWELLTEN, BRAUNSCHWARZEN HAARE, DIE IHR BIS ÜBER DIE SCHULTERBLÄTTER REICHTEN, DER BLICK AUS IHREN DUNKLEN, FAST SCHWARZEN AUGEN, DER VON WEITEM OFFENBAR VOLLKOMMEN GEISTESABWESEND ÜBER IHN HINWEGGESTRICHEN WAR, OHNE IHN JEDOCH IM PULK DER MENSCHEN WAHRGENOMMEN ZU HABEN, IHRE GROßE GESTALT, DIE SPORTLICHE FIGUR …

ER WICH IHR AUS, BEHIELT SIE JEDOCH AUS ANGEMESSENER DISTANZ AUFMERKSAM IM AUGE, DENN ER WAR SICH ABSOLUT SICHER, DASS SIE, WENIGSTENS ZUM TEIL, VAMPIR WAR! WIE SIE SICH GAB, WIE SIE SICH BEWEGTE, IHRE DUNKLEN AUGEN … DAVON ABGESEHEN HATTE ER IM LAUFE DER ZEIT EIN UNTRÜGLICHES UND SEHR FEINES GESPÜR FÜR DIESE DINGE ENTWICKELT! BESSER ALS MANCH ANDERER VERMOCHTE ER AUCH AUF GRÖßERE ENTFERNUNG ABZUSCHÄTZEN, OB ER ES MIT SEINESGLEICHEN ZU TUN HATTE – EIN ECHTER VORTEIL ANDEREN SEINER ART GEGENÜBER!

AUCH ER WAR VORHIN ERST ANGEKOMMEN UND HATTE SEINE BEIDEN REISETASCHEN DURCH DIE HALLE GETRAGEN. ER REISTE NIEMALS MIT VIEL GEPÄCK; ALLES, WAS ER VOR ORT BRAUCHTE, WÜRDE ER SICH BESORGEN. ES WAR EINFACHER, WENN MAN SO VIEL UNTERWEGS WAR WIE ER ZURZEIT. FÜR DIESMAL WAR SEIN ZIEL DER ÖSTLICHE TEIL KANADAS, ABER MIT DIESER BEGEGNUNG HIER AM FLUGHAFEN HATTE ER NICHT GERECHNET!

INTERESSIERT UND AMÜSIERT HATTE ER VERFOLGT, WIE EINE HÜBSCHE, JUNGE … MENSCHLICHE FRAU SIE ZUR BEGRÜßUNG STÜRMISCH UMARMTE – UND DANN HATTE ER IHN GESEHEN! ER GEHÖRTE GANZ OFFENSICHTLICH DAZU, WAR ABER WEITER HINTEN AN EINEN PFOSTEN GELEHNT STEHEN GEBLIEBEN, VON WO ER EBENSO AMÜSIERT DIE GLEICHE SZENE BEOBACHTET HATTE. AUCH ER MUSTERTE – ANGEWOHNHEIT ALLER VAMPIRE – MIT EINEM KURZEN, SCHARFEN RUNDBLICK DIE LEUTE SOWIE DIE RÄUMLICHEN UND BAULICHEN GEGEBENHEITEN DER UMGEBUNG, UM IM NOTFALL JEDERZEIT HANDLUNGSBEREIT ZU SEIN, ABER ER WAR ENTWEDER NICHT MEHR AUFMERKSAM GENUG ODER EINFACH NUR ABGELENKT DURCH DIE BEIDEN FRAUEN.

ER SELBST WAR DENNOCH SOFORT HINTER EINEM WEITEREN PFOSTEN VERSTECKT STEHEN GEBLIEBEN UND STRICH SICH JETZT DIE FÜR SEINE BEGRIFFE SCHON ZIEMLICH LANG GEWORDENEN BLONDEN HAARE AUS DER STIRN, AUF DER EINE STEILE FALTE AUFGETAUCHT WAR – WIE IMMER, WENN ER SICH VOLL AUF ETWAS KONZENTRIERTE. DIE DREI VERLIEßEN SOEBEN DAS GEBÄUDE UND ER FOLGTE IHNEN IN GRÖßTMÖGLICHEM ABSTAND NACH DRAUßEN, IMMER DARAUF ACHTEND, EINE GRUPPE MENSCHEN ODER EIN HINDERNIS ZWISCHEN SICH UND IHNEN ZU HABEN.

VOR DEM GEBÄUDE ANGEKOMMEN SAH ER DAHER NUR NOCH, WIE SIE GEMEINSAM DAVONFUHREN UND WIE EIN UNIFORMIERTER MANN EINEN GERADE BEGONNENEN STRAFZETTEL ZERKNÜLLTE, KOPFSCHÜTTELND FORTWARF UND SICH ENTFERNTE. SICHERHEITSHALBER MERKTE ER SICH TYP UND KENNZEICHEN DES WAGENS, WINKTE EILIG EINES DER BEREITSTEHENDEN TAXIS NÄHER UND WARF SICH UND SEIN GEPÄCK KURZERHAND AUF DEN RÜCKSITZ.

„SEHEN SIE DA HINTEN DEN GELÄNDEWAGEN? DEN DÜRFEN WIR NICHT VERLIEREN! FOLGEN SIE IHM, ABER HALTEN SIE DEN GRÖßTMÖGLICHEN ABSTAND!“

DER JUNGE FAHRER, DESSEN WANGEN ZAHLREICHE AKNENARBEN AUFWIESEN, DREHTE SICH KURZ ZU IHM UM UND MEINTE MIT LEICHT KRÄCHZENDER STIMME: „MANN, AUF SO EINE AUFFORDERUNG WARTE ICH SCHON, SEIT ICH DIESEN JOB MACHE!“ ER STARTETE DEN MOTOR UND FÄDELTE SICH RÜCKSICHTSLOS IN DEN VERKEHR EIN, WAS PROMPT EIN HUPKONZERT ZUR FOLGE HATTE.

„WENN SIE NICHT EIN WENIG VORSICHTIGER SIND, DANN IST DIESE VERFOLGUNG FÜR UNS BEIDE SCHNELLER VORBEI ALS WIR UNS WÜNSCHEN!“, KNURRTE ER.

„KEINE PANIK, ICH MACH DAS SCHON! LEHNEN SIE SICH ENTSPANNT ZURÜCK, SIR! … SIND SIE POLIZIST? PRIVATDETEKTIV? WAS IST ES DENN? BESCHATTEN SIE EINEN EHEBRECHER? ODER ETWAS SCHLIMMERES?“

„DICHT DRAN, ES IST EINE ART … FAMILIENGESCHICHTE, IM ÜBERTRAGENEN SINN. AUCH WENN ES DABEI NICHT UM EHEBRUCH GEHT. SIE HABEN WOHL EINEN BLICK DAFÜR.“, VERSUCHTE ER, SEINE NEUGIERIGEN FRAGEN ABZUBIEGEN, OHNE SICH SEINEN UNMUT DARÜBER ANMERKEN ZU LASSEN.

„DANKE! DAS KOMMT WOHL DAHER, DASS ICH IN MEINEM JOB VIEL MIT MENSCHEN ZU TUN HABE. WENN SIE WÜSSTEN, WAS DIE LEUTE EINEM MANCHMAL SO ALLES ERZÄHLEN!“, MEINTE DER FAHRER GESCHMEICHELT.

ER LIEß DESSEN GEISTIGEN ERGÜSSE UNAUFMERKSAM ÜBER SICH ERGEHEN, ANTWORTETE NUR NOCH EINSILBIG UND KONZENTRIERTE SICH LEDIGLICH DARAUF, DAS AUTO NICHT AUS DEN AUGEN ZU VERLIEREN. ZWEIMAL WÄRE ES FAST SOWEIT GEWESEN, WEIL EINE AMPEL AUF ROT SPRANG ODER EIN RIESIGER LASTER IHNEN DIE SICHT VERSPERRTE. ER WIES DEN FAHRER DANN JEWEILS DARAUF HIN, IN WELCHE RICHTUNG SIE ABGEBOGEN ODER WEITERGEFAHREN WAREN UND ERNTETE BEIDE MALE EINE BEWUNDERNDE BEMERKUNG.

„SIE FAHREN NACH BEDFORD.“, MEINTE DER FAHRER IRGENDWANN; DANN, WENIG SPÄTER: „WIR KOMMEN GLEICH IN DIE REINE WOHNGEGEND AM ÄUßERSTEN RANDGEBIET. SOLL ICH HINTERHERFAHREN, AUCH WENN WIR DANN GESEHEN WERDEN KÖNNTEN? TAXIS FALLEN HIER IN DER RUHIGEN GEGEND MEHR AUF ALS ANDERSWO.“

DER FAHRER DACHTE MIT, GUT SO! „LASSEN SIE SICH NOCH WEITER ZURÜCKFALLEN UND HALTEN SIE AN JEDER ECKE UND KURVE KURZ AN. ABER SO, DASS WIR GERADE NOCH SEHEN KÖNNEN, OB SIE ABBIEGEN ODER ANHALTEN, OHNE SELBST VON IHNEN GESEHEN ZU WERDEN!“, INSTRUIERTE ER IHN.

SCHWEIGEND SAH ER ZU, WIE SIE SCHLIEßLICH UM EINE WEITERE ECKE BOGEN, WO DIE STRAßE IN EINER SACKGASSE ENDEN WÜRDE.

„OKAY, BLEIBEN SIE HIER STEHEN, ICH WERDE AUSSTEIGEN.“, FORDERTE ER UND REICHTE EIN PAAR GELDSCHEINE NACH VORNE.

„DANKE, DAS IST ABER VIEL ZU VIEL!“

„BEHALTEN SIE’S, SIE HABEN IHRE SACHE GUT GEMACHT.“, MURMELTE ER UND GRIFF NACH DEN TASCHEN.

„SOLL ICH NICHT LIEBER HIER WARTEN? SIE WOLLEN DOCH WOHL NICHT MIT DEM GEPÄCK …“

„NEIN, DANKE. ICH WERDE SCHON IRGENDWO IN DER NÄHE EIN ZIMMER FINDEN. AUF WIEDERSEHEN.“ JEDEN WEITEREN EINWAND IGNORIEREND WARF ER DIE TÜR ZU UND HÖRTE NUR NOCH, WIE DER FAHRER IHM EIN VERWIRRTES „WIEDERSEHEN“ NACHRIEF.

IN GEMÄßIGTEM TEMPO LIEF ER ZUR NÄCHSTEN ECKE UND SUCHTE DIE STRAßE MIT BLICKEN AB. DER WAGEN HATTE VOR EINEM DER LETZTEN HÄUSER AUF DER RECHTEN SEITE GEHALTEN. MIT EINEM RASCHEN BLICK MUSTERTE ER DIE GESAMTE UMGEBUNG – DIE GEBÄUDE STANDEN HIER ALLE RELATIV WEIT AUSEINANDER, HIER UND DA BEFANDEN SICH UNBEBAUTE GRUNDSTÜCKE DAZWISCHEN – UND BESCHLOSS, DAS HAUS VOM NAHEN WALDRAND AUS NOCH EINE WEILE ZU BEOBACHTEN. MÖGLICHST UNAUFFÄLLIG.

ER HÄTTE DOCH ZUERST DIE HINDERLICHEN TASCHEN IRGENDWO UNTERBRINGEN SOLLEN, ABER ER WOLLTE KEINEN DER DREI SCHON JETZT AUS DEN AUGEN VERLIEREN … JETZT WÜRDE ER SIE EBEN IRGENDWO ZWISCHEN DEN BÄUMEN VERSTECKEN MÜSSEN.

ES VERSPRACH, INTERESSANT ZU WERDEN!

Schon auf der Fahrt wollte Eve als allererstes alles über den jüngsten O’Donnel-Spross wissen.

„Die Bilder, die ihr geschickt habt, sind einfach hinreißend! Er sieht so niedlich darauf aus!“, meinte sie.

Ich konnte nur zustimmen. „Er hat Connors Haarfarbe und auch seine Augen. Fast sieht er ein wenig aus wie Roy in Miniaturausgabe. Und er hat Connors Appetit geerbt und wächst unglaublich schnell …“ antwortete ich leise.

Angus warf mir einen kurzen Blick im Rückspiegel zu, denn ich hatte mit Eve zusammen hinten Platz genommen. „Wie geht es Beverly mittlerweile?“, fragte er.

Ich holte tief Luft. „Körperlich gut. Seelisch … Sie scheint so langsam ihre alte Form wiederzufinden.“

Wir schwiegen eine Weile und jeder hing seinen eigenen Gedanken nach.

In den letzten Schwangerschaftswochen hatte Bev sich nicht sehr wohl gefühlt, wenn auch keine körperlichen Ursachen dafür infrage kamen. Sie und das Baby waren kerngesund – wie zu erwarten war nach dem Blutritual, das ihr eine kräftige und widerstandsfähige Gesundheit beschert hatte. Es war eher eine gewisse Melancholie über sie gekommen – vermutlich, weil ihr doch zunehmend bewusst wurde, dass das neue Leben in ihr niemals seinen Vater kennenlernen würde. Eine Tatsache, der sie sich zu Beginn noch mit weit größerer innerer Stärke hatte stellen können, die aber zuletzt wohl doch mehr und mehr in den Vordergrund gerückt war.

Ellen und Roy waren froh, dass sich dies nach der Geburt wieder besserte; Beverly war immer eine zupackende und äußerst pragmatische Persönlichkeit gewesen, aber in dieser Situation brauchte wohl auch sie Zeit, um wieder zu ihrem alten Ich zurückzufinden. Mit Connor hatte sie die zehn glücklichsten Jahre ihres ganzen Lebens verbracht und er war viel, viel zu früh von ihrer Seite gerissen worden. Und durch das Blutritual, das sie unmittelbar vor seinem Tod noch durchgeführt hatten, blieb ihr neben einem langen Leben eben auch eine lange Zeit zum Trauern…

„Eines Tages möchte ich sie alle unbedingt mal kennenlernen!“

Eve riss mich mit dieser leisen Bemerkung aus meinem Nachdenken.

„Natürlich! Ich hatte eigentlich angenommen, dass ihr sie nächsten Monat zusammen mit Dorian und Phoebe besucht! Nicht?“

Eve warf mir einen seltsamen Blick zu. „Nun, das werden wir wohl noch ein wenig verschieben…Wahrscheinlich ist es auch besser, wenn nicht sämtlicher Besuch auf einmal bei ihnen einfällt!“

„Das sähe Bev aber sehr unähnlich! Und gerade jetzt kann sie ein wenig Trubel und Abwechslung gut gebrauchen – es bringt sie auf andere Gedanken. Aidan Connor ist viel zu pflegeleicht, als dass er sie jetzt, wo er noch fast den ganzen Tag verschläft oder ständig von einem von ihnen zum Spaziergang mitgenommen wird, schon auslastet! Ellen und Roy nehmen ihr alles andere Drumherum ohnehin schon ab. Ich habe mich manchmal schon gefragt, ob Letzteres wirklich so gut ist! Sie grübelt noch immer zu viel.“

„Hast du mit Ellen mal darüber gesprochen?“

„Mit Roy, erst vor ein paar Tagen. Er ist meiner Meinung und sie werden nun, wo ich wieder fort bin, verstärkt daran arbeiten, dass sie wieder ein wenig mehr unter die Leute kommt oder abgelenkt wird.“

Angus nickte leicht und konzentrierte sich wieder auf den Verkehr.

„Was gibt es bei euch denn Neues? Eve, du hast deinen Wohnsitz inzwischen endgültig hierher verlegt? Habt ihr irgendwelche Pläne? Erzählt doch mal was, ich bin so gar nicht auf dem Laufenden!“

Eve schien zu zögern. „Mit detaillierten Plänen kann ich dir nicht dienen, aber ich habe tatsächlich die meisten Brücken hinter mir abgebrochen und mein Leben hierher verlegt. Vorläufig gefällt es uns hier viel zu sehr, als dass wir uns nach etwas anderem umsehen wollten. Wir haben die meiste Zeit dazu genutzt, das Haus nach unseren Wünschen zu renovieren und herzurichten. Übrigens: Du bist eingeladen, bei uns zu wohnen, wenn du willst! Dorian und Phoebe haben zwar dein altes Zimmer, aber wir haben das ganze große Haus für uns …“

„Was sich ja auch anders mit Leben füllen ließe!“, grinste ich sie an.

Sie wurde rot. Worauf ich hätte wetten können; ihre Gefühle waren schon immer deutlich an ihrem Gesicht abzulesen gewesen!

„Darüber nachzudenken ist es noch ein wenig früh, findest du nicht? Wir haben uns doch erst vor Kurzem gefunden.“

„Ich ziehe dich doch nur auf, Eve! Aber ich werde darüber nachdenken, noch eine Weile zu euch zu kommen, bevor ich mich nach etwas Eigenem umsehen werde!“

„Wieso nach etwas Eigenem?“, fragte sie und wirkte entgeistert, verlor beinahe sofort wieder die Farbe. Sie war zum Teil ein Chamäleon, ganz sicher!

„Meinst du nicht, dass ich lange genug bei Dorian, den O’Donnels und euch rumgehangen habe? Nein, abgesehen davon, dass es für mich an der Zeit ist, mein eigenes Leben zu beginnen …“

Angus fuhr vor Dorians und Phoebes Haus vor und schaltete den Motor aus.

„… kann ich jetzt überall auf der Welt ein Zuhause finden, ohne stets darauf achten zu müssen, nicht versehentlich meinem Jäger über den Weg zu laufen.“

Während ich ausstieg, sah ich schon, wie die Haustür aufgerissen wurde und Phoebe herausgelaufen kam. Mein großer Bruder ließ sich etwas mehr Zeit und sah schmunzelnd zu, wie begeistert die Begrüßung zwischen mir und seiner Gefährtin ausfiel. Eine Wiederholung dessen, was sich schon am Airport ereignet hatte! Auch sie hätte mich trotz ihrer kleinen, zierlichen Gestalt beinahe umgerannt, als sie mich jetzt regelrecht ansprang. Lachend umarmte ich sie.

„Phoebe! Wie kann ein Fliegengewicht wie du nur so mitreißend sein? Oder hat Dorian dich geschubst?“

Der zu Unrecht Beschuldigte umarmte mich ebenfalls lange und kräftig, bevor er mich von oben bis unten musterte.

„Ich muss immer wieder sagen, dass dir als alter Griechin Irland außerordentlich gut bekommt! Du siehst gut aus. Hallo, kleine Schwester.“

Ich schüttelte den Kopf und strahlte ihn an. „Alte Griechin … Das sagt der Richtige! Und überhaupt: Du siehst mindestens doppelt so braungebrannt aus wie ich. Nur Phoebe hast du wohl drinnen eingesperrt, damit du sie für dich alleine hast.“

Mir war sehr wohl bewusst, dass meine blonde Schwägerin mit ihrer blassen Haut niemals wirklich sommerbraun wurde, aber diesen winzigen Seitenhieb gegen Dorian konnte ich mir nicht verkneifen. Angus und er reichten sich nur kurz und grinsend die Hand, bevor wir gemeinsam das Haus betraten.

Eve knüpfte sofort an unser Gespräch von vorhin an.

„Was hast du denn vor? Ich hatte gehofft, wenigstens ein bisschen Zeit mit dir verbringen zu können, ohne dass du gleich wieder verschwindest! Wir hatten bisher nur so wenig voneinander.“

„Wieso, sofort wieder verschwinden?“, erkundigte sich Dorian prompt und runzelte die Stirn. „Meine kleine Schwester war zwar schon immer sehr reise- und unternehmungslustig, aber ich bin ebenfalls davon ausgegangen …“

„Bevor ihr jetzt alle über mich herfallt, kläre ich euch wohl mal lieber auf!“, unterbrach ich ihn und lehnte mich mit übereinandergeschlagenen Beinen in meinem Sessel zurück. Dann erzählte ich von meinem Vorhaben, mir irgendwo eine eigene Bleibe zu suchen und hielt auch mit meinen Beweggründen nicht hinter dem Berg. Wie erwartet fing Dorian sofort an, mir lang und breit zu erklären, dass ich als Familienmitglied hierhergehöre und mich schließlich gerne woanders niederlassen könne, ohne gleich ein völlig anderes Leben beginnen zu müssen. Kanada sei groß genug … und überhaupt …

Ich lächelte. Fast wortwörtlich das, was ich zu hören erwartet hatte!

Eve und Phoebe hingegen waren still geworden und sahen sich gegenseitig schweigend an, als ich geendet hatte. Ob sie wieder interne Zwiesprache hielten? Jemand sollte den beiden mal einen Lautsprecher samt Simultanübersetzer einbauen!

Sämtliche Reaktionen hatte ich mir schon genau so ausgemalt und grinste inzwischen breit.

„Dorian!“, unterbrach ich nun auch ihn. „Erstens habe ich nicht vor, schon morgen klammheimlich und unbemerkt von hier zu verschwinden; ich will schon noch etwas von euch allen haben! Zweitens habe ich nichts davon gesagt, dass ich nach Timbuktu oder an den Südpol ziehen will, mir schwebt eher ein abgelegener chinesischer Landstrich vor oder Tibet…

Nein, mal ernsthaft: Wer weiß, vielleicht bleibe ich ja noch ein paar Jahre in Kanada, schließlich haben wir uns hier erst vor eineinhalb Jahren niedergelassen – unsere Zeit bei Montreal mitgerechnet. Es gefällt mir hier …

Und nicht zuletzt: Ich weiß doch, dass ihr alle mich sogar auf unbegrenzte Zeit bei euch aufnehmen würdet. Aber habt ihr das Ganze mal von meiner Warte aus betrachtet? Ich sitze jetzt hier mit ein paar von den Leuten, die ich auf dieser Welt am meisten liebe. Aber ich sitze hier auch mit zwei Paaren, deren Gefährtenschaften noch jung sind und die absolut kein Anhängsel wie mich brauchen können!

Nein, lass mich diesmal ausreden. Ich habe ein ähnliches Gespräch auch schon mit Roy geführt – er hat mich sofort verstanden. Tut mir jetzt bitte den Gefallen und überlegt euch mal, wie mir zumute ist, wenn ich sehe, dass ihr alle schon das gefunden habt, was … ich noch suche!“ Ich hatte eine leise Wehmut nicht ganz aus meiner Stimme verbannen können.

Angus hatte dieser Unterhaltung ohnehin nur als schweigsamer Zuhörer beigewohnt; er sagte auch jetzt nichts dazu, wenn auch tiefes Verständnis in seinen Augen lag. Dorian hatte ich offenbar den Wind aus den Segeln genommen, ihn aber auch mit meiner halben Zusicherung, nicht sofort und nicht unbedingt in ferne, unbekannte Weiten zu entschwinden, beruhigt. Manchmal fragte ich mich nicht nur scherzhaft, ob er tatsächlich immer noch meinte, mich beschützen zu müssen …

Phoebe hatte zumindest leicht genickt; von ihr wusste ich, dass sie alleine auf Grund ihrer Empathie sehr schnell und gründlich meine Motive erfassen würde.

Eve hingegen hatte von diesem Forester-Familienerbe nur eine eher gemäßigte Intuition geerbt. Na gut, eine gute Portion davon, aber anders als Phoebe konnte sie nicht einfach und ohne Weiteres andere Gefühlsregungen empfangen. Und sie war die ‚Jüngste’ in unserer Runde – nicht, was ihr Alter, sondern ihre Erfahrungen in unserer Welt anging. Und jetzt blinzelte sie tatsächlich rasch ein paar Tränen weg.

Ich beugte mich zu ihr hinüber und nahm ihre Hand in meine. „Eve, ich bin gerade erst angekommen und ich werde auch erst einmal für eine ganze Weile bleiben; schließlich weiß ich selbst noch nicht so genau, wo ich anfangen werde! Okay?“

„Klar!“, murmelte sie und lächelte schief. „Ich werde mich wohl irgendwann mal daran gewöhnen, dass auch ich jetzt in anderen Zeitdimensionen denken kann!“

„Richtig! Euer Blutsbund!“, lächelte ich sie an. „Ich bin echt froh, dass ich noch richtig lange etwas von euch haben werde. Und was hindert euch, im Gegenzug mir zukünftig Besuche abzustatten?“

„Nichts!“, konterte sie – und dann wurde aus dem Lächeln ein Grinsen. „Wahrscheinlich wirst du diese Bemerkung irgendwann noch bereuen, Germaine!“

Ich lachte. „Höchstwahrscheinlich!“

Den Rest des Tages verbrachten wir damit, die letzten Neuigkeiten auszutauschen, Bilder von Aidan Connor – und einige wenige auch von den anderen O’Donnels – auf Phoebes Notebook zu betrachten und auf der Wiese hinter dem Haus gigantische Mengen an gegrillten Steaks, Brot und Salaten in uns reinzuschaufeln. Dorian hatte vorgesorgt! Erst sehr spät verabschiedeten sich Angus und Eve, um noch nach Hause zu fahren. Für morgen hatten sie uns das Versprechen abgenommen, alle zu ihnen zu kommen und uns auf eine Übernachtung einzustellen.

Als ihr Auto hinter der Biegung verschwunden war, hakte Phoebe mich unter und seufzte glücklich. „Es ist schön, alle seine Küken wieder um sich zu haben!“, befand sie. „Obwohl natürlich die irischen Küken alle noch fehlen. Wir sollten eigentlich mal über eine gigantische WG nachdenken.“

Ich grinste. „Wir würden uns schneller in die Haare kriegen, als du schauen kannst! Und wie eine Glucke bist du mir bisher nicht vorgekommen, Schwägerin! Aber man lernt ja wahrhaftig nie aus, nicht wahr, Federchen?“

Sie knuffte mich in die Seite. „Untersteh dich, mich mit einer Glucke gleichzusetzen, ich werde schon genug mit anderen Dingen verglichen!“

„Du kannst dich wohl immer noch nicht damit abfinden, der Turm von Pharos zu sein, Leuchtende, trotz allem!“ Ich sah auf sie hinunter und mein Grinsen wurde noch breiter. „Obwohl … Eigentlich hast du ja recht: Bei deiner Körpergröße wärest du allenfalls ein Glühwürmchen, bei dem bekanntlich nur der Hintern glimmt …“

Kichernd löste ich mich von ihrem Arm und lief voraus, blieb aber stehen, als ich sah, dass sie wie zur Salzsäule erstarrt stehengeblieben war und mit abwesendem Blick und wie lauschend dastand.

„Habe ich was Falsches gesagt?“, meinte ich und trat wieder auf sie zu.

Sie schüttelte den Kopf und ihr Blick wurde wieder klar. „Nein, nein … Ich hatte nur kurz den Eindruck…Was hast du überhaupt gesagt?“

Ich wurde stutzig. Das kannte ich von ihr nicht! Beziehungsweise nur dann, wenn sie bewusst ihre geistigen Fühler ausstreckte.

„Ist alles in Ordnung? Ich habe dich und deine Körpergröße mit einem Glühwürmchen verglichen, bei dem allenfalls der Hintern an- und ausgeknipst werden kann! Und es ist schon seltsam, dass du mir daraufhin keinen Rüffel verpasst!“

Nun kam er prompt: Sie kicherte und stieß mir den Ellenbogen in die Seite. „Typisch Germaine! Los, unverschämte Göre, auf zum Aufräumen, sonst kündigt Dorian uns die Freundschaft!“ Sie warf noch einen letzten, kurzen Blick die Straße hinab und schob mich dann energisch vor sich her.

Kapitel 2

Als wir am nächsten Tag das Haus von Eve und Angus betraten, fielen mir sofort die zahlreichen Veränderungen auf, die die beiden in den letzten Wochen und Monaten vorgenommen hatten: Waren die Räume vorher bis auf wenige Möbelstücke leer und hatte das Haus schon alleine dadurch viel von seinem Charme eingebüßt, so strahlte jetzt alles eine neue, freundliche Heiterkeit aus. Frische Farben und Tapeten an den Wänden, ein paar neue Möbel, die perfekt mit den noch vorhandenen alten harmonierten, Bilder und Fotos, die an den Wänden hingen oder auf den Borden standen, Blumen … Mit diesem Ort war eine regelrecht spürbare Veränderung vorgegangen und es war den beiden gelungen, eine perfekte Balance zwischen dem Gestern und dem Heute zu finden. Obwohl – wie Eve und Phoebe es auszudrücken pflegten – alles immer noch Vergangenheit atmete, hatten Eve und Angus es geschafft, aus diesem Haus ein warmes Zuhause zu schaffen, das jeden, Bewohner wie Besucher, herzlich willkommen hieß und mit nichts mehr an die tragischen und durchaus unheimlichen Vorfälle im Frühjahr erinnerte.

Schon draußen vor dem Haus hatte sich einiges verändert: Rechts und links der Treppe zur Veranda und Haustür waren kleine, bunte Blumenbeete neu angelegt worden und an den Pfosten des Vordaches hinauf rankten sich bis auf halbe Höhe Efeuzweige, während vier neue, breit geschwungene Korbsessel mit dicken Polstern und ein neuer Tisch dazu einluden, hier draußen den Sonnenuntergang über den Bäumen zu bewundern.

Jetzt freilich stand die Sonne noch hoch und der Schatten unter dem Vordach war angenehm. Nachdem wir einen kurzen Rundgang durch das Haus gemacht hatten, fanden wir uns hier wieder ein und setzten uns zu Dorian und Phoebe, die das alles ja bereits kannten. Angus marschierte sofort zum Schuppen, trug einen weiteren Korbsessel herbei und nahm dicht neben Eve Platz.

„Ihr habt euch ein richtig schönes, kuscheliges Nest gebaut!“, meinte ich und blinzelte Eve zu – und die wurde prompt wieder rot! Ich wusste, wie sehr sie sich darüber ärgerte, aber hin und wieder konnte ich es nicht lassen.

Angus schmunzelte.

„Das hat Eve geplant und organisiert, ich musste lediglich das ausführende Organ spielen!“ Er lächelte sie bei diesen Worten liebevoll an.

Eves Organisationstalent und ihr Hang zu Ordnung und zum Planen – hier war sie wohl voll auf ihre Kosten gekommen! Ich stellte mir automatisch vor, wie sie Angus mit Farbeimern und Tapetenrollen im Haus herum scheuchte und Leitern treppauf, treppab tragen ließ und verkniff mir ein Lächeln.

„Es ist wunderschön geworden!“, konstatierte ich stattdessen ehrlich und winkelte die Beine seitlich in meinem Sessel an. „Und ihr beide passt hierher, als ob ihr schon immer hier gelebt hättet! Apropos hier leben: Was macht eigentlich Neill? Er bewohnt immer noch unsere kleine Hütte?“

Dorian hatte Neill, als dieser sich im Mai entschieden hatte, für geraume Zeit in Kanada zu bleiben, die Hütte in den Wäldern nördlich von Montreal zur Verfügung gestellt. Eine ganze Weile hatten wir sie bewohnt – im letzten Jahr, bevor wir nach Bedford gezogen waren. Neill war ein Einsiedlerleben gewöhnt und hatte dieses Angebot gerne angenommen. Ich bemerkte, wie Eve und Angus sich einen kurzen Blick zuwarfen, dachte mir allerdings nichts dabei.

Dorian übernahm es, mir zu antworten. „Ja. Es gefällt ihm offenbar sehr gut dort, zumal er sein reiches Jagdrevier praktisch vor der Haustür hat. Ab und zu meldet er sich sogar mal und betont dann immer, wie sehr er seinen Aufenthalt dort genießt.“

Ich schüttelte den Kopf. Wir alle waren es seit jeher gewohnt, zurückgezogen zu leben, um möglichst wenig Aufmerksamkeit auf uns zu ziehen. Wir reduzierten auch den Kontakt zu Menschen nach wie vor auf ein Minimum – nicht, weil wir noch von unseren Instinkten gesteuert würden und der Versuchung nicht erliegen wollten, sondern eher, um auch durch unsere scheinbare Alterslosigkeit nicht zu schnell aufzufallen. Und auch ich genoss es, hin und wieder in einer Umgebung zu leben, in der ich mich nicht pausenlos zurücknehmen musste, sondern mich auch einmal ausleben konnte. Aber auf Dauer so zu leben, noch dazu ohne wenigstens den Komfort von fließend warmem Wasser und Strom – und vor allem ganz alleine, ohne einen dauerhaften Lebenspartner…Eine Vorstellung, die mich schreckte.

Dorian sah mir meine Überlegungen wohl an, denn ein verständnisvolles Lächeln huschte über sein Gesicht.

„Rhiannon und Aidan haben ihm wiederholt angeboten, bei ihnen zu leben, aber Neill möchte es vorläufig so haben. Er ist nicht einsam dabei, Germaine; wenn er es wäre, würde er etwas an seinem Leben ändern, glaub mir.“

„Da fällt mir etwas ein, das ihr vielleicht noch nicht wisst! Ich jedenfalls weiß es erst seit vorgestern: Rhiannon und Aidan haben sich entschlossen, noch in diesem Herbst für ein paar Jahre nach Deutschland zu ziehen. In das Haus seiner verstorbenen Mutter, irgendwo im Norden, an der Ostsee gelegen. Sie wollen, obwohl es jetzt, vom Jäger-Vampir-Standpunkt aus betrachtet, nicht mehr nötig ist, ein wenig Ahnenforschung in Aidans Vergangenheit betreiben. Und Rhiannon hatte sowieso schon längst vor, Irland zu verlassen, weil sie schon zu lange dort lebt. Sie wird wahrscheinlich ihre Identität ändern und sie haben einen Preis für die originellsten Namensvorschläge ausgelobt!“

„Und der wäre?“, fragte Phoebe neugierig.

„Damit wollten sie nicht rausrücken, sie taten sehr geheimnisvoll. Meine Vermutung ist ein Hausschwein, aber noch eher denke ich, sie haben selbst noch keinen blassen Schimmer, was dieser Preis sein soll! Jedenfalls haben sie Neill vorgeschlagen, wieder einmal in seine alte Heimat und ihr altes Cottage zu ziehen – diesmal als sein eigener Enkel oder so …“

„Ich werde meine immer noch spärlichen Deutschkenntnisse auffrischen und ergänzen müssen, wenn ich sie mal besuchen will!“, seufzte Phoebe. „Mir bleibt auch nichts erspart!“

„Dorian und ich werden dir helfen. Wir hören deine Vokabeln ab!“, versicherte ich grinsend. „Sag mal: ‚Kartoffelsalat und Würstchen’! Oder warte, noch besser: ‚Dachdeckergewerkschaftsvorsitzender’!“

Sie warf mir einen finsteren Blick zu und schwieg.

„Unter Umständen wird Neill noch eine ganze Weile hierbleiben.“, kam es verhalten von Angus. Er hatte sich die ganze Zeit über ziemlich zurückhaltend gegeben, weshalb ihm jetzt die Aufmerksamkeit aller Anwesenden sicher war.

„Was macht dich da so sicher?“, fragte ich, nun wieder ernst als ich ihn ansah.

Er wich meinem Blick aus, aber in seinen Augen hatte wieder etwas gelegen, was ich nicht wirklich deuten konnte. Doch bevor er mir antworten konnte, beugte sich Phoebe vor und hob die Hand.

„Das glaube ich nicht!“, meinte sie fest und ließ ein sehr siegessicheres Lächeln sehen. „Rhiannon hat mir gegenüber nämlich bei unserem letzten Telefonat vor ein paar Tagen etwas ausgeplaudert, das ich euch erst heute sagen darf, denn sie wollte, dass ihr Vater es zuerst erfahren sollte: Sie und Aidan werden wohl Anfang nächsten Jahres ein Baby bekommen! Und ich glaube kaum, dass es den Großvater noch lange hier, geschweige denn in Irland halten wird, wenn er dies erst erfährt!“

Mein Unterkiefer fiel herunter, als ich diese Neuigkeit hörte. Und gleichzeitig freute ich mich unbändig für die beiden! Sie hatten wahrhaftig hart genug für ihr gemeinsames Glück kämpfen müssen und im Hinblick darauf, dass vor langer, langer Zeit Rhiannon einmal ein Baby verloren hatte, zählte dieses Glück nun doppelt und dreifach!

„Seit wann weißt du das?“, fragte jetzt Dorian.

„Seit fast einer Woche schon! Ich bin fast geplatzt mit dieser Neuigkeit, die ich noch niemandem sagen durfte! Aber sie hat mich darum gebeten, es bis heute für mich zu behalten – und sie hätte es mir wohl auch noch nicht erzählt, sie hat sich verhaspelt! Zuerst wollte sie auf jeden Fall ihren Vater erreichen, aber der scheint auf einem mehrtägigen Jagdausflug zu sein und entweder sein Handy ausgeschaltet zu haben oder keinen Empfang in der Gegend …Was ist?“, unterbrach sie sich, als Angus sich vorbeugte.

Die Freude über die Nachricht von vorhin war fast zur Gänze aus seinem Gesicht verschwunden. „Rhiannon hat Neill nicht erreichen können? Aber du bist sicher, dass sie ihn bis heute gesprochen hat!?“

„Sie hat erzählt, dass dies eine Vereinbarung zwischen ihnen beiden sei, seit es Telegrafen, Funk beziehungsweise Handys gebe: Ein-, zweimal im Jahr geht er gerne gleich für mehrere Tage alleine auf einen Jagdausflug, doch egal wo er ist, er meldet sich nach spätestens einer Woche bei ihr, damit sie sicher sein kann, dass alles in Ordnung ist. Das haben sie beibehalten, seit sie ‚getrennt’ leben und obwohl er als reinrassiger Vampir sehr gut auf sich aufpassen kann und Aidan als ihr ehemaliger Jäger jetzt keine Gefahr mehr darstellt … Aber ich habe sie nicht extra zurückgerufen, um mir das bestätigen zu lassen. Ich weiß nur von ihr, dass er sich noch nie um mehr als einen Tag mit seiner Nachricht verspätet hat …“ Sie war verwundert und sah Angus nun forschend an. Auch wir anderen wurden jetzt hellhörig.

Angus lehnte sich wieder entspannt zurück, aber wenn ich mich nicht täuschte, blieb ein letzter Rest Sorge in seinen Augen stehen. Machte er sich Gedanken, ob Neill auf seinem Jagdausflug etwas zugestoßen sein könnte? Er war ein sehr erfahrener Vampir, der wusste, wie er vorgehen musste, um erfolgreich alle möglichen Tiere zu jagen und gleichzeitig ohne große Blessuren davonzukommen! Oder war da noch etwas anderes?

„Gut, das lässt sich ja ziemlich einfach herausfinden.“, meinte er jedoch nur, nahm Eves Hand in seine und verfiel wieder in Schweigen.

Ich sah zu Phoebe hinüber, aber die hatte nur leicht irritiert die Stirn gerunzelt und sah auch nicht danach aus, als ob sie noch einmal nachhaken würde. Also beließ ich es ebenfalls dabei und fing stattdessen wieder damit an, mich über den baldigen O’Brian-Dwyer-Nachwuchs zu freuen.

Fruchtbares Irland!

Die beiden hatten ein gigantisches Abendessen vorbereitet, das sie jetzt unter unser aller Mithilfe nach draußen schafften, wo wir einen weiteren Tisch aufgebaut hatten. Die Stimmung war wieder gelockert und ich genoss das entspannte Zusammensein mit ihnen und das Gelächter, wenn wir uns gegenseitig aufzogen. Später, als es immer dunkler wurde, holte Eve mehrere Windlichte nach draußen, die sie überall verteilte und anzündete.

Es erinnerte an den Abend im Mai, als wir alle abends zum Essen hinter diesem Haus gesessen hatten. Eigentlich eine vollkommen alltägliche Sache, aber damals waren alle Personen anwesend, die in die Geschehnisse um Ashton herum verwickelt gewesen waren. Was eigentlich als Mahlzeit einfach aus Platzgründen dorthin verlegt worden war, hatte sich zuletzt zu einer regelrechten kleinen Feier entwickelt. Dieser Abend damals war erfüllt von einer Stimmung, wie ich sie weder davor noch danach wieder erlebt hatte! Oberflächlich betrachtet waren damals alle heiter und gelöst, aber über allen und allem schwebten noch die jüngsten Erinnerungen und Geschehnisse – und zeitweilig eben auch eine beinahe feierliche Dankbarkeit dafür, dass alle beisammen waren … dass alle lebten! Wir hatten – so war zumindest mein Eindruck gewesen – das Leben gefeiert, nachdem wir so kurz vorher zum wiederholten Mal dessen Vergänglichkeit erlebt hatten.

Ich rief die Einzelheiten dieses Abends und all die damals anwesenden Freunde in mein Gedächtnis zurück und ließ meine Gedanken danach etwas wehmütig ein wenig schweifen – und schien nicht die Einzige zu sein, denn plötzlich wurden alle still, hingen schweigend ihren Erinnerungen nach.

Die nahen Bäume verloren immer mehr von ihrer Farbe und die Konturen der Wipfel, die sich noch kurze Zeit dunkel und scharf gezeichnet gegen den Himmel abhoben, verwischten selbst für meine Augen nach und nach. Jedenfalls solange ich mich im Hellen zwischen den vielen flackernden Kerzen um uns herum befand, denn ansonsten konnte auch ich mich mit nahezu traumwandlerischer Sicherheit im Dunkeln bewegen.

Phoebes und Dorians Sessel standen dicht nebeneinander; sie hatte sich zuletzt in dessen Rundung geschmiegt, seinen Arm um ihre Schulter und wirkte glücklich und schläfrig. Eve hatte ebenfalls die Beine angezogen, den angewinkelten Arm auf die Lehne und darauf den Kopf gelegt, die Augen geschlossen und schien hin und wieder einzunicken. Keiner von uns wollte sich letztlich erheben und zu Bett gehen, der Moment war zu friedlich und der Abend zu schön, als dass jemand ihn so schnell beenden wollte.