Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
"Ein Phönixgeborener steht also vollautomatisch für das Gute? Du denkst, die Geburt bestimmt, ob man bedrohlicher Drache ist oder guter Phönix? Sieh mir in die Augen: Ich weiß sehr, sehr genau, dass geburtliche Abkunft nichts bedeutet!" Der Krieg gegen Dragan ist noch immer lebendig in den Köpfen der Menschen - auch im wiederaufgebauten Born, wo sich die ersten Drachen niedergelassen haben. Während dort Sanara verzweifelt hofft, dass der inzwischen fünfjährige Takar keinerlei Drachenerbe in sich trägt, versucht Fendor, einst Dragans oberster Befehlshaber, ihren gemeinsamen Sohn zumindest von fern im Auge zu behalten. Cam - Camryn - und Jared ihrerseits tun als Phönixe alles, um Phandras Wunden zu heilen. Doch bei Sanara beißt auch Cam auf Granit, spätestens nachdem sie von Fendors Vaterschaft erfahren hat und dennoch Vertrauen zu diesem fasst. Was hat es ausgerechnet in diesen Zeiten mit dem leeren Amulett auf sich, das Abram, nun der älteste Phönix, in einer verborgenen Höhle voller Wandmalereien findet? Weshalb reagiert dieses insbesondere auf Fendor und Takar? Und was bedeuten die dunklen Träume, denen Cam hierauf ausgesetzt ist?
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 710
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Für meinen Bruder Wolfgang, Helfer in allen Lebenslagen.
Danke!
„Jared war ein Mensch wie ich. Als er mich mithilfe seines Amuletts fand, war er jedoch schon seit langer Zeit ein Phönix und auf der Suche nach einem Zweitgeborenen. Auf Phandra –einer Welt, wo Phönixe und Drachen keine Mythen, sondern Realität sind –starb er, um nicht getötet zu werden. Ja, ich weiß, klingt kompliziert. Ist es ja auch. Aber nur so konnte er eine Wiedergeburt anstreben. Um diese zu ermöglichen, brauchte er wie gesagt einen Zweitgeborenen …Kurz und bündig: Er bat mich, ihn nach Phandra zu begleiten.
Ich ging mit. Was er gerne –sehr gerne und mit allen Mitteln! –verhindert hätte, war, dass ich ziemlich schnell Teil des Konflikts mit Dragan, dem mächtigsten der Drachen, wurde. Wir brachen mit Sanara, diesem alten Stinktier, zu deren Großonkel Twegur auf, um gemeinsam in den Grottbergen nach Verbündeten zu suchen. Leute mit teils großen, beeindruckenden Begabungen, die sich dort erfolgreich versteckt hielten. Und dort oben erst stellte Jared fest, dass er doch nicht der letzte Phönix war –was er eine halbe Ewigkeit lang annehmen musste. Abram, sein einstiger Erstgeborener, dessen neuer Zweitgeborener Jean und ein uralter Phönix namens Rondur hatten überlebt, weil auch sie sich verborgen gehalten hatten.
Was soll ich sagen?! Der Kampf gegen Dragan und seine Streitmacht war unausweichlich und sah verdammt aussichtslos aus. Nicht zuletzt, weil dieser Mistkerl sich allen voran einer ganz bestimmten Geisel bediente: Er holte meine Mom, Shannon. Und wie sich zu allem Überfluss herausstellte, war er mein leiblicher Vater. Das geht übrigens niemanden etwas an. Und nehmt das Wort Vater in dicke Anführungszeichen gestellt, denn Jack ist mein Dad!
Wo war ich? Ah, ja: Erst als Fendor, Dragans oberster Befehlshaber, zusammen mit einigen wenigen Gleichgesinnten die Seiten wechselte, schien sich das Blatt zu wenden. Na ja, jedenfalls war da ein Licht am Ende des Tunnels. Ein Drachenflämmchen, wenn ihr mir das Wortspiel verzeiht …
Fendor hatte damals auf Dragans Befehl weitere Geiseln gefangen genommen und ziemlich gezielt nach Sanara Ausschau gehalten, um seine eigenen Pläne ins Rollen bringen zu können. Statt sie auszuliefern, nutzte er die Gelegenheit, ihr von seinem Schicksal zu erzählen, das beispielhaft war für so viele Drachen unter Dragan. Dann allerdings hat er sie mit einer Andeutung konfrontiert, um ihre Ko-operation zu erpressen: Auf die Geiseln, darunter neben meiner Mom auch ihr Großvater Potar, würde der sichere Tod warten … Der Rest ist Sache der beiden, deshalb nur so viel: Sanara wurde schwanger. Punkt.
Danach kam es, wie es kommen musste, denke ich. Als der letzte Kampf in vollem Gange war, hat Jared mich endlich als neuen Phönix von Bourgause akzeptiert – ich wurde geboren. Endlich! Er hat sich so unfassbar lange geziert! Ich liebe ihn, aber alleine dafür könnte ich ihn …
Egal. Jedenfalls nutzte Rondur den Augenblick meiner Geburt: Er opferte sein eigenes Leben, um den abgelenkten Dragan vernichten zu können. Sie vergingen gemeinsam in Rondurs letztem Feuer, dem keine Wiedergeburt mehr folgen würde. … Tut mir leid, mir fehlen noch immer die Worte, um diesen Moment zu beschreiben, denn ich habe noch nie etwas derart Tieftrauriges und gleichzeitig Wunderschönes erlebt wie die Heimkehr eines Phönix nach Phandra!
Dragans Soldaten ergaben sich, die Geiseln waren frei – und das war maßgeblich unseren neuen Verbündeten unter den Drachen zu verdanken.
Sanara allerdings … Ich werde nicht mehr erzählen, als dass sie seitdem überaus zwiespältige Gefühle mit sich herumträgt. Sie hasst Fendor abgrundtief, doch irgendwo in ihrer betonharten Schale steckt ein weicher Kern. … Hab‘ ich das jetzt tatsächlich über sie gesagt? Nicht zu fassen! Ich würde es übrigens jederzeit abstreiten, klar? Tatsächlich aber regt sich tief in ihr etwas, das Fendors Schicksal gegenüber nicht vollkommen mitleidlos ist.
Tja, sie hat Takar geboren, der damit das Kind eines Drachengeborenen und einer Nachfahrin der Phönixe ist.
Und ich breche jedem die Ohrläppchen, der das herausposaunt! Es ist ganz alleine Sanaras Angelegenheit, ob und falls ja, wann sie damit herausrückt, verstanden?
…
Jared hätte das viel besser erzählen können! Oder der Phönix in mir!“
Inhaltsverzeichnis
Rückblick auf die Geschehnisse in „Die Phönixgeborene“; Cam erzählt
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Epilog
Über die Autorin
Danke
Leseprobe aus: „LEGENDE DER FEUERWESEN“
Ich hatte lange gewartet, mich irgendwann schon zum Gehen abgewendet und nach Takar gerufen, als das gleiche, seltsame Gefühl wie damals mich schon nach wenigen Schritten wieder innehalten ließ. Den Bogen in der Hand drehte ich den Kopf Richtung Wald. Da stand er, an exakt der gleichen Stelle wie vor exakt einem Jahr. Und dem Jahr davor. Und dem Jahr davor. Und wie immer rührte er sich nicht.
Takar kam durch das hohe Gras auf mich zu und blieb wie damals dicht neben mir stehen, doch dies-mal verzichtete ich darauf, einen Pfeil aus dem Köcher zu ziehen – auch wenn es mich einige Überwindung kostete.
„Mutter?“, flüsterte Takar, genau wie damals.
„Alles ist gut, bleib ganz ruhig. Und bleib hier bei mir, Takar.“
„Wer ist das?“
„Er hat schon einmal dort gestanden, erinnerst du dich?“
Ohne hinzusehen und daher nur aus dem Augenwinkel, bemerkte ich sein Kopfschütteln, dann jedoch schien er unsicher zu werden.
„Es ist ein Jahr her, also kann es gut sein, dass du es vergessen hast.“
„Nein, ich weiß es wieder. Wer ist das und wieso steht er wieder da? Warum kommt er nicht her? Ist er böse? Oder hat er Angst?“
Ich zögerte. Mir war klar, dass ich diese Fragen provoziert hatte, ganz alleine schon deshalb, weil ich ihn wieder mitgenommen hatte. Und obwohl ich ein weiteres Jahr lang Zeit gehabt hatte, mir eine Antwort auf diese und andere mögliche Fragen zu überlegen, wusste ich doch noch immer nicht, was ich sagen sollte.
„Ich glaube nicht, dass er Angst hat. Ich glaube, er ist neugierig. Was ich sicher weiß, ist, dass du keine Angst vor ihm haben musst, und das ist doch das Wichtigste, oder?“
„Wenn er neugierig ist, warum kommt er dann nicht her?“
Ein winziges Lächeln hob meinen rechten Mundwinkel und ich warf ihm einen kurzen Blick zu. Kurz nur, denn ich wollte den Drachen nicht aus den Augen lassen.
„Na ja, vielleicht weil nicht jeder so neugierig ist wie du? Nicht jeder rennt gleich los, um herauszufinden, was genau seine Neugier geweckt hat.“
Mein fünfeinhalbjähriger Sohn verzog sichtlich das Gesicht. Offenbar gefiel es ihm nicht, gemaßregelt zu werden.
„Neugier ist gut, Takar, denn nur so lernst du. Aber Neugier ohne Vorsicht und ohne vorher wenigstens zu überlegen …“
„Bleiben wir jetzt hier stehen?“, fiel er mir ungeduldig ins Wort.
Ich seufzte und fixierte den Drachen, der noch immer regungslos am Waldrand stand und zu uns hersah.
„Ich weiß es ehrlich gesagt nicht!“, rutschte es mir heraus, bevor ich es verhindern konnte. Dann sah ich zu meinem Sohn hinunter und betrachtete stirnrunzelnd sein verwirrtes Gesicht. „Nein, wir werden gehen. Einen Augenblick nur.“
Ich zog einen Pfeil aus dem Köcher und ignorierte Takars erschrecktes Einatmen. Den Schaft mit zweien der Finger, die auch den Bogen hielten, umfassend zog ich einen kleinen, vorbereiteten Zettel aus der Tasche meiner Hose. Er war fest zusammengerollt und würde im Flug sicher nicht verlorengehen. Dennoch wickelte ich ihn sorgfältig hinter der Pfeilspitze um den Schaft, band zusätzlich das dünne Fädchen darum herum und warf einen scharfen Blick in seine Richtung. Erst dann legte ich an, spannte den Bogen und visierte als Ziel einen auffälligen Baumstamm nur wenige Schritte von ihm entfernt.
Ich verfehlte nur sehr selten mein Ziel. Und obwohl eine kleine Bewegung meinerseits genügt hätte, um selbst in letzter Sekunde die Flugbahn noch zu ändern, regte er sich nicht. Er bewegte sich nicht um einen einzigen Schritt zur Seite.
Der Faden hatte den Zettel gehalten. Und nachdem beides sein Ziel erreicht hatte, senkte ich den Bogen zufrieden wieder.
„Jetzt können wir gehen! Komm, heute Abend gibt es etwas von dem Braten, den deine Großmutter uns heute Morgen gebracht hat. Und als Nachtisch Beerenmus mit viel Süßrahm, was hältst du davon?“
„Lecker! Was war das, Mutter? Was war das für ein Zettel? Und weshalb …“
„Nur eine kleine Nachricht.“
„Wer ist dieser Mann?“
Ich warf ihm einen kurzen Blick zu und beschleunigte meine Schritte, sodass er ein wenig Mühe hatte, mir zu folgen.
„Ich kenne ihn nicht. Oder besser gesagt: Wir … sind uns schon ein paar Mal begegnet, aber wirklich kennen … Nein. Und mit dieser Nachricht … Nun, ich habe ihn wissen lassen, dass ich nicht möchte, dass er uns auf diese Weise beobachtet.“
„Aber er steht doch nur da! Ist er doch gefährlich, Mutter? Du hast doch gesagt, wir müssen keine Angst haben.“
Ich verlangsamte und überlegte rasch, dann blieb ich noch einmal kurz stehen und warf einen Blick zurück. Er hatte den Pfeil aus dem Baumstamm gezogen und offenbar auch den Zettel schon gelesen.
„Und das stimmt auch. So weit kenne ich ihn nun doch! Dennoch gilt für dich, was allgemein bei allen Fremden gilt, Takar: Vorsicht! Wenn du nicht weißt, wen du vor dir hast, dann hast du Vorsicht walten zu lassen! Selbst wenn dein Verstand dir sagt, dass dein Gegenüber harmlos und vertrauenswürdig ist: Sobald dein Gefühl dir sagt, dass Achtsamkeit angeraten ist, dann hör immer auf dein Gefühl.“
„Mein Gefühl?“
„Du spürst es in deinem Bauch. Harmloses Äußeres, harmloses Gebaren und schöne Worte können trügen. Du hast einen feinen Sinn für Gut und Böse geerbt – vertrau darauf! Immer! Und jetzt komm, ich habe Hunger. Du nicht?“
Er nickte stumm und mit großen Augen, warf seinerseits noch einen Blick zurück und blieb dann dicht neben seiner Mutter. Die seltsame Wärme in seinen Händen, die er nicht erklären konnte, begleitete ihn noch eine ganze Weile und erst als sie den Waldrand nicht mehr sehen konnten, verschwand sie.
Wie alle Kinder zögerte Takar auch heute das Schlafengehen so lange wie möglich hinaus. Ich hatte diesmal nachgegeben und ihm sogar auf der Bettkante sitzend noch eine Geschichte erzählt. Natürlich von den Phönixen, von denen er nicht genug hören konnte. Erst als er eine Weitere verlangte, lehnte ich entschieden ab und beugte mich zu ihm hinunter, um ihm wie jeden Abend einen Kuss auf die Stirn zu geben.
„Schlaf jetzt, für heute ist es genug. Morgen möchte ich gemeinsam mit dir die Fallen kontrollieren, das wird anstrengend.“
„Morgen wollte ich doch zu Potar gehen, er will mir zeigen, wie man Angelköder macht.“
„Stimmt, das habe ich ganz vergessen. Wann sollst du da sein?“
„Ich soll gleich nach dem Frühmahl kommen.“
„Wenn das so ist: ein Grund mehr, jetzt zu schlafen! Gute Nacht, ich wünsche dir lichterfüllte Träume.“
„Ich dir auch. Mutter?“
„Was denn noch?“, stemmte ich gespielt ungeduldig die Hände in die Seiten.
„Du wünschst mir immer lichterfüllte Träume! Träumst du auch manchmal vom Feuer? Von hellen Flammen? Oder von den Phönixen? Wann kommen sie wieder her?“
Da war er wieder: ein leiser Stich in meiner Magengrube. Wann immer er von Feuer sprach, spürte ich ihn. Ich konnte die Träume meines Sohnes nicht einschätzen, auch wenn ich davon überzeugt war, dass bislang keiner davon bedrohlich oder beängstigend gewesen war. Doch noch jedes Mal stellte ich mir die Frage, wie das Feuer in seinen Träumen aussah. War es warm und heilend wie das der Phönixe oder dunkel und verzehrend wie das der Drachen? Er hatte Letzteres nie erlebt. War es für ihn aus diesem Grund nicht bedrohlich?
Schnell schüttelte ich diese Gedanken wieder ab. Takar war ein Kind.
„Ich weiß nicht, wann sie zurückkommen, Takar. Phandra hat nur noch wenige Phönixe, sie können nicht unentwegt hier sein. Und ja, ich träume auch manchmal davon. Deshalb wünsche ich dir ja auch jeden Abend so helle, lichterfüllte Träume, wie ich sie manchmal habe. Sie sind tröstlich wie das Feuer des Phönix, oder?“, konnte ich mir nicht verkneifen.
Er nickte jedoch nur stumm.
„Gute Nacht.“
„Gute Nacht“, drehte er sich in seinem Bett zur Wand und zog die Decke bis über seine Ohren.
Durch den langsam kleiner werdenden Spalt betrachtete ich seine schmale Gestalt noch einen Augenblick, dann zog ich die Tür endgültig ins Schloss.
Seit vor gut einem Jahr dieses Häuschen, das noch immer eher einer Hütte als einem Haus glich, fertiggestellt worden war und wir hierher umgesiedelt waren, war mir ein Teil der Last von meiner Seele genommen. Hier draußen, gerade einmal rund zehn Minuten Fußweg von Born entfernt, waren wir ungestört. Weder meine Mutter noch Großvater hatten meine Entscheidung verstanden und es war Camryn zu verdanken gewesen, dass man mir keine weiteren Steine in den Weg gelegt hatte. Ich hasste es, diesem Phönix dankbar sein zu müssen, aber ihre Einmischung und Fürsprache hatten bewirkt, dass man uns sogar mit vereinten Kräften diese Behausung … dieses Zuhause errichtet hatte. Und es hatte für einmal keiner Worte bedurft, denn Camryn hatte begriffen, wie wichtig es für mich war, unbeobachtet zu entdecken, wie das Wesen meines Sohnes sich entwickeln würde.
Jetzt stieg ich leise die Stufen der Holztreppe hinunter, warf nach einem kontrollierenden Blick noch ein letztes Scheit auf das Feuer im Herd und dann einen Blick aus dem Fenster. Es war noch eine Weile hin bis Mitternacht, doch nachdem ich mich nach einer halben Stunde versichert hatte, dass Takar fest schlief, nahm ich die Jacke vom Haken neben der Tür. Und nach kurzem Überlegen auch das Messer, dessen Scheide ich diesmal so zurechtrückte, dass es hinter meinem Rücken nicht zu sehen sein würde.
„Zeit für ein paar Fragen! Und Zeit für ein paar Regeln!“, grollte ich dumpf.
Die Mondsichel stand schmal und klar am Himmel und meine Augen hatten sich längst an das Dunkel hier draußen gewöhnt. Still beobachtete ich, wie er langsam weiterwanderte, und warf immer wieder auch einen kontrollierenden Blick hinab zu der Hütte. Von hier oben hatte ich sowohl einen guten Blick über die weiten Brachwiesen, die Born als Heuwiesen dienten, und einen Teil des Waldes als auch zu den Häusern von Born.
Born, das wiederaufgebaut worden war nach dem Höhepunkt von Dragans zerstörerischem Krieg. Born, das mir lange Heimat gewesen war, wenn auch eine trostlose. Der größte Teil der Häuser blieb hinter einem Ausläufer des Waldes verborgen und auch der sanfte, flache Hügel gleich hinter unserer Hütte versperrte mir einen Teil der Sicht, doch seltsamerweise empfand ich die sichtbare Nähe als tröstlich. Unsere Hütte lag alleine in dieser Senke, aber diese Einsamkeit bedeutete damit keine Isolation. Nah und doch entfernt.
Wieder drehte ich den Kopf in die Richtung, aus der er kommen musste. Und zum sicher zehnten Mal kontrollierte ich, ob das Messer noch an seinem Platz war. Dem Stand des Mondes und der Sterne nach war es nicht mehr lange bis Mitternacht, als ich seine Gestalt gegen den etwas helleren Hintergrund der Wiese bemerkte.
Sehr schnell trat daraufhin auch ich aus dem Schatten des mächtigen Baumes und blieb dann breitbeinig und mit verschränkten Armen mitten auf der Wiese stehen, um ihn zu erwarten.
„Das ist nahe genug! Bleib dort stehen!“, rief ich halblaut und presste die Lippen zusammen, als er erst nach weiteren vier, fünf Schritten innehielt und stehen blieb.
„Du hast mich hergebeten, schon vergessen? Ich gestehe, dass ich erstaunt war über deine Nachricht.“
„Die ich dir am liebsten noch ein wenig persönlicher hätte zukommen lassen!“, giftete ich.
„Lass mich raten: zielgenau in meine Brust.“
„Treffer!“, dehnte ich genüsslich und doppeldeutig.
„Dann darf ich dich auch daran erinnern, dass du mich letztes Jahr wie auch vorletztes und vorvor…“
„Das ist unnötig, ich weiß, was ich gesagt habe. Nötig ist etwas anderes: Regeln! Takar wird älter. Und er hat Fragen. Du kannst nicht länger plötzlich auftauchen und uns beobachten. Jedenfalls nicht, wenn er dabei ist. Bisher habe ich es gestattet, doch als ich heute hören musste, dass er sich an die letzte Begegnung dieser Art erinnerte …“
„Begegnung!“, echote er ironisch.
„Allerdings! Für einen Fünfjährigen ist er recht klug und aufgeweckt! Ich kann verstehen, dass du dir über sein Werden und Wohlergehen in regelmäßigen Abständen ein Bild verschaffen möchtest, doch ich muss sicherstellen, dass er dich dabei nicht sieht. Ich möchte nicht, dass du irgendeinen Kontakt zu ihm aufbaust, ist das klar? Wenn ich ihn vor dir schützen will, muss das aufhören!“
„Vor mir schützen? Er ist auch mein Sohn!“, grollte er.
„Denkst du, das weiß ich nicht?“, zischte ich wütend und nahm beide Hände herunter, um sie zu Fäusten zu ballen. „Glaub mir, diese ‚Begegnung‘ wird mir bis an mein Lebensende in deutlicher Erinnerung bleiben! Und jetzt darf ich dich an etwas erinnern: Du hast mir gesagt, ich soll ihn erziehen und …“
„In deinem und meinem Sinne!“, fiel er mir ins Wort. „Ich stehe zu meinem Wort, aber vergiss nicht, dass er auch mein Erbe in sich trägt! Ich werde euch nicht zu nahe kommen, aber er ist auch mein Sohn und ich muss ihn schützen können, genau wie du ihn schützt! Und dazu gehört nun einmal, dass ich … zumindest in der Nähe bin.“
Fassungslos öffnete ich den Mund und starrte zu seinem dunklen Schemen hinüber.
„Was meinst du damit, du bist in der Nähe?“
Er trat langsam zwei, drei weitere Schritte auf mich zu und verhielt wieder.
„Nicht das, was du offenbar denkst! Nicht das, was du mir gerade offensichtlich unterstellst! Du weißt nichts von mir, Sanara von Born. Ich halte mich fern und es war einem unglücklichen Umstand zu verdanken, dass du mich damals dort draußen bemerkt hast. Um Takars Willen blieb ich stehen anstatt sofort zu verschwinden, und trat lediglich deshalb gänzlich hinter dem Baum hervor, um nicht den Eindruck zu vermitteln, ich läge auf der Lauer. Ich wollte ihm keine Angst einjagen. Und ich kam nur deshalb im letzten und in diesem Jahr noch einmal derart offen her, weil du es mir erlaubt hast. Ich fühle mich an mein Wort gebunden und hätte gedacht, dies so hinreichend zu zeigen, doch offenbar habe ich mich getäuscht. Wenn ich also von ‚Nähe‘ spreche dann heißt das, dass ich innerhalb weniger Minuten hier sein könnte. Ich fühle, wenn etwas nicht stimmt.“
Ich hatte schon Luft geholt zu einer wütenden Erwiderung, stockte jetzt jedoch.
„Du spürst, wenn er in Gefahr ist?“
Offenbar nickte er. Jedenfalls glaubte ich, das zu erkennen.
„Ja“, kam es dann. „Unterschwellig, wie eine Ahnung. Auch zwischen uns ist ein Band, auch wenn er sich dessen nicht bewusst ist. Vor sieben Monaten war er ernstlich erkrankt, richtig?“
„Ja. Ein Fieber. Einer der Phönixe war glücklicherweise in der Nähe und hat ihn geheilt“, erwiderte ich gepresst. Takar hatte zwei Tage lang in hohem Fieber gelegen, bis endlich Jared gekommen war und es ihm genommen hatte. Zwei Tage später war er wieder wohlauf.
„Und als er drei Jahre alt war?“
Ich schluckte. Schon die Erinnerung daran …
„Ein Sturz. Er ist auf den Tisch geklettert, als ich nicht hinsah, und ist unglücklich heruntergefallen. Ich habe nicht aufgepasst. Nicht gut genug. Er brach sich den linken Arm und damals war kein Phönix da.“
„Kinder verletzen sich. Selbst wenn man gleich daneben stünde, nicht alles kann man verhindern. Du machst dir Vorwürfe? Es fällt dir schwer, ihn selbstständig werden zu lassen?“
„Ich muss ihn beschützen! Möglicherweise auch vor sich selbst, Drache!“, fuhr ich ihn wütend an. „Und nein: Auch wenn ich oft genug tausend Tode vor Angst sterbe, niemand weiß besser als ich, dass es besser ist, so früh wie möglich selbstständig zu werden! Er muss das üben, ich lasse ihn also klettern und ich lasse ihn rennen und schwimmen und zeige ihm den Umgang mit Pfeil und Bogen, mit Schleuder und Messer. Er muss irgendwann selbst für seine Sicherheit und seinen Unterhalt sorgen können.“
„Noch ein Grund, weshalb ich dich gewählt habe“, kam es leise.
„Gewählt!“, wurde ich noch lauter und presste meine Fingernägel in die Handflächen. „Du hast mich genötigt, gezwungen! Mit dem Tod der anderen gedroht!“
„Ich bin nicht hier, weil ich deine Verzeihung erbitten möchte! Ich habe mich bereits entschuldigt, auch wenn ich weiß, dass mich dein Hass bis an mein Lebensende verfolgen wird. Ich bin lediglich hier, weil es um das Wohl und Wehe unseres Sohnes geht, um nichts anderes. Mein Bemühen, mich fernzuhalten und mein damaliges Bemühen, dir keinen unnötigen Schmerz zuzufügen und jede Erinnerung zu nehmen …
Lassen wir das. Ich werde mich zukünftig also vor ihm zu verbergen wissen, doch ich werde immer wieder einmal herkommen, um ihn aus der Ferne zu sehen. Deinen und meinen Sohn! Und eines Tages musst du ihm ohnehin die Wahrheit erzählen, oder? Wie lange willst du damit warten? Schweigen kann auch als Lüge ausgelegt werden!“
Mein ach so schwer zu zügelndes Temperament gab mir ein, mich voller Wut und Hass auf ihn zu stürzen und ihm mein Messer bis ans Heft in die Brust zu rammen. Dort, wo vermeintlich sein Herz sitzen sollte. Es kostete mich alle Selbstbeherrschung, diesem Impuls nicht nachzugeben und stattdessen lediglich zwei weitere, eckige Schritte auf ihn zuzutreten.
„Es ist ganz alleine meine Sache, wann ich es ihm erzähle, verstanden? Es ist ganz alleine meine Sache, ihm sein mögliches – und ich betone: mögliches! – Erbe zu erklären, ist das klar? Halte dich fern von uns! Wenn es denn unbedingt sein muss, dann können wir seine Fortschritte so wie jetzt und auf diese Weise austauschen – mehr nicht! Du bist nicht mehr als derjenige, der seinen Samen in mich gelegt hat, und du wirst nie mehr als das sein! Egal, was dich damals dazu bewegt hat, mir das anzutun, es ist bedeutungslos! Komm meinem Sohn zu nahe und ich töte dich! Und das ist keine Drohung, das ist ein Versprechen! Ich werde nicht zulassen, dass aus ihm ein Drache wird.“
Bis hierher konnte ich hören, wie er tief Luft holte.
„Das ist, was ich wollte. Dennoch: Wenn er genügend von mir in sich trägt, wird auch er zum Teil wie ich sein.“
„Denkst du, das weiß ich nicht? Hast du mir gerade nicht zugehört?“, giftete ich ihn an.
„Oh! Mein Fehler, ich habe etwas falsch eingeschätzt: Ich hätte gedacht, dir wären die Unterschiede unter uns Drachengeborenen deutlich geworden. Es ist kein Versuch einer Entschuldigung meiner Taten, wenn ich sage: Dragan hat uns zu dem gemacht, was wir seinerzeit waren. Wenn wir aufgewachsen wären in unseren Familien und eine normale Kindheit gehabt hätten, wäre es nie so weit gekommen, wie es gekommen ist!
Ein Denkanstoß: Was glaubst du würde aus Takar, wenn ein Dragan dich vor seinen Augen töten und ihn verschleppen würde, um ihn zu erziehen? Nein, ich bin noch nicht fertig!“, fuhr er auf, als ich zu einer Erwiderung ansetzte. „Denk von mir, was du willst, aber verschließ deine Augen nicht davor, dass er eines Tages die Wahrheit erfahren oder erkennen wird! Irgendwann wird er es zumindest ahnen – was wird er deiner Meinung nach dann tun, sagen oder dir vorwerfen? Treibe nicht schon jetzt einen Keil zwischen dich und ihn, denn möglicherweise könntest du den entstehenden Spalt nicht mehr schließen!
Denk darüber nach, Sanara von Born. Ich kann warten! Takar auch? Wenn du reden willst, steck einfach eine Nachricht in den Stamm des Baumes am Waldrand, ich werde von nun an regelmäßig nachsehen und würde kommen. Ansonsten jedoch gilt Folgendes: Ich werde mich fernhalten, doch wenn ich irgendwann den Eindruck gewinne, dass er meine Hilfe braucht, werde ich kommen!“
„Wage es nicht!“, zischte ich.
„Es ist kein Wagnis“, hielt er im Rückwärtsgehen noch einmal inne. „Ich bin sein Vater, ob es dir gefällt oder nicht. Ich werde ihn beschützen, wenn nötig mit meinem Leben – etwas, das du eigentlich begrüßen solltest. Denk also auch darüber nach, Sanara.“
Die Hand hinter meinem Rücken schon am Heft des Messers sah ich zu, wie er sich nahezu lautlos entfernte, wie seine Gestalt immer kleiner wurde und zuletzt mit den Schatten des Waldes verschmolz. Dennoch blieb ich sicher noch minutenlang reglos stehen und starrte auf den Punkt, an dem er verschwunden war, bevor ich die verkrampften Finger wieder löste, mich umdrehte und mit großen, schnellen Schritten zurück zu unserem Haus marschierte. Wenn er mit seinem Feuer gegangen war, dann weit genug von hier entfernt, dass meine Augen es nicht hatten sehen können.
Der nächste Morgen begann schon früh, denn wie zu erwarten war Takar vor mir wach und brachte die erste Mahlzeit des Tages nur ungeduldig zappelnd hinter sich.
„Ich bin satt, Mutter. Darf ich jetzt gehen?“ Ein paar Brotkrümel flogen aus seinem Mund, als er mit vollem Mund diese Frage stellte.
Ich hob beide Augenbrauen und wartete schweigend. Er verstand, verdrehte kauend die Augen, schluckte krampfhaft, verschluckte sich prompt und hustete. Ich sah ihm einigermaßen ungerührt zu, zumindest äußerlich. Erst als sein Husten sich legte und er nach einem kräftigen Schluck aus meinem Becher wieder zu Atem gekommen war, legte sich meine Sorge, er könnte ersticken. Und erst als er seine Frage wiederholt hatte, diesmal überaus verständlich und ohne Krümel über den Tisch zu verteilen, bekam er seine Antwort:
„Bring deinen Teller und Becher zum Spülbecken, dann kannst du meinetwegen gehen. Worauf sollst du unterwegs achten, wenn du alleine gehst?“
„Es ist doch nur das kleine Stück! Immer dasselbe!“, nörgelte er.
„Richtig, du bist ein kluger Junge. Also?“
„Ich gehe an Großmutter vorbei geradewegs zu Potar, ich mache keine Umwege und klettere nirgends herum. Ich esse nichts, was ich nicht ganz genau kenne – die Beerensträucher zwischen hier und Born sind sowieso schon abgeerntet –, ich komme vor dem Dunkelwerden zurück und ich jage keine Wildschweine!“, leierte er in einem Atemzug und mit einer übertriebenen Betonung herunter.
„Takar?!“, runzelte ich mahnend die Stirn und verschränkte die Arme vor der Brust.
Er stöhnte.
„Ich klettere nur dann auf einen Baum, wenn ich etwas Verdächtiges höre, das ein Wildschwein sein könnte! Und ich weiß, dass Wildschweine gefährlich sein können! Mutter, ich bin doch schon oft alleine gegangen und wenn ich renne, bin ich schneller in Born als du. Ich kann sehr schnell rennen, ich schlage dich in jedem Wettlauf!“
„Das will ich sehen!“, versetzte ich trocken, dann nickte ich seufzend. „Bestell allen einen Gruß von mir. Und frag Potar, ob er vorhat, morgen oder in den nächsten Tagen auch gleich mit dir angeln zu gehen, um die neuen Köder auszuprobieren. Dann werde ich die Fallen alleine kontrollieren und du könntest eine Nacht in Born verbringen. Ich möchte nur vorher Bescheid wissen.“
„Wirklich? Das wäre toll!“, hopste er begeistert zwei-, dreimal, bevor er den Kopf leicht zur Seite neigte. „Du gehst alleine?“
Diesmal konnte ich mein Grinsen nicht verbergen.
„Ja. Und ich werde keine unnötigen Umwege machen, nirgends herumklettern, nichts essen, was ich nicht ganz genau kenne und ganz sicher keine Wildschweine jagen! Zufrieden?“
„Ja. Kann ich jetzt gehen?“
„Nimm deine Jacke mit.“
„Mach ich! Bis heute Abend!“, wandte er sich schon ab, zog im Vorbeilaufen die lederne Jacke vom Haken neben der Tür und rannte hinaus – ohne sie überzuziehen oder sich die Mühe zu machen, die Tür richtig hinter sich zuzuziehen.
Ich trat ebenfalls nach draußen und bis an die Ecke des Hauses, um ihm hinterherzusehen, bis er meinen Blicken entschwand. Noch vor dem Winter würde er neue Kleider benötigen, denn er hatte schon wieder einen Schuss getan. Und nicht zum ersten Mal fragte ich mich, ob es wirklich nur die allen Kindern eigene unermüdliche Energie war, die ihn so … unermüdlich machte!
„Cam? Ist alles in Ordnung?“
Ich drehte den Kopf und sah zu, wie er aus dem See stieg, mit beiden Händen die tropfnassen Haare aus der Stirn schob und dann mit einem snften Leuchten dafür sorgte, dass das Wasser des Sees auf seiner Haut verdunstete.
Noch immer reagierte ich außer mit Herzklopfen auch mit einiger Atemlosigkeit, wenn er so wie jetzt hier draußen völlig gelassen unbekleidet in den See sprang – oder wieder herauskam. Er hatte mich an-fangs dafür verspottet, aber sehr schnell damit aufgehört als ihm klar wurde, dass ich tatsächlich nicht ohne Weiteres und ganz sicher nicht so bald dieses Schamgefühl würde ablegen können. Jedes Mal musste ich mir energisch bewusst machen, dass wir hier draußen tatsächlich absolut und vollkommen und in meilenweitem Umkreis alleine und unbeobachtet waren. Und alleine. Unbeobachtet! Das vor allem!
„Cam?“, hakte er nach und zog seine Hosen über.
„Hm? Oh, ja, alles in Ordnung. Ich musste nur vorhin wieder an die Leute in diesem kleinen Dorf denken. Du weißt schon: die streitenden Kinder, das brennende Stroh … Was meinst du, sind solche Streitigkeiten noch immer an der Tagesordnung?“
Er war neben mich getreten und ließ sich, noch immer mit nacktem Oberkörper, neben mir auf der Decke nieder, die mir vor wenigen Wochen eine Frau geschenkt hatte. Dafür, dass ich ihre Tochter von einem schon so lange andauernden Husten befreit hatte. Sie ließ sich nicht davon abbringen und irgendwie gefiel es mir, unser ‚Nest‘ damit auszustatten. Jared hatte bei dieser Bemerkung geschmunzelt, dann aber gefragt, ob ich etwas vermisse. Ich hatte ihn beruhigen können – und ihm das Gegenteil bewiesen.
Der Gedanke daran huschte davon und ich drehte den Kopf erneut und seufzte glücklich, als er mir einen leichten Kuss gab. Die Wärme der Sonne, die noch mehr als ausreichend war, um diesen Herbst zu einem der schönsten der letzten Jahre zu machen, war nichts gegen die Wärme, die Jared neben mir ausstrahlte. Phandra gab uns alles, was wir brauchten.
„Ich denke schon. Nicht unbedingt an der Tagesordnung, aber es wird noch sehr, sehr lange dauern, bis das alte Misstrauen verschwunden ist. Es ist gut, dass der Vater eingeschritten ist und die Jungen vor den Dorfbewohnern gemaßregelt hat.“
Ich nickte und seufzte erneut, diesmal jedoch besorgt, dann rief ich mir diesen Streit ins Gedächtnis zurück. Vier sich prügelnde Jungen im Alter von kaum zehn Jahren hätten um ein Haar eine Scheune in Brand gesetzt. Einer davon, besser gesagt: eines von mehreren Kindern einer kleinen Gruppe Teilbegabter; Überlebende, die sich etwa einen halben Tag entfernt von diesem Dorf niedergelassen hatten und anlässlich des Markttages gekommen waren, um Waren zu verkaufen oder gegen Vorräte für den Winter zu tauschen.
Die Jungs hatten die Gelegenheit genutzt und sich umgesehen – und waren in Streit geraten mit zwei Jungen aus dem Dorf. Soweit ich mitbekommen hatte, war es um eine Kleinigkeit gegangen: Einer hatte ein Spielzeug näher betrachten wollen und das war ihm verweigert worden. Wir waren auf die Prügelei aufmerksam geworden, weil so etwas nun mal selten ohne Lärm vonstattenging, und kamen gerade dazu, als der Drachenjunge ausholte, um dem Jungen, der rittlings über ihm saß, eine Ohrfeige zu verpassen. In ausgerechnet diesem Moment bildete sich eine kleine Flamme auf seiner Handfläche, löste sich und ließ einen Strohballen gleich daneben sofort Feuer fangen. Direkt an einer Scheune voller Heu. Ein Windstoß hatte genügt, um gleich drei weitere, an der Außenwand aufgestapelte Ballen ebenfalls Feuer fangen zu lassen …
Jared hatte schon den Arm gehoben, um das Feuer zu ersticken, doch da war ein Mann neben uns getreten, der ihm zuvorkam. Ebenfalls mit einer einzigen Bewegung des Arms hatte er die Flammen erstickt, sodass nur noch die schwarzverkohlten Halme außen und dünne Rauchfäden davon zeugten, dass hier beinahe ein Unglück geschehen wäre:
„Feren! Steh auf und komm her, sofort! Und ihr auch!“, donnerte er streng. So streng, dass sogar ich zusammenzuckte.
Der Junge aus dem Dorf sprang sofort auf und gab den noch immer auf dem Boden liegenden Gegner frei, sodass dieser sich aufrappeln und mit durchaus schuldbewusster Miene herbeikommen konnte, seine Freunde im Gefolge.
„Es tut mir leid, Vater! Es kommt nicht wieder vor!“, meinte er leise, als er bei unserer Gruppe anlangte. Und eine Gruppe war es inzwischen, denn jetzt hatten sich auch zwei weitere Drachen eingefunden – und sicher acht oder neun Dorfbewohner, die dies alles mitbekommen hatten.
„In der Tat, das wird es nicht! Du wirst auf der Stelle nach Hause gehen und das Haus in den nächsten vier Wochen nicht ohne meine Erlaubnis verlassen! Und du entschuldigst dich bei diesem Jungen und dem Besitzer der Scheune! Darüber hinaus wirst du ihm bei einer von ihm zu bestimmenden Arbeit helfen, um seinen Schaden zu ersetzen, ist das klar?“
„Ich soll … Ich habe diesen Streit nicht angefangen, Vater!“, wehrte der Junge sich und hob den Blick, um den Mann neben Jared vorwurfsvoll anzusehen. „Ich wollte nur einen Blick auf die geschnitzten Figuren werfen, mit denen die …“
„Einen Blick werfen, ja, ja! Das kennt man ja!“, hörte ich eine ältere Frau murmeln, die gerade erst herangekommen war und jetzt stehen blieb.
Ich musterte sie, wurde aber wieder abgelenkt, als sich jetzt auch die anderen Jungen zu Wort meldeten.
„Das stimmt! Er wollte nur sehen, wie sie aussehen, um später selbst versuchen zu können, so etwas zu schnitzen!“, deutete der Kleinste von ihnen auf ein paar Figuren, die jetzt vergessen im Gras unweit der Stelle der Prügelei lagen. Offenbar Phönixe aus hellem und Drachen aus dunklem oder geflämmtem Holz. Ich konnte ein Seufzen nicht unterdrücken.
Der Vater hatte ebenfalls einen Blick in die angedeutete Richtung geworfen und richtete sich daraufhin auf, um den Dorfjungen mit schmalen Lippen einen forschenden Blick zuzuwerfen.
„Holeb?“, drängte sich ein weiterer Mann durch die Umstehenden und musterte uns alle der Reihe nach, entdeckte dann auch die angesengten Strohballen.
„Was ist hier los? Was ist vorgefallen?“, grollte er.
„Ist das dein Sohn?“, deutete der Drache neben Jared.
„Holeb ist mein Junge, ja“, winkte der seinen kleinlauten Sprössling näher. „Was ist hier passiert?“
„Mein Sohn hat deine Strohballen angezündet. Glücklicherweise war ich rechtzeitig hier, um Schlimmeres zu verhüten. Aber er hat dir und deinem Sohn etwas zu sagen … Feren? Entschuldige dich!“
Es war nicht zu übersehen, dass der Gemaßregelte wütend die Hände zu Fäusten ballte.
„Das ist ungerecht, Vater! Es war ein Versehen! Und ich wollte die Figuren nur betrachten!“
„Holeb?“, kam es von dessen Vater.
„Das stimmt nicht! Er hat sie mir weggenommen!“
„Weil du sie mir nicht zeigen wolltest! Ich habe es dir gesagt, ich wollte sie nur ansehen, ich hätte sie nicht behalten!“
„Das reicht!“, grollte der Drache und schüttelte den Kopf, als sein Sohn zu einer erneuten Antwort ansetzte.
„Ja, das finde ich auch!“, murmelte die alte Frau, diesmal schon so laut, dass die nächsten Umstehenden sie hören konnten. „Um ein Haar hätte die Scheune in Flammen gestanden, weil der dort dem Jungen sein Eigentum nicht …“
„Mein Sohn wird sich entschuldigen und Wiedergutmachung leisten“, unterbrach der Drache sie. „Aber er ist kein Dieb! Und er ist noch ein Junge, der Fehler macht! Wollt ihr eure Kinder davon freisprechen, machen sie niemals Fehler? Müssen nicht auch sie lernen, ihre Kraft zu zügeln?“
„Kraft?“, rief jemand von weiter hinten. „Es ist ja wohl etwas mehr als das, schließlich ist es ein Unterschied, jemanden nicht zu verprügeln oder jemandes Haus nicht niederzubrennen!“
„Es ist eine Scheune! Nicht mal das, es war nur Stroh!“, zischte einer der Jungen.
„Damit fängt es an! Und mit ganzen Dörfern hört es auf! Denkt an Born! An Kon!“, rief die alte Frau halblaut.
„Schluss damit!“, trat Jared vor und hob die Hand. „Hört auf! Seht ihr nicht, wohin das hier führt? Ein Streit, wie er jeden Tag zwischen Kindern vorkommt, wird aufgebauscht, bis sich auch die Erwachsenen entzweien! Und der Umstand, dass einer der Jungen teilbegabt ist, ist nicht gleichbedeutend damit, dass er nicht noch lernen muss oder gleich euer Dorf niederbrennen will! Ich kann mich gut erinnern, dass in der Siedlung zwei Stunden von hier entfernt ein sechzehnjähriger Gestalter einmal fast eine kleine Brücke zum Einsturz brachte, weil er seinem Freund einen Streich spielen wollte. Sechzehn – ein Alter, in dem er es hätte besser wissen müssen, oder? Heute ist dieser Junge einer der angesehensten Gestalter in Kon, das längst wieder aufgebaut ist – dank der Mithilfe auch der Drachenähnlichen, vergesst das nicht!
Diese Jungen waren nicht unbeaufsichtigt, es waren Männer in der Nähe, die Schlimmeres sofort verhütet hätten. Und beide Seiten haben nicht die ganze Wahrheit erzählt, richtig? Holeb hat, wenn mein Eindruck mich nicht trügt, Feren durchaus geärgert und ihn wütend gemacht. Er war der Stärkere, der ihn zuletzt nicht mehr freigab, das konnte ich beobachten. Und Feren hat ihm zwar die Figur abgenommen, aber er hat sie ihm nach wenigen Augenblicken auch schon wieder zuwerfen wollen. Oder sogar schon zugeworfen! Weshalb sonst ist sie dort drüben gelandet, während alle anderen noch dort liegen, wo ihr zuvor gesessen habt?“
Überrascht warf ich einen weiteren Blick in Richtung Scheune – und richtig: Das Gras im Schatten war niedergedrückt und dort lagen die meisten Figuren. Von mir unbemerkt hingegen war eine davon etwa auf halbem Weg zwischen dem Kampfplatz und den anderen Figuren gelandet.
„Wie soll Frieden herrschen und Bestand haben, wenn ihr euch schon wegen Holzfiguren streitet? Feren wird aus seinem Fehler schon jetzt etwas gelernt haben und Holeb wird verstanden haben, dass Misstrauen zu nichts führt, ebenso wenig wie der Drang, jemanden so lange zu ärgern, bis dieser sich wehrt. Richtig?“
Es ging noch ein paarmal hin und her, bedeutend sachlicher, und ich wandte mich ab, als die aufgeladene Stimmung sich langsam wieder beruhigte und die Väter – und deren Söhne – sich mehr oder weniger freiwillig bei dem jeweils anderen entschuldigten. Meine Aufmerksamkeit galt der alten Frau, die Jareds Einwänden mit unwillig verzogenem Gesicht zugesehen und -gehört hatte und sich jetzt umdrehte, um wieder davonzuhumpeln.
Mich durch die Umstehenden hindurchzwängend versuchte ich, sie nicht aus dem Blick zu verlieren, aber erst an der nächsten Hausecke entdeckte ich sie wieder, wie sie mit leichtem Hinken und auf ihren Stock gestützt in Richtung der Marktstände ging.
Ich holte sie wenige Meter vor einem der Stände, auf dem die Drachenähnlichen ihre Lederwaren anboten, ein und legte meine Hand an ihre Schulter.
Sie schrak zusammen und hob den Kopf.
„Entschuldige, ich wollte dich nicht erschrecken. Kann ich etwas für dich tun?“
„Für mich? Nein“, schnaubte sie. „Ihr habt genug getan, würde ich sagen! Oder doch: Komm wieder, wenn unser Dorf brennt!“
Ich seufzte. Wieder einmal.
„Glaubst du wirklich, dass dieser Junge euer Dorf hat anzünden und niederbrennen wollen? Denkst du das tatsächlich?“
„Du bist dieser neue Phönix, richtig? Was ich denke, willst du wissen? Ich sage es dir: Es war ein Fehler, die Drachen am Leben zu lassen! Haben sie gefragt oder Erbarmen gezeigt? Nein! Sie sind gekommen und haben genommen und getötet und niedergebrannt, was übrig blieb! Du warst nicht hier, du hast es nicht miterlebt! Also urteile nicht über uns, die es miterleben mussten! Und erlaube dir kein Urteil über unser Urteil!“, stieß sie mit bebender Stimme hervor und wollte sich wieder abwenden.
„Wen hast du verloren?“, fragte ich ihren Rücken, kaum dass sie die ersten beiden Schritte getan hatte.
Sie stockte mitten in der Bewegung und ich glaubte, ein Zittern durch ihren Körper gehen zu sehen. Dann drehte sie sich unendlich langsam wieder zu mir herum.
„Meinen Mann!“, kam es tonlos und heiser zugleich. „Meinen Mann, meinen Sohn und wenig später mein noch ungeborenes Kind. Geblieben ist mir nur unsere Tochter, denn auch das Haus haben sie über unseren Köpfen angezündet, nachdem mein Mann sich gegen sie zur Wehr setzte, als sie unseren Sohn mitnahmen.“
„Wie ist es passiert?“, fragte ich leise.
„Er war erst neun Jahre alt, doch er konnte schon da Illusionen hervorrufen, mit denen er uns so manches Mal zum Narren hielt. Ihn habe ich im Grunde gleich zweimal verloren“, krächzte sie. „Ich weiß nicht, wo er die ersten Jahre gefangen gehalten worden war, irgendwann jedoch hörte ich, er sei in Bourgin. Dragan hatte ihn lange genug in seinen Klauen gehabt, hatte seinen Willen gebrochen. Er erkannte mich nicht einmal mehr, als ich daraufhin nach Bourgin ging, um ihn zu suchen. Nach meinem dritten Versuch warfen sie mich für Monate in ein düsteres Gefängnis und nachdem ich endlich wieder freigekommen war, haben sie damit gedroht, ihn an meiner Stelle in dieses Gefängnis zu werfen. Ich habe es aufgegeben und bin zu meiner Tochter gezogen. Hierher. Viele Jahre später hörte ich, dass er in einer der ersten Schlachten um Bourgin gefallen ist. Mein Sohn starb, weil Dragan es ihm befahl. Sag mir nicht, ich solle Nachsicht mit den Drachen haben, Phönix, sag es nicht!“
Selbst jetzt konnte ich ihre Verzweiflung spüren und ich schluckte und räusperte mich, bevor ich antwortete. Nein, bevor der Phönix in mir antwortete, denn Cam hatte den geringsten Anteil an dieser Antwort:
„Werde ich nicht. Ich kann dein Leid nur teilweise nachfühlen und ich kann daher ganz sicher nicht ermessen, wie schlimm das alles für euch war. Aber was du außer deiner Trauer jetzt noch mit dir herumträgst, ist fast genauso schlimm, denn es verletzt jetzt nur noch dich. Du verletzt dich ständig selbst mit diesem Hass und diesem Rachedurst und tief in dir weißt du das. Und es schadet denen, die nach dir kommen.
Wunden wie deine heilen sicher niemals ganz, aber das gibt dir nicht das Recht, der nächsten Generation die gleichen Wunden zuzufügen. Holeb hat das nicht verdient!“
„Holeb? Ich habe ihm keinen Vorwurf gemacht! Nicht er hat das Stroh angezündet, das war dieser Drache!“
„Feren ist kein Drache, er ist wie sein Vater ein Teilbegabter, kaum neun oder zehn Jahre alt. So alt wie dein Sohn damals. Diese und die noch folgenden Generationen können nur dann Frieden lernen, wenn wir ihn ihnen vorleben. Sie können nur dann verhindern, dass so etwas Entsetzliches noch einmal geschieht, wenn wir ihnen zeigen, was falsch und was richtig ist. Und Kinder wie Feren können nur lernen, dass Hass und Wut immer nur zu neuem Hass und neuer Wut führen, wenn Menschen mit deiner Lebenserfahrung ihnen dabei helfen, beides loszulassen und stattdessen den richtigen Weg zu gehen.
Sie alle sollten angstfrei aufwachsen dürfen und niemals durchmachen müssen, was du durchmachen musstest. Sie alle sollten niemals einen Krieg wie den von Dragan herbeigeführten erleben müssen, sie waren noch zu klein, um Erinnerungen daran mit sich tragen zu müssen! Du bist eine derjenigen, die dabei helfen können, das zu verhindern. Aber nicht, indem du diese Kinder gegeneinander aufhetzt. Oder deren Eltern.
Was mich angeht: Ich möchte nie wieder Wunden heilen müssen, die ein solcher Krieg herbeigeführt hat, vor allem nicht bei Kindern! Und ich möchte nie wieder in Augen von Vätern, Müttern, Brüdern, Schwestern, Söhnen und Töchtern sehen müssen, die wegen solcher Kriege Tote zu beklagen haben!
All diese Wunden sind für die Erwachsenen noch viel zu frisch, als dass wir daran rühren dürften, und nur zu leicht impfen wir unseren Kindern das ein, was wir doch viel lieber selbst nie gefühlt hätten, oder? Ich kann dir weder deine Verluste ersetzen noch deinen Schmerz lindern, noch deinen Hass nehmen oder deine Wut, deinen Wunsch nach Vergeltung. Aber ich weiß genau, dass gerade der Schmerz weniger wird, wenn du ihn akzeptierst und wenn du daran mitwirkst, Phandra zu heilen. Wir vier Phönixe sind zu wenige, um das alleine zu bewerkstelligen. Phandra braucht Menschen wie euch, wie dich, um wieder zu dem friedlichen Ort zu werden, der es einmal war. Eine schwere Aufgabe. Eine sehr schwere, wenn man Verluste wie die deinen erlitten hat!“
Ihre Augen waren feucht geworden und nachdem sie mich mehrere Augenblicke lang ohne zu blinzeln angestarrt hatte, hatte sie sich mit zusammengepressten Lippen abgewandt und war davongegangen. Wortlos.
Am nächsten Tag, kurz bevor Jared und ich aufgebrochen waren, hatte ich sie mit Holeb sprechen sehen. Unweit der Scheune, wo er damit beschäftigt gewesen war, die angesengten Strohballen auseinanderzupflücken – vermutlich um zu sehen, ob ein Teil davon noch brauchbar war. Und ich seufzte schon wieder, als ich dann sah, wie sie sich halb umdrehte, um irgendwem mit der Hand ein Zeichen zu geben. Sie winkte jemanden näher. Ihr Gesicht wirkte zwar noch verkniffen und streng, aber sie nickte auffordernd und wartete, bis der herangekommene Feren Holeb die Hand gereicht hatte – die dieser nach kurzem Zögern ergriff.
Und ich zog mich von der Ecke zurück, als ich sah, dass Ferens Vater zwei Häuser weiter offenbar die gleiche Szene beobachtet hatte …
„Es wird Zeit brauchen. Viel Zeit“, holte Jared mich aus dieser Erinnerung.
„Das fürchte ich auch! Ich wünschte, ich könnte etwas tun“, dehnte ich.
„Um dies abzukürzen? Du kannst die Menschen nicht ändern, Cam. Aber wie ich mitbekommen habe, hast du schon mehrfach sehr erfolgreich eine entsprechende Saat in eines der verwundeten Herzen gelegt, zuletzt in diesem kleinen Dorf.“
Ich blinzelte zu ihm hoch, dann drehte ich mich auf die Seite und stützte mich wie er auf den Ellenbogen.
„Du hast es mitbekommen?“
„Nur das Endergebnis. Ich sah, wie du die Vier beobachtetest, kurz bevor wir aufbrachen, und habe mir meinen eigenen Reim darauf gemacht. Da wir einmal bei diesem Thema sind: Wir tun, was wir können. Genau wie Abram und Jean. Und es ist nicht gut, wenn du ständig darüber grübelst, was wir noch tun könnten. Ist das ein Teil von dir? Du machst dir beständig Gedanken!“
„Kann sein, ja. Es hat mich schon immer total gestört, wenn ich zur Untätigkeit verdammt war. Mir ist klar, dass es Dinge gibt, die sich nun mal nicht ändern lassen und ich habe nicht vergessen, dass ich als Cam auf der anderen Seite selbst so einiges verbockt habe und genauso uneinsichtig war wie die Menschen hier. Aber ich glaube auch, dass mir das den Blick dafür noch ein bisschen mehr geöffnet hat. Ich habe Mom lange Zeit gehasst. Glaube ich. Zumindest war ich unglaublich wütend auf sie und dadurch habe ich kostbare Zeit verloren.“
„Die Menschen brauchen diese Zeit“, erwiderte er.
„Ich weiß“, zog ich betont in die Länge.
„Es muss heilen können.“
„Ich weiß!“, stöhnte ich.
„Die Drachengeborenen geben sich alle Mühe, sich behutsam anzunähern. Sie halten Abstand, gerade so weit, um allen zu signalisieren, dass sie sich annähern möchten, es aber ihnen überlassen, ob sie diese Annäherung wünschen. Und wie wir gesehen haben, legen sie strenge Maßstäbe an, wenn es um die Erziehung ihrer Kinder geht – was den anderen nicht entgehen kann!“
„Ich weiß ja, ich weiß!“, seufzte ich und ließ mich wieder auf den Rücken fallen, um in den beinahe wolkenlosen Himmel zu starren. Maßstäbe! Strenge Maßstäbe! Ich konnte nicht anders, als sofort wieder an Sanara zu denken, die ebenfalls Abstand gesucht hatte. Und an Takar. Was würden die Leute sagen, falls sie etwas sagen würden … Weder Cam noch der Phönix waren sich hierüber sicher.
„Wo bist du mit deinen Gedanken, hm? Ist wirklich alles in Ordnung? Cam, vermisst du wirklich nichts?“, kam es leise von Jared. „Das hier ist für uns, das hier ist dazu da, um Kraft zu tanken. Unsere Aufgabe ist nicht leicht, aber wenn du auch hier beständig …“
„Mir fehlt nicht das Geringste, Jared!“, unterbrach ich ihn sofort und hob die Hand, um mit den Fingerspitzen seinen Mund zu verschließen. „Ich vermisse gar nichts und wenn ich mit dir hier bin … Das hier muss das Paradies sein! Ich vermisse nichts und ich bereue nichts. Und ich liebe dich! In mir ist so viel Glück, dass ich platzen könnte, weil ich zu klein bin, um das alles zu fassen.
Ich muss wohl noch lernen, abzuschalten, wenn wir hier sind. Und wenn ich eins nicht erreichen wollte, dann, dass du dir Sorgen machst. Kann es sein, dass diesmal du etwas noch ganz oft von mir hören musst? Ich bereue nichts, ich liebe es, ein Phönix zu sein, und ich liebe es, hier mit dir alleine zu sein! Und wenn du mir wie schon so oft noch eine Weile dabei hilfst, mich abzulenken, dann lerne ich bestimmt auch irgendwann, nicht mehr zu grübeln, wenn wir hier sind.“
„Ablenken, hm?“, lächelte er, fing meine Hand ein und hauchte einen Kuss auf deren Innenfläche. „Wie soll ich dich ablenken? Möchtest du eine Runde im See schwimmen?“
Alleine sein Blick bescherte mir schon wieder Herzklopfen und ich hielt den Atem an, als er damit begann, mich auszuziehen.
„Obwohl ich inzwischen jedem Delphin Konkurrenz beim Schwimmen machen würde, wüsste ich eine noch viel geeignetere Ablenkung … Komm zu mir, Jared! Wir sind hier alleine, oder?“
„Nur du und ich!“, flüsterte er.
Seine warme Haut auf meiner, seine Wärme, die sich mit meiner mischte, das sanfte, kaum wahrnehm-bare Leuchten, das noch jedes Mal aufglomm …
Mit Jared zu schlafen beinhaltete eine unfassbare und unbeschreibliche Tiefe von Empfindungen – und trotz aller Sanftheit oft genug auch eine unfassbare und unbeschreibliche Leidenschaft! Und wenn er mich so wie heute anschließend mit seinem Feuer in die Luft hob und sich mit mir langsam in einer Pirouette drehte, wanden unsere Flammen sich umeinander herum und verschmolzen zuletzt zu einem Ganzen. Wir waren Eins, mehr als ich mir je hätte erträumen können!
Zwei weitere Tage verstrichen langsam und still, doch als der Morgen des dritten Tages heraufdämmerte und wir eng aneinandergeschmiegt auf unserer Lichtung von der Sonne geweckt wurden, hob Jared schon nach kurzer Zeit den Kopf und sah dann nach oben. Ich dämmerte noch halb in einem Traum gefangen allmählich und durchaus gemächlich dem Wachwerden entgegen, mit dem Gefühl, einen vollkommen von Wärme gesättigten … nein, einen vollkommen satten und mit Glück durchtränkten Körper zu besitzen, als er sich aufrichtete.
„Was ist?“, blinzelte ich.
„Hörst du das? Wenn du genau hinhörst …“
Ich hielt den Atem an und lauschte. Ein leiser, feiner Ton schien von irgendwo über die Baumspitzen hinweg heranzuschweben und kaum hatte ich ihn vernommen, verklang er auch schon wieder.
„Was ist das?“
„Abram!“, murmelte er, sichtlich überrascht.
Ich war schlagartig wach und setzte mich ebenfalls auf.
„Er ist hier?“
Kopfschüttelnd musterte er mich und lächelte, als ich kontrollierend meine Kleidung zurechtrückte. Einer der vielen Vorteile, wenn man ein Phönix war: Es war einfach, sie zu reinigen und zu trocknen, aber nach insgesamt drei Wochen sah auch sie nicht mehr frisch und neu aus …
„Nein. Er befindet sich irgendwo an einem Ausläufer des Kandarwaldes und lässt uns so wissen, dass er um ein Treffen bittet. Ich sagte doch: Das hier ist nur für uns. Unser Nest, Cam. Unsere Zweisamkeit wird von jedem respektiert werden, immer!“
„Offenbar habe ich mich daran noch immer nicht gewöhnt. Ein Nest ohne Wände … Ob etwas passiert ist? Was könnte er wollen?“
„Das sollten wir ihn fragen! Wollen wir?“
„Ähm … Klar! Weißt du, in welche Richtung?“
Er sprang auf und zog mich mit einem Schwung hoch.
„Schließ die Augen. Und dann lausche noch einmal.“
Nach einem erneuten Atemholen gehorchte ich und drehte den Kopf, als der leise Ton erneut zu hören war. Ein feiner Klang. Den Kopf drehend war es leicht, die etwaige Richtung, aus der er kam, auszumachen.
„Ein Ruf. Eine Einladung. Wäre etwas vorgefallen, würde es anders klingen, glaub mir! Aber es muss schon etwas Wichtiges sein, wenn er Bourgause aufsucht … Bereit?“
„Natürlich! Oder nein, erst noch einen Kuss, okay? Ich habe noch nicht gefrühstückt!“
Er lächelte, zog mich an sich und erhob sich mit mir in die Luft, seinen Mund auf meinem. Und erst nach mehreren Augenblicken, in denen er sich offenbar einzig auf seinen Instinkt verließ, gab er mich frei, um etwas genauer auf die Richtung zu achten, in die wir flogen.
„Das war … wow!“, seufzte ich und drehte mich in seinen Armen, um den Wald unter uns betrachten zu können. Und als wir nur wenig später einen weit geschwungenen Waldrand, der hier eine Bucht beschrieb, erreichten, sahen wir ihn schon wartend stehen. Und er war nicht alleine, Jean war bei ihm.
„Okay: Was auch immer so wichtig ist, es betrifft offenbar ganz Phandra!“, murmelte ich.
„Oder es handelt sich nur um ein Treffen, um uns auszutauschen, Cam. Keine voreiligen Schlüsse und vor allem: Mach dir keine Sorgen, solange du nicht weißt, ob es Grund dazu gibt!“, widersprach Jared und ließ uns behutsam in wenigen Schritten Entfernung von den beiden auf der noch taufeuchten Wiese niedergehen.
Jean musterte uns unaufdringlich und nickte uns lächelnd zu. Er schwieg jedoch und ließ Abram den Vortritt.
„Hallo Camryn, hallo Jared. Ich hoffe, wir haben eure wohlverdiente Ruhe nicht vor der Zeit unterbrochen?“
„Nein, habt ihr nicht. Wir sind allerdings überrascht, euch hier zu sehen. Geht es euch gut?“, erwiderte Jared und fasste nach meiner Hand.
„Natürlich. Unser Kommen sollte keinen Grund zur Besorgnis geben, vielmehr möchte ich etwas mit euch besprechen. Ich hätte gerne eure Meinung zu etwas gehört, doch wenn ihr einverstanden seid, dann möchte ich noch jemanden dabei haben. Würdet ihr uns zu Twegur begleiten? Und danach nach Born?“
Jetzt runzelte auch Jared die Stirn, auch wenn er noch weit davon entfernt war, beunruhigt auszusehen.
„Natürlich! Ich gestehe, dass meine Neugier jetzt jedoch geweckt ist.“
„Kann man wohl sagen!“, dehnte ich. „Ist in Born alles okay? Geht es meinen Eltern gut? Potar, Sanara, den anderen? Wir waren seit einigen Monaten nicht mehr dort.“
Abram lächelte und wie so oft hatte sein Lächeln etwas Beruhigendes.
„Soweit ich weiß, geht es allen gut, jedenfalls ist mir nichts Gegenteiliges zu Ohren gekommen. Bitte macht euch also keine Gedanken. Ich erzähle euch alles, sobald wir in Born sind, dann muss ich es nicht ein paarmal wiederholen, einverstanden?“
„Klar! Wollen wir?“
„Wir treffen uns dort, ich hole Twegur. Bis später?“, kam es nun von Jean und Abram hatte kaum genickt, als er auch schon als gelboranger Vogel aufstieg und in Richtung der Berge davon-flog.
Abram machte noch eine einladende Bewegung, dann drehte auch er sich schon im Aufsteigen einmal um sich selbst und überließ es uns, ihm zu folgen.
„Jetzt bin ich wirklich gespannt, was er zu erzählen hat!“, murmelte ich.
„Da sind wir schon zwei!“, hörte ich Jared antworten.
Born hatte sich erneut verändert. Ein paar neue Häuser waren begonnen, andere waren fertiggestellt, neu gepflanzte Büsche und Hecken waren sichtlich gewachsen und die Felder größtenteils abgeerntet. Und selbst der jungen, eigentlich doch langsam wachsenden Eiche sah man an, dass sie noch ein gutes Stück größer und kräftiger geworden war.
Die Toten, die an dieser Stelle begraben gewesen waren, waren schon kurz nach der Rückkehr der ersten Siedler von Abram umgebettet worden. Sie hatten ihren letzten Ruheplatz am Rand der großen Wiese gefunden, auf dem ich bei meiner allerersten Ankunft mit Jared gelandet war – noch so etwas, das mir in den Tagen nach der Schlacht vollkommen entgangen war.
Heute befand sich dort eine niedrige Mauer, die den gefühlt viel zu großen Platz einfriedete. Und da es keine einzelnen Gräber gab, hatten sich die Hinterbliebenen darauf geeinigt, dieses große Oval gemeinschaftlich mit Wildblumenbeeten und mit in regelmäßigen Abständen angeordneten rundgeschliffenen Findlingen unterschiedlicher Größe zu gestalten. Die Namen all derer, die an jenem Tag gestorben waren, waren darin verewigt, auch die, die nahe Kon und in dem weiten Tal gefallen waren. Doch mit der Zeit wirkte selbst diese Stelle wie ein Platz, an dem langsam wieder Frieden mit der Vergangenheit geschlossen werden könnte …
Wir waren mit Absicht am Rand des Dorfes gelandet, das zusehends zu einem großen Ort wuchs. Als wir gemeinsam mit Abram die Gelegenheit nutzten und es zu Fuß durchquerten, hörte man hier und da spielende Kinder und die Straßen waren belebt. Nichts erinnerte mehr an den grausigen Anblick des niedergebrannten alten Dorfes und selbst den alten Baumstumpf neben der neuen Eiche hatten sie irgendwann ausgegraben.
„Born ist neu erblüht, buchstäblich aus seiner Asche“, meinte Abram leise und nickte zwei Frauen freundlich zu, die mit zwei großen Körben voller Äpfel zwischen zwei Häusern herauskamen.
„Wie könnten sie anders?! Dies ist Phandra, Heimat der Phönixe!“, erwiderte Jared. „Offenbar sind viele von außerhalb hierhergezogen … Verwandte und Freunde sind zusammengerückt.“
Ich schwieg dazu und warf einen Blick in die Straße, in der Mom und Dad lebten. Nachdem sie damals nach wochenlangen Vorbereitungen alle Brücken hinter sich abgebrochen hatten und endgültig hierher gezogen waren …
Na ja, nicht so ganz endgültig, denn hin und wieder ließen sie sich von Jared noch auf die andere Seite tragen, um noch einmal einen Blick auf ihre einstige Heimat zu werfen. Bei solchen Gelegenheiten gaben sie stets eine ihrer seltenen Nachrichten an ihre alten Bekannten, gewöhnlich in Form von Brie-fen, auf – von irgendwo, irgendeiner verlassenen Gegend, meist in Asien oder einem der afrikanischen Länder. Phönix-Airlines machte dies möglich. Doch noch jedes Mal, wenn sie zurückkehrten, schienen sie eigentümlich und zunehmend erleichtert, ihr altes Leben hinter sich gelassen zu haben und inzwischen brauchte ich ihre Versicherung nicht mehr, dass sie es weder bereuten noch vermissten. Der Phönix in mir fühlte den Wahrheitsgehalt hinter ihren Worten und Cam sah es in ihren Augen: Mom und Dad hatten wieder zusammengefunden; eine neue Chance, ein neues Leben.
Der einzige, kleine Wermutstropfen war, dass Cam in mir zumindest hin und wieder gerne noch einmal Anna gesehen und gesprochen hätte …
Jared drückte meine Hand und holte mich so aus meinen Gedanken.
„Möchtest du zuerst zu deinen Eltern gehen? Wir würden im Gasthaus auf dich warten, Cam. Komm einfach nach, du hast sie lange nicht gesehen.“
„Das würde ich gerne, ja. Ist das okay, Abram?“
„Natürlich! Glaubt mir bitte, wenn ich sage, dass es nichts Dringendes ist, also lass dir ruhig Zeit. Und grüß sie von mir, ich werde später sicher selbst noch bei ihnen vorbeisehen.“
„Mach ich. Dann bis später“, erwiderte ich Jareds Händedruck und bog ab, um ein wenig schneller in Richtung ihres Hauses zu gehen.
Ich musste schmunzeln, als ich sah, wie die beiden Kinder, die Mom und Dad seinerzeit aufgenommen hatten, hintereinander her aus dem Haus und quer über die Straße stürmten. Sie waren inzwischen zehn und zwölf Jahre alt – oder waren sie jetzt schon elf und dreizehn? – und auch sie schienen ihr damaliges Trauma gut überwunden zu haben. Moms Ruf, sie sollen spätestens zum Mittag zurück sein, erwiderten sie mit einem einstimmigen „Ja, Mutter!“, dann fegten sie schon ohne nach rechts oder links zu schauen am Haus gegenüber vorbei Richtung Feld.
Die Haustür stand offen und als ich eintrat, hatte Mom sich offenbar gerade die Hände abgetrocknet und wandte sich, das Handtuch noch in den Händen, mit einem gutmütigen Aufseufzen um, wohl um die Tür zu schließen.
„Hi Mom!“, lächelte ich.
„Cam? Cam! Ihr seid hier? Oh, ich freu mich! Wie geht es dir? Wann seid ihr angekommen und wie lange bleibt ihr? Dein Dad ist draußen auf dem Feld, sie haben einen Drachen gebastelt und wollten … Ach, ist doch auch egal, komm her! Ich freue mich so, ich hab‘ dich so vermisst!“
Ein ganz winziger Teil in mir reagierte auf die Bezeichnung Drachen, doch die Regung war sofort schon wieder verschwunden – zumal sie mich sofort regelrecht in ihre Arme zerrte. Ich keuchte auf, als ihre Umarmung mir auch noch die letzte Luft aus den Lungen zu pressen drohte.
„Hi!“, wiederholte ich, als sie mich endlich wieder freigab. „Ich habe euch auch vermisst! Es geht euch gut? Ist hier alles okay?“
„Natürlich!“, warf sie das Tuch achtlos auf den Tisch, zog mich mit sich und schob mich auf einen der Stühle. Wie es aussah, hatte sie vorhin einen Teig geknetet, jetzt jedoch rückte sie den Topf mit dem Mehl beiseite. „Befis und Danar treiben mich zwar manchmal zur Verzweiflung, aber auf der anderen Seite … Es ist erstaunlich, wie reif sie manchmal sind. Für ihr Alter. Phandra bringt andere Menschen hervor, es ist nicht nur der Verlust, den sie erlitten haben. Verstehst du, was ich meine?“
„Jaaa, durchaus! Ich habe so die eine oder andere Einsicht erhalten“, grinste ich und zuckte mit den Augenbrauen – was wiederum sie schief lächeln ließ.
„Klar, natürlich … Wie geht es dir? Und Jared?“
„Uns geht es gut. Man könnte sagen, wir haben gerade so etwas wie einen kleinen Urlaub gemacht. Abram ist ebenfalls hier und Jean wird bald nachkommen. Im Grunde sind wir auf Abrams Einladung hier, er möchte wohl etwas mit uns besprechen.“
„Oh! Aha … Und ich dachte, die Sehnsucht nach uns hätte dich hergetrieben“, zwinkerte sie.
„Mom, ich wäre auch ohne Abrams Bitte bald wiedergekommen. Ich vermisse euch wirklich, aber es ist nun mal …“
„Cam, du musst nicht weiterreden! Ich weiß doch – und es ist okay. Das Einzige, was mir hier immer noch hin und wieder fehlt, sind Telefone oder Handys. Manchmal würden wir dich ganz einfach nur gerne mal erreichen, mal reden, dir Neuigkeiten erzählen. Es ist vollkommen okay, ihr beide seid nun mal …