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Ein heißer Sommertag in Jesolo Pineta. Urlauber plantschen im Meer, nur abgelenkt durch die Rufe der Gelati-Verkäufer. Nichts deutet darauf hin, dass nur einen Steinwurf vom Strand entfernt ein Mord geschehen ist. Der Tote ist der Star der diesjährigen Kunstbiennale im nahen Venedig. Die ehrgeizige Journalistin und Ex-Miss-Jesolo, Ambra Santoro, nimmt die Fährte auf, die direkt in das Herz der Lagune führt. Denn in der glamourösen Welt der Schönen, Reichen und Kunstsinnigen ist nichts so, wie es scheint.
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Seitenzahl: 218
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Nadia Weiss
Arrivederci Jesolo
Italien-Krimi
Zum Aperitivo eine Leiche Unter der strahlenden Sonne von Jesolo zeichnen sich dunkle Schatten ab. Während Familien am Meer ihre Ferien genießen, macht der Besitzer einer Hüpfburg hinter den Pinienwäldchen eine schaurige Entdeckung: Ein toter Mann hängt von einer riesigen aufblasbaren Clownsfigur. Es ist der berühmte Maler Gustav Görlitz, der eigentlich auf der Biennale eine Überraschung verkünden wollte. Schnell wird klar, dass einige Menschen aus seinem Umfeld Geheimnisse mit ihm teilten, die um keinen Preis an die Öffentlichkeit gelangen sollten. Vielleicht wäre dies auch gelungen, wenn sich nicht die ehrgeizige Journalistin Ambra Santoro gemeinsam mit dem unkonventionell agierenden Commissario Vialli des Falls angenommen hätte. Der Duft des Geldes weht über die Lagune von Venedig nach Jesolo. Santoro und Vialli müssen sich für die Ermittlungen in die Welt der Reichen und Schönen begeben, wo sie bald selbst in Schwierigkeiten geraten.
Nadia Weiss lebt und arbeitet als Autorin, Journalistin und Filmemacherin in Wien. Nach fünfzehn Jahren als leitende Redakteurin bei diversen Printmedien wechselte die gebürtige Südtirolerin 2014 in den Dokumentarfilmbereich. Es folgten drei TV-Produktionen, bei denen sie Buch und Regie verantwortete. Aus der intensiven Beschäftigung mit Themen der Gesellschaft, der Kultur und des Zusammenlebens folgte 2019 die Mitgründung der Medienplattform »Sheconomy«, sowie die Organisation der »Minerva Awards«, die weibliche Role Models in der Wirtschaft ehren. Die Verleihung wird in Österreich landesweit im Fernsehen übertragen.
»Arrivederci Jesolo« ist ihr Debütroman, in den sie ihre Erfahrungen in der Kunst- und Medienlandschaft eingearbeitet hat.
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.
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Satz/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Sompong / stock.adobe.com; mdworschak / stock.adobe.com
ISBN 978-3-7349-3240-3
»Jeder sieht, was du scheinst. Nur wenige fühlen, wie du bist.«
Niccolò Macchiavelli
Der Himmel über Jesolo zeigte jene kräftig strahlende Sonne, die sich zu dieser Zeit des Jahres erst in den späten Abendstunden hinter dem Horizont verkroch. Im Schatten der Pinienbäume ließ es sich aushalten.
Gaetano leerte in einem Schluck den Espresso, den er in einem Café im Park des Hotel Beau Rivage bestellt hatte. Kinder und Touristen in Badekleidung versperrten den Blick auf den goldbraunen Strand. Sie stellten sich am Kiosk für Gelati und Toasts an. Etwas später würden sie im Speisesaal die typisch venezianische Küche serviert bekommen: Pasta und Risotti mit Meeresfrüchten, frisch gefangenen Tintenfisch und gebratene Sardinen oder eine einfache Frittata mit Gemüse. Nach dem Dessert überbrückten die Familien die Stunden bis zur Schlafenszeit für gewöhnlich bei ihm in der Hüpfburg »Gommissima«.
Er mochte seinen Job. Der Standort hinter den luxuriösen Ferienanlagen von Pineta, dem ruhigeren und nobleren Teil von Jesolo, war ideal. Die zahlungskräftige Klientel kam in Scharen in sein aufgeblasenes Paradies. Im Gegensatz zu den »Sala Giochi«, den dunklen Spielhöllen, die im benachbarten Lido di Jesolo neben Hotels, Eisdielen und Pizzerien das pulsierende Straßenbild bestimmten, konnte man sich hier in aller Ruhe mit einem Getränk aus dem Automaten auf einem Campingstuhl niederlassen und dem Spektakel zusehen. Unter Mobilisierung all ihrer Kräfte verausgabten sich die Kinder stundenlang auf den Riesenrutschen und Trampolins. Das sorgte am Abend für eine schnelle Nachtruhe und erholsamen Schlaf für alle.
Für Gaetano, einen Mann der Nacht, entsprachen die Arbeitszeiten seinem Biorhythmus, zudem war der Job mit geringem Aufwand verbunden. Sechs Uhr abends. Der ganze Zirkus musste aufgepumpt werden. Der Weg bis zum »Gommissima« reichte für eine halbe Zigarette. Gaetanos Motorrad stand aufgebockt neben dem Eingang. Auf der dunkel lackierten Verkleidung stach eine Gravur hervor: »Dance me to the End of Love. L. C. 21.9.1934–7.11. 2016«. Gaetano war Leonard Cohen nie begegnet, aber seine Musik hatte ihn sein ganzes Leben begleitet. Bei schlechtem Licht konnte man durchaus eine gewisse Ähnlichkeit zwischen dem Musiker und ihm entdecken. »Halleluja …«, summte Gaetano leise und sperrte auf.
Er hielt abrupt inne. Irgendetwas stimmte hier nicht. Sein Kassenhäuschen befand sich nur wenige Meter vom Eingang entfernt. Etwas weiter hinten hatte er ein Zelt mit einem Getränkeautomaten aufgestellt. Tagsüber waren die Stoffbahnen von allen Seiten verschlossen, damit sich keine streunenden Katzen oder andere Vagabunden darin breitmachten. Nun war der Reißverschluss am seitlichen Abteil bis nach oben aufgezogen. Kurz überlegte er, sich leise zu entfernen und die Polizei zu verständigen. Es kam immer wieder vor, dass sich Kinder durch den kleinen Spalt zwischen Zelt und Zaun hindurchzwängten, um keinen Eintritt bezahlen zu müssen.
Er gab sich einen Ruck. Mit einem kräftigen Tritt stieß er das Tor auf und schritt an einer Madonnenskulptur vorbei in sein Reich. Alles wirkte wie immer. Die Tür des Kiosks war nach wie vor versperrt und die aufblasbaren Fantasiewelten lagen erschöpft am Boden. Er beschloss, zuerst der etwas versteckt hinter dem Getränkezelt gestrandeten Riesenrutsche Leben einzuhauchen. Einmal aufgeblasen war sie eine der größten Attraktionen des »Gommissima«. Die Kinder kletterten voller ängstlicher Vorfreude an ihr hinauf, um sich dann in einer waghalsigen Fahrt hinunterzustürzen. Zu diesem ambivalenten Vergnügen passte die Clownsfigur, die entfernt an »Chucky, die Mörderpuppe« erinnerte und an der Spitze der Rutsche thronte. Routiniert drückte er die Knöpfe seiner Anlage. Der Kompressor surrte. Die Luft strömte in das erste Gummigebilde, und schon bäumte sich »Chucky« auf. Gaetano stockte der Atem. Um »Chuckys« Hals hing leblos ein Mann.
»Madonna mia!« Commissario Vialli machte seinem Unmut Luft. Warum musste er erstens ans Handy gehen und es zweitens überhaupt eingeschaltet lassen? Funkloch. Eine ganz normale Angelegenheit an einem freien Tag um sieben Uhr abends, kurz bevor er bei einem Blind Date endlich einmal sein Privatleben hätte verbessern können. Aber nein, das Schicksal war ihm nicht gnädig. Amor konnte seine Pfeile wieder einstecken. Ein Toter im »Gommissima«, das hatte ihm gerade noch gefehlt.
»Mitten ins Herz«, konstatierte Gerichtsmediziner Fingolo, der bereits vor ihm am Tatort eingetroffen war. Er deutete auf den Leichnam eines Mannes mittleren Alters, der quer über einer Plastikplane lag.
»Die Luft wurde vorsichtig aus der Rutsche herausgelassen, um einen möglichst authentischen Eindruck des Tatorts zu gewinnen. Es kann natürlich sein, dass sich die Lage durch das Auf- und Abpumpen trotzdem etwas verändert hat.« Fingolo hob skeptisch eine Augenbraue. Dann fuhr er fort: »Wir sehen kleine Blutergüsse am Handgelenk des Toten. Der Täter oder die Täterin hat ihn wahrscheinlich mit eisernem Griff festgehalten, bevor ein einziger fataler Stich erfolgte. Die Waffe wurde entfernt, aber ich könnte mir vorstellen, dass es sich um ein Stiletto-Messer handelt. Das gibt es überall zu kaufen. Das Opfer konnte sich noch einige Meter bewegen, bis es zusammenbrach. Der Mann wurde also mit einer an Sicherheit grenzenden Wahrscheinlichkeit hier getötet. Daher, wie immer, Vorsicht bei der Spurensicherung! Herr Commissario, ich gratuliere Ihnen hiermit zum ersten Mordfall der Saison. Wenn Sie mich fragen, war das bereits überfällig.«
»Was Sie nicht sagen. Dann werde ich es Ihnen überlassen, die nächsten Verwandten des Opfers zu verständigen«, konterte dieser säuerlich.
Bevor Fingolo sich zu einer Entschuldigung durchringen konnte, beendete eine Frauenstimme das angespannte Schweigen.
»Bitte lassen Sie mich zum Tatort durch, ich mache hier nur meine Arbeit!«
Vialli zuckte zusammen. Die Stimme kannte er zu gut. Sie gehörte zu seiner Arbeit wie der Polizeifunk oder der starke Espresso vor jeder Nachtschicht. Ambra Santoro, seit mittlerweile zehn Jahren Ex-Miss-Jesolo und nach einem Ausflug in die Mailänder Mode-Szene als Reporterin beim Lokalsender Jesolo24 gestrandet, hatte die Bühne betreten.
»Signorina Santoro, ich wusste nicht, dass Sie inzwischen auch für unser Kommissariat tätig sind. Ihrer Kleidung nach zu urteilen, waren Sie doch eher auf dem Weg zur Schaumparty in Pinos Bar, Ihrem natürlichen Lebensraum«, sagte Vialli mit Blick auf den grellen Frottee-Überwurf, den die Journalistin mit dem Waschzettel nach außen über ihren Bikini gezogen hatte.
Vialli bemerkte, wie Fingolo in sich hineinschmunzelte. Für ihn, den soignierten Arzt in gesetztem Alter, war der Schlagabtausch zwischen dem Commissario und der forschen Journalistin stets ein kleines Vergnügen, das er regelmäßig mit einer Folge von »Unter der Sonne von Amalfi« verglich – einer seiner Lieblingsserien, die er gerne während langer Nachtdienste streamte.
»Wäre ich eine Beamtin im Staatsdienst, könnte ich mir natürlich die Zeit nehmen, stets sorgfältig frisiert und geschniegelt an einem Tatort zu erscheinen. Da ich aber nach Ergebnis und nicht nach Stunden bezahlt werde, musste ich sofort losfahren. Die halbe Stadt spricht bereits über einen Mord im ›Gommissima‹!«
Vialli blickte zu Gaetano Mancuso, dem Besitzer der Anlage, der gerade mit missmutiger Miene seine Überwachungskameras kontrollierte. Er war wohl nicht die Quelle. Diese Art von Mundpropaganda war keine Werbung für einen Familienausflug in sein Hüpfburgenparadies. Nach der Pandemie waren die Touristen zwar rasch nach Jesolo zurückgekehrt, doch dafür waren die Energiepreise gestiegen und fraßen den Profit der drei Monate Hochsaison merklich auf. Nun ein Toter am Hals seiner Hauptattraktion, das war kein gutes Omen für den Sommer.
Ambra stupste Vialli an. »Konntet ihr bereits die Identität des Toten feststellen? Es war doch kein Mitarbeiter des ›Gommissima‹?« Der bullige Körper von Giannino, Viallis Assistenten, versperrte ihr den Blick auf das Geschehen.
»Nein«, antwortete er. »Es ist ein Unbekannter. Gaetano kennt ihn nicht und weiß nicht, wie und warum er hereingekommen ist. Außer den Leonard-Cohen-Postern an der Wand seines Kiosks bewahrt er hier nichts Wertvolles auf. Bitte, Ambra, mach keine Schwierigkeiten, mein Boss ist heute ohnehin schlecht gelaunt, und wie wir alle wissen, ist das eine jener Sachen, die er echt gut kann.«
Bevor er weitersprechen konnte, bewegte sich Fingolo auf ihn zu und bedeutete den Umstehenden mit ausladender Bewegung, für ihn Platz zu machen.
Giannino wich zur Seite, sodass Ambra die hagere Gestalt und das schmale Gesicht des leblosen Mannes erkennen konnte. Sie zuckte zusammen. »Wahrscheinlich habe ich vor wenigen Stunden das letzte Interview mit dem Toten geführt. Es handelt sich um Gustav Görlitz, den berühmten Künstler. In diesem Moment sollte er im deutschen Pavillon der Biennale als Stargast eine Rede halten.« Mit einem Blick auf den Commissario fuhr sie fort: »Vialli, das ist meine Chance. Bitte vermiese sie mir dieses eine Mal nicht.«
»Willkommen bei ›Reich und Schön‹ und allen, die es sein möchten oder bereits waren!« Vialli breitete spöttisch die Arme aus, während er vom Taxiboot auf die Silhouette des ehrwürdigen Hotels Excelsior deutete. Der Commissario hatte sich das Taxi gegönnt, um bei der einzigen Spur, die er derzeit hatte, keine Zeit zu verlieren. Das Polizeiboot der Questura von Venedig stand nicht zur Verfügung, und die Vaporettos mit den unzähligen Touristen und ihren Rollkoffern brauchten jetzt in der Hauptsaison doppelt so lange wie üblich. Möglicherweise wollte Vialli auch Ambra beeindrucken, die noch immer ihren knallgelben Umhang trug, immerhin nicht mehr verkehrt herum.
»Ich klebe ab jetzt wie eine Briefmarke an dir!«, hatte sie ihm beim Verlassen des »Gommissima« ins Ohr gezischt. »Dafür kann ich dir auch zeigen, wo der Ermordete seine letzten Stunden verbracht hat. Vielleicht ist es besser, ohne Voranmeldung aufzutauchen.«
Vialli konnte nur mit Mühe verbergen, wie aufregend er diese Entwicklung fand. Ein Abenteuer mit Ex-Miss-Jesolo Ambra – davon träumte er schon lange. Die Umstände hätten natürlich sinnlicher sein können.
»Eros und Thanatos. Lebens- und Todestrieb. Ein fundamentales Prinzip des Seins, das bereits Sigmund Freud analysiert hat. Es wurde von Gustav Görlitz in seinen Arbeiten auf eine neue Dimension gebracht«, dozierte Ambra, während Vialli das rasant steigende Boots-Taxameter im Auge behielt. Für diese Summe hätte er einen Tisch im Cipriani reservieren können. Warum glaubte er eigentlich, dass eine Frau wie Ambra sich davon beeindrucken ließ? Was wusste er überhaupt über sie? Seit sie vor zwei Jahren von Mailand in ihren Heimatort zurückgekehrt war, hatten sich Bademeister, Kioskbetreiber, Barkeeper, Hoteldirektoren und natürlich die reichen Geschäftsleute der Gegend um ihre Gunst bemüht – vergeblich. Offenbar bevorzugte sie Flirts mit Touristen, die nach einigen unbeantworteten Videoanrufen keine große Erklärung für das Ende der Sommerliebe erwarteten. Doch selbst das war eine reine Vermutung Viallis. Fakt war, dass in den vergangenen zwei Jahren niemand Miss Jesolo in einer romantischen Verstrickung beobachten konnte.
»Commissario? Noch wach?«
Ambra hatte ihn unsanft in die Seite gestupst. Der Bootsfahrer drehte sich zu ihnen um und signalisierte, dass sie aussteigen konnten. Vialli beglich die Rechnung und ließ sich der Ordnung halber einen Beleg geben, der niemals den Weg in die Buchhaltung des sparsam geführten Kommissariats finden würde.
Der Eingang zum Hotel Excelsior war, wie um diese Jahreszeit üblich, von einer Gruppe Touristen gesäumt, die sich selbst niemals als solche bezeichnen würden. Die Biennale war vor wenigen Tagen eröffnet worden und die Karawane der Erbinnen, Kunstschaffenden, Sammlerinnen, Mäzene, Kuratorinnen und ihrer Nutznießer hatte in der Lagune ihre Zelte aufgeschlagen. Tagsüber nippte man am Strand an einem Glas eisgekühlten Rosé, den die Kellner direkt in die Bungalows mit Meerblick lieferten. Abends ging es mit dem hoteleigenen Shuttle-Boot zum Dinner in die Trattoria alla Madonna oder zu einer der ausgefallenen Partys auf den Inseln und in die Palazzi der Stadt. Der Gegensatz zum Publikum in Lido di Jesolo war krass, aber nur auf den ersten Blick. Im Grunde wollten alle ihrem Alltag entfliehen und Erlebnisse sammeln, für die sie mitunter bereit waren, mehr als den Marktpreis zu bezahlen.
Ambra kannte dieses Biotop. In Mailand hatte sie fünf Jahre als Model gearbeitet, später als VIP-Beauftragte in einer Galerie. Denn entgegen ihren Hoffnungen hatte die Welt nicht auf Miss Jesolo gewartet. Sie hatte einige Zeit benötigt, um das zu akzeptieren. Als sie so weit war, packte sie ihre Koffer und krempelte ihr Leben radikal um. Back to the Roots: Die Stelle als Lokalreporterin bei Jesolo24 war kein Sprungbrett zum Pulitzerpreis, aber doch ein solider Neustart. Mit etwas Glück konnte sie nach ein paar guten Reportagen einen prominenteren Sendeplatz bekommen oder sie wurde von einem überregionalen Sender entdeckt. Vielleicht war dieser Moment genau jetzt zum Greifen nahe.
»Signorina Santoro, willkommen zurück. Haben Sie noch kurz das herrliche Wetter an unserem Strand genossen?« Der Herr an der Rezeption schenkte Ambra ein professionell freundliches Lächeln, während er Vialli kurz musterte und mit einem Nicken bedachte.
»Wir müssen Frau Johanna Görlitz sprechen«, sagte Vialli, »hier ist meine Dienstmarke.«
»Aber natürlich, Herr Commissario, die Dame ist soeben auf ihr Zimmer zurückgekehrt. Es war nicht einfach, sie von den Paparazzi vor der Tür abzuschirmen. Angeblich ist Herr Görlitz nicht aufzufinden, seit zwei Stunden läutet das Telefon bei uns ununterbrochen. Ich werde Sie nun, falls Sie erlauben, bei Frau Görlitz anmelden. Es ist die große Eck-Suite im vierten Stock.«
Im Aufzug nach oben stellte Ambra endlich die Frage, die ihr seit dem »Gommissima« auf der Zunge lag: »Darf ich nur ganz kurz mitdrehen?«
»Denk nicht einmal dran«, antwortete Vialli bestimmt.
Die Suite des Ehepaares Görlitz erinnerte an ein Boudoir aus vergangenen herrschaftlichen Zeiten. Ambra musste daran denken, dass sich eine Dame der französischen Gesellschaft im 18. Jahrhundert eine mit Smaragden besetzte Schildkröte als Haustier hielt, damit diese langsam durch ihr Ankleidezimmer kroch und die verschwenderische Atmosphäre noch eine Spur exzentrischer gestaltete. Hier lagen mindestens vier Paar Schuhe desselben Modells von Jimmy Choo in unterschiedlichen Farben am Boden verstreut. Ambra wusste, dass deren Gesamtwert ihr Monatsgehalt deutlich überstieg. Der kleine Glastisch neben dem Himmelbett war mit breiten goldenen Armreifen, Ohrgehängen und einer Reihe winziger Abendtaschen übersät. Auf der kleinen Bank vor dem Bett glitzerten unterschiedliche Oberteile und dazu passende Röcke und Shorts im Kontrast zu einer Reihe sehr schlicht geschnittener Abendroben, die an Kleiderbügeln an der Außenwand des Kleiderschranks hingen.
Inmitten dieser Pracht saß eine elfenhafte Frau, die die beiden Eindringlinge mit ungeschminkten Augen und starrem Blick musterte.
»Ist ihm etwas geschehen?«, flüsterte sie in Richtung Ambra und Vialli. Ohne die Antwort abzuwarten, fuhr sie mit sich überschlagener Stimme fort: »Es musste so weit kommen. Es musste so weit kommen. Ich hätte ihn nie gehen lassen dürfen.«
Dann zündete sie sich eine Zigarette an und behielt den Rauch so lange in ihrem Mund, dass nur noch eine winzige Wolke entwich, als sie ihn öffnete.
Vialli räusperte sich. Er fühlte sich sichtlich unwohl. Nun kam jener Teil, den die meisten Polizisten an ihrer Arbeit am wenigsten mochten. »Frau Görlitz, es tut mir aufrichtig leid, dass ich Ihnen diese schreckliche Nachricht überbringen muss. Ihr Ehemann ist vor wenigen Stunden in Jesolo Pineta tot aufgefunden worden.«
Kein Wort. Ein weiterer Zug an der Zigarette. Dann ein eiskalter Blick in Richtung Ambra.
»Was macht sie hier? Sie werden kein Wort von mir hören, solange diese Dame in der Nähe ist. Außerdem habe ich das Recht, einen Anwalt zu konsultieren. Sie hören von mir. Arrivederci.«
Etwas perplex leisteten sie der Anweisung Folge. An der Tür drehte sich Ambra noch einmal um, doch bevor sie den Mund aufmachen konnte, wurde sie von Vialli zur Tür hinausgedrängt. Dabei verabschiedete er sich in höflichem Ton von der Witwe: »Verzeihen Sie die Störung. Wir kommen morgen früh wieder. Ich hoffe, Sie finden noch einige Stunden Nachtruhe.«
Die Bar im Excelsior war der Klassiker für den Aperitivo vor dem ersten Kuss oder einer Abfuhr, wie sie soeben Frau Johanna Görlitz erteilt hatte.
»Zwei Bellini, bitte«, bestellte Vialli beim Kellner in weißer Livree.
»Selbstverständlich. Ihre Zimmernummer?«
»Wir sind noch nicht so weit.«
»Dann wünsche ich erfolgreiche Verhandlungen.«
Der direkte Charme der Venezianer lebte vom Überraschungsmoment. Ambra musste schmunzeln, obwohl sie noch immer mit dem dominanten Auftritt von Frau Görlitz haderte.
»Warum hast du sofort klein beigegeben und keine einzige Frage an Frau Görlitz gestellt? Jetzt hat sie Zeit, sich eine Geschichte zurechtzulegen.«
Vialli schüttelte unmerklich den Kopf. »Ich glaube, du bist mir eine Erklärung schuldig. Woher kennst du Frau Görlitz und warum ist sie derart misstrauisch dir gegenüber? Wohl nicht, weil du heute ein kurzes Interview mit ihrem Mann geführt hast?«
»Ihrem verstorbenen Mann. Vielleicht liegt es daran, dass ich eine der Letzten war, die die beiden gemeinsam gesehen hat. Es lag eine Spannung im Raum. Aber diese Spannung war eigentlich immer da, wenn das Paar nicht gerade die Scheinwerfer auf sich gerichtet hatte.«
»Das klingt, als würdet ihr euch schon länger kennen.«
»Ja und Nein. Wir haben uns auf diversen Vernissagen in Mailand gesehen. Damals habe ich reiche Kunden der Galerie betreut und war daher immer wieder bei diversen Events vor Ort. Das Ehepaar Görlitz gehörte zur umschwärmten Prominenz, mit der die Gäste auf Instagram angeben konnten. Aber du weißt ja, wie das ist: So wie viele in dir nur einen Polizisten sehen und in einem anderen Zusammenhang kaum dein Gesicht einordnen können, hat mich Johanna Görlitz immer nur als eine von vielen VIP-Betreuerinnen wahrgenommen. Damit ist man für diese Menschen austauschbar und niemand, an den sie sich erinnern.«
»Und ihr Ehemann?«
»Du täuschst dich. Hübsche Menschen gibt es viele. Das ist nichts Besonderes.«
Vialli suchte nach einer Spur von Ironie in Ambras Miene. Nichts.
»Ich kann dir nur sagen, dass mich Johanna Görlitz weder hier noch in Mailand mit Sympathie bedacht hat. Das Gespräch mit Gustav Görlitz lief sehr routiniert ab. Wir trafen uns auf der Terrasse neben dem Swimmingpool. Das Interview gab er mir nur, weil ich mich zuvor mit meinen Kontakten in die Galerieszene wichtiggemacht habe. Die Handynummer seiner Assistentin hat mir ein alter Kollege zugespielt. Görlitz war dann etwas enttäuscht, dass ich nur die Reporterin eines Lokalsenders bin. Sobald die Kamera lief, ließ er sich aber nichts mehr anmerken und erzählte ganz professionell von seiner Ausstellung im Palazzo Volpi am Canal Grande. Der Conte ist ein Freund von ihm. In zwei Tagen sollte ein großer Empfang zur Eröffnung stattfinden. Er hat eine Überraschung angekündigt, die den Markt in Bewegung setzen würde. Nun werden die Preise für einen echten Görlitz jedenfalls steigen. Sein Tod bedeutet, dass es keine weiteren Werke von ihm geben wird.«
Vialli pfiff leise. »Die Show geht also munter weiter. Hast du eine Ahnung, welche Überraschung er gemeint hat?«
»Leider nein. Er war ein Marketing-Genie und ließ sich nicht so leicht in die Karten schauen. Wenn ich seine Leiche nicht mit eigenen Augen gesehen hätte, würde ich es sogar für möglich halten, dass es sich bei seinem Tod um eine inszenierte PR-Aktion handelt.«
»Ist die Kunstwelt wirklich so krank?« Vialli blickte Ambra direkt an. Endlich lächelte sie wieder.
Vielleicht lag es aber auch nur daran, dass der Pianist einen Hit von Paulo Conte angestimmt hatte. »It’s wonderful, wonderful. Good luck my baby!« Die Bellinis schmeckten süß. Frischer Pfirsich, erstklassiger Champagner. Das Leben hält immer wieder eine prickelnde Überraschung bereit, sinnierte Vialli. Zum Beispiel für jene, die sich rechtzeitig einen Görlitz gesichert haben.
»Ist dir nichts Seltsames aufgefallen?«, fragte er.
»Nein. Er hat auch nicht erwähnt, dass er nach Jesolo fährt. Wir müssten das Excelsior eigentlich zur gleichen Zeit verlassen haben. Als ich die Meldung im Polizeifunk gehört habe, war ich noch nicht lange zu Hause.«
»Du hast mir noch immer nicht gesagt, warum Johanna Görlitz dich nicht mag.«
»Das weiß ich nicht. Aber vielleicht ahnt sie, dass wir uns ähnlicher sind, als wir es uns eingestehen wollen.«
»Ist sie Ex-Miss-Bodensee?«
»Fast richtig.« Ambra lächelte. »Sie ist wie ich ein ehemaliges Model auf der Suche nach dem Glück.«
»Heute erfahre ich von dir mehr als in den letzten zwei Jahren, in denen wir uns immer wieder über den Weg gelaufen sind. Aber je mehr ich weiß, umso weniger kenne ich mich aus.«
»Es ist doch ganz einfach. Johanna Görlitz wollte wie ich auf dem Ticket der Schönheit aus ihrem Provinznest ausbrechen, aber zur großen Karriere hat es dann doch nicht gereicht. Ich bin zurück in Jesolo und hoffe nun, als Reporterin weltberühmt zu werden«, sagte Ambra mit einem Augenzwinkern. »Sie hat durch ihre Ehe einen Platz in der Society bekommen. Wie abgesichert sie gesellschaftlich und finanziell ist, wird sich herausstellen. Vielleicht sollten wir in diese Richtung ermitteln. Wer profitiert von Gustav Görlitz’ Tod und für wen ist er ein Verlust?«
Vialli nickte. »Noch einen Bellini? Ich werde kurz an der Rezeption fragen, wann Gustav Görlitz das Hotel verlassen hat. Danach können wir uns auf den Weg zurück nach Jesolo machen. Mit etwas Glück erwischen wir noch das letzte Hotel-Shuttle nach San Marco.«
Ambra blinzelte. Sie hatte tief geschlafen. Der kleine Bungalow ihrer Nonna stand unter einer der alten, wuchtigen Pinien, die Jesolo Pineta seinen Namen gaben. Sie bildeten einen Pinienhain, der die Ortschaft optisch prägte und ihr trotz aller Lebendigkeit eine unantastbare Eleganz verlieh. In den Morgenstunden wehte frische Luft vom Meer in das Schlafzimmer und die lästigen Sonnenstrahlen wurden vom dichten Blätterwerk abgehalten.
Langsam kamen die Erinnerungen zurück. Gustav Görlitz erstochen im »Gommissima«. Wenige Stunden nachdem sie ein Interview mit ihm aufgenommen hatte. Den Beitrag hatte sie noch in der Nacht, als sie von Venedig zurückgekehrt war, auf ihrem Computer geschnitten und in die Redaktion geschickt. Sie tastete nach ihrem Handy, das stets auf lautlos gestellt neben dem Bett lag. Die Uhr zeigte 8.25 Uhr. Sie hatte eine Stunde länger als geplant geschlafen und der Beitrag sollte längst online sein.
»Exklusiv: Der weltberühmte Künstler Gustav Görlitz erstochen in Jesolo Pineta. Nur hier sehen Sie sein letztes Interview wenige Stunden vor seinem grausamen Tod!«
Orlindo Mangianino, ihr Redaktionschef, hatte nicht gekleckert. Die Nachricht prangte als Aufmacher über die ganze Titelseite. Nur eines fehlte: Ambras Name. Das würde sie gleich korrigieren, wenn sie sich in das Redaktionssystem einloggte.
Das Handy vibrierte. Unbekannte Nummer. Die Arbeit rief.
»Hallo, Lindo! Danke für die schöne Platzierung. Allerdings wäre es nett, wenn dabeistehen würde, dass ich das Interview geführt habe.« Die Stimme am anderen Ende kam jedoch nicht aus der Redaktion, sondern aus dem Kommissariat von Jesolo.
»Guten Morgen, Bellezza. Selbstverständlich, ich werde deinen Namen heute an alle Kommissariate Italiens mailen mit der Bemerkung, dass du wieder einmal schneller als unsere Pressestelle, sprich schneller als die Polizei erlaubt, gearbeitet hast. Ich gratuliere dir!«
Ambra war sich nicht sicher, ob Vialli tatsächlich so gut gelaunt war oder seinen Espresso corretto mit einem Schuss Schnaps getrunken hatte.
»Spaß beiseite. Ich verstehe, dass das deine Arbeit ist. Du hättest mir aber auch gestern bei drei Bellinis und einem angenehmen Spaziergang durch die romantischste Stadt der Welt erklären können, dass Görlitz nicht nur dein letzter Interviewpartner, sondern auch dein ehemaliger Liebhaber war!«
»Was?« Ambra stolperte vor Schreck über einen Korb Tomaten, den ihre Großmutter offensichtlich gestern vorbeigebracht und in der Küche abgestellt hatte.
»So steht es zumindest in der Ankündigung des Video-Interviews: ›Das Gespräch führte die Jesolo24-Reporterin und ehemalige Miss Jesolo Ambra Santoro, eine intime Kennerin der Mailänder Kunstszene, in der sie sich gemeinsam mit Gustav Görlitz bewegte.‹«
Ambra atmete aus. Sie ärgerte sich zwar sehr über die reißerische und missverständliche Formulierung, wollte sich dies jedoch nicht anmerken lassen. »Bist du etwa eifersüchtig? Schade, ich wollte dir nämlich gerade erzählen, dass mir noch jemand eingefallen ist, der uns vielleicht mehr über die letzten Tage von Görlitz erzählen könnte.«
»Wenn du seine echte Frau meinst, die mit den zwei gemeinsamen Kindern hier bei uns in Jesolo Urlaub macht, dann komm ins Hotel Bellavista am Viale Oriente. Du hast es ja nicht weit.«
Das Bellavista befand sich ungefähr hundert Meter vom »Gommissima« entfernt, »prima fila«, also in der ersten Reihe, an der Strandpromenade. Das war vermutlich der Grund, warum Gustav Görlitz gestern Nachmittag vom Lido di Venezia nach Pineta gefahren war. Er hatte im ruhigen Strandort seine geheime Familie geparkt. Denn niemals, und da war sich Ambra sicher, hatte er sie in der Öffentlichkeit erwähnt. Ganz im Gegenteil: Er betonte stets, wie wichtig ihm seine Freiheit sei und dass die Beziehung mit Johanna Görlitz nur funktionieren könne, weil sie ihm diese bedingungslos lassen würde. Wer war seine angeblich echte Ehefrau und warum hatte er dieses Doppelleben geführt? Bald würde sie mehr wissen.
Fünf Minuten später hielt sie mit ihrem Fahrrad am Eingangstor des Bellavista und wurde nach kurzem Klingeln eingelassen. Sicherheit wurde hier großgeschrieben. Die Markenauswahl der Autos auf dem Gästeparkplatz ließ darauf schließen, dass die Renovierung des Hauses vor einigen Jahren gut investiertes Geld gewesen war und von einer finanzkräftigen Klientel geschätzt wurde. Daneben standen schicke Bikes mit dem Branding des Hotels für einen Ausflug in die Umgebung bereit. Ambra parkte ihr Vintage-Modell etwas abseits.
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