Arrowood - Die Mördergrube - Mick Finlay - E-Book
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Arrowood - Die Mördergrube E-Book

Mick Finlay

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Beschreibung

Zur Seite Sherlock, hier kommt Arrowood! William Arrowood ist Privatermittler. Gemeinhin wohl der Zweitbeste in ganz London – direkt nach seinem namhaften Konkurrenten aus der Baker Street 221B. Auch wenn beide ganz unterschiedliche Ansätze in der Verbrechensaufklärung haben. Dieses Mal führt Arrowoods ganz eigene Ermittlungsmethode ihn und seinen Assistenten Barnett auf der Suche nach einer vermissten jungen Frau in die düsteren Gefilde der Viktorianischen Nervenheilanstalten. Steigen Sie mit Arrowood in die Niederungen der menschlichen Psyche hinab. »William Arrowood ist keinesfalls perfekt, aber sympathisch, und die Geschichte bewegt sich rasant von Gefahr zu Gefahr und von Twist zu Twist.« The Times

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Seitenzahl: 579

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Zum Buch

»Sie haben nicht die geringsten Fortschritte gemacht, nicht wahr? Sherlock Holmes hätte sie inzwischen längst nach Hause geholt.« »Sherlock Holmes hätte Ihren Fall gar nicht übernommen«, entgegnete Mr. Arrowood. »Wäre Ihnen ein preisgekröntes Rennpferd abhandengekommen, dann vielleicht. Bei einem verschwundenen Marineabkommen ganz gewiss. Aber keinen Fall wie den Ihren, und garantiert nicht für zwanzig Schillinge pro Tag.« »William Arrowood ist keinesfalls perfekt, aber sympathisch, und die Geschichte bewegt sich rasant von Gefahr zu Gefahr und von Twist zu Twist.«The Times

Zum Autor

Mick Finlay wurde in Glasgow geboren und verbrachte seine Kindheit in Kanada und England. Er arbeitete als Marktverkäufer in der Portobello Road, in einem Wanderzirkus, als Schlachtergehilfe, als Portier und in verschiedenen ­Positionen im Gesundheits- und Sozialdienst. Mittlerweile lehrt er an einer psychologischen Fakultät und lebt mit seiner Familie in Brighton.

HarperCollins®

Copyright © 2019 für die deutsche Ausgabe by HarperCollins in der HarperCollins Germany GmbH, Hamburg

Copyright © 2018 by Mick Finlay Originaltitel: »The Murder Pit« Erschienen bei: HQ, an imprint of HarperCollins Publishers, UK

Published by arrangement with HarperCollins Publishers Ltd., London

Covergestaltung: UNIMAK GmbH, Hamburg Coverabbildung: alex74, julias, Anki Hoglund, Vitalii Bashkatov / shutterstock, Bikeworldtravel / fotolia Lektorat: Thorben Buttke E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN E-Book 9783959678407

www.harpercollins.de

Widmung

Für die guten Menschen in der Haslemere Avenue und 33P. Ende der 80er, Anfang der 90er.

1

Süd-London, 1896

Das Grauen erscheint manchmal in freundlicher Gestalt, und so war es auch im Fall von Birdie Barclay. Es war früh am Neujahrstag, der Schlamm auf den Straßen war gefroren, Ruß schwebte wie schwarzer Schnee im Nebel. Zitternde Pferde trotteten vorbei und wurden von missmutigen, rotgesichtigen Männern zu Orten gelenkt, die sie gar nicht aufsuchen wollten. Straßenkehrer warteten auf Kunden, die ihnen eine Münze verschaffen konnten, während sich alte Menschen an Mauern und Geländern festhielten, um auf dem glatten Kopfsteinpflaster nicht auszurutschen, während sie seufzend und vor sich hin murmelnd dicke, verkeimte Schleimklumpen in die Haufen aus Pferdedung spien, die an jeder Straßenecke gesammelt wurden.

Wir hatten seit fünf Wochen keinen Fall mehr gehabt, daher waren wir über Mr. Barclays Einladung zu einem Besuch bei ihm sehr erfreut. Er lebte am Saville Place in einem der Dreizimmer-Reihenhäuser unter den Bahnlinien zwischen Lambeth Palace und Bethlem. Als wir vor dem Haus eintrafen, konnte ich im Inneren eine Dame zu Klavierbegleitung singen hören. Ich wollte gerade anklopfen, als Mr. Arrowood meinen Arm berührte.

»Warten Sie, Barnett«, flüsterte er.

Wir standen vor der Haustür und lauschten, während sich der Nebel dicht um uns ballte. Es war ein Lied, das häufig in Pubs gesungen wurde, kurz bevor sie schlossen, aber ich hatte es noch nie derart schön und traurig gehört, so von Einsamkeit durchdrungen. »In the gloaming, oh my darling, when the lights are dim and low, and the quiet shadows falling, softly come and softly go.« Als sich der Refrain aufbaute, schloss Mr. Arrowood die Augen und schwankte im Rhythmus der Musik, wobei er ein Gesicht machte wie ein Schwein beim Stuhlgang. Dann, als die letzte Zeile ertönte, sang er gar mit ausdrucksloser Stimme und völlig neben dem Takt mit: »When the winds are sobbing faintly, with a gentle unknown woe, will you think of me and love me, as you did once long ago?«

Ich vermutete, dass dies die einzige Textzeile war, die er kannte, eine Zeile, die sein gebrochenes Herz direkt ansprach, und die letzten Worte brachte er nur erstickt und zitternd über die Lippen. Nachdem ich seinen drallen Arm gedrückt hatte, öffnete er endlich wieder die Augen und nickte mir zu, damit ich anklopfte.

Ein robuster Mann mit gerötetem Gesicht öffnete die Tür. Das Erste, was einem ins Auge stach, war seine Malvasiernase, an der Spitze gerundet und wie eine Stachelbeere mit feinen Härchen bedeckt, darunter der dichte Schnurrbart, noch schwarz, obwohl das Haar um seinen kahlen Schädel bereits weiß geworden war. Er begrüßte uns mit nervöser Stimme und führte uns in das Empfangszimmer, in dem eine große Frau neben einem Pianoforte stand. Sie musste Spanierin, Portugiesin oder etwas in der Art sein und war von Kopf bis Fuß in Schwarz gekleidet.

»Das sind die Detektive, meine Liebe«, sagte er und rang aufgeregt die Hände. »Mr. Arrowood, Mr. Barnett, darf ich Ihnen meine Frau Mrs. Barclay vorstellen?«

Als sie unsere Namen hörte, zeichnete sich ein warmherziges Lächeln auf dem Gesicht der Dame ab, und ich konnte an der Art, mit der sich Mr. Arrowood verneigte und eine Hand flach auf die Brust legte, erkennen, dass ihn diese Dame mit ihrem Gesang, ihren tiefbraunen Augen und ihrer gütigen Miene sehr beeindruckte. Sie bat uns, auf der Couch Platz zu nehmen.

Der kleine Salon war mit Möbelstücken gefüllt, die viel zu groß für den kleinen Raum waren, und man hatte das Pianoforte zwischen ein Schreibpult und eine Vitrine gezwängt. Die Couch berührte den Ohrensessel, und eine vergoldete Uhr nahm den Großteil des Kaminsimses ein und tickte unerträglich laut.

»Wie wäre es, wenn Sie uns von Ihren Schwierigkeiten erzählen«, begann Mr. Arrowood, »damit wir herausfinden, was wir für Sie tun können?«

»Es geht um unsere Tochter Birdie, Sir«, erwiderte Mr. Barclay. »Sie wurde vor sechs Monaten in eine Bauernfamilie verheiratet, aber wir haben seit der Hochzeit nichts mehr von ihr gehört. Rein gar nichts. Es gab keine Besuche, keine Briefe, nicht einmal zum letzten Weihnachtsfest. Ich war zweimal dort, um sie zu besuchen, doch man hat mich nicht ins Haus gelassen! Angeblich sei sie ausgegangen, aber das kann schlichtweg nicht stimmen!«

»Aber junge Damen gehen doch hin und wieder aus?«, merkte Mr. Arrowood an.

»Das ist nicht ihre Art, Sir. Würden Sie Birdie kennen, müssten Sie die Frage gar nicht erst stellen. Wir sind krank vor Sorge, Mr. Arrowood. Es ist beinahe, als wäre sie vom Erdboden verschwunden.«

»Hatten Sie vor der Hochzeit Streit? Bei solchen Gelegenheiten kommt es häufig zu Gefühlsausbrüchen.«

»So ist sie nicht«, antwortete Mrs. Barclay. Verglichen mit ihrem nervösen Mann wirkte sie wie die Ruhe selbst. Ihr lang gezogenes Gesicht war leicht gebräunt, und ihr schwarzes Haar fiel ihr offen auf den Rücken. Drei kleine Leberflecken zogen sich unter einem Auge über ihre Wange. Als sie bemerkte, dass ich sie ansah, zeichnete sich erneut das demütige Lächeln auf ihren Lippen ab. »Birdie streitet sich nie. Sie tut, was man ihr sagt, selbst wenn sie dabei zu Schaden kommen könnte, und aus diesem Grund sind wir auch derart besorgt. Dies ist das erste Mal, dass sie den Kontakt zu uns abgebrochen hat, und wir vermuten, dass die Familie sie davon abhält.«

»Das ist höchst besorgniserregend«, stimmte Mr. Arrowood zu. Sein zur Seite gescheiteltes Haar lag unordentlich und steif an seinem unförmigen Schädel, und sein draller Bauch drohte, die Knöpfe seines zerschlissenen Astrachanmantels zu sprengen. Er zog sein Notizbuch und einen Stift hervor. »Erzählen Sie uns bitte alles, was Sie über ihren Ehemann wissen, und lassen Sie nichts aus.«

»Sein Name lautet Walter Ockwell«, sagte Mr. Barclay, dessen Hände zuckten, als würde er nur widerwillig über seinen Schwiegersohn sprechen. »Die Familie besitzt eine Schweinezucht vor Catford. Wir trauen diesem Mann nicht. Er ist höchst seltsam, und nicht auf die Art, wie es diese Bauern üblicherweise sind. Ich kann es nicht besser beschreiben. Es sticht nicht sofort ins Auge. Wir wussten es vor der Hochzeit nicht, aber er hat schon einmal im Gefängnis gesessen, weil er einen Mann bei einem Streit mit einem Knüppel beinahe totgeschlagen hätte. Das hat mir der Pastor bei meinem letzten Besuch erzählt. Er hat den Mann so heftig am Kopf getroffen, dass sein Auge einfach geplatzt ist. Die Augenhöhle wurde zertrümmert, verstehen Sie? Das Auge hing nur noch an einer Sehne und baumelte über der Wange.« Mr. Barclay erschauderte. »So ist das, Sir! Der Pfarrer hätte uns das auch vor der Hochzeit mitteilen können, finden Sie nicht auch? Und als ob das noch nicht genug wäre, stellte sich überdies heraus, dass der Mann früher schon einmal verheiratet war. Die arme Frau ist vor zwei Jahren verstorben.«

Mr. Arrowood hielt im Schreiben inne und warf mir einen vielsagenden Blick zu.

»Wie ist sie gestorben?«, wollte er wissen.

»Den Worten des Pfarrers zufolge wurde sie von einem umstürzenden Wagen begraben. Wir sind zur Polizei gegangen, aber dort wollte man uns nicht helfen. Sergeant Root teilte uns mit, dass Birdie uns schon empfangen würde, wenn sie dazu bereit ist. Aus diesem Grund haben wir uns an Sie gewandt, Sir. Möglicherweise hat er sie verletzt, und diese Leute wollen das vor uns verbergen.«

Mr. Arrowoods Miene hatte sich verfinstert, sein warmherziges Lächeln war verschwunden.

»Und Sie haben seitdem nichts mehr von ihr gehört?«

»Es ist, als wäre sie einfach verschwunden. Nach allem, was wir wissen, könnte sie ebenso gut tot sein.«

»Wer lebt sonst noch auf dem Hof, Sir?«

»Insgesamt fünf Personen. Die Mutter ist bettlägerig. Rosanna, seine Schwester, ist nicht verheiratet, außerdem sind da noch Godwin, der Bruder, und seine Frau Polly. Es war die Schwester, die mich beide Male nicht ins Haus lassen wollte. Ich habe nach Walter gefragt, doch er hielt sich irgendwo im Norden auf, wo er sich vorgeblich Schweine ansah. Mich hat man dort jedenfalls nicht mit offenen Armen empfangen, das kann ich Ihnen versichern. Ich habe von der Frau verlangt, mich hereinzulassen, aber sie hat sich schlichtweg geweigert. Was hätte ich denn tun sollen? Ich habe sie gebeten, Birdie auszurichten, sie möge uns in einer dringenden Angelegenheit aufsuchen, aber ich weiß nicht, ob meine Tochter die Nachricht überhaupt erhalten hat. Dasselbe gilt für unsere Briefe. Verstehen Sie unsere Lage, Sirs? Unsere Tochter ist zu einem Geist geworden!«

»Wie hat sie ihren Gatten kennengelernt, wenn Sie mir die Frage gestatten?«, erkundigte sich Mr. Arrowood.

»Sie wurden einander über jemanden aus meinem Betrieb vorgestellt. Wir hätten uns eine bessere Partie für sie gewünscht, aber sie war fest entschlossen, ihn zu heiraten. Überdies …« Er warf seiner Frau einen flüchtigen Blick zu. »Wir waren uns nicht sicher, ob ein anderer Mann sie nehmen würde.«

»Dunbar!«, rief seine Gattin aus.

»Die Herren müssen alles wissen, meine Liebe.« Er wandte sich erneut an uns, und seine Stimme klang nicht mehr ganz so angespannt. »Birdie hat die Geburt nicht ganz unbeschadet überstanden und sich nie richtig entwickelt. Sie benötigt sehr viel Hilfe. Der Arzt hat ihren Zustand als ›Amentia‹ bezeichnet. Mit anderen Worten: Ihr Geist ist schwach. Walter schien auch nicht weit davon entfernt zu sein. Das dachten wir beide, nicht wahr, Liebes?«

»Dann ist sie geistesschwach?«, hakte Mr. Arrowood nach, der sich weiter Notizen machte.

»Nur leicht«, antwortete Mr. Barclay. »Sie versteht alles, ist beim Reden jedoch recht langsam. Man sieht es ihr allerdings nicht an, und sie kann auch tatkräftig zupacken; in dieser Hinsicht lässt sich nichts Negatives über sie sagen. Sie tut schlichtweg, was man ihr sagt.«

»Und was erwarten Sie von uns?«

»Wir möchten, dass Sie sie wieder nach Hause bringen«, erwiderte Mr. Barclay und machte einen Schritt auf seine Frau zu, schien sich dann jedoch zu besinnen und trat vor den Kamin.

»Und was ist, wenn sie das nicht möchte, Sir? Was sollen wir dann machen?«

»Sie hat keinen eigenen Willen, Mr. Arrowood«, erklärte Mr. Barclay. »Sie wird auf jeden Menschen hören und tun, was er von ihr verlangt. Wenn diese Leute sie gegen uns aufgebracht haben, müssen wir dafür sorgen, dass sie dort weggebracht wird. Falls wir sie wieder hierher schaffen können, hätten wir einen Arzt an der Hand, der schwören wird, dass die Ehe aufgrund von Birdies geistigem Zustand ungültig ist, und wir könnten sie annullieren lassen.«

»Sie wollen, dass wir Ihre Tochter entführen, Mr. Barclay?«, fragte Mr. Arrowood mit liebenswürdiger Stimme.

»Es ist keine Entführung, wenn es im Auftrag der Eltern geschieht.«

»Da irren Sie sich, Sir.«

»Finden Sie wenigstens heraus, ob es ihr gut geht«, flehte Mrs. Barclay mit zittriger Stimme. Sie tupfte sich die Augenwinkel mit einem Taschentuch ab. »Und vergewissern Sie sich, dass man sie gut behandelt.«

Mr. Arrowood nickte und tätschelte ihre Hand. »Das können wir tun, Madam.«

Er tippte mir aufs Knie.

»Der Preis beträgt zwanzig Schillinge pro Tag plus Spesen«, sagte ich. »Bei derartigen Fällen sind zwei Tage im Voraus zu zahlen.«

Während ich unsere Bedingungen nannte, stand Mr. Arrowood mühsam auf und trat vor das Gemälde eines Segelschiffs, das neben der Tür hing, um es in Augenschein zu nehmen. Obwohl er sparsam und häufig in Geldnöten war, sprach er nie gern über die Bezahlung. Er hatte eine hohe Meinung von sich und schämte sich, weil er zu der Art Gentlemen gehörte, die für ihre Dienste entlohnt werden wollten.

»Sollte es nur einen Tag dauern, erhalten Sie das nicht benötigte Geld selbstverständlich zurück«, fügte ich hinzu, während Mr. Barclay eine Geldbörse aus seiner Weste zog und die Münzen abzählte. »Wir sind ehrliche Menschen, das wird man Ihnen überall versichern.«

Als das erledigt war, wandte sich Mr. Arrowood von dem Bild ab.

»Wie lange wohnen Sie schon hier, Madam?«

»Wie lange?«, wiederholte Mrs. Barclay und warf ihrem Ehemann einen Blick zu.

»Ach, ein paar Jahre«, sagte er und stützte sich mit dem Ellbogen auf den hohen Kaminsims, zuckte aber sofort zurück, als hätte er sich verbrannt. »Vielleicht fünf.«

»Fünf Jahre.« Mr. Arrowood nickte.

»Ja, dies ist eine angesehene Gegend. Kiplings Bruder hat früher einmal in dieser Straße gewohnt, wissen Sie?«

»Soso, wie wunderbar«, murmelte Mr. Arrowood. »Wenn Sie mir die Frage erlauben: Welchem Beruf gehen Sie nach, Sir?«

»Ich bin leitender Angestellter bei einem Versicherungsunternehmen, Sir.«

»Tasker and Sons«, fügte seine Gattin hinzu. »Dunbar arbeitet schon seit zweiundzwanzig Jahren für sie. Und ich bin Gesangslehrerin.«

»Sie haben eine wunderschöne Stimme, Madam«, sagte Mr. Arrowood. »Wir haben Sie vorhin gehört.«

»Sie wurde von Mrs. Welden unterrichtet. Meine Frau war eine ihrer besten Schülerinnen. Sie hat mit Irene Adler im Oxford gesungen, und Lord Ulverstone hat sie ganz besonders gelobt.«

»Das ist schon einige Jahre her«, murmelte Mrs. Barclay und senkte den Blick. Sie ging zu dem kleinen Schreibpult, öffnete es und nahm eine hellblaue Pfauenfeder heraus. »Bitte geben Sie sie Birdie, wenn Sie sie sehen, und richten Sie ihr aus, dass ich sie liebe und sie sehr vermisse.«

»Und sagen Sie ihr, dass ich ihr ein neues Kleid kaufe, das dazu passt, wenn sie wieder nach Hause kommt«, fügte ihr Mann hinzu.

Mr. Arrowood nickte. »Wir geben unser Bestes, um Ihnen zu helfen. Sie haben gut daran getan, uns hinzuzuziehen.«

Bevor wir uns verabschiedeten, erhielten wir noch eine Fotografie von Birdie sowie die Wegbeschreibung zum Hof. Als wir in Richtung Saville Place gingen, kam ein Junge, der sich zwei Schals um den Hals gewickelt hatte, aus dem Nebel auf uns zu.

»Hey, Junge«, sprach Mr. Arrowood ihn an und deutete auf das Haus. »Weißt du, wohin die Leute gezogen sind, die vor den Barclays in diesem Haus gewohnt haben?«

»Mr. Avery ist nach Bedford gegangen, Sir«, antwortete der Junge, dessen Atem weiß aus seinem Mund strömte und der die Hände unter die Achseln geschoben hatte, um sie zu wärmen. »Wollen Sie die Adresse haben? Meine Mum kennt sie bestimmt.«

»Nein danke. Und wann sind die Barclays eingezogen?«

»Das ist zwei Monate her, Sir, vielleicht auch drei.«

Nachdem wir in die Lambeth Road abgebogen waren, erkundigte ich mich, woher er das gewusst hatte.

»Sämtliche Möbelstücke wurden erst vor Kurzem erworben«, erwiderte er, griff in seine Westentasche und zog eine Schale mit Schokoladensternen hervor, die er mir anbot. Sie waren warm und geschmolzen, weil er sie so dicht an seinem Brustfett aufbewahrt hatte. Er nahm mehrere heraus und steckte sie sich in den Mund. »Alle noch völlig makellos. Als ich Mrs. Barclay fragte, wie lange sie schon dort wohnen, schien sie nicht zu wissen, was sie antworten sollte. Das kam mir sehr seltsam vor. Und sind Ihnen die Umrisse an den Wänden aufgefallen, wo man Bilder abgenommen hat, die die Tapete vor dem Ruß geschützt haben? In den letzten Monaten wurde garantiert kein Feuer in diesem Raum angezündet, daher müssen die Bilder schon länger verschwunden sein. Nur das Gemälde mit dem großen Schiff war noch da. Ich habe mir die Wand darunter angesehen, und dort befand sich kein verräterischer Umriss, Barnett. Es kann erst in letzter Zeit aufgehängt worden sein.«

»Das war aber eher ein Schuss ins Blaue, Sir.«

Er lachte auf.

»Es ist immer ein Schuss ins Blaue, bis man eine Bestätigung erhält, Barnett. Jedenfalls müssen wir die beiden im Auge behalten. Sie haben etwas zu verbergen.«

Ich lächelte versonnen, als wir unseren Weg fortsetzten. Auch wenn er sich über diesen Vergleich geärgert hätte, war er Sherlock Holmes zuweilen ähnlicher, als ihm bewusst war. Er steckte sich den letzten Schokoladenstern in den Mund und ließ das leere Schälchen auf die Straße fallen.

»Was halten Sie von diesem Fall?«, fragte ich.

»Es könnte nur eine Kleinigkeit sein, aber anstelle ihrer Eltern wäre ich ebenfalls besorgt. Eine junge Frau mit schwachem Verstand, die daran gehindert wird, ihre Eltern zu sehen. Ein gewalttätiger Ehemann.« Er leckte sich die Finger und wischte sie an seinen Kniehosen ab. »Die arme Birdie könnte auch in Schwierigkeiten stecken. Das größte Problem ist, dass ich mir nicht sicher bin, was wir dagegen tun können.«

2

Am nächsten Morgen stiegen wir an der London Bridge in den Zug, der sich langsam wie ein Ochse über die rußbeschmutzten Terrassen und Lagerhäuser in Bermondsey und weiter durch Deptford, New Cross und Lewisham bewegte. Je weiter wir fuhren, desto dünner wurde der Nebel, bis er sich kurz vor Ladywell schließlich ganz auflöste.

Mr. Arrowood holte seine Zeitung hervor, öffnete die Dokumententasche, die er mitgebracht hatte, und holte die Fotografie der Barclays heraus. Darauf waren fünf Frauen mit Sommerhäubchen in einem Park zu sehen. Birdie war mit Abstand die kleinste und stand in einem trostlosen Baumwollkleid mit offenem Mund zwischen ihrer Mutter und einer Frau, deren Hand sie hielt. Dabei sah sie die junge Dame neben sich mit schief gelegtem Kopf an und schien in einem angenehmen Traum gefangen zu sein.

»Ich kenne mich mit geistesschwachen Menschen nicht aus, Barnett.« Er schnaufte beim Reden, und seine Koteletten quollen wie wollene Wolken aus seinen Wangen. »Vermutlich werde ich nicht einmal mit Sicherheit sagen können, ob sie zu etwas gezwungen wird. Diese Menschen sind doch schwerer zu durchschauen, denken Sie nicht auch?«

»In meiner Kindheit wohnte einer unter uns«, berichtete ich. »Er war ziemlich aufbrausend, und ich wüsste nicht, dass er jemals bei seiner alten Ma ausgezogen wäre.«

»Der kleine Albert ist der Einzige, den ich kenne«, sagte er und starrte die Fotografie an. »Und ich muss gestehen, dass ich nie wirklich verstanden habe, was in seinem Kopf vorgeht. Isabel hatte eine Schwäche für ihn.«

»Haben Sie Weihnachten etwas von ihr gehört?«

Isabel, Mr. Arrowoods Frau, hatte ihn vor über einem Jahr verlassen und lebte nun mit einem Anwalt in Cambridge zusammen. Kürzlich hatte sie ihn um die Scheidung gebeten und ihre Untreue als Grund angegeben, doch er wollte davon nichts hören.

»Sie hat eine Karte geschickt«, antwortete er und winkte ab. »Ich habe den Eindruck, dass sie diesen kleinen Schwindler langsam durchschaut.«

»Was hat sie denn geschrieben?«

»Sie wollte wissen, wann die Bauarbeiten abgeschlossen sein werden.«

Ich nickte langsam und sah ihm weiterhin in die Augen.

»Ich lese zwischen den Zeilen, Barnett!«, erklärte er leicht verärgert. »Wenn sie wissen will, wann unsere Zimmer fertiggestellt sind, denkt sie offenbar über eine Rückkehr nach London nach. Er hat sie ohnehin dazu gedrängt!«

»Machen Sie sich keine zu großen Hoffnungen, Sir«, ermahnte ich ihn. »Vergessen Sie nicht, was beim letzten Mal geschehen ist.«

Er schwieg. Der Zug blieb auf freier Strecke stehen, und wir warteten.

»Aus welchem Grund haben Sie die Dokumententasche dabei?«, erkundigte ich mich.

»Ich werde etwas ausprobieren. Aber ich habe mich noch gar nicht danach erkundigt, wie Sie Weihnachten verbracht haben, Barnett. Hatten Sie ein schönes Fest?«

Ich nickte. Tatsächlich hatte ich Weihnachten allein verbracht und mich in einem Pub an der Bankside, in dem mich niemand kannte, betrunken. Doch das konnte ich ihm ebenso wenig sagen wie den Grund für mein Verhalten. Es war jetzt über sechs Monate her, aber ich hatte es bisher nicht geschafft, mit ihm darüber zu reden.

»Meine Schwester hat Geflügel gemacht«, erzählte er. »Lewis feiert natürlich nicht, aber er hat weitaus mehr als nur seinen Anteil gegessen. Ettie war den halben Tag unterwegs, um den Straßenkindern Zuckermäuse zu bringen. Danach ging Lewis von Krämpfen geplagt zu Bett. Er ist ein wahrer Nimmersatt, und erst meine Schwester. Himmel, diese Frau kann essen. Und dann besitzt sie noch die Frechheit, mich zu drängen, ein Abführmittel zu nehmen. Ah, da fällt mir etwas ein.«

Er griff in seinen Mantel und reichte mir ein gestricktes Etwas.

»Das ist ein Weihnachtsgeschenk, Barnett. Ein Schal. Der Ihre ist ja völlig hinüber.«

Er hatte mir noch nie zuvor etwas geschenkt, und ich war gerührt. Ich wickelte den rot-grauen Schal aus dicker Wolle aus und schlang ihn mir um den Hals.

»Danke, Sir.«

»Denken Sie nächstes Weihnachten daran.« Er tätschelte mein Knie und griff erneut nach seiner Zeitung. Der Zug setzte sich wieder in Bewegung.

»Hier steht mehr über den Swaffam-Prior-Mord«, sagte er. »Jetzt verlangen sie schon, dass der Inspector entlassen wird. Sehen Sie nur, hier ist eine ganze Spalte über den armen Mann. Der verdammte Herausgeber hat die Bedeutung der Beweise nicht einmal ansatzweise begriffen. Gott behüte, dass er je über einen unserer Fälle schreibt! Und diese Kampagne! Der Sheriff von Ely, der Bischof. Alle möglichen Weltverbesserer. Woher wollen sie es denn wissen? Das können sie doch gar nicht. Sie gehen einfach davon aus, dass ein vierzehnjähriger Junge nicht dazu in der Lage sein kann, einer alten Frau den Kopf abzutrennen. So ein Unsinn! Ein Vierzehnjähriger kann all das tun, was ein Mann auch zu tun vermag!«

Er blätterte weiter.

»Großer Gott«, stieß er stöhnend aus. »Was ist nur aus dieser Zeitung geworden? Dieser Scharlatan wird neuerdings ständig erwähnt.«

»Mal wieder Sherlock Holmes, Sir?«

»Er wurde gebeten, das Verschwinden irgendeines jungen Lords von seiner Schule zu untersuchen. Der Sohn des verflixten Duke of Holdernesse. Na, da wird er sich ja wie zu Hause fühlen.« Er las weiter, wobei seine lilafarbenen Lippen unter seinem zerzausten Schnurrbart leicht geöffnet waren. »Was? Nein! Großer Gott. Oh nein, nein.« Mr. Arrowood blinzelte mehrmals schnell und furchte verwirrt die Stirn. »Es wurde eine Belohnung von sechstausend Pfund ausgesetzt, Barnett! Sechstausend Pfund! Ich könnte fünfhundert Fälle lösen, ohne auch nur die Hälfte dieser Summe zu verdienen!«

»Das ist auch eine bedeutende Familie, Sir«, gab ich zu bedenken. »Ist der Duke denn nicht auch ein Ritter des Hosenbandordens?«

Er schnaubte. »Früher ging Holmes diskreter vor.«

»Sie wissen doch gar nicht, ob er es war, der mit der Presse geredet hat.«

»Da haben Sie recht. Es war zweifellos Watson, in dem Bestreben, noch mehr Bücher zu verkaufen.«

Am Bahnhof Catford Bridge standen keine Droschken, daher gingen wir an einer Reihe von Armenhäusern vorbei auf die Felder zu. Es war ein kalter Tag, der Himmel hing dunkel und tief über den Häusern. Obwohl es nicht besonders hell war, tat es gut, der schmutzigen Stadtluft entronnen zu sein, ich spürte, wie meine Schritte leichter und mein Kopf klarer wurden.

Catford war ein altes Bauerndorf, das nach und nach von London vereinnahmt worden war. Überall waren Bauarbeiter zugange: Die Straßenbahnlinie nach Greenwich wurde gebaut, Maurer zogen neben der Pumpe die Wände eines Bankgebäudes hoch und legten das Fundament für einen großen neuen Pub. Etwas abseits der Hauptstraße, hinter den kleinen Häusern, die den Bahnhof umringten, waren die großen Villen der Händler und Menschen, die in der Stadt arbeiteten, zu sehen. Hier und da verbargen sich ärmere Viertel im Schatten des Straßenbahndepots und der Schmiede, in denen die Familien der Feldarbeiter in windschiefen Schuppen und feuchten Kellern hausten oder sich in baufällige Häuser mit zugenagelten Fenstern und zerbrochenen Fensterläden drängten.

Das Plough and Harrow war eines dieser Gasthäuser, wie sie außerhalb der Stadt oft zu finden waren – mit einem steinernen Fußboden, der dringend mal gekehrt werden musste, mit dunklem Holz getäfelten Wänden und einer Klöntür, die auch als Tresen genutzt wurde. Ein Großmütterchen saß mit finsterer Miene neben einem jüngeren Mann mit ausdruckslosem Gesicht auf einer der Bänke neben dem Feuer, während drei alte Knacker, auf deren Wangen ein Netz aus Venen leuchtete, mit Pfeife im Mund auf der anderen Seite Domino spielten. Ein uralter Hund mit verfilztem Fell lag zu ihren Füßen und kaute auf einem Stock herum.

»Gibt es hier irgendwo Droschken, Madam?«, fragte Mr. Arrowood die Wirtin, nachdem wir uns zwei Pints gegönnt hatten.

»Der Junge kann Sie im Wagen hinfahren, wenn es in der Nähe ist«, antwortete sie. Die Frau trug einen Cowboyhut, wie man ihn in den Buffalo-Bill-Shows sehen konnte.

»Wir möchten zur Ockwell-Farm«, erklärte Mr. Arrowood. »Kennen Sie die Familie, Madam?«

»Godwin kommt öfter her. Warum fragen Sie?«

»Wir müssen nur etwas mit ihnen besprechen, das ist alles.« Mr. Arrowood kostete sein Porter und lächelte die Dame an. »Das ist ein sehr schöner Hut.«

»Danke, mein Freund.« Ihre Miene wurde sanfter, und sie fuhr mit einem Finger über die Krempe. »Ein Amerikaner hat ihn mir geschenkt.«

»Anständige Leute, die Ockwells«, knurrte einer der alten Männer am Feuer. »Die Familie lebt schon seit wenigstens zweihundert Jahren hier, wenn nicht länger.«

»Sie werden ehrlich zu Ihnen sein, wenn Sie ebenso ehrlich sind«, warf ein anderer ein und hob einen Fuß, um den alten Hund vom Tisch wegzuschieben. »Aber sie lassen sich nichts vormachen, falls Sie das denken sollten.«

Die Tür wurde geöffnet, und zwei Bauarbeiter, beide mit wildem angegrautem Bart, traten ein. Der eine war ein großer, glatzköpfiger Kerl und trug einen schlammverschmierten Moleskinanzug mit zwei Jacken und eine spitze, am Ende mit einem Wollknubbel verzierte Mütze. Der andere war genauso groß, aber dünn, hatte sich ein rotes Tuch um den Hals geschlungen, und seine Cordjacke war voller schlecht geflickter Risse. Unter seiner Kappe quoll sein zerzaustes Haar hervor, das ihm bis auf den verworrenen Bart fiel.

»Morgen, Skulky. Morgen, Edgar«, sagte die Wirtin und stellte den beiden zwei Krüge hin.

Ohne ein Wort griffen die Männer danach und tranken.

»Die Brüder arbeiten gerade auf der Ockwell-Farm und reparieren den Brunnen«, teilte sie uns mit. »Ist dem nicht so, Männer?«

»Was geht die das an?«, wollte der hagere Kerl wissen.

»Diese Gentlemen haben sich nur nach der Farm erkundigt, Skulky«, sagte sie. »Sie haben etwas mit ihnen zu besprechen.«

»Sie sind aus London, was?«, fragte der Mann.

»Süd-London«, antwortete ich. »Kennen Sie die Familie gut?«

»Vielleicht solltest du ihnen sagen, dass sie nicht mehr in London sind, Bell«, brummte der Glatzkopf und kratzte sich den Bart. »Vielleicht solltest du ihnen sagen, dass man hier die Privatsphäre anderer Menschen respektiert.«

Die beiden Männer leerten ihr Bier und gingen wieder.

3

Fünf Minuten später kam ein Junge von neun oder zehn Jahren herein und führte uns zu einem klapprigen Wagen. Wir fuhren an den Feldern vorbei und bogen von der Hauptstraße auf einen schmalen Feldweg ab, der nach kurzer Zeit nicht mehr von Häusern gesäumt war. Ruckelnd und schaukelnd ging es einen Hügel hinunter und sofort den nächsten wieder hinauf. Oben angekommen, nahmen wir einen angrenzenden Weg, der noch holpriger und unebener war als der letzte. Auf beiden Seiten erstreckten sich Felder voller gefrorenem Schlamm und mit Raureif bedeckter Gräser. Hier und da waren kleine Hütten auszumachen, und Schweine standen töricht herum. Ein kalter Wind fegte über das Land.

»Da vorn, Sir«, sagte der Junge.

Vor uns waren die Farmgebäude zu erkennen. Zwei Scheunen, ein Stall, einige baufällige Hütten für die Tiere mit verrosteten, gewellten Eisengittern und ihnen gegenüber ein großes Haus. Alles erweckte den Anschein, als müsste es dringend repariert werden: Auf den Dächern fehlten Schindeln, Türen hingen schief in den Angeln, Unkraut wucherte in den Regenrinnen. Einige alte Pflüge lagen zerbrochen und verrottend vor dem Tor. Nichts an dem Hof sah brauchbar aus. Noch während ich den Anblick in mich aufnahm, fingen die Hunde an zu bellen.

Sie bewachten das Haupttor und zerrten tobend an den Stricken, mit denen sie festgebunden waren. Einer war ein weißer Bullterrier, der nur aus Muskeln und Zähnen zu bestehen schien, der andere der größte Bullmastiff, den ich je gesehen habe. Sein kurzes Fell war braun, die Schnauze schwarz. Anstatt zu versuchen, an ihnen vorbeizufahren, lenkte der Junge den Karren hinten um die Scheune herum und hielt direkt neben dem Haus vor einem Seiteneingang. Als die Hunde uns erneut sahen, stürmten sie über den Hof, wurden jedoch nicht weit vom Wagen entfernt von den Stricken aufgehalten, was ihre Gereiztheit umso mehr steigerte.

»Mr. Godwin geht mit ihnen zu Kämpfen«, sagte der Junge. »Sie sind die Besten in Surrey, heißt es.«

In diesem Augenblick traten zwei verdreckte Männer durch das Haupttor und gingen zu einer der Hütten an der Seite des Hofes. Beide trugen raue, zerschlissene Kleidung, und ihre Jacken beulten sich aus, da sie sich anscheinend Säcke daruntergesteckt hatten. Der mit dem schlammverschmierten, schmalen, ernsten Gesicht starrte uns an. Der andere, ein Mongoloide, winkte uns mit breitem Lächeln zu. Ich winkte zurück. Er trug eine kaputte Melone ohne Krempe auf dem Kopf. Der Mastiff schniefte, wandte sich von uns ab und rannte auf die Arbeiter zu. Sobald der Mongoloide das bemerkte, stieß er einen spitzen Schrei aus und sah sich entsetzt um, während der dünne Kerl seinen Ärmel packte und ihn in die Hütte zog, bevor der Hund sie erreichte.

Wir kletterten vom Karren, und Mr. Arrowood behielt den Bullterrier im Auge, der etwa drei Meter von uns entfernt schnaubend an seinem Strick zerrte. Die dicke Schlammschicht, die den Hof vermutlich an wärmeren Tagen bedeckte, war festgefroren, uneben und erschwerte uns das Gehen. Ein Misthaufen von der Größe eines Einspänners ragte vor einer der Holzhütten auf. Das Farmhaus hatte im obersten Stock sieben und im Erdgeschoss sechs Fenster und grenzte an einem Ende an eine grün gekachelte Molkerei. Alles sah vergammelt aus: Die Hauswände waren bis hinauf zur Traufe mit Schlamm bespritzt, die Schornsteine rissig und schief, das Strohdach moderte und schien an einigen Stellen nur noch hauchdünn zu sein.

Mr. Arrowood klopfte fest an die Tür, bekam jedoch keine Antwort. Nachdem wir noch mehrmals angeklopft hatten, wurde die Tür einer Hütte geöffnet und ein Mann kam heraus. Er trug eine geflickte Segeltuchschürze, die ihm bis hinab auf die Stiefel reichte. Vermengt mit dem Schlamm, der sich darauf abzeichnete, waren lila- und purpurfarbene Blutflecken, die an gelblichen Fettstückchen klebten. Hinter ihm in der Scheune hingen mehrere weiße Schweine kopfüber in einer Reihe von einem Dachbalken, zuckten verwirrt und stießen hin und wieder ein schrilles, gepeinigtes Grunzen aus.

Das Gesicht des Mannes war schweißüberströmt. Sein leicht schütteres blondes Haar war in die Stirn gekämmt, auf der sich eine rote Linie abzeichnete, da er offenbar bis eben eine Kappe getragen hatte. Seine Augenbrauen und Wimpern waren ebenfalls blond, was ihm ein leicht debiles Aussehen verlieh. Er kam auf uns zu, blieb jedoch kurz stehen, um die Hunde zu streicheln, woraufhin sich die Tiere beruhigten.

»Morgen«, sagte er, als er zu uns trat und uns auf seltsame unschuldige Art beäugte.

»Wir sind in offiziellem Auftrag hier, um Birdie Ockwell zu sprechen, Sir«, teilte Mr. Arrowood ihm mit, der den Blick nicht von der Metzgerschürze abwenden konnte. »Sind Sie ihr Ehemann?«

Der Mann ging ins Haus und schloss die Tür hinter sich.

Mr. Arrowood wollte schon erneut anklopfen, doch ich hielt ihn davon ab.

»Warten Sie kurz, Sir.«

Er drückte ein Ohr an die Tür und lauschte. Nach einigen Minuten wurde sie erneut geöffnet, und eine kleine verkniffene Frau mit wachen hellen Augen und heruntergezogenen Mundwinkeln starrte uns an. Sie trug ein silbernes Kreuz um den Hals.

»Ja?«, fragte sie und ließ den Blick kurz über uns schweifen.

»Ich bin Mr. Arrowood, und das ist mein Assistent Mr. Barnett. Wir sind hier, um Birdie Ockwell zu sprechen.«

»Ich bin ihre Schwägerin«, erwiderte die Frau spitz, deren Akzent anders als ihre Kleidung nicht auf eine ärmliche Herkunft schließen ließ. »Und ich passe auf Birdie auf, daher können Sie mit mir über alles reden, was sie betrifft. Worum geht es denn?«

»Es geht um eine Rechtsangelegenheit, die ihre Familie betrifft, Miss Ockwell«, antwortete Mr. Arrowood und hob die Dokumententasche leicht an, damit sie sie zur Kenntnis nahm. »Ich gehe davon aus, dass sie es sehr erfreut zur Kenntnis nehmen wird.«

Sie betrachtete die Tasche einen Augenblick und führte uns dann in den Salon. Er war fünfmal so groß wie der der Barclays, mit ausladenden robusten Möbeln, die einstmals teuer gewesen sein mussten, nun jedoch veraltet wirkten. Das lange Sofa und die Sessel waren zerschlissen, die Polster aufgerissen, die Eichentruhe zerkratzt und beschädigt. Der große Perserteppich war verblichen und an mehreren Stellen mottenzerfressen. Am Fenster stand der Mann von eben und fingerte an seiner blutbeschmierten Schürze herum.

»Das sind Anwälte, Walter«, verkündete die Frau. »Sie haben gute Nachrichten für Birdie.« Sie wandte sich an uns. »Das ist ihr Mann, Mr. Arrowood. Ihm können Sie es doch bestimmt sagen, nicht wahr?«

Sie durchquerte das Zimmer, ließ sich in einen niedrigen Sessel neben einer Lampe sinken und nahm ihre Näharbeit wieder auf.

»Worum geht es?«, fragte Walter. Er hatte denselben Akzent wie seine Schwester, sprach jedoch langsam und übermäßig laut. »Hat ihr jemand etwas Geld hinterlassen?«

»Das können wir nur direkt mit Ihrer Frau besprechen, Mr. Ockwell«, erklärte Mr. Arrowood, dessen Tonfall sich verändert hatte. An der Tür war er noch sanft und freundlich gewesen, doch hier im Haus klang seine Stimme so hart wie die eines Richters, der seinen Urteilsspruch verkündete. »Bitte rufen Sie sie augenblicklich herbei.«

»Sie ist nicht hier«, erwiderte Walter.

»Ich würde es begrüßen, wenn Sie das genauer ausführen könnten«, sagte Mr. Arrowood. »Schließlich habe ich heute noch mehr zu erledigen. Wo hält sie sich auf?«

»Sie besucht ihre Eltern, nicht wahr, Rosanna?« Walter warf seiner Schwester einen fragenden Blick zu.

»Ach herrje.« Mr. Arrowood schüttelte bedauernd den Kopf. »Dabei haben wir so einen langen Weg hinter uns. Dann werden wir uns wohl zum Haus der Barclays begeben müssen.« Er hob seine Tasche auf und drehte sich zu mir um. »Kommen Sie, Barnett. Saville Place, nicht wahr?«

»Ja, Sir.«

»Du liebe Güte, was für eine Zeitverschwendung.«

Er marschierte in Richtung Tür, und ich blieb ihm dicht auf den Fersen.

»Warten Sie, Mr. Arrowood«, bat Miss Ockwell ihn und stand auf, um sich lächelnd den Rock glatt zu streichen. »Sie besucht nicht ihre Eltern, sondern Pollys. Das ist die Frau unseres Bruders Godwin. Walter hört manchmal nicht richtig zu. Das liegt daran, dass er zu viel Zeit mit den Schweinen verbringt, spotten wir dann immer. Die alte Frau lebt in armen Verhältnissen, daher wäre es nicht angebracht, dass Sie Birdie dort aufsuchen, aber wenn Sie uns einfach sagen, worum es geht, werden wir dafür sorgen, dass sie es erfährt.«

»Hören Sie, Miss Ockwell, ich bin ein viel beschäftigter Mann und wiederhole mich nur ungern. Wann wird sie zurück sein?«

»Morgen.«

»Dann muss sie uns in London aufsuchen. Schicken Sie mir eine Nachricht und teilen Sie uns mit, wann sie eintreffen wird. Es muss aber morgen oder übermorgen sein, keinen Tag später. Diese Angelegenheit duldet keinen weiteren Aufschub.«

»Natürlich, Sir«, entgegnete Miss Ockwell.

Mr. Arrowood nannte ihr die Adresse von Mrs. Willows’ Kaffeehaus an der Blackfriars Road, wo wir derartige Treffen üblicherweise abhielten.

Sie begleitete uns in den Flur.

»Wir werden es ihr sofort sagen, sobald sie zurück ist«, versprach sie und öffnete die Tür. »Es geht um ein Testament, haben Sie gesagt?«

»So schnell wie möglich, Miss Ockwell«, beharrte Mr. Arrowood und setzte sich energisch den Hut auf. »Guten Tag.«

Draußen wartete der Junge zitternd auf uns. Die Hunde standen auf der anderen Hofseite bei Edgar, einem der Bauarbeiter, denen wir im Pub begegnet waren. Er fütterte sie mit etwas, was er aus einem alten Lappen zog, und streichelte sie dabei. Sobald er uns bemerkte, richtete er sich auf und raunte seinem Bruder etwas zu, der hinter dem breiten Tor einer der Hütten stand und auf etwas herumhämmerte. Skulky hielt inne, das rote Tuch vor den Mund gebunden und den Holzhammer mit einer Hand umklammernd. Sie sahen uns beide nach, als wir mit dem Jungen vom Hof fuhren.

Wir rollten hinter der langen Scheune entlang auf die zerfurchte Auffahrt und am Haupttor vorbei. Sobald uns die Bauarbeiter nicht mehr sehen konnten, bat Mr. Arrowood den Jungen anzuhalten. Er drehte sich zu dem heruntergekommenen Farmhaus um und starrte es mit steinharter Miene und gegen den Wind zusammengekniffenen Augen an. Dann schüttelte er den Kopf. Diese elende Farm, die allein auf der Hügelspitze thronte, sah aus wie einer dieser Orte, die man nach dem Eintreffen nie wieder verließ.

»Sehen Sie«, murmelte er.

Eines der oberen Fenster wurde geöffnet. Wir konnten hinter dem dicken Bleiglas nichts ausmachen, sahen jedoch eine Hand auftauchen, die etwas in die Luft warf. Schon wurde das Fenster wieder geschlossen. Obwohl wir recht weit entfernt waren, konnten wir anhand der Art, wie das Objekt vom Wind herumgewirbelt wurde und in der Luft tanzte, bevor es hinter der Scheune verschwand, erkennen, worum es sich dabei handelte.

Es war eine Feder.

Mr. Arrowood drehte sich zu mir um und nickte.

»Sie ist da drin«, sagte er.

4

Als wir am nächsten Nachmittag das Kaffeehaus betraten, reichte uns Ma Williams ein Telegramm. Es war von Rosanna Ockwell und besagte, dass Birdie zurück wäre und dass sie uns am nächsten Tag um sechzehn Uhr aufsuchen würden. Mr. Arrowood klopfte mir auf den Rücken, nahm die Zeitungen vom Tresen und ließ sich schwer auf die Bank am Fenster fallen.

»Ich nehme etwas von diesem Mohnkuchen, Barnett!«, rief er mir zu und blätterte bereits in der Pall Mall Gazette. »Ein großes Stück, wenn ich bitten darf, Rena«, fügte er noch hinzu.

Rena Willows sah mich an und verdrehte die Augen. Ihr Kaffeehaus war nicht besonders gehoben, aber wir hatten hier im Laufe der Jahre schon viele unserer Geschäfte erledigt, wobei sie sich niemals einmischte. Manchmal fragte ich mich, ob sie einen Narren an Mr. Arrowood gefressen hatte, hielt das jedoch für unwahrscheinlich bei seinem Kopf, der einer riesigen Rübe glich, und seinem Bauch, der beim Sitzen wie ein großer Pudding zwischen seinen Beinen hing.

Er verspeiste den Kuchen rasch, als ob er seit Tagen nichts gegessen hätte, dabei hatte ich mit eigenen Augen gesehen, wie er keine zwei Stunden zuvor einen großen Teller voller Austern verschlungen hatte. Danach pustete er auf seinen Kaffee und wischte die Krumen von der Zeitung.

»Glauben Sie, dass sie Birdie mitbringen werden?«, fragte ich ihn.

»Wenn ich mir diese Farm so ansehe, nagen diese Leute am Hungertuch. Da sie sich Hoffnungen auf ein Erbe machen, werden sie sie bestimmt mitbringen.«

»Warum waren Sie gestern derart barsch zu ihnen?«

»Sie haben auf mich nicht den Eindruck von Menschen gemacht, bei denen man mit Güte weit kommt, Barnett. Leute wie sie werden von Autorität beeindruckt. Sobald sie beschlossen hatten, dass ich Anwalt sein müsste, schien es mir eine gute Idee zu sein, ihren Verdacht zu bestätigen, was ich jedoch lieber durch mein Verhalten statt in Form von falschen Versprechungen tun wollte. Dass sich Birdie in diesem Haus aufhielt, wusste ich in dem Augenblick, in dem Walter behauptet hat, sie wäre bei ihren Eltern. Das konnte kein Irrtum sein, schließlich haben ihre Eltern sie seit der Hochzeit nicht mehr gesehen, was er ebenso gut wissen muss. Der Mann denkt einfach nicht schnell genug, um ein überzeugender Lügner zu sein.« Er trank gurgelnd seinen Kaffee und nieste dann ohne Vorwarnung auf meine Hand. »Aber warum wollten sie nicht, dass wir mit ihr reden? Das ist die entscheidende Frage.«

»Möglicherweise hat Walter sie verletzt, was niemand sehen soll«, mutmaßte ich und wischte mir die Hand am Hosenbein ab.

»Na, mit etwas Glück bekommen wir sie morgen zu Gesicht. Wir müssen dafür sorgen, dass sich die Barclays zur selben Zeit hier einfinden; dann lässt sich der Fall vielleicht gleich abschließen. Nicht einmal Holmes hätte das schneller bewerkstelligen können. Ich habe heute Morgen übrigens eine Nachricht von Crapes erhalten: Er hat eventuell Arbeit für uns. Das kommt uns nur zupass, da wir durch diesen Fall wohl nicht viel verdienen werden.«

Crapes war ein Anwalt, der uns zuweilen etwas zu tun gab. Üblicherweise mussten wir dann ein paar Tage lang einen Mann oder eine Frau im Auge behalten und bei einer Affäre ertappen. Derartige Fälle lagen uns nicht besonders: Mr. Arrowood sehnte sich vor allem nach etwas, womit er sich einen Ruf machen konnte und das seinen Namen ebenso in die Zeitung brachte wie den des anderen großen Detektivs dieser Stadt.

Er wandte sich wieder der Zeitung zu, die er vor uns auf dem Tisch ausgebreitet hatte.

»Haben Sie von diesem Fall mit der vermeintlich Verrückten in Clapham gehört?«, fragte er nach einer Weile. »Diese Frau glaubte nicht an die Ehe. Sie wollte mit ihrem Liebhaber zusammenwohnen, daher hat die Familie sie ins Kloster geschickt. Sie haben sogar einen Arzt gefunden, der Monomanie bei ihr diagnostiziert hat.« Er sah mich an. »Verursacht durch – und hören Sie gut zu, Barnett, denn ich rede mit Ihnen – die Teilnahme an politischen Treffen während ihrer Menstruation. Haben Sie so etwas schon einmal gehört?«

Ich schüttelte den Kopf.

»Natürlich nicht, weil dieser törichte Arzt die Diagnose schlichtweg erfunden hat«, fuhr er fort und blätterte energisch um. Im nächsten Augenblick verfinsterte sich seine Miene und er stöhnte auf. Ich blickte auf die Zeitung, um herauszufinden, was ihn derart verärgerte.

LORD SALTIRE IN SICHERHEIT. SHERLOCK HOLMES LÖST DAS RÄTSEL. »DER BESTEDETEKTIVDER WELT«, SAGT DER DUKE OF HOLDERNESSE.

Dieser Geschichte war eine ganze Spalte gewidmet. Mr. Arrowood atmete schwer, während er sie las, und schüttelte verzweifelt den Kopf.

»Was hat er jetzt wieder getan?«, erkundigte ich mich.

»Er hat sechstausend Pfund verdient, Barnett«, antwortete er und schleuderte die Zeitung quer durch das Kaffeehaus. Seine Unterlippe zitterte, als würde er innerlich weinen. Er senkte die Stimme zu einem Flüstern.

»Für die Arbeit von zwei Tagen.«

Am folgenden Nachmittag saßen wir abermals im Kaffeehaus. Es wurde bereits dunkel, und wie schon den ganzen Tag fiel kalter Regen zu Boden. Die Barclays hatten längst Platz genommen und saßen in ihren Mänteln und Hüten da wie in einem Omnibus. Mr. Barclay wirkte nervös, und sein rosafarbenes Gesicht war durch den eiskalten Wind noch roter geworden, während Mrs. Barclay ruhig und vornehm auf ihrem Stuhl saß, das Kinn in die Höhe reckte und den Blick über die anderen Gäste schweifen ließ. Aus Sorge, Birdie könnte die Flucht ergreifen, sobald sie ihre Eltern sah, hatte Mr. Arrowood sie an einem kleinen Tisch im hinteren Teil des Raumes platziert, wo man sie hinter mehreren Droschkenkutschern, die eine Pause von ihrem schweren Tagwerk machten, nicht sofort erkennen konnte.

»Das ist Ihre Gelegenheit herauszufinden, wie es ihr geht«, sagte er. »Seien Sie vorsichtig, und tun Sie nichts, was Walter verärgern könnte. Beschuldigen Sie ihn bloß nicht. Und reden Sie Ihrer Tochter ja keine Schuldgefühle ein.«

»Selbstverständlich nicht«, erwiderte Mr. Barclay. Sein Blick zuckte hin und her, und er wackelte so heftig mit einem Bein, dass der Tisch ruckte.

»Barnett, gehen Sie hinaus, und warten Sie dort. Lassen Sie sie zuerst eintreten. Sollten sie umkehren wollen, sobald sie Mr. und Mrs. Barclay sehen, müssen Sie ihnen den Weg versperren, bis es mir gelungen ist, sie zum Bleiben zu überreden.« Er wandte sich erneut unseren Auftraggebern zu. »Danach liegt alles bei Ihnen.«

Ich ging hinaus auf die Straße, steckte ob der Kälte die Hände tief in die Taschen und ließ den Regen auf meinen Hut prasseln. Drei leere Hansoms standen am Rinnstein, und die melancholischen Pferde warteten geduldig davor. Zwei junge Mädchen auf Freiersuche schlenderten vorbei und streckten die Hände nach jedem aus, der ihnen entgegenkam. Auf der anderen Straßenseite marschierte ein Crumpet-Verkäufer mit einem Tablett auf dem Kopf krakeelend und seine Glocke schlagend vorbei, wohl wissend, dass bei diesem Wetter niemand Kuchen essen wollte.

Es dauerte nicht lange, bis ich Rosanna Ockwell die Blackfriars Road entlang auf mich zukommen sah. Sie hatte sich in einen dicken braunen Mantel und einen Schal eingewickelt und trug ein schlichtes schwarzes Häubchen auf dem Kopf, das sie unter dem Kinn verknotet hatte.

»Mr. Barnett«, begrüßte sie mich mit knappem Nicken. »Er ist bereits drin, nicht wahr?«

»So ist es.« Ich öffnete ihr die Tür.

Sie betrat das Kaffeehaus, ließ den Blick über die dicht besetzten Tische schweifen und bemerkte schließlich die Barclays.

»Was hat das zu bedeuten?«, fragte sie spitz und drehte sich wieder zu mir um. »Was haben die hier zu suchen?«

»Es betrifft sie ebenfalls, Ma’am«, antwortete ich und versperrte ihr den Weg durch die Tür.

Sie starrte mich zornig an. Ihre Augen hatten etwas Unheimliches an sich: Wenn sie einen anschaute, war einem, als könnte sie jede Schwäche und jeden Fehltritt, den man je begangen hatte, erkennen.

»Ist Birdie bei Ihnen, Miss Ockwell?«, erkundigte sich Mr. Arrowood und stand auf.

»Gleich um die Ecke«, erwiderte sie und drehte sich zu ihm um. Ihr Gesicht war sehr weiß, nur über ihrer Oberlippe zeichneten sich einige dicke Härchen ab. »Aber sie wird nicht herkommen, solange die beiden hier sind.«

»Wieso denn nicht?«

»Sie will nichts mit ihnen zu tun haben. Sie haben sie nie gut behandelt. Sie haben sie nie gewollt.«

»Das ist eine Lüge!«, kreischte Mrs. Barclay und sprang auf. »Ihre Familie hat sie doch erst dazu angestiftet! Bringen Sie sie sofort her, oder Sie stecken in großen Schwierigkeiten. Ich warne Sie!«

Die Droschkenkutscher waren verstummt und hatten sich auf ihren Bänken umgedreht, um das Spektakel mit anzusehen. Rena hielt in ihrer Arbeit inne und verschränkte die Arme vor ihrem beachtlichen Bauch.

»Bitte setzen Sie sich doch, Miss Ockwell«, forderte Mr. Arrowood die Frau mit äußerst sanfter Stimme auf. »Wir können doch über alles reden.«

»Sie will sie nie wiedersehen.«

»Das stimmt doch gar nicht!«, kreischte Mr. Barclay und schlug fest mit einer Hand auf den Tisch. »Sie sind eine gottverdammte Lügnerin!«

»Seien Sie still, Mr. Barclay!«, bellte Mr. Arrowood.

»Birdie ist eine junge Dame, die jemanden braucht, der für sie einsteht, und das tue ich nur zu gern, Mr. Arrowood«, erklärte Rosanna mit klarer, fester Stimme. »Ich habe Birdie versprochen, sie von diesen Leuten fernzuhalten, und genau das werde ich auch tun.«

»Ach herrjemine«, murmelte Mr. Arrowood. »Aber das lässt sich doch verhandeln. Reden wir über die Details.«

»Ich lasse nicht zu, dass sie mit ihr reden. Sie werden das arme Mädchen nur unnötig aufregen.«

Mr. Barclay sprang erneut auf.

»Für wen halten Sie sich eigentlich, dass Sie glauben, uns den Umgang mit unserer eigenen Tochter verbieten zu können?«, brüllte er. »Sie sind es doch, die ihr Gift ins Ohr geflüstert haben, Madam. Sie und Ihr verdammter Bruder. Bringen Sie uns sofort zu ihr, oder es gibt Ärger!«

»Setzen Sie sich, Sir«, verlangte Mr. Arrowood. Er drehte sich erneut zu Miss Ockwell um, nahm sanft ihren Arm und führte sie zur Theke, damit die Barclays ihr Gespräch nicht mithören konnten.

»Streiten Sie sich nicht mit ihnen«, sagte er leise. »Auf diese Weise bringen wir diese Sache nie über die Bühne, und wir brauchen sie hier, Miss Ockwell. Wie wäre es, wenn Sie jetzt gehen und sie herholen? Ich sorge dafür, dass sich Mr. Barclay beherrscht.«

Derweil erhob sich Mrs. Barclay von ihrem Stuhl und durchquerte den Raum. Sie drängte sich an mir vorbei, öffnete die Tür und hielt sie für Miss Ockwell auf, wobei ihr langes Gesicht mit den drei tränenförmigen Leberflecken auf ihrer Wange unter ihrem adretten Hut sehr traurig aussah.

»Was soll das werden?«, fragte Mr. Barclay. »Wir sind hier noch nicht fertig!«

»Wir werden hier auf Sie warten, Madam«, sagte Mr. Arrowood zu Miss Ockwell.

Sie wandte sich zum Gehen, doch als sie zur Tür kam, trat ihr Mrs. Barclay, die gute dreißig Zentimeter größer war als sie, in den Weg. Einen Augenblick lang herrschte Verwirrung, als Miss Ockwell versuchte, erst auf der einen und dann auf der anderen Seite an ihr vorbeizukommen. Ebenso plötzlich war das Zusammentreffen auch wieder vorbei und sie huschte über die Straße.

»Warum in aller Welt hast du das getan, Martha?«, fragte ihr Gatte.

»Du machst alles nur noch schlimmer, Dunbar.«

»Folgen Sie ihr, Barnett«, ordnete Mr. Arrowood an. »Sorgen Sie dafür, dass sie zurückkehrt.«

Ich war bereits aus der Tür, bevor er den Satz beendet hatte. Ein Stück voraus konnte ich Rosanna Ockwells kleine Gestalt ausmachen, die schnellen Schrittes in Richtung St. George’s Circus lief. Ich rannte ihr hinterher und musste mir dabei einen Weg durch die Menge bahnen. An der Kreuzung bog sie in die Charlotte Street ab. Als ich die Straßenecke erreichte, sah ich eben noch, wie sie die recht große Pear Tree Tavern in der Nähe betrat.

Nachdem ich einige Minuten draußen im Regen gewartet hatte, wuchs meine Besorgnis immer weiter, da ich diesen Pub nicht kannte und somit auch nicht wusste, ob es noch einen Hinterausgang gab. Ich wollte gerade die Straße überqueren und hineingehen, als ein Hansom aus einer der Seitengassen kam und nur kurz anhielt, um den bis oben hin mit Rüben beladenen Wagen eines Obst- und Gemüsehändlers vorbeizulassen. Die Straße war nicht besonders gut beleuchtet, daher sah ich erst, als sich die Kutsche wieder in Bewegung setzte, dass darin drei Gestalten saßen. Es waren Rosanna und Walter, die beide schweigend vor sich hin starrten. Eine Frau war zudem noch zugegen, die sich dem hinteren Fenster zugewandt hatte, aber ich wusste, dass es Birdie sein musste.

Ich vermutete, dass sie zum Bahnhof an der London Bridge fahren wollten, daher nahm ich eine vorbeikommende Droschke. Als wir am Bahnhof ankamen, rannte ich die Stufen hinauf und sah die drei vor mir, die auf dem Weg zum Bahnsteig waren. Walter überragte die beiden Frauen, aber Rosanna konnte auch keine eins sechzig groß sein und Birdie war sogar noch kleiner.

Der Zug wartete bereits, und Dampf stieg aus dem Rauchfang auf.

»He!«, rief ich und lief zu ihnen.

Sie drehten sich zu mir um. Birdie hatte ein schmales Gesicht und starrte mich mit offenem Mund an. Ihr alter Mantel und der herunterhängende Filzhut schienen für eine beleibtere Frau gemacht worden zu sein. In Wirklichkeit sah sie tatsächlich wie ein Vögelchen aus, wie ein Fink mit einem winzigen gekrümmten Schnabel und runden unschuldigen Augen.

»Sie sind uns gefolgt?«, verlangte Miss Ockwell zu erfahren.

»Sie sagten, Sie würden wiederkommen, Ma’am«, erwiderte ich.

»Sie wollte das nicht, stimmt’s, Birdie?«

Birdie musterte mich neugierig. Ihre Augen waren so tief und braun wie die ihrer Mutter. Ihre rechte Hand war mit einem fleckigen Lumpen bandagiert, in der anderen hielt sie eine graue Taubenfeder. Sie sagte nichts.

»Ich bin Norman, Ma’am«, stellte ich mich ihr vor. »Ich kenne Ihre Mutter und Ihren Vater.«

»Hallo, Norman«, sagte sie sehr leise. Das sanfte Lächeln ihrer Mutter breitete sich auf ihren Zügen aus.

»Das ist eine schöne Feder«, sagte ich.

Sie hielt sie hoch, um sie mir zu zeigen, und ihr Lächeln schien den ganzen Bahnhof zu erhellen. Ich erwiderte es.

»Ihre Eltern vermissen Sie wirklich sehr, Birdie«, fuhr ich fort. »Sie sind ganz in der Nähe. Möchten Sie mich begleiten und sie sehen?«

»Sie muss das nicht tun, wenn sie es nicht will«, schaltete sich Walter mit ausdrucksloser Stimme ein. Er trug einen anständigen Kragen mit Krawatte, einen dunklen Anzug und eine Melone auf dem dünnen blonden Haar. In der Stadt wirkte er irgendwie fehl am Platze.

»Vielleicht nur für eine Minute, Birdie?«, schlug ich vor. »Kommen Sie nur mit, um sie zu begrüßen.«

Birdie erwiderte nichts und lächelte noch immer, senkte den Blick jedoch zu Boden.

Vor uns rief der Schaffner: »Alle einsteigen!«, und blies in seine Pfeife.

»Komm jetzt«, sagte Rosanna, nahm den Arm ihrer Schwägerin und ging mit ihr zum Zug. Sie musste sehr fest zugepackt haben, da Birdie leise aufkeuchte.

»Sie können auch den nächsten Zug nehmen, Birdie«, gab ich zu bedenken und folgte ihnen. »Kommen Sie doch mit. Sie warten schon auf Sie.«

»Er kann dir nicht vorschreiben, was du zu tun hast, Mädel«, sagte Walter. »Du gehörst ihm nicht.«

Sie hatten den Zug beinahe erreicht, da verfing sich Birdies Stiefel an einem hervorstehenden Pflasterstein. Sie fiel und schrie auf, als sie mit dem Kopf auf dem nassen Boden aufkam, stützte sich im nächsten Moment jedoch bereits auf alle viere und griff nach ihrem Hut. Es machte auf mich ganz den Anschein, als wäre die kleine Frau derartige Stürze gewöhnt.

»Steh auf!«, befahl Rosanna, packte Birdies Arm und zerrte sie gewaltsam auf die Beine. Birdie keuchte erneut auf.

»Sie tun ihr weh!«, protestierte ich.

»Ich tue ihr nicht weh, ich helfe ihr nur.«

Birdies Lächeln war verblasst, und in ihren Augen schimmerten Tränen. Erst jetzt, wo ihr der Hut herabgefallen war, sah ich die Narbe an ihrem Hinterkopf, wo eigentlich Haare hätten sein sollen. Sie war etwa so groß wie ein Ei, leuchtend rot wie wundes, schmerzendes Fleisch, das Haar darüber und darunter mit gelbem Eiter verklebt. Es sah aus, als wäre ihr ein ganzes Stück ihrer Kopfhaut abgerissen worden.

»Was ist mit Ihrem Haar passiert, Birdie?«, fragte ich, während sich Dampfwolken um unsere Füße ballten.

»Sie ist in die Mangel geraten«, erklärte Rosanna, riss Birdie den Hut aus der Hand und setzte ihn ihr auf den Kopf, um die Narbe zu verdecken. »Hast du ihn nicht richtig festgebunden, du dummes Mädchen?«

Birdie sah mich an. Ihr Blick huschte zu Rosanna, bevor sie mir erneut in die Augen blickte.

»Es tut weh, Norman«, sagte sie mit leiser sanfter Stimme.

»Wer hat Ihnen das angetan?«, verlangte ich zu erfahren.

»Ich hab’s nicht getan«, murmelte Birdie.

»Es war die Mangel«, mischte sich Rosanna ein. »Und jetzt komm und steig in den Zug.«

»Ihre Mama vermisst Sie«, wiederholte ich, als mehrere Männer in schwarzen Übermänteln an uns vorbei zu der Waggontür liefen. »Warum begleiten Sie mich nicht und reden mit ihr? Nur ganz kurz.«

Birdie machte bereits den Mund auf, um etwas zu sagen, als Walter auf einmal vor Zorn aus der Haut fuhr. Er schlug mit der Faust gegen den Waggon und starrte mich erbost an.

»Hören Sie auf, von ihrer Mama zu reden!«, brüllte er. »Sie will nichts mehr von diesen Leuten wissen!«

Er trat vor und packte mich am Kragen, doch er war langsam, und bevor er auch nur richtig zugefasst hatte, schwang ich einen Arm und schlug seine Hände weg. Einen kurzen Augenblick sah er sehr erstaunt aus, aber seine Wut stellte sich rasch wieder ein und er wollte sich abermals auf mich stürzen.

»Beruhige dich, Walter«, ermahnte ihn seine Schwester, die seinen Arm nahm und ihn von mir wegzog. »Steig in den Zug.«

Sie schob ihn zur Tür. Er tat, was sie verlangte, und wirkte, als wäre sein Zorn bei ihrer Berührung verraucht. Beim Einsteigen rutschte seine viel zu kurze Anzughose hoch und ließ seine schmutzige Unterhose erkennen, die an den Knöcheln festgebunden war.

»Sie will sie nicht sehen, Mr. Barnett«, erklärte Miss Ockwell, die Birdie nun ebenfalls zum Zug drängte. »Sie haben ihr die Möglichkeit dazu gegeben, und sie hätte schon einen Ton gesagt, wenn sie es gewollt hätte. Bitten Sie Mr. Arrowood, die Dokumente und alle Fragen an unseren Anwalt Mr. Outhwaite in 42 Rushey Green zu schicken. Wir sorgen dafür, dass sie alles unterzeichnet.«

Sie stieg in den Waggon und knallte die Tür zu. Ich sah ihnen durch das Fenster zu, wie sie ihre Plätze einnahmen.

Im Waggon gab es kein Licht, aber ich konnte erkennen, dass Birdie zwischen ihnen auf der Bank saß und die Hände im Schoß verschränkt hatte. Ihr Mund stand leicht auf, und sie starrte ihre Knie an. Sie wirkte so unglaublich einsam. Walter saß am mir zugewandten Fenster, stützte den Ellbogen dagegen, und seine Augen waren im Schatten seiner Melone nicht zu erkennen.

Der Schaffner stieß zweimal in seine Pfeife, und der Zug setzte sich in einer dicken Dampfwolke und mit klappernden Rädern in Bewegung. Im letzten Augenblick hob Birdie noch einmal den Kopf. Jetzt lächelte sie nicht, stattdessen runzelte sie die Stirn und presste die Lippen aufeinander. Sie wirkte wie der traurigste Mensch, den ich jemals gesehen hatte.

5

Während wir die Blackfriars Road entlanggingen, schwieg Mr. Arrowood. Er tippte mit seinem Gehstock gegen den Rinnstein und summte Mrs. Barclays trauriges Lied vor sich hin. Ich gab keinen Ton von mir, da ich genau wusste, dass er über unseren nächsten Schritt nachdachte.

»Erzählen Sie mir noch einmal, was sich am Bahnhof zugetragen hat«, bat er mich schließlich kopfschüttelnd, als könnte er seine verworrenen Gedanken so besser sortieren. »Und zwar ganz genau. Lassen Sie kein Detail aus.«

Während ich die ganze Begegnung erneut durchging, wollte er wissen, wie ihre Mienen ausgesehen und wo sie gestanden hatten, welche Blicke sie einander zugeworfen und welche Worte sie gesagt hatten. Ich hatte damit gerechnet, dass er das fragen würde, und war auf dem Rückweg zu ihm längst alle Details durchgegangen und hatte mir die Situation beschrieben, um ja nichts zu vergessen. Mr. Arrowood sah die Menschen besser als ich, sogar besser als die meisten anderen Menschen. Aus diesem Grund war er ein so guter Detektiv. Er versuchte stets, sich zu verbessern, las andauernd Bücher über Psychologie und den Verstand und kaufte Flugblätter und Zeitungen, damit er die großen Fälle verfolgen konnte. Zuletzt hatte er sich in ein Buch von Mr. Carpenter vertieft, in dem es um unbewusste Gehirntätigkeiten ging, wie er uns gern erklärte, aber während der letzten Jahre war er immer wieder aufs Neue von dem Buch über Emotionen von Mr. Darwin beeindruckt gewesen. Er hatte alle Bilder darin studiert und die verschiedenen Arten gelernt, auf die der Körper Gefühle ausdrückte.

»Es ist offensichtlich, dass diese Leute sie kontrollieren«, stellte er fest, nachdem ich meinen Bericht beendet hatte. »Aber noch wichtiger ist, warum sie Ihre Fragen nicht beantwortet hat, als sie die Gelegenheit dazu hatte. Vielleicht wollte sie keinem widersprechen. Das würde zu dem passen, was uns die Barclays über ihr Verhalten erzählt haben.« Er ließ die Spitze seines Gehstocks über das Geländer neben dem Gehweg gleiten. »Oder sie war sich nicht sicher, was sie wirklich will. Es ist sehr wahrscheinlich, dass sie es nicht gewohnt ist, eigene Entscheidungen zu treffen.«

»Ich war mir nicht einmal sicher, ob sie mich richtig verstanden hat.«

»Ihren Eltern zufolge versteht sie alles. Sie kann nur nicht gut mit Worten umgehen.«

Er hielt inne, als wir einen Erbsensuppenverkäufer erreichten, und ich hörte, wie sein Magen knurrte. Doch er ging kopfschüttelnd weiter.

»Und Walter hat gesagt: ›Er kann dir nicht vorschreiben, was du zu tun hast‹, nicht wahr? Das ist höchst interessant. Er hätte auch sagen können: ›Ignorier ihn, Birdie.‹ Oder er hätte Sie auffordern können, sie in Ruhe zu lassen. Aber er hat sich so ausgedrückt. Das erweckt den Anschein, als wäre er besorgt, wer die Macht hat, anderen etwas vorzuschreiben. Die Barclays sagten, er wäre nicht gerade der Hellste. Hat er auf Sie diesen Eindruck erweckt?«

»Das ist schwer zu sagen, Sir. Seine Stimme klang ausdruckslos, und er schien etwas unbeholfen zu sein. Auf mich machte es den Anschein, als würde seine Schwester über ihn bestimmen.«

»Das kam mir auf der Farm auch so vor. Ich frage mich, ob er beunruhigt ist, weil man ihm vorschreibt, was er tun soll. Und er hat gesagt: ›Du gehörst ihm nicht.‹ Ist das etwa sein Verständnis von der Ehe?«

Wir traten auf die Straße, um einer gebeugten alten Frau auszuweichen, die zwei prall gefüllte Säcke über den Schultern trug. Sie hatte sich ein Teppichstück auf den Kopf gebunden, und ihr dreckiger Mantel schleifte hinter ihr über die Straße. Ihr folgte ein Bursche, der an den Knochen eines Schweinefußes saugte.

»Nicht trödeln!«, krächzte sie.

Schon hastete er hinter ihr her, und sein schwarzer Anzug glänzte im Licht der Gaslaternen vor Dreck.

»Walters aufbrausende Art ist besorgniserregend, Barnett. Wollte er Sie tatsächlich angreifen?«

»Es sah ganz danach aus.«

»Auch diese Narbe gefällt mir ganz und gar nicht. Hat Birdie bestätigt, dass sie von der Mangel stammt?«

»Sie sagte: ›Ich hab’s nicht getan.‹ Ich weiß nicht, ob sie damit meinte, dass sie ihr Haar nicht hochgebunden hatte oder dass es nicht ihre Schuld gewesen ist.«

Ein Junge trat vor uns auf die Straße und hatte sich einen Korb mit Brötchen um den Hals gebunden. Seine Kappe war eingerissen und viel zu groß, und auf seiner Jacke zeichneten sich zahlreiche Flecken ab.

»Leckere Brötchen!«, rief er den müden Menschen zu, die mit ihren Wagen und Säcken an ihm vorbeiströmten.

»He, Junge«, sagte Mr. Arrowood strahlend.

»Mr. Arrowood!«, rief der Junge aus.