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Die Abenteuer des Meisterdiebs Arsène Lupin in der Neuübersetzung des ersten Bandes! Arsène Lupin ist einer der unsterblichen Superhelden der Weltliteratur: ein Gentleman, der nur in den feinsten Kreisen verkehrt, aber auch ein ausgebuffter Einbrecher, der mit seiner überragenden Intelligenz, seinem Blick für noch so kleine Details, seinen seherischen Fähigkeiten und seiner moralischen Überlegenheit jede Gaunerei erfolgreich ausführt und zugleich jeder noch so großen Versuchung, wirklich Böses zu tun, widersteht: Denn wer könnte diesem Raffael der Einbrecherkunst schon die Diebstähle funkelnder Juwelen und teuerster Gemälde aus reichen und reichsten Häusern verargen? Neben Lupin wird selbst sein größter Rivale, der britische Detektiv Sherlock Holmes, zum kleinlichen Erbsenzähler, der unserem Helden immer erst zu spät auf die Spur kommt. "Arsène Lupin, der Gentleman- Gauner" stellt diese Lichtfigur des Fin de Siècle in all seinen Facetten in einem spannenden Abenteuer voller Esprit vor.
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Seitenzahl: 276
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MAURICE LEBLANC
Aus dem Französischen von Erika Gebühr
Vorwort
Die Verhaftung des Arsène Lupin
Arsène Lupin im Gefängnis
Arsène Lupins Flucht
Der geheimnisvolle Reisende
Herz-Sieben
Der Geldschrank der Madame Imbert
Die schwarze Perle
Herlock Sholmes kommt zu spät
Arsène Lupin, der Gentleman-Einbrecher, ist genauso alt wie ich: Im Jahre 1907 wurde er in den Buchläden geboren, als Sohn aus den Werken des Schriftstellers Maurice Leblanc, der bis dahin nur als Journalist bekannt war.
Damals schrieb ein bekanntes Mitglied der Académie Française, Jules Claretie, das Vorwort.
Heute wissen einige wenige noch, wer Maurice Leblanc, jedoch keiner mehr, wer Jules Claretie war. Aber die Gestalt Arsène Lupins ist berühmt geworden, sie kann auf den Vater und den Paten verzichten.
Arsène Lupin hat viele Kinder gehabt:
»Le Saint« (der Heilige), der lustige und elegante Weltverbesserer, Verteidiger der Unterdrückten, der im Vorbeigehen seine Provision von den Bösartigen erhebt und der das Leben ebenso wie auch die Gefahr und das Vergnügen liebt; der elegante und romantische Geheimagent Hubert Bonisseur de la Bath; der spitzfindige und bezaubernde Rechtsanwalt Perry Mason; »le Baron« (der Baron), der in seiner Taktlosigkeit so taktvolle Kunstsammler. Viele andere Autoren, wie z. B. Leslie Charteris, Jean Bruce, Ellery Queen oder Anthony Morton, wurden freiwillig oder unfreiwillig von Arsène Lupin inspiriert.
Maurice Leblanc wurde in Rouen, wo sein Vater Reeder war, im Jahre 1864 geboren.
Das Abenteuer überrascht ihn in einem gutbürgerlichen Haus in der Rue de Fontenelle. Er ist vier Jahre alt, als sein Vaterhaus abbrennt. Natürlich wird das Kind durch höhere Fügung im letzten Augenblick den Flammen entrissen und gerettet.
Zwei Jahre später bricht der Krieg von 1870 aus. Der Vater bringt den kleinen Maurice Leblanc auf eines seiner Schiffe und schickt ihn nach Schottland in ein sicheres Asyl.
Ein Jahr später kehrt er zurück und erhält seinen Schulunterricht im Pensionat Patry und im Gymnasium Corneille, er ist ein ausgezeichneter Schüler.
Sehr viel später grämt er sich noch deswegen: »Ich hatte die besten Zeugnisse«, sagt er, »und ich behaupte mit einer bewussten Romantik, dass das bedauernswert war.«
Oft holte am Sonnabend ein zweispänniger Wagen den jungen Maurice Leblanc ab und fuhr ihn bis zum Sonntagabend kreuz und quer durch die Landschaft von Caux spazieren.
Während einer dieser langen Fahrten entdeckt er L’Aiguille creuse (der hohle Gipfel), dessen historisches Geheimnis Schritt um Schritt von Arsène Lupin und seinem liebevollen Feind, dem jungen Reporter Beautrelet, aufgedeckt wird.
Manchmal macht Maurice Leblanc seine Sonntagsausflüge auch zusammen mit seinen Eltern nach Croisset auf einem, wie er berichtet, »außergewöhnlich grünen Schiff, L’Union genannt. Alte Stiche stellen ähnliche Schiffe auf dem Mississippi oder dem Orinoko dar. Ein Geigenspieler verkürzte die langsame Überfahrt. Man brauchte zwei Stunden, um nach Bouillie zu kommen. Und die Reise von Croisset schien ohne Ende. Ich war zehn Jahre alt …«
In Croisset hört sich der junge Maurice Leblanc bis zu seinem siebzehnten Lebensjahr die wunderbaren Geschichten an, die ihm Gustave Flaubert erzählt, dessen Vater, der Chirurg Flaubert, der Hausarzt und Geburtshelfer seiner Mutter war.
Zwei Schriftsteller, Normannen wie er, die er regelmäßig aufsucht, haben auf seine Jugend und später, wie man sehen wird, auf sein Werk großen Einfluss: Guy de Maupassant und Gustave Flaubert.
Doch Maurice Leblanc beginnt sein Leben als Industrieller in der Tuchfabrik Miroude-Pichard.
Tuchkämme … Maurice Leblanc hat nie gelernt, was das ist. In seiner Fabrik zieht er sich in den Waschraum auf dem Boden zurück und schreibt, schreibt, schreibt …
»Die Fabrik mit ihrem Lärm löste sich in nichts auf. Das Völkchen der Arbeiter verschwand wie eitle Gespenster. Ich war glücklich … ich schrieb.«
Er schreibt, aber der Wunsch, Schriftsteller zu werden, überkommt ihn eines Tages durch Zufall.
Er geht zur Einweihung des Denkmals für Flaubert zum Square Solferino. Dort sind schon Edmond de Goncourt, Emile Zola, Guy de Maupassant und Mirbeau. Er mischt sich unter sie, isst mit ihnen zu Mittag und besteigt den Zug mit denen, die nach Paris zurückkehren.
Die alten Meister lauschen dem unbekannten jungen Mann, der ihnen von Flaubert erzählt, den er gekannt hat, von der Frau, die Flaubert zu seiner Madame Bovary inspirierte (die Frau seines Apothekers stellt genau die Tochter der Heldin in dem berühmten Roman dar) …
Durch so viel Aufmerksamkeit ermutigt, entschließt sich Maurice Leblanc, diese großen Schriftsteller um ihre Hilfe zu bitten, als Edmond de Goncourt beim Verlassen des Tunnels Sainte Catherine zu brummen beginnt:
»Meine kleinen Freunde, ich hoffe doch, dass ihr nicht bis Paris so weiterschwätzen werdet, he? Ich bin halb tot. Dieser ganze Einweihungsrummel hat mich ermüdet. Ich schlafe. Wer hat die Güte, den Vorhang vorzuziehen?«
Und Maurice Leblanc zieht den Vorhang vor … vor seine Pläne auch.
Nach Rouen zurückgekehrt, gesteht er seinem Vater, dass er keinerlei Berufung zum Tuchfabrikanten habe und dass er nach Paris fahren möchte.
Rein äußerlich geht er nach Paris, um Jura zu studieren und seine Schwester zu begleiten, denn lange Zeit war er der kleine Bruder der großen Tragödin Georgette Leblanc, der Darstellerin und Inspiratorin, der zeitweilig geheimen Gefährtin von Maurice Maeterlinck, mit dem sie in ruhmvollen Skandalen lebte. In ihren Memoiren hat Georgette Leblanc Maurice übrigens nur als einen Dandy erwähnt, »der im Jahre 1900 die Mode von 1835 einführt«.
Doch Maurice Leblanc, der gut schreibt, ist ein »sehr pariserischer« Journalist geworden.
Man findet ihn als Chronist in den Zeitungen Gil Blas, Figaro und Comœdia. Er veröffentlicht eine Sammlung Novellen unter dem Titel Von Liebespaaren, über die Léon Bloy sagt: »Das ist Maupassant« und Jules Renard: »Das ist Flaubert«, ohne dass sich die große Öffentlichkeit dafür interessiert.
Ohne großen Erfolg veröffentlicht er auch einige Romane: Eine Frau, Das Todeswerk, Der schweigende Mund.
Bei Antoine lässt er ein Stück mit dem Titel Die Begeisterung spielen, das aber das Publikum nicht zu begeistern vermag.
Aber Pierre Laffitte, der große Verleger, der gerade mit dem Magazin Je sais tout begonnen hat, bittet ihn, eine Kriminalnovelle zu schreiben, deren Held in Frankreich das Äquivalent zu Sherlock Holmes und Raffles in England sein sollte. Und so entstand auf Antrag der erste Arsène Lupin.
Tatsächlich heißt er noch nicht Arsène Lupin, sondern Arsène Lopin; das war der Name eines Stadtrats von Paris, der mit der Regierung im Streit lag. Lopin erhebt Einspruch, und Maurice Leblanc ändert den Namen seines Helden.
Die Gestalt Arsène Lupins drängt sich sofort auf.
Er ist Sherlock Holmes und Raffles so unähnlich wie nur möglich. Jeden Monat (Je sais tout ist eine Monatszeitschrift) erlebt Arsène Lupin Abenteuer, in denen sich die Vorgänge nicht auf Zigarettenstummel oder Fußspuren stützen und deren Geheimnis nicht von schweren, verbrecherischen Stimmungen erzeugt wird.
Ganz im Gegenteil, alles im Leben Arsène Lupins ist klar, heiter, optimistisch. Man weiß sofort, dass, wenn es sich um ein Verschwinden oder einen Diebstahl handelt, der Schuldige Arsène Lupin ist.
Er ist lebhaft, verwegen, unverschämt und führt den Kommissar (der hier gelegentlich Inspektor Ganimard heißt) unentwegt an der Nase herum, er bezaubert und hat die Lacher auf seiner Seite, er macht sich über die Situationen, in denen er sich befindet, lustig, macht die satten Bürger lächerlich und hilft den Schwachen; Arsène Lupin, der Gentleman-Einbrecher, ist ein Freischütz der »Belle Epoque«.
Ein sehr französischer Freischütz: Er nimmt sich nicht sehr ernst, seine tödlichsten Waffen sind seine witzigen Einfälle; er ist kein Aristokrat, der wie ein Anarchist lebt, sondern ein Anarchist, der wie ein Aristokrat lebt; er ist nie feierlich, immer spöttisch, er schenkt sein Herz nicht der Dame seines Lebens – sondern den Damen seiner Leben. So wurde er schließlich während langer Abende im Theater von André Brulé verkörpert, und vierzig Jahre später spielt ihn Robert Lamoureux auf der Leinwand.
Nach einem halben Jahrhundert ist Arsène Lupin noch nicht gealtert. Er wird nie altern trotz seines Zylinders, seines Umhangs und seines Monokels.
Die Leute meines Alters sprechen unter sich von Arsène Lupin wie von einem Helden ihrer Familie, sodass der geringste Irrtum des Gedächtnisses bezüglich seiner Abenteuer eine Unschicklichkeit ist.
Aber seit einiger Zeit haben die jungen Leute aus der Generation unserer Söhne dasselbe heiße Interesse an diesem alten Freund ihrer Eltern, der für sie das Alter von Ivanhoe, Mouron rouge oder Fantomas hat, das Alter, in dem die eingebildeten Helden unsterblich werden.
Pierre Lazareff
Es war eine seltsame Reise! Dabei hatte sie so vielversprechend begonnen. Ich für meinen Teil habe niemals eine Reise unter glücklicheren Vorzeichen angetreten. Die »Provence« ist ein schneller Überseedampfer, behaglich und unter dem Kommando des freundlichsten aller Menschen. Die Elite der Gesellschaft war hier vereint. Beziehungen wurden angeknüpft, und es gab mancherlei Vergnügungen. Wir hatten jenen einmaligen Eindruck, wie auf einer einsamen Insel von der Welt getrennt, auf uns allein angewiesen und daher verpflichtet zu sein, uns einander zu nähern.
Und wir kamen uns näher.
Haben Sie jemals darüber nachgedacht, wie eigentümlich und köstlich so eine zusammengewürfelte Gruppe von Menschen sein kann, die sich eben erst kennengelernt haben und die nun während einiger Tage zwischen dem unendlichen Himmel und dem gewaltigen Meer auf engstem Raum miteinander leben und dem Wüten des Ozeans, dem erschreckenden Ansturm der Wellen und der heimtückischen Ruhe des schlafenden Wassers trotzen müssen?
Im Grunde ist dieses das Leben selbst, das wie in einem Bühnenstück seine Gewitter und seinen Sonnenschein, seine Monotonie und seine Vielfalt ausspielt, und vielleicht erlebt man deswegen solch eine kurze Reise mit fieberhafter Hast und umso heftigerem Genuss, weil man zu dem Zeitpunkt, da sie beginnt, schon ihr Ende voraussieht.
Hinzu kommt, dass die Überfahrt seit einigen Jahren noch aufregender geworden ist. Die kleine schwimmende Insel ist ständig mit jener Welt verbunden, von der man sich befreit glaubte. Das Band löst sich inmitten des Ozeans nach und nach auf, um bald wieder neu geknüpft zu werden. Die drahtlose Telegrafie! Wie aus luftleerem Raum kommen die Nachrichten auf geheimnisvollste Weise. Man hat keine Möglichkeit mehr, sich die leeren Drähte vorzustellen, durch die die unsichtbare Botschaft geschickt wird. Das Geheimnis ist viel unergründlicher, aber auch poetischer, und man muss an die Flügel des Windes denken, wenn man dieses neue Wunder erlebt.
So fühlten wir uns in den ersten Stunden verfolgt, bewacht, ja in den Fängen dieser fernen Stimme, die von Zeit zu Zeit einem von uns einige Worte von jenseits zuflüsterte. Zwei Freunde sprachen mit mir. Zehn, zwanzig andere sandten uns allen ihre betrübten oder lächelnden Abschiedsworte durch den Äther nach.
Am zweiten Tag, einem gewittrigen Nachmittag, funkte uns die drahtlose Telegrafie fünfhundert Meilen von der französischen Küste entfernt eine Depesche mit folgendem Inhalt: »Arsène Lupin an Bord, erste Klasse, blondes Haar, Verletzung am rechten Unterarm, reist allein, unter dem Namen R…«. Gerade in diesem Augenblick krachte ein heftiger Donnerschlag aus dem finsteren Himmel. Die elektrischen Wellen wurden unterbrochen. Der Rest der Depesche erreichte uns nicht. Von dem Namen, unter dem sich Arsène Lupin verbarg, wusste man nur den Anfangsbuchstaben.
Ich bin sicher, dass jede andere Nachricht von den Funkern, dem Schiffskommissar und dem Kommandanten des Schiffes wohlbehütet und geheim gehalten worden wäre. Aber es gibt Ereignisse, denen die strengste Diskretion nicht gewachsen ist. Am selben Tag noch wussten wir alle, ohne dass man hätte sagen können, wie die Sache ruchbar geworden war, dass der berühmte Arsène Lupin sich unter uns versteckt hielt.
Arsène Lupin unter uns! Der Einbrecher, der nicht zu fangen ist, über dessen Heldentaten alle Zeitungen seit Monaten berichten! Jene rätselhafte Persönlichkeit, mit der der alte Ganimard, unser bester Polizeibeamter, jenes Duell auf Leben und Tod begonnen hatte, dessen unerwartete Geschehnisse sich so abenteuerlich abspielten! Arsène Lupin, der einfallsreiche Gentleman, der nur in Schlössern und Salons »arbeitet« und der eines Nachts, als er in das Haus von Baron Schormann eingestiegen, mit leeren Händen wieder gegangen war und nur eine Karte mit folgenden Worten zurückgelassen hatte: »Arsène Lupin, der Gentleman-Einbrecher, wird wiederkommen, wenn die Möbel echt sind.« Arsène Lupin, der Mann mit den tausend Verkleidungen, der schon als Chauffeur, Tenor, Buchhändler, Sohn der Familie, Jüngling, Greis, Handlungsreisender aus Marseille, russischer Arzt oder als spanischer Torero aufgetreten war!
Man bedenke: Arsène Lupin spazierte auf dem verhältnismäßig begrenzten Raum eines Überseedampfers – was sage ich! –, in diesem kleinen Winkel der ersten Klasse, wo man sich immerfort begegnete, im Speisesaal, im Salon, im Rauchzimmer herum! Arsène Lupin! Vielleicht ist es dieser Herr … oder jener dort … mein Tischnachbar … mein Kabinengefährte …
»Und das soll noch fünfmal vierundzwanzig Stunden dauern!«, rief am nächsten Tag Miss Nelly Underdown. »Das ist ja unerträglich! Ich hoffe doch, dass man ihn verhaftet.«
Und sich mir zuwendend:
»Sie, Herr d’Andrézy, Sie sind doch schon so gut mit dem Kommandanten bekannt, wissen Sie denn gar nichts?« Ich hätte gerne etwas gewusst, um Miss Nelly zu gefallen. Sie war eines dieser prächtigen Geschöpfe, die überall, wo sie erscheinen, der Mittelpunkt der Gesellschaft sind. Ihre Schönheit blendet ebenso wie ihr Reichtum. Sie haben ein Gefolge, glühende Anbeter und Schwärmer.
Sie war in Paris bei ihrer französischen Mutter aufgewachsen und fuhr nun zu ihrem Vater, dem überaus reichen Herrn Underdown in Chicago. Lady Jerland, eine ihrer Freundinnen, begleitete sie.
Schon beim ersten Anblick hatte ich den Wunsch, mit ihr zu flirten. Aber durch die so rasch um sich greifende Intimität aller Reisegefährten hatte mich ihr Charme sofort verwirrt, und wenn ihre großen schwarzen Augen meinem Blick begegneten, war ich für einen Flirt einfach zu aufgeregt. Sie nahm meine Huldigungen mit einer gewissen Gunst auf und ließ sich herab, über meine Witze zu lachen und sich für meine Anekdoten zu interessieren. Ein Hauch von Sympathie schien die Belohnung für meinen Eifer zu sein.
Ein einziger Rivale hätte mich vielleicht beunruhigen können; ein ziemlich hübscher Junge, elegant und zurückhaltend, dessen schweigsames Wesen sie manchmal meiner etwas zu offenen Pariser Art vorzuziehen schien.
Er befand sich gerade in der Gruppe der Bewunderer, die Miss Nelly umgaben, als sie mich aushorchte. Wir lagen in bequemen Schaukelstühlen auf dem Oberdeck. Das Gewitter des Vorabends hatte den Himmel gelichtet, eine zauberhaft schöne Atmosphäre.
»Ich weiß nichts Genaues, mein Fräulein«, antwortete ich ihr, »aber haben wir nicht selbst die Möglichkeit, Ermittlungen anzustellen, ebenso wie es der alte Ganimard, der persönliche Feind Arsène Lupins, machen würde?«
»Sie nehmen sich aber viel vor.«
»Warum denn? Ist das Problem wirklich so schwierig?«
»Sehr schwierig.«
»Sie vergessen die Anhaltspunkte, über die wir verfügen, um es zu lösen.«
»Welche Punkte?«
»Erstens reist Lupin unter dem Namen Herr R …«
»Ein etwas dürftiger Steckbrief.«
»Zweitens ist er allein.«
»Wenn Ihnen diese Besonderheit genügt?«
»Drittens ist er blond.«
»Na und?«
»Nun brauchen wir nur noch in die Passagierliste zu sehen und herauszunehmen, wer in Frage kommt.«
Ich hatte die Liste in meiner Tasche, zog sie heraus und überflog die Namen.
»Ich stelle zunächst fest, dass nur dreizehn Personen auf Grund ihres Anfangsbuchstabens unsere Aufmerksamkeit verdienen.«
»Nur dreizehn?«
»In der ersten Klasse, ja. Von diesen dreizehn Herren R… wie Sie sich überzeugen können, sind neun von Frauen, Kindern oder Dienern begleitet. Somit bleiben vier alleinstehende Personen: der Marquis de Raverdan …«
»Sekretär an der Botschaft«, unterbrach mich Miss Nelly, »ich kenne ihn.«
»Major Rawson …«
»Das ist mein Onkel«, sagte jemand.
»Herr Rivolta …«
»Hier!« rief einer aus unserer Gruppe, ein Italiener, dessen Gesicht unter einem Bart von schönstem Schwarz verschwand.
Miss Nelly lachte:
»Der Herr ist nicht unbedingt blond.«
»Also«, fuhr ich fort, »müssen wir zu dem Ergebnis kommen, dass der Schuldige der Letzte auf der Liste ist.«
»Das heißt?«
»Das heißt: Herr Rozaine. Kennt jemand Herrn Rozaine?«
Alle schwiegen. Nur Miss Nelly rief den jungen, schweigsamen Mann heran, dessen Beharrlichkeit ihr gegenüber mich beunruhigte, und sagte:
»Nanu, Herr Rozaine, Sie antworten nicht?«
Wir wandten uns ihm zu. Er war blond. Ich will es zugeben, das versetzte mir einen kleinen Stoß im Innern. Und die drückende Stille, die auf uns lastete, zeigte mir, dass die anderen Anwesenden ebenfalls diese Beklemmung verspürten. Es war übrigens absurd, denn schließlich gab nichts in dem Benehmen des Mannes dazu Anlass, ihn zu verdächtigen.
»Warum ich nicht antworte? Weil ich in Anbetracht meines Namens, meiner Eigenschaft als Alleinreisender und der Farbe meiner Haare eine ähnliche Untersuchung vorgenommen habe und zu demselben Ergebnis gekommen bin. Ich bin also der Ansicht, dass man mich verhaften muss.«
Er sah komisch aus bei diesen Worten. Seine Lippen, die so dünn waren wie zwei gerade Striche, wurden noch schmaler und blasser. Die roten Äderchen im Weiß seiner Augen traten hervor.
Natürlich, er machte Spaß. Dennoch beeindruckte uns sein Ausdruck und seine Haltung. Naiv fragte Miss Nelly:
»Aber Sie haben keine Verletzung?«
»Das ist wahr«, sagte er, »die Verletzung fehlt.«
In einer nervösen Bewegung schob er seinen Ärmel hoch und entblößte den Arm. Im gleichen Augenblick kam mir ein Gedanke. Mein Blick begegnete dem von Miss Nelly. Er hatte den linken Arm gezeigt!
Und, bei Gott, ich war gerade im Begriff, eine eindeutige Bemerkung zu machen, als ein Zwischenfall unsere Aufmerksamkeit ablenkte. Lady Jerland, Miss Nellys Freundin, kam angelaufen.
Sie war entgeistert. Wir drängten uns um sie, und erst nach einiger Anstrengung gelang es ihr, zu stammeln:
»Meine Schmuckstücke … meine Perlen! … Alles gestohlen!«
Nein, es war nicht alles gestohlen worden, wie wir gleich darauf erfuhren; was noch merkwürdiger war: Es war ausgewählt worden.
Von dem Stern aus Diamanten, dem Anhänger an der Kette aus ungeschliffenem Edelstein, den durchbrochenen Halsketten und Armbändern hatte man nicht die größten Steine genommen, sondern die feinsten und kostbarsten, diejenigen, könnte man sagen, die den größten Wert darstellten und den wenigsten Platz einnahmen. Die Fassungen lagen dort auf dem Tisch. Ich sah sie, alle sahen wir sie ihrer Steine beraubt wie Blumen, denen die schönen leuchtenden bunten Blüten abgerissen worden waren.
Um diese Arbeit durchzuführen, war es nötig gewesen, während der Stunde, in der Lady Jerland zum Tee ging, am helllichten Tag und in einem belebten Flur die Tür der Kabine aufzubrechen, einen kleinen, vorsorglich auf dem Boden einer Hutschachtel versteckten Beutel zu finden, ihn zu öffnen und auszuwählen!
Nur ein Gedanke beherrschte uns alle. Unter allen Passagieren gab es nur die eine einstimmige Meinung, als der Diebstahl bekannt wurde: Das war Arsène Lupin! Und es war tatsächlich seine komplizierte, geheimnisvolle, unfassbare und doch logische Art; denn wie schwierig war es, die sperrige Masse aller Schmuckstücke zu verstecken, und wie viel weniger Risiko war mit den kleinen, voneinander unabhängigen Stücken, den Perlen, Smaragden und Saphiren, verbunden.
Beim Mittagessen blieben rechts und links von Rozaine die beiden Plätze frei. Am Abend erfuhren wir, dass er zum Kommandanten gerufen worden sei.
Seine Verhaftung, an der niemand zweifelte, ließ uns alle erleichtert aufatmen. An diesem Abend spielten wir kleine Spiele. Wir tanzten. Überhaupt, Miss Nelly zeigte eine betäubende Fröhlichkeit, die mir bewies, dass, wenn ihr die Huldigungen von Rozaine am Anfang gefallen haben mochten, sie sich jetzt kaum mehr an sie erinnerte.
Ihr Charme eroberte mich. Gegen Mitternacht gestand ich ihr im hellen Mondschein meine Ergebenheit mit einer inneren Bewegung, die ihr nicht zu missfallen schien.
Aber am nächsten Tag erfuhren wir zur allgemeinen Verblüffung, dass Rozaine frei war, da die gegen ihn erhobenen Beschuldigungen nicht ausreichten.
Als Sohn eines angesehenen Geschäftsmannes in Bordeaux hatte er vollkommen ordnungsgemäße Papiere vorgewiesen. Außerdem zeigte sich auf seinen Armen nicht die geringste Spur einer Verletzung.
»Papiere! Geburtsurkunden!« riefen Rozaines Feinde. »Arsène Lupin liefert Ihnen, so viel Sie wollen! Was die Verletzung anbetrifft, so hat er keine erhalten … oder ihre Spuren beseitigt!« Man warf ihnen vor, dass Rozaine zu der Stunde des Diebstahls – das war bewiesen – an Deck spazieren gegangen war. Worauf sie erwiderten:
»Hat ein Mann vom Schlage Arsène Lupins es nötig, beim Diebstahl, den er begeht, dabei zu sein?«
Außer dieser absurden Überlegung gab es noch einen Punkt, den auch die Skeptischen nicht in den Wind schlagen konnten. Wer außer Rozaine reiste allein, war blond und hatte einen Namen, der mit R begann? Wen sollte das Telegramm sonst meinen, wenn nicht Rozaine?
Und als Rozaine einige Minuten vor dem Mittagessen mutig auf unsere Gruppe zukam, standen Miss Nelly und Lady Jerland auf und entfernten sich.
Das war gut und gerne Furcht.
Eine Stunde später ging ein handgeschriebener Umlauf unter den Angestellten an Bord, den Matrosen und den Reisenden aller Klassen von Hand zu Hand: Herr Louis Rozaine versprach demjenigen zehntausend Francs, der Arsène Lupin entlarvte oder den Besitzer der gestohlenen Steine fände.
»Und wenn mir niemand gegen diesen Banditen zur Hilfe kommt«, erklärte er dem Kommandanten, »dann rechne ich allein mit ihm ab.«
Rozaine gegen Arsène Lupin oder nach dem Gerücht, das umlief, eher Arsène Lupin selbst gegen Arsène Lupin; der Kampf wurde interessant!
Er zog sich zwei Tage hin.
Wir sahen Rozaine überall herumsuchen, sahen, wie er sich unter das Personal mischte, fragte und schnüffelte. Wir sahen seinen Schatten in der Nacht herumirren.
Der Kommandant entwickelte seinerseits eine energische Tätigkeit. Die »Provence« wurde von oben nach unten gekehrt, in allen Winkeln durchforscht. Man durchsuchte ausnahmsweise die Kabinen mit dem begründeten Vorwand, dass die Schmuckstücke an irgendeinem Ort versteckt sein müssten, nur eben nicht in der Kabine des Schuldigen.
»Man wird doch etwas finden?« fragte mich Miss Nelly. »Mag er auch ein noch so großer Hexenmeister sein, so gelingt es ihm doch nicht, Diamanten und Perlen unsichtbar zu machen.«
»Sicher«, antwortete ich, »aber man müsste unser Hutfutter, das Futter unserer Jacken und alles, was wir mit uns herumtragen, untersuchen.«
Ich zeigte ihr meine Kodak, einen 9×12-Apparat, mit dem ich sie, so oft es ging, in den verschiedensten Posen fotografierte.
»Nehmen Sie einen nicht größeren Apparat als diesen, glauben Sie nicht, dass darin Platz für alle kostbaren Steine der Lady Jerland wäre? Man tut so, als ob man Aufnahmen macht, und das Spiel ist gewonnen.«
»Ich habe aber gehört, dass es keinen Dieb gibt, der nicht irgendeine Spur hinterlässt.«
»Es gibt einen: Arsène Lupin.«
»Warum?«
»Warum? Weil er nicht nur an den Diebstahl denkt, den er begeht, sondern an alle Umstände, die ihn verraten könnten.«
»Zu Anfang waren Sie zuversichtlicher. «
»Aber seitdem habe ich ihn am Werk gesehen.«
»Was sollte man nach Ihrer Ansicht tun?«
»Meiner Ansicht nach ist alles Tun Zeitverschwendung.«
Und tatsächlich verlief die Suche ergebnislos oder wenigstens entsprach das Ergebnis nicht der allgemeinen Anstrengung: Dem Kommandanten wurde die Uhr gestohlen.
Wütend verdoppelte er seinen Eifer und überwachte Rozaine, mit dem er mehrere Unterredungen hatte, noch intensiver. Am folgenden Tag – was für eine umwerfende Ironie – fand man die Uhr zwischen den falschen Kragen des zweiten Kommandanten.
Alles das grenzte an ein Wunder und zeigte die humoristische Art Arsène Lupins, sein berufliches Können als Einbrecher, aber auch den Dilettanten. Er arbeitete nach Geschmack und Berufung, sicher, aber auch aus Vergnügen. Er machte den Eindruck eines Herrn, der sich über das Stück amüsiert, das er spielen lässt, und der hinter den Kulissen herzhaft über die Geistesblitze und Situationen lacht, die er erfand.
Er war entschieden ein Künstler in seinem Fach, und als ich den finsteren und hartnäckigen Rozaine beobachtete und an die doppelte Rolle dachte, die dieser eigenartige Mensch spielte, konnte ich nicht mehr ohne eine gewisse Bewunderung von ihm sprechen.
In der vorletzten Nacht hörte der vierte Offizier an der dunkelsten Stelle der Brücke einen Menschen stöhnen. Er trat näher. Ein Mann lag lang hingestreckt, sein Kopf war in eine graue feste Schärpe gehüllt, die Handgelenke mit Hilfe einer feinen Schnur gefesselt.
Man befreite ihn von den Fesseln, hob ihn auf und leistete Erste Hilfe.
Der Mann war Rozaine.
Es war Rozaine, der im Laufe einer seiner Expeditionen überfallen, niedergeschlagen und ausgeplündert worden war. Eine mit einer Nadel an seinem Jackett befestigte Visitenkarte enthielt folgende Worte:
»Arsène Lupin nimmt von Herrn Rozaine dankbar die zehntausend Francs an.«
In Wirklichkeit enthielt das gestohlene Portefeuille zwanzig Tausendfrancscheine.
Natürlich beschuldigte man den Unglücklichen, diesen Angriff gegen sich selbst vorgetäuscht zu haben. Aber außer der Tatsache, dass es ihm unmöglich gewesen wäre, sich so zu fesseln, wurde festgestellt, dass die Schrift auf der Karte entschieden von der Handschrift Rozaines abwich und der Arsène Lupins, die man in einer alten Zeitung fand, zum Verwechseln ähnelte.
So war also Rozaine nicht mehr Arsène Lupin. Rozaine war Rozaine, der Sohn eines Kaufmanns aus Bordeaux! Und die Gegenwart Arsène Lupins wurde von Neuem, und durch was für eine fürchterliche Tat, bestätigt.
Schrecken brach aus. Man wagte nicht mehr, allein in seiner Kabine zu bleiben, noch weniger sich an zu abseits gelegenen Stellen der Gefahr auszusetzen. Vorsorglich gesellte man sich zu Menschen, die sich voreinander sicher glaubten. Und trotzdem trennte ein instinktiver Argwohn auch die enger befreundeten. Das rührte daher, dass die Bedrohung jetzt nicht mehr von einem einzigen Individuum ausging und dadurch weniger gefährlich war. Arsène Lupin war jetzt … waren jetzt alle. Unsere überspitzte Fantasie gab ihm eine unbegrenzte, wunderbare Macht. Man hielt ihn für fähig, die überraschendsten Verkleidungen vorzunehmen, so konnte er nacheinander der achtbare Major Rawson oder der adlige Marquis de Raverdan oder sogar, denn man hielt sich nicht mehr an den anklagenden Anfangsbuchstaben, diese oder jene Person sein, die alle kannten und die eine Frau, Kinder und Dienstboten hatte. Die ersten Depeschen brachten keine Neuigkeit. Wenigstens teilte der Kommandant sie uns nicht mit, und dieses Schweigen beruhigte uns nicht gerade.
So schien der Tag ohne Ende zu sein. Man lebte in der ängstlichen Erwartung eines Unglücks. Dieses Mal würde es kein Diebstahl, kein einfacher Angriff mehr sein, es würde ein Verbrechen, ein Mord geschehen. Man glaubte nicht, dass sich Arsène Lupin mit den beiden unbedeutenden Diebstählen begnügen würde. Während die Behörden zur Untätigkeit verdammt waren, brauchte er als absoluter Herr des Schiffes nur zu wollen; alles war ihm möglich: Er konnte über die Habe und das Leben verfügen.
Für mich, ich gebe es zu, waren es zauberhafte Stunden, denn ich gewann das Vertrauen von Miss Nelly. Sie, die durch so viele Ereignisse beeindruckt und von Natur aus schon nervös war, suchte freiwillig an meiner Seite Schutz und Sicherheit. Ich war glücklich, für sie da sein zu können.
Innerlich pries ich Arsène Lupin. War er es nicht, der uns einander näherbrachte? Verdankte ich es nicht ihm, dass ich das Recht hatte, mich den schönsten Träumen hinzugeben? Träumen der Liebe, warum soll ich es nicht zugeben? Die Andrézys sind von gutem Geschlecht aus Poitiers, aber ihr Wappen hat ein wenig an Vergoldung verloren, und es scheint mir eines Kavaliers nicht unwürdig, daran zu denken, seinem Namen den verlorenen Glanz wiederzugeben.
Und diese Träume, das fühlte ich, missfielen Miss Nelly nicht. Ihre lächelnden Augen erlaubten mir, sie zu träumen. Ihre sanfte Stimme gab mir das Recht, zu hoffen.
Bis zum letzten Augenblick blieben wir, auf die Reling gestützt, beisammen, während die Linie der amerikanischen Küste vor uns auftauchte.
Man hatte die Nachforschungen unterbrochen. Man wartete. Von der ersten Klasse bis zum Zwischendeck, auf dem die Auswanderer herumwimmelten, wartete man auf die erhebende Minute, da sich endlich das unlösbare Rätsel klären würde. Wer war Arsène Lupin? Hinter welchem Namen, hinter welcher Maske versteckte sich der berühmte Arsène Lupin?
Und die überwältigende Minute kam. Wenn ich hundert Jahre leben sollte, so werde ich keine Einzelheit vergessen.
»Wie bleich Sie sind, Miss Nelly«, sagte ich zu meiner Gefährtin, die sich halb ohnmächtig auf meinen Arm stützte.
»Und Sie!« antwortete sie mir. »Oh! Sie sind so verändert!«
»Bedenken Sie doch! Diese Minute ist so ergreifend, und ich bin glücklich, sie an Ihrer Seite zu erleben, Miss Nelly. Ich glaube, dass Ihre Erinnerung manchmal bei diesem Augenblick …«
Sie, aufgeregt und fiebrig nervös, wie sie war, hörte nicht zu. Die Gangway wurde heruntergelassen. Bevor wir die Erlaubnis bekamen, sie zu überschreiten, stiegen Leute an Bord, Zollbeamte, Männer in Uniform, Briefträger.
Miss Nelly stammelte:
»Wenn man feststellt, dass Arsène Lupin während der Überfahrt geflohen ist, wäre ich nicht erstaunt.«
»Vielleicht hat er den Tod der Schmach vorgezogen und sich lieber in den Atlantik gestürzt, als verhaftet zu werden.«
»Spotten Sie nicht«, sagte sie ärgerlich.
Plötzlich fuhr ich zusammen; auf ihre Frage antwortete ich: »Sehen Sie dort den kleinen alten Mann am Ende der Gangway stehen?«
»Mit einem Regenschirm und einem olivgrünen Gehrock?«
»Das ist Ganimard.«
»Ganimard?«
»Ja, der berühmte Kriminalbeamte, der geschworen hat, dass Arsène Lupin durch ihn verhaftet wird. Oh, jetzt verstehe ich, warum man von dieser Seite des Ozeans keine Auskünfte bekommen hat. Ganimard war dort. Er mag es nicht, wenn sich jemand um seine Angelegenheiten kümmert.«
»Also ist es sicher, dass Arsène Lupin gefasst wird?«
»Wer weiß? Es scheint, dass Ganimard ihn niemals anders als verstellt und verkleidet gesehen hat. Falls er nicht seinen Pseudonamen kennt …«
»Oh«, sagte sie mit jener ein wenig grausamen Neugier der Frau, »wenn ich doch bei der Verhaftung dabei sein könnte.«
»Fassen wir uns in Geduld. Sicher hat Arsène Lupin die Anwesenheit seines Feindes schon bemerkt. Er wird es wohl vorziehen, unter den Letzten an Land zu gehen, wenn die Augen des Alten müde sind.«
Die Passagiere begannen, das Schiff zu verlassen. Auf seinen Regenschirm gestützt, mit gleichgültigem Gesicht, schien Ganimard nicht auf die Menge zu achten, die sich zwischen den beiden Geländern drängte. Ich bemerkte, dass ihm ein Offizier des Schiffes, der hinter ihm stand, von Zeit zu Zeit Auskünfte gab.
Der Marquis de Raverdan, der Major Rawson, der Italiener Rivolto zogen vorbei und andere, viele andere … Und ich bemerkte Rozaine, der sich näherte.
Armer Rozaine! Er schien sich von seinen Missgeschicken noch nicht erholt zu haben!
»Er ist es vielleicht trotzdem«, sagte Miss Nelly zu mir. »Was glauben Sie?«
»Ich finde, dass es sehr interessant wäre, Ganimard und Rozaine auf derselben Fotografie zu haben. Nehmen Sie doch meinen Apparat, ich bin so bepackt.«
Ich gab ihr die Kodak, aber es war schon zu spät. Rozaine kam näher. Der Offizier beugte sich zu Ganimards Ohr, dieser zuckte leicht mit den Schultern, und Rozaine ging vorbei.
Aber mein Gott, wer war jetzt Arsène Lupin?
»Ja«, sagte sie laut, »wer ist es?«
Nur etwa zwanzig Personen waren noch an Deck. Sie starrte der Reihe nach auf sie mit der irren Angst, dass nicht ausgerechnet er, der Gesuchte, unter diesen letzten zwanzig Personen wäre. Ich sagte zu ihr:
»Wir können nicht länger warten.«
Sie schritt voran. Ich folgte ihr. Aber wir hatten noch keine zehn Schritte getan, als Ganimard uns den Weg versperrte.
»Was ist los?« rief ich.
»Einen Augenblick, mein Herr, wer drängt Sie zur Eile?«
»Ich begleite Mademoiselle.«
»Einen Augenblick!« wiederholte er energisch.
Er sah mich scharf an und sagte, den Blick auf mein Gesicht geheftet:
»Arsène Lupin, nicht wahr?«
Ich begann zu lachen.
»Nein, ganz einfach Bernard d’Andrézy.«
»Bernard d’Andrézy ist vor drei Jahren in Mazedonien gestorben.«
»Wenn Bernard d’Andrézy tot wäre, wäre ich nicht mehr auf dieser Welt. Und das ist nicht der Fall. Hier sind meine Papiere.«
»Sie gehörten ihm. Es wird mir ein Vergnügen sein, Ihnen zu erklären, woher Sie sie haben.«
»Sie sind ja verrückt. Arsène Lupin hat sich unter dem Namen R eingeschifft.«
»Ja, auch so eine List von Ihnen, eine falsche Fährte, auf die Sie die drüben geführt haben. Oh, Sie sind hübsch stark, mein Lieber, aber dieses Mal hat sich das Blatt gewendet. Also, Lupin, sei ein guter Verlierer.«
Ich zögerte eine Sekunde. Mit einem kurzen Schlag traf er mich auf den rechten Unterarm. Ich stieß einen Schmerzensschrei aus. Er hatte auf die noch schlecht verheilte Verletzung geschlagen, die das Telegramm angekündigt hatte.
Ich musste aufgeben. Ich drehte mich zu Miss Nelly. Fahl und wankend verfolgte sie das Gespräch.
Unsere Blicke trafen sich, dann senkten sich ihre Augen auf die Kodak, die ich ihr gegeben hatte. Sie machte eine plötzliche Bewegung, und ich hatte den Eindruck, ich hatte sogar die Gewissheit, dass sie plötzlich verstand. Ja, dort zwischen den engen Wänden aus schwarzem Chagrinleder, in der Vertiefung des kleinen Apparates, den ich ihr vorsichtshalber in die Hände gespielt hatte, bevor Ganimard mich verhaftete, dort befanden sich die zwanzigtausend Francs von Rozaine, die Perlen und Diamanten der Lady Jerland.
Oh, ich beschwöre es, in diesem feierlichen Augenblick, während Ganimard und zwei seiner Helfer mich umringten, war mir alles gleichgültig, meine Verhaftung, die Feindschaft der Leute, alles, außer dem einen: die Entscheidung, die Miss Nelly bezüglich dessen, was ich ihr anvertraut hatte, treffen würde.
Ich fürchtete mich nicht vor diesem materiellen und entscheidenden Beweis gegen mich, aber ich hatte Angst davor, dass sich Miss Nelly entschließen würde, diesen Beweis zu liefern.
Würde sie mich verraten? Ich durch sie verloren sein? Würde sie als Feindin handeln, die nicht verzeiht, oder als Frau, die sich erinnert und deren Verachtung durch ein wenig Nachsicht, ein wenig unfreiwillige Sympathie gemildert wird?
Sie ging an mir vorbei. Ich grüßte sie tief, wortlos. Inmitten der anderen Reisenden ging sie zur Gangway, meine Kodak in der Hand.
Ohne Zweifel, dachte ich, traut sie sich nicht, in der Öffentlichkeit zu handeln. In einer Stunde, in einem Augenblick wird sie den Beweis vorlegen.
Aber als sie auf der Mitte der Gangway angekommen war, ließ sie den Apparat durch eine scheinbar ungeschickte Bewegung zwischen die Kaimauer und die Bordwand ins Wasser fallen. Dann sah ich, wie sie davonging.
Ihre schöne Silhouette verlor sich in der Menge, erschien von Neuem und verschwand. Es war zu Ende, für immer zu Ende.
Einen Augenblick blieb ich unbeweglich, zugleich traurig und gepackt von einer sanften Rührung, dann seufzte ich zum höchsten Erstaunen Ganimards:
»Trotz allem schade, dass man kein ehrlicher Mensch ist …«