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Als der britische Millionär Mornington in Marokko an einer Blutvergiftung stirbt, wird sein Freund Don Luis Perenna dazu bestimmt, den Nachlass zu verwalten. Es geht darum, innerhalb von drei Monaten den Erben eines Vermögens von 100 Millionen Francs zu finden. Leider gibt es offenbar jemanden, der es darauf abgesehen hat, alle möglichen Erben aus dem Weg zu räumen, bevor Perenna sie kontaktieren kann. Und so muss Don Luis, unterstützt von der französischen Polizei, sich diesem finsteren Gegenspieler stellen. Besonders eine attraktive junge Frau schwebt in höchster Gefahr. Aber Perenna wäre nicht Perenna, wenn er nicht durch einige unkonventionelle Kunstgriffe das Spiel zu seinen Gunsten drehen könnte - oder ist er in Wirklichkeit jemand ganz anders, jemand, den wir inzwischen gut kennen? Neuübersetzung des klassischen Kriminalromans von Maurice Leblanc durch den bekannten Krimi- und Jugendbuchautor Henry Seymour. Die 'Arsène Lupin' - Romane sind jeweils in sich abgeschlossen und können unabhängig voneinander gelesen werden.
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Seitenzahl: 549
Maurice Leblanc
Arsène Lupin
Der Zahn des Tigers
Die drei Verbrechen des Arsène Lupin
Kriminalroman
BE
Belle Époque Verlag
Aus dem Englischen neu übersetzt von Henry Seymour.
© 2018, 2021 Belle Époque Verlag, Inh. G. Pahlberg, Dettenhausen.
Alle Rechte dieser Neuübersetzung liegen beim Verlag.
Urheberrechtsverletzungen werden juristisch verfolgt.
Originalausgabe: 'Les dents du tigre' (1921), deutsche Erstausgabe: 'Der Zahn des Tigers '(1926)
Lektorat: Christian Reichenbach
Umschlaggestaltung: Belle Époque Verlag
ISBN: 978-3-96357-231-9
1. Kapitel: d’Artagnan, Porthos … und Monte Cristo
Es war halb fünf. Monsieur Desmalions, der Präfekt der Polizei war noch nicht in seinem Büro. Sein Privatsekretär legte ein Bündel Briefe und Meldungen, mit seinen Vermerken notiert, auf seinen Tisch, läutete dem Boten und sagte bei dessen Eintritt: »Der Herr Präfekt hat eine Anzahl Personen gebeten, um fünf Uhr zu kommen. Hier sind ihre Namen. Führen Sie jede Person einzeln in die Wartezimmer, damit sie nicht miteinander reden können – und bringen Sie mir ihre Visitenkarten.«
Der Bote ging. Der Sekretär wandte sich seinem Arbeitszimmer zu, als sich die Tür ein zweites Mal öffnete und ein Mann erschien, der sich schwankend an der Lehne eines Stuhles festhielt.
»Ach, Sie sind es, Verot«, sagte der Sekretär erstaunt. »Aber was ist denn los?«
Inspektor Verot war ein sehr beleibter, kräftiger Mann, mit dickem Nacken und einem roten Gesicht. Ganz offensichtlich hatte sich etwas ereignet, das ihn vollkommen verstörte.
»Es ist nichts, Herr Sekretär!«, stieß er hervor.
»Unsinn! Sie sehen recht erregt aus und Sie transpirieren ja ganz außerordentlich …«
Inspektor Verot wischte sich mit einem Taschentuch über seine schweißbedeckte Stirn, dann gewann er wieder die Herrschaft über sich.
»Ich bin nur ein wenig müde … ich habe in letzter Zeit zu viel gearbeitet. Ich habe viel an dem Fall zu erledigen gehabt, den mir Monsieur Desmalions anvertraute. Und dann habe ich ein recht sonderbare Gefühl bekommen.«
»Kann ich Ihnen einen Schuss Cognac anbieten?«
»Nein, nein. Ich bin nur recht durstig.«
»Ein Glas Wasser?«
»Nein, danke.«
»Was dann?«
»Ich würde gern … ich würde …«
Seine Stimme erstarb und er wirkte verstört. Es war, als konnte er plötzlich nicht weitersprechen. Doch dann erholte er sich wieder und fragte: »Ist Monsieur Desmalions nicht hier?«
»Nein, er soll erst wieder gegen fünf Uhr zurückkehren, zu einem wichtigen Treffen.«
»Ja, das weiß ich … sehr wichtig. Deshalb bin ich doch hier. Aber ich hätte gern vorher noch mit ihm gesprochen. Ich hätte ihn gern gesehen.«
Der Sekretär starrte ihn an und sagte: »Sie erscheinen recht verstört! Ist Ihre Nachricht denn so wichtig?«
»In der Tat, sehr wichtig. Es handelt sich um ein Verbrechen, das sich genau heute vor einem Monat ereignete. Und noch wichtiger, es geht darum, zwei weitere Morde zu verhindern, die damit verbunden sind und noch heute Nacht erfolgen sollen. Ja, heute Nacht, zweifellos, wenn wir nicht die notwendigen Maßnahmen treffen.«
»Setzen Sie sich bitte, Verot!«
»Verstehen Sie, die ganze Sache ist in einer teuflischen Art geplant! Sie haben keine Ahnung!«
»Trotzdem, nachdem Sie schon im Voraus davon wissen, bin ich sicher, Monsieur le Préfet wird Ihnen unbeschränkte Handlungsvollmacht erteilen.«
»Ja, natürlich, natürlich. Trotzdem ist es recht unangenehm, nicht vorher noch mit ihm darüber sprechen zu können. Deshalb habe ich ihm einen kurzen Bericht über alles, was ich von der Angelegenheit weiß, geschrieben. Das erschien mir als eine notwendige Sicherheitsmaßnahme.«
Er reichte dem Sekretär einen großen, gelben Briefumschlag und fügte hinzu: »Und hier ist auch noch eine kleine Schachtel. Ich lege sie hier auf den Tisch. Sie enthält etwas, das meine Nachricht bestätigt.«
»Aber weshalb behalten Sie das alles nicht vorläufig?«
»Ich fürchte, sie beobachten mich. Sie wollen mich aus dem Weg räumen. Ich habe keine Ruhe, bis ich nicht sicher bin, dass jemand außer mir das Geheimnis kennt.«
»Haben Sie keine Furcht. Monsieur le Préfet wird in Kürze eintreffen. In der Zwischenzeit möchte ich Ihnen raten, zur Apotheke zu gehen und sich ein belebendes Mittel zu beschaffen.«
Der Inspektor wirkte unentschlossen, was er tun sollte. Er wischte ein zweites Mal den Schweiß von seiner Stirn. Dann erhob er sich und verließ das Büro. Nachdem er verschwunden war, legte der Sekretär den Briefumschlag zu dem Bündel Nachrichten auf dem Tisch des Präfekten und kehrte zu seinem eigenen Raum zurück.
Er hatte kaum die Tür hinter sich geschlossen, als der Inspektor zurückkehrte und stammelte: »Herr Sekretär … es wäre besser, ich zeigte Ihnen …«
Der arme Mann war blass wie ein Leintuch. Seine Zähne klapperten. Als er sah, dass der Sekretär nicht mehr da war, wollte er das Zimmer zu durchqueren, doch ein plötzlicher Schwächeanfall ließ ihn zu einem Stuhl wanken, auf dem er einige Minuten verweilte.
»Was ist denn los mit mir? … Bin ich auch vergiftet worden? … Oh, das gefällt mir alles gar nicht!«
Der Schreibtisch war in Griffweite. Er fand einen Bleistift, zog einen Notizblock heran und begann ein paar Buchstaben zu schreiben. Aber dann stammelte er: »Ach, was nützt es schon? Der Präfekt wird meinen Bericht lesen … Was, zum Teufel, ist nur los mit mir … Ich werde verrückt!«
Plötzlich sprang er auch und rief: »Hilfe! Herr Sekretär, wir müssen … wir müssen … Es wird heute Nacht geschehen! Nichts kann es verhindern!«
Er zwang sich dazu, mit kurzen Schritten auf die Tür zum Büro des Sekretärs zuzustreben.
Doch auf halbem Weg verließen ihn seine Kräfte wieder, und er musste sich ein zweites Mal setzen. Eine entsetzliche Angst packte ihn und schüttelte seinen ganzen Körper. Er stieß einen röchelnden Schrei aus, doch der war zu schwach, um gehört zu werden. Verstört blickte er nach einem Klingelknopf, doch alles verschwamm vor seinen Augen, so dass er nur einen Nebel vor sich sah.
Er sank auf die Knie und kroch auf die Wand zu, während seine Hand die Schwaden vor seinen Augen zu teilen versuchte, wie im dichten Nebel. Dann berührte er die hölzerne Trennwand.
Er kroch an ihr entlang, doch in die falsche Richtung. Anstatt nach links, folgte er der Wand nach rechts, bis er eine dritte Tür erreichte.
Seine Finger umklammerten den Türgriff, der sich unter seiner Hand bewegte. »Hilfe! Hilfe!«, keuchte er und fiel der Länge nach in eine kleine Kammer, die dem Präfekten als Umkleideraum diente.
»Heute Nacht!«, stöhnte er in dem Glauben, gehört zu werden und sich in dem Zimmer des Sekretärs zu befinden. »Heute Nacht! Da wird die Sache passieren! Sie werden sehen … Die Spuren der Zähne … es ist entsetzlich … Oh, die Schmerzen, die ich fühle … Es ist das Gift. Retten Sie mich! Hilfe!«
Die Stimme wurde leiser. Er wiederholte mehrmals, wie in einem Traum gefangen: »Die Zähne! Die Zähne! Sie schließen sich!«
Seine Stimme war kaum noch zu hören. Unverständliche Laute entrangen sich seiner Kehle. Sein Kopf sank auf seine Brust herunter, er keuchte zweimal. Dann wurde sein Leib kurz von einem Zittern geschüttelt und er bewegte sich nicht mehr.
Seine letzten Atemzüge rasselten in seiner Kehle, unterbrochen von dem vergeblichen Versuch, sich am Leben zu erhalten, bevor das Licht seiner Augen erlosch.
***
Der Präfekt der Polizei betrat sein Büro zehn Minuten vor fünf. Monsieur Desmalions, der seine Aufgabe seit drei Jahren mit Autorität wahrnahm, war allgemein respektiert. Er war ein kräftiger Mann von fünfzig Jahren mit einem klugen, offenen Gesicht. Er trug einen grauen Anzug, weiße Gamaschen und eine etwas zu farbige Krawatte, die ihn keineswegs wie ein Beamter im öffentlichen Dienst erscheinen ließ. Seine Art war entgegenkommend, freundlich und voller Offenheit.
Er läutete seinem Sekretär.
»Sind die Leute hier, die ich vorladen ließ«
»Ja, Monsieur le Préfet. Ich gab Anweisungen, sie getrennt warten zu lassen.«
»Ach, sehr aufmerksam. Aber sie hätten auch zusammen sitzen können! Doch vielleicht ist es besser so. Ich hoffe, der amerikanische Botschafter hat sich nicht persönlich bemüht?«
»Nein, Monsieur le Préfet.«
»Haben Sie ihre Visitenkarten?«
»Ja!«
Der Präfekt nahm die Karten, die ihm der Sekretär reichte und las vor: »Mr. Archibald Bright, Erster Sekretär der amerikanischen Botschaft, Maître Lepertuis, Rechtsanwalt Juan Caceres, Attaché der Gesandtschaft Perus, Major Comte d’Astrignac, im Ruhestand.«
Die fünfte Karte trug nur einen Namen, ohne Adresse, Rang oder irgendwelche Bezeichnung.
»Auf den bin ich neugierig!«, sagte Monsieur Desmalions. »Ich bin sogar ganz verteufelt an ihm interessiert. Haben Sie den Bericht über die Fremdenlegion gelesen?«
»Ja, Monsieur le Préfet, und ich muss eingestehen, dieser Herr gibt auch mir ein Rätsel auf.«
»Ihnen auch? Haben Sie jemals von soviel Tapferkeit gehört? Ein heldenhafter Verrückter, ganz wunderbar! Und dann der Spitzname Arsène Lupin, den er von seinen Kameraden erhielt, für die Art, wie er sie herumkommandierte und erstaunte! … Wie lang ist es her, seitdem Arsène Lupin starb?«
»Das war zwei Jahre, bevor Sie Ihren Posten antraten, Monsieur le Préfet. Seine Leiche und die Madame Kesselbachs wurden in der Ruine des kleinen Häuschens entdeckt, das nahe der Grenze zu Luxemburg abbrannte. Die gerichtliche Untersuchung ergab, er hatte das Scheusal, Madame Kesselbach, erwürgt, deren Verbrechen später enthüllt wurden, und dass er sich erhängte, nachdem er das Haus in Brand steckte.«
»Ein passendes Ende für einen Halunken wie ihn«, sagte Desmalions. »Und ich muss zugeben, ich bin froh, mich nicht mehr mit ihm herumärgern zu müssen. Also, wo waren wir? Sind die Dokumente der Mornington-Erbschaft da?«
»Auf Ihrem Schreibtisch, Monsieur le Préfet.«
»Gut! Aber eins habe ich ganz vergessen: Ist Inspektor Verot hier?«
»Ja, Monsieur le Préfet. Er war hier. Ich vermute, er ist in der Apotheke, um sich etwas zu verschaffen, das ihn wieder in die Höhe bringt.«
»Wieso? Was ist denn los mit ihm?«
»Er kam mir recht sonderbar vor … eher krank.«
»Was meinen Sie damit?«
Der Sekretär berichtete von seinem Gespräch mit Inspektor Verot.
»Und Sie sagten, er hat einen Bericht für mich hinterlassen?«, fragte Desmalions besorgt. »Wo ist er?«
»Unter Ihren Papieren, Monsieur le Préfet.«
»Sonderbar, das ist alles sehr sonderbar. Verot ist ein erstklassiger Inspektor, ein sehr solider Mensch, der es nicht oft mit der Angst zu tun bekommt. Am besten holen Sie ihn, während ich meine Papiere durchsehe.«
Der Sekretär verschwand. Als er kurze Zeit später zurückkehrte, berichtete er erstaunt, dass er den Inspektor nirgends finden konnte.
»Das ist alles sehr sonderbar«, erklärte er. »Einer der Boten sah ihn das Büro verlassen und kurz danach noch einmal zurückkehren. Doch er sah nicht, dass er es wieder verließ.«
»Vielleicht durchquerte er das Büro nur, um Ihr Zimmer zu erreichen.«
»Aber ich war doch dauernd an meinem Schreibtisch.«
»Dann ist das alles recht unverständlich.«
»Ja. Es sei denn, der Bote war irgendwie abgelenkt. Verot ist doch weder hier noch nebenan.«
»Das wird wohl die Lösung sein. Vermutlich wollte er an die frische Luft und kehrt in Kürze zurück. Ich will nicht ohne ihn anfangen.«
Der Präfekt blickte auf seine Uhr.
»Zehn nach fünf. Am besten weisen Sie den Boten an, die Herren hereinkommen zu lassen … doch warten Sie einen Augenblick.«
Monsieur Desmalions zögerte. Während der Durchsicht der Papiere hatte er Verots Nachricht entdeckt. Sie befand sich in einem großen, gelben Kuvert, bei dem ’Café du Pont-Neuf’ auf den oberen Rand gedruckt war.
Der Sekretär erlaubte sich einen Vorschlag: »Da Verot noch immer abwesend ist, und wir nicht wissen, was er zu berichten hat – wäre es da nicht angebracht, zuerst zu lesen, was er zu sagen hat, Monsieur le Préfet?«
Desmalions dachte kurz nach. »Sie können recht haben.«
Er griff zu einem Brieföffner und schlitzte den Umschlag auf. Dann stieß er einen unterdrückten Schrei aus.
»Ach, das ist wirklich zu viel!«
»Was, Monsieur le Préfet?«
»Na, sehen Sie doch … ein leerer Papierbogen!«
»Ist sonst nichts in dem Umschlag?«
»Unglaublich! Sehen Sie selbst … ein leerer Bogen, zweimal gefaltet, ohne ein Wort.«
»Aber Verot sagte mir doch, die Nachricht enthielt alles, was er über den Fall entdeckt hat.«
»Ich zweifle nicht an dem, was er Ihnen sagte. Auf mein Wort, wenn ich Inspektor Verot nicht besser kennen würde, müsste ich sagen, er hält mich zum Narren.«
»Im schlimmsten Fall ist es eine Schlamperei, Monsieur le Préfet.«
»Zweifellos eine Schlamperei. Aber das überrascht mich, wenn man bedenkt, dass das Leben zweier Menschen auf dem Spiel stehen soll. Er hat Ihnen doch erzählt, es seien zwei Morde für heute Abend geplant, nicht wahr?«
»Ja, Monsieur le Préfet, und unter beängstigenden Umständen – teuflisch nannte er sie.«
Desmalions ging in dem Zimmer auf und ab. Er hielt vor einem kleinen Tisch an.
»Was ist das für ein Päckchen hier mit meinem Namen? Präfekt der Polizei – Im Fall eines Unglücks zu öffnen.«
»Oh«, stotterte der Sekretär. »Das habe ich ganz vergessen. Es stammt ebenfalls von Inspektor Verot, etwas von Wichtigkeit, behauptete er. Es soll den Inhalt seines Berichtes ergänzen und erklären, sollte es zu einem Unfall kommen.«
»Na«, erwiderte Monsieur Desmalions und lachte. »Der Bericht erfordert wirklich eine Erklärung, und auch wenn es keinen ‘Unfall’ gibt, sehe ich mir am besten an, was es enthält.«
Während er sprach, durchschnitt er den Bindfaden, der um eine kleine Schachtel aus Pappe, schon etwas verschmutzt durch häufige Benutzung, gewickelt war.
Er hob den Deckel ab und entfernte einen Wattebausch, ebenfalls unsauber. Darunter kam eine halbe Tafel Schokolade zum Vorschein.
»Was, zum Teufel, soll das denn sein?«, knurrte er überrascht.
Er musterte die Schokolade genauer und erkannte sofort etwas Ungewöhnlichen an ihr, sicherlich der Grund, weshalb Inspektor Verot sie geschickt hatte. Auf beiden Seiten zeigte sie den Abdruck von Zähnen, deutlich und getrennt, die einige Millimeter tief in der weichen Schokolade abgebildet waren. Die Zähne hatte verschiedene Formen und war von ihren Nachbarn durch unterschiedliche große Lücken getrennt. Es handelte sich um vier obere und fünf untere Abdrücke, die deutlich erkennbar waren.
»Das ist sonderbar … es gibt mir ein Rätsel auf, für das ich keine Antwort weiß. Der leere Papierbogen und die Abdrücke der Zähne – was sollen sie bedeuten?«
Doch er war kein Mensch, der viel Zeit mit Dingen verschwendete, die in Kürze eine Erklärung finden würden. Diese konnte nur Inspektor Verot liefern, der sich entweder in Polizei Büro oder irgendwo in der Nähe befinden musste, und deshalb sagte Desmalions zu seinem Sekretär: »Ich kann die fünf Herren nicht länger warten lassen. Sie lassen sie am besten jetzt endlich holen. Wenn Inspektor Verot kommt, während sie in meinem Büro sind, was er sicherlich tun wird, lassen Sie es mich sofort wissen. Ich muss gleich mit ihm sprechen, wenn er eintrifft. Ansonsten sorgen Sie dafür, dass wir nicht aus irgendeinem Grund gestört werden.«
Zwei Minuten später brachte der Bote Maître Lepertoir, einen beleibten, Mann mit gerötetem Gesicht, Backenbart und einer Brille, gefolgt von Archibald Bright, dem Sekretär der Botschaft, und Caceres, dem Attaché von Peru. Monsieur Desmalions, der alle drei kannte, plauderte mit ihnen, bis er nach vorne trat, um Major Comte d’Astrignac, den Helden von La Chou’ia, zu begrüßen, der dank seiner glorreich empfangenen Wunden pensioniert worden war. Der Präfekt dankte ihm herzlich für seine galante Führung in Marokko, als sich die Tür wieder öffnete.
»Don Luis Perenna, wenn ich mich nicht irre?«, sagte der Präfekt und streckte seine Hand einem Mann mittlerer Größe entgegen, schlank und in der Uniform der Fremdenlegion, der die Militär-Medaille und das Band der Ehrenlegion trug. Das Gesicht und die Haltung des Ankömmlings, sowie seine jugendlichen Bewegungen, ließen ihn als einen Mann von etwa vierzig Jahren erscheinen, doch die kleinen Falten seiner Wangen und Krähenfüße um seine Augen mochten ihn ein paar Jahre älter sein lassen.
»Ja, Monsieur le Préfet.«
»Sind Sie es, Perenna?«, rief der Comte d’Astrignac. »Sie weilen noch immer unter den Lebenden?«
»Ja, Herr Major, und höchst erfreut, Sie wieder zu sehen.«
»Perenna am Leben! Wir hatten Sie schon für verloren gehalten, als ich Marokko verließ. Wir dachten, Sie seien tot.«
»Ich war Gefangener, nicht mehr.«
»Gefangener der Eingeborenen, das kommt aufs Gleiche hinaus.«
»Nicht ganz, Major, man kann von überall entkommen. Die Bestätigung dafür steht vor Ihnen.«
Der Präfekt, musterte der Sprecher mit einer gewissen Bewunderung, die Stärke seines Gesichts, das Lächeln um die Lippen, den offenen und entschlossenen Blick der Augen in dem von der Sonne gebräunten Gesicht. Er musste sich zwingen, sich abzuwenden und seine Gäste zu den Stühlen vor seinem Schreibtisch zu geleiten. Dann setzte er sich selbst und begann mit einer Erklärung.
»Die Aufforderung, meine Herren, die ich an Sie richtete, mag Ihnen ein wenig herrisch und geheimnisvoll erscheinen. Und die Art, in der ich unsere Aussprache beginnen werde, mag diesen Eindruck kaum mildern. Aber wenn Sie meiner Methode ein wenig Geduld opfern, werden Sie erkennen, dass die ganze Sache recht einfach und natürlich ist. Ich werde mich so kurz wie möglich halten.«
Er breitete ein Bündel von Dokumenten vor sich aus, die sein Sekretär vorbereitet hatte.
Nachdem er seine Notizen überflogen hatte, sprach er weiter: »Vor mehr als fünfzig Jahren, im Jahre 1860, lebten drei Schwestern, die Waisen Ermeline, Elizabeth und Armande Roussel, in Saint-Étienne bei einem Cousin, Victor, der ein paar Jahre jünger war. Die Älteste, Ermeline, war die Erste, die Saint-Étienne verließ. Sie zog nach London, wo sie einen Engländer mit Namen Mornington heiratete, dem sie einen Sohn namens Cosmo gebar.
Die Familie war sehr arm und durchlebte harte Zeiten. Ernestine schrieb wiederholt an ihre Schwestern und bat um ein wenig Unterstützung. Als sie keine Antwort erhielt, brach sie jegliche weitere Korrespondenz ab. Im Jahr 1870 verließen die Morningtons England und zogen nach Amerika. Fünf Jahre später waren sie reich. Mr. Mornington starb 1878, doch seine Witwe verwaltete das Vermögen, das sie geerbt hatte und bewies solch ein Geschick für Finanzen und Spekulationen, dass sich das geerbte Vermögen kolossal vermehrte. Nach ihrem Tod hinterließ sie ihrem Sohn vierhundert Millionen Francs.«
Der Betrag schien einen deutlichen Eindruck auf seine Zuhörer zu machen. Er sah, wie der Major und Don Luis Perenna einander kurz anblickten und fragte: »Sie kannten Cosmo Mornington, nicht wahr?«
»Ja, Monsieur le Préfet. Er war in Marokko, als Perenna und ich dort kämpften.«
»Richtig«, erwiderte Desmalions. »Cosmo Mornington reiste durch die Welt. Soweit ich erfahren habe, praktizierte er als Arzt und behandelte die Kranken, wenn notwendig, mit großem Geschick und natürlich kostenlos. Er lebte zuerst in Ägypten, dann in Algerien und Marokko. Vor einem Jahr ließ er sich in Paris nieder. Er starb vor vier Wochen in der Folge eines dummen Unfalls.«
»Eine infizierte Spritze, nicht wahr, Monsieur le Préfet?«, fragte der Sekretär der amerikanischen Botschaft. »Es wurde in den Zeitungen veröffentlicht, und unsere Botschaft wurde benachrichtigt.«
»Ja«, erwiderte Desmalions. »Um sich von der Grippe zu erholen, die ihn den ganzen Winter lang an sein Bett fesselte, gab sich Mr. Mornington, dem Rat seines Arztes folgend, Spritzen von Glycerin-Phosphat mit Soda. Er scheint die Hygienemaßnahmen bei der letzten Spritze vergessen zu haben, denn es folgte eine Blutvergiftung, eine schwere Entzündung in rasanter Kürze, und Mr. Mornington war innerhalb weniger Stunden tot.«
Der Präfekt wandte sich dem Rechtsanwalt zu und fragte: »Habe ich die Ereignisse richtig geschildert, Maître Lepertuis?«
»Vollkommen richtig, Monsieur le Préfet.«
Desmalions sprach weiter: »Am folgenden Morgen erschien Maître Lepertuis hier, und zeigte mir aus Gründen, die Sie verstehen werden, wenn Sie das Dokument gelesen haben, das Testament Cosmo Morningtons, das seinen Händen anvertraut wurde.«
Während der Präfekt wieder seine Unterlagen durchsuchte, fügte Maître Lepertuis hinzu: »Ich möchte erwähnen, ich sah meinen Klienten ein einziges Mal, bevor ich zu seinem Totenbett gerufen wurde. Das war an dem Tag, an dem er mich zu seinem Hotel kommen ließ, um mir das Testament zu übergeben, das er selbst verfasst hatte. Da war zu Beginn seiner Grippe. Während unseres Gespräches berichtete er, gewisse Schritte unternommen zu haben, um die Familie seiner Mutter zu finden, Versuche, die er nach seiner Genesung wieder fortsetzen gedachte. Diese Absicht wurde durch den Umstand seines Todes verhindert.«
In der Zwischenzeit hatte der Präfekt einen Brief aus seinen Dokumenten hervorgeholt, der zwei Blätter enthielt. Er entfaltete das Größere davon und sagte: »Das ist das Testament. Ich bitte Sie, aufmerksam zuzuhören, während ich es Ihnen vorlese, und danach das beigefügte Dokument.«
Die Gruppe rückte ihr Stühle näher und der Präfekt las vor: »Mein Testament und mein letzter Wille – Cosmo Mornington, ältester Sohn von Hubert Mornington und Ermeline Roussel, seiner Gemahlin, einer naturalisierten Bürgerin der Vereinigten Staaten von Amerika. Ich gebe und vermache meinem angenommenen Vaterland drei Viertel meines Vermögens zur Verwendung als mildtätige Gaben, den handgeschriebenen Anweisungen folgend, die Maître Lepertuis dem amerikanischen Botschafter übergeben wird. Der Rest meines Vermögens von etwa einhundert Millionen Francs, in verschiedenen Pariser und Londoner Banken angelegt, gebe und vermache ich, in Erinnerung meiner Mutter, ihrer am meisten geliebten Schwester Elizabeth Roussel und ihren Erben; oder, wenn sie und ihre Erben verstorben seien, ihrer zweiten Schwester Armande und ihren Erben; oder, beim Tod beider Schwestern und ihren Erben, ihrem Cousin Victor Roussel oder seinen direkten Erben.
Sollte mein Tod ohne die Entdeckung noch lebender Nachfahren der Roussel-Schwestern erfolgen, oder der des Cousins und seiner Nachfahren, so beauftrage ich meinen Freund, Don Luis Perenna, alle notwendigen Nachforschungen nach noch lebenden weiteren Mitgliedern meiner Familie zu unternehmen. In diesem Sinn ernenne ihn zum Vollstrecker des europäischen Teils meines Vermögens und bitte ihn, alle Schritte zu unternehmen, die nach meinem Tod oder infolge meines Todes erforderlich sein sollten, und sich als mein Repräsentant zu betrachten, der in allen Dingen zum Wohle meines Andenkens und zur Erfüllung meiner Wünsche handeln soll. In Dankbarkeit für seine Dienste und seine zweimalige Rettung meines Lebens gebe und vermache ich besagtem Don Luis Perenna die Summer von einer Million Francs.«
Der Präfekt hielt einige Sekunden lang an. Don Luis murmelte: »Armer Cosmo … ich hätte seine Wünsche auch ohnehin erfüllt.«
Monsieur Desmalions las weiter: »Weiterhin soll, wenn innerhalb von drei Monaten nach meinem Tod die Suche durch Don Luis Perenna und Maître Lepertuis erfolglos geblieben ist; wenn kein Erbe oder überlebender Angehöriger der Roussel-Familie erschienen ist, um sein Vermächtnis zu beanspruchen; dann sollen die verbleibenden einhundert Millionen unwiderruflich, spätere Ansprüche ungeachtet, meinem Freund Don Luis Perenna zufallen. Ich kenne ihn gut genug, um versichert zu sein, er wird dieses Vermögen in der Art und Größe der Pläne verwenden, die er mir so begeistert in unserem Zelt in Marokko geschildert hat.«
Desmalions hielt wieder an und blickte zu Don Luis, der schweigend und ausdruckslos verweilte, obwohl eine Träne auf seiner Wimper glitzerte.
Der Comte d’Astrignac sagte: »Ich gratuliere, Perenna.«
»Lassen Sie mich daran erinnern, Herr Major. Dieses Vermächtnis fußt auf Bedingungen. Und ich schwöre, wenn es auf meinen Schultern lastet, werden die Überlebenden der Roussel Familie gefunden.«
»Ich bin überzeugt davon«, sagte der Offizier. »Ich kenne Sie gut genug.«
»Wie dem auch sein mag«, wandte der Präfekt an Don Luis. »Sie weigern sich nicht, dieses Vermächtnis anzunehmen?«
»Natürlich nicht«, erwiderte Perenna lächelnd. »Es gibt Dinge, die niemand einem Freund verweigern kann.«
»Meine Frage«, sagte der Präfekt, »bezieht sich auf den letzten Paragraphen des Testamentes: Wenn, aus irgendeinem Grund, mein Freund Perenna dieses Vermächtnis ablehnen sollte, oder er zu dem Zeitpunkt verstorben sein sollte, verfüge ich, der Botschafter der Vereinigten Staaten und der Präfekt der Polizei mögen die Möglichkeit prüfen, die Errichtung und den Unterhalt einer Universität für Studenten und Künstler amerikanischer Nationalität in Paris durch mein Vermächtnis finanzieren. Ich ermächtige deshalb den Präfekten der Polizei, in jedem Fall eine Summe von dreihunderttausend Francs aus meinem Vermächtnis zum Nutzen der Pariser Polizei zu erhalten.«
Monsieur Desmalions faltete das Dokument zusammen und griff nach einem zweiten.
»Hier ist noch ein Nachtrag zu dem Testament. Es handelt sich um einen Brief, den Mr. Mornington etwas später an Maître Lepertuis richtete, und gewisse Punkte mit genauerer Deutlichkeit erklärte: Ich bitte Maître Lepertuis, mein Testament am Tag nach meinem Tod zu öffnen, in Gegenwart des Polizei-Präfekten, der gebeten wird, den vollen Inhalt einen Monat lang geheim zu halten. Nach Ablauf des Monats, wird er so freundlich sein, Maître Lepertuis, Don Perenna und einen höheren Beamten der Botschaft der Vereinigten Staaten zu seinem Büro kommen zu lassen. Nach der Verlesung meines Testaments wird mein Freund Don Luis Perenna einen Scheck über eine Million Francs erhalten, nach einer kurzen Bestätigung seiner Identität. Diese Bestätigung kann durch Major Comte d’Astrignac erfolgen, der sein kommandierender Offizier in Marokko war und der leider unglücklicherweise aus seinem Dienst ausscheiden musste. Was Don Luis Geburt betrifft, so kann sie durch ein Mitglied der Gesandtschaft Perus bestätigt werden, da Don Luis in Peru geboren wurde, jedoch seine spanische Nationalität beibehielt.
Des Weiteren wünsche ich, dass mein Testament den aufgefundenen Erben der Familie Roussel erst nach zwei Tagen eröffnet wird, in Maître Lepertuis Kanzlei. Schließlich … und das ist mein letzter Wunsch hinsichtlich der Auflösung meines Vermögens und seiner Aufteilung – der Polizei-Präfekt wird so freundlich sein, die bereits genannten Personen ein zweites Mal zu seinem Büro bitten, zu einem von ihm selbst gewählten Zeitpunkt, nicht weniger als sechzig bis neunzig Tagen, nach dem ersten Treffen. Dann und dann allein wird der endgültige Erbe ernannt und in seinem Recht bestätigt werden, doch nur, wenn er selbst bei diesem Treffen zugegen ist. Dann erst wird Don Luis Perenna, der ebenfalls zugegen sein muss, als der legitime Erbe bezeichnet, wenn, wie bereits erklärt, kein überlebender Erbe der Roussel-Schwestern, oder ihres Cousins Victor, sich gemeldet und seinen Anspruch geltend gemacht hat.«
Monsieur le Préfet steckte beide Dokumente in den Umschlag zurück und endete: »Meine Herren, Sie haben nunmehr das Testament Mr. Cosmo Morningtons gehört, durch das auch Ihre Gegenwart erklärt. Eine sechste Person wird in Kürze erscheinen, einer meiner Beamten, den ich beauftragt habe, Erkundigungen über die Roussel-Familie einzuholen, und der Ihnen das Resultat seiner Nachforschungen berichten wird. Bis dahin müssen wir jedoch den Anweisungen des Erblassers folgen. Don Perennas Dokumente, die mir auf meinen Wunsch hin vor vierzehn Tagen zugesandt wurde, sind durch mich überprüft und in Ordnung befunden worden. Was seine Geburt betrifft, so habe ich an seine Exzellenz, den Innenminister von Peru, geschrieben um die notwendige Information zu erlangen.«
»Der Minister hat mir diese Aufgabe anvertraut«, sagte Señor Caceres, der Attaché. »Es gab keine Schwierigkeiten. Don Luis stammt aus einer alten spanischen Familie, die vor vielen Jahren nach Peru umsiedelte, doch noch immer Ländereien in Europa besitzt. Ich bin mit Don Luis Vater in Amerika bekannt, und er sprach immer nur von seinem Sohn mit größter Anhänglichkeit. Unsere Legation informierte den Sohn vom Tod seines Vaters vor drei Jahren. Ich habe hier eine Kopie des Briefes, der nach Marokko geschickt wurde.«
»Und ich habe das Original des Briefes hier, unter den Dokumenten von Don Luis Perenna an die Polizei-Präfektur. Erkennen Sie, Herr Major, den Soldaten Perenna, der unter Ihrem Befehl in der Fremdenlegion kämpfte?«
»Ich erkenne ihn«, sagte der Comte d’Astrignac.
»Ohne die Möglichkeit eines Irrtums?«
»Ohne die geringste Möglichkeit.«
Der Präfekt lachte.
»Sie erkennen den Soldaten Perenna, den seine Kameraden aufgrund ihres Erstaunens und ihrer Bewunderung angesichts seine Abenteuer Arsène Lupin nannten?«
»Ja, Monsieur«, erwiderte der Major scharf. »Den die Kameraden Arsène Lupin nannten, doch die Offiziere als den Helden bezeichneten, ihn, den wir so tapfer wie d’Artagnan nannten, so stark wie Porthos …«
»Und so geheimnisvoll wie Monte Cristo«, sagte der Präfekt lachend. »Ich habe all das in einem Bericht, den ich vom Vierten Regiment der Fremdenlegion erhielt. Es ist nicht notwendig, ihn vollkommen vorzulesen; doch er enthält die kaum zu glaubende Tatsache, dass Soldat Perenna innerhalb von zwei Jahren den Militär-Orden der Legion pour le Mérite für außerordentliche Tapferkeit erhielt und vierzehnmal in den Tagesmeldungen genannt wurde. Ich will nur ein oder zwei Berichte erwähnen.«
»Monsieur le Préfet«, protestierte Don Luis. »Das sind unwichtige Einzelheiten, die niemand interessieren und ich sehe keinen Grund …«
»Es hat jeden Grund, ganz im Gegenteil«, widersprach Desmalions. »Die Herren sind nicht nur hier, um ein Testament zu hören, sondern auch eine der Klauseln in ihm zu genehmigen, die sofort zu erfüllen ist – die Zahlung von einer Million Francs. Deshalb ist es notwendig, die Persönlichkeit des Erbens zu kennen. Folglich werde ich weiter sprechen …«
»In dem Fall; Monsieur le Préfet«, rief Perenna und wandte sich der Tür zu, »erlauben Sie mir …«
»Halt! Abteilung kehrt! … Augen geradeaus!«, befahl Major d’Astrignac belustigt.
Er packte Don Luis beim Arm und zog ihn zu seinem Stuhl zurück.
»Monsieur le Préfet«, sagte er. »Ich bitte um Gnade für meinen alten Kameraden, dessen Bescheidenheit Sie sehr prüfen würden, wenn Sie die Geschichte seines Mutes und seiner Entschlossenheit hier in seiner Gegenwart zitieren sollten. Außerdem liegt der Bericht vor und jeder von uns kann ihn lesen, wenn er so gewillt ist. Ohne ihn gesehen habe, bestätige ich jedes Wort des Lobes, das er enthält und erkläre, dass ich während meiner ganzen Karriere niemals einen Soldaten gesehen habe, der sich mit Perenna messen kann. Und ich habe viele Teufel gesehen, die man nur in der Legion findet und die sich zerhacken lassen, nur aus Freunde an einem harten Kampf und um einander zu imponieren. Aber keiner kann jemals mit Perenna verglichen werden. Der Kerl, den wir d’Artagnan, Porthos und de Bussy nannten, verdient es, mit den Großen der Geschichte und Legenden gemessen zu werden. Ich habe ihn persönlich Taten ausführen sehen, die ich nicht beschreiben kann, aus Angst, man würde mich einen Schwindler nennen, Taten, so unglaublich, dass ich mich manchmal frage, ob ich sie wirklich gesehen habe. An einem Tag, als wir bei Settat verfolgt wurden …«
»Noch ein Wort, Herr Major«, rief Don Luis, »und diesmal gehe ich wirklich! Das ist keine hohle Drohung. Sie haben eine recht sonderbare Weise, meine Bescheidenheit zu retten.«
»Mein lieber Perenna«, erwiderte der Comte d’Astrignac. »Ich sagte immer schon, Sie haben alle gute Qualitäten, und Ihr einziger Fehler ist, Sie sind kein Franzose.«
»Und ich erwiderte immer, Herr Major, ich bin Franzose dank meiner Mutter, Franzose dank meines Herzens und Temperaments. Es gibt Dinge, die nur ein Franzose leisten kann.«
Die beiden Männer umarmten sich freundschaftlich.
»Genug!«, sagte der Präfekt. »Ich werde nichts mehr von Ihren Husarenstücken erwähnen, Monsieur, und nicht von diesem Bericht. Eins muss ich jedoch erzählen: Nach zwei Jahren wurden Sie in einem Hinterhalt der Berber überrascht und gefangen genommen. Sie kehrten erst vor einem Monat wieder zur Legion zurück.«
»Genau, Monsieur le Préfet. Im richtigen Augenblick, um meine Entlassung aus der Legion zu erhalten. Meine fünf Jahre waren vorbei.«
»Doch wieso erwähnte Mr. Cosmo Mornington Sie in seinem Testament, nachdem Sie zu der Zeit bereits verschwunden waren?«
»Cosmo und ich korrespondierten.«
»Was?«
»Ja, und ich informierte ihn über meine bevorstehende Flucht und Rückkehr nach Paris.«
»Wie war das möglich? Wo befanden Sie sich? Und wie fanden Sie die Mittel dazu?«
Don Luis lächelte, ohne zu antworten.
»Da ist er wieder«, sagte Desmalions, »der geheimnisvolle Monte Cristo.«
»Wie Sie meinen, Monsieur le Préfet. In der Tat, meine Gefangenschaft und Flucht waren sehr ungewöhnlich. Es wäre vielleicht interessant, später mehr davon zu berichten. In der Zwischenzeit muss ich um Ihre Geduld bitten.«
Schweigen erfüllte das Büro. Desmalions musterte den Don Perenna unsicher und konnte nicht eine weitere Frage zurückhalten, die er sich selbst mehrfach gestellt hatte.
»Nur noch eine Frage: Warum verglichen Ihre Kameraden Sie mit Arsène Lupin? War das nun eine Anspielung auf Ihren Mut oder Ihre Stärke?«
»Es gab einen besonderen Grund dafür, Monsieur le Préfet, die Entdeckung eines recht sonderbaren Diebstahls, dessen Details ich mit einiger Mühe nachvollziehen konnte, so dass ich den Dieb schließlich überführte.«
»Sie haben also ein Talent für solche Sachen?«
»Ja, Monsieur le Préfet. Eine Fähigkeit, die mir mehrmals in Afrika zu Hilfe kam. Deshalb der Name Arsène Lupin. Es war kurz nach seinem Tod, wissen Sie, und er wurde viel unter meinen Kameraden diskutiert.«
»War es ein ernster Diebstahl?«
»Sicherlich, und er richtete sich gegen Cosmo Mornington, der in der Provinz Oran lebte. Das war auch der Beginn unserer Freundschaft.«
Es folgte wieder ein betroffenes Schweigen.
Don Luis sprach weiter. »Der arme Cosmo! Der Zwischenfall verlieh ihm ein unzerstörbares Vertrauen in mein Talent als Detektiv. Er sagte immer: ‘Perenna, wenn ich ermordet werden sollte‘ … er hatte die fixe Idee in seinem Kopf, er würde einer Gewalttat zum Opfer fallen … ’wenn ich ermordet werden sollte, schwören Sie mir, Sie werden die Täter zur Strecke bringen'.«
»Seine Vorahnung erfüllte sich jedoch nicht«, sagte der Präfekt. »Er wurde nicht ermordet.«
»Es wäre ein Fehler, das anzunehmen, Herr Präfekt«, sagte Don Luis.
Desmalions zuckte zusammen.
»Was? Was behaupten Sie? Cosmo Mornington?«
»Ich behaupte, Cosmo Mornington starb nicht, wie Sie glauben, an einer schlecht desinfizierten Spritze, sondern starb, wie er fürchtete, durch ein Verbrechen.«
»Aber, Monsieur, für Ihre Annahme gibt es keinerlei Bestätigung.«
»Sie beruht auf Tatsachen, Monsieur le Préfet.«
»Waren Sie zugegen? Wissen Sie etwas?«
»Nein. Vor einem Monat stand ich noch im Dienst. Ich gebe sogar zu, als ich nach Paris zurückkehrte, ohne die Zeitungen gelesen zu haben, wusste ich nichts von Cosmos Tod. In der Tat, ich erfuhr davon erst von Ihnen.«
»In dem Fall können Sie nicht mehr darüber wissen als ich und Sie müssen die Meinung des Arztes akzeptieren, genau wie ich.«
»Es tut mir leid, aber sein Untersuchungsergebnis überzeugt mich nicht.«
»Na, hören Sie mal, Monsieur, wie kommen Sie auf solch einen sensationellen Schluss? Haben Sie auch nur einen eigenen Beweis dafür?«
»Ja.«
»Welchen Beweis?«
»Ihre eigenen Worte, Monsieur le Préfet.«
»Meine Worte? Was wollen Sie damit sagen?«
»Ich sage es Ihnen, Monsieur. Sie erklärten, Cosmos Mornington praktizierte Medizin mit großem Geschick; und danach sagten Sie, er gab sich selbst eine Spritze und verursachte dadurch seinen eigenen Tod innerhalb von wenigen Stunden.«
»Na und?«
»Nun, Monsieur le Préfet, ich bin der Meinung, ein Mann, der mit großem Geschick praktiziert und gewohnt ist, kranke Menschen zu behandeln, wie es Cosmo Mornington war, wäre unfähig, einen solchen krassen Fehler zu begehen, indem er sich eine Spritze gab, ohne die erforderlichen antiseptischen Maßnahmen zu ergreifen. Ich habe Cosmo bei seiner Arbeit gesehen und weiß, wie er vorging.«
»Und?«
»Nun, der Arzt unterschrieb einen Totenschein wie jeder andere Arzt auch, der keine Beweise sieht, um einen Verdacht zu begründen.«
»Ihre Meinung ist also …?«
»Maître Lepertuis«, Perenna wandte sich dem Rechtsanwalt zu. »Sahen Sie etwas Ungewöhnliches, als Sie zum Totenbett Mr. Morningtons gerufen wurden?«
»Nein, nichts. Mr. Mornington befand sich in einem Koma.«
»Das ist aber sehr sonderbar!«, erwiderte Don Luis. »Dass eine Spritze, so unvorsichtig sie auch verabreicht wurde, ein so rapide Wirkung haben würde. Gab es irgendwelche Anzeichen, dass er sehr litt?«
»Nein … das heißt, ja … Ich erinnere mich, sein Gesicht zeigte braune Flecken, die ich bei meinem ersten Besuch nicht zur Kenntnis nahm.«
»Braune Flecken. Das bestätigt meinen Verdacht, das Cosmo Mornington vergiftet wurde.«
»Aber wie?«, fragte der Präfekt.
»Indem irgendeine Substanz dem Glyzero-Phosphat oder der Spritze zugefügt wurde.«
»Aber der Arzt!«, rief Desmalions.
»Maître Lepertuis«, fuhr Perenna fort. »Machten Sie den Arzt auf diese braunen Flecken aufmerksam?«
»Ja. Aber er maß ihnen keine Bedeutung bei.«
»War er Cosmos Hausarzt?«
»Nein, sein medizinischer Ratgeber. Doktor Pujal, ein persönlicher Freund von mir, der mich Mr. Morninton als Rechtsanwalt empfahl, war selbst unpässlich. Der Arzt, den ich am Krankenbett sah, muss ein Praktiker aus der näheren Umgebung gewesen sein.«
»Ich habe seinen Namen und seine Adresse hier«, sagte der Präfekt, der den Totenschein unter seinen Papieren gefunden hatte. »Doktor Bellavoine, Rue d’Astorg 14.«
»Besitzen Sie eine Liste der Ärzte in Paris, Monsieur le Préfet?«
Monsieur Desmalions öffnete ein Büchlein und durchblätterte es. Nach einer Weile sagte er: »Es gibt keinen Doktor Bellavoine – und keinen Arzt in der Rue d’Astorg Nummer 14.«
2. Kapitel: Ein toter Mann
Ein Schweigen folgte seinen Worten, ein langes Schweigen. Der Sekretär der amerikanischen Botschaft und der Attaché Perus waren der Konversation mit deutlichem Interesse gefolgt. Major d’Astrignac nickte zustimmend. Seiner Meinung nach hatte Perenna keinen Fehler begangen.
Der Präfekt der Polizei gestand: »Gewiss … ganz gewiss … liegen hier einige Umstände vor, die recht zweideutig sind … jene braunen Flecken, der Arzt … es sieht so aus, als müsste dieser Fall genauer untersucht werden.«
Er wandte sich an Don Luis Perenna, trotz seines Unwillens. »Keine Zweifel, Ihrer Meinung nach besteht eine mögliche Verbindung zwischen dem wahrscheinlichen Mord und Mr. Morningtons Testament?«
»Das, Monsieur le Préfet, kann ich nicht mit Sicherheit behaupten. Sollte es aber der Fall sein, müssen wir annehmen, dass der Inhalt des Testamentes bekannt war. Halten Sie es für möglich, Maître Lepertuis, dass es durch Unberechtigte eingesehen worden sein könnte?«
»Ich bezweifle es, denn Mr. Mornington ließ große Vorsicht walten.«
»Und Sie sind überzeugt, es gab nicht eine Indiskretion in Ihrem Büro?«
»Durch wen? Niemand hatte Einsicht in das Testament, außer mir selbst, und ich habe den Schlüssel zum Tresor, in dem die Dokumente aufbewahrt wurden und der an jedem Abend verschlossen wurde.«
»Der Tresor wurde nicht aufgebrochen? Es gab keinen Einbruch?«
»Nein.«
»Sie besuchten Cosmo Mornington am Morgen?«
»Ja, an einem Freitagmorgen.«
»Was machten Sie mit dem Testament bis zum Abend, als Sie den Tresor versperrten?«
»Ich legte es vermutlich in eine Schublade in meinem Schreibtisch.«
»Und die Schublade blieb versperrt?«
Maître Lepertuis wirkte verstört und antwortete nicht.
»Nun?«, fragte Perenna.
»Ich erinnere mich an etwas … da war etwas an diesem Tag … diesem Freitag.«
»Sind Sie sicher?«
»Ja. Als ich vom Mittagessen zurückkehrte, sah ich, dass die Schublade nicht versperrt war, obwohl ich sie zweifellos versperrt hatte. Zu der Zeit schenkte ich der Sache keine große Bedeutung. Heute verstehe ich … ich verstehe.«
Auf diese Weise war der Verdacht von Don Luis Stück um Stück bestätigt. Ein Verdacht, der nur auf wenigen Kleinigkeiten beruhte und einen gewissen Scharfsinn erforderte – und das durch einen Mann, der bei keinem der Ereignisse zugegen gewesen war.
»Wir werden keine Zeit verlieren, Ihre Erklärungen zu überprüfen, Monsieur«, sagte der Präfekt. »Einer meiner Beamten wird positive Bestätigungen liefern … er sollte eigentlich schon längst hier sein.«
»Bezieht sich sein Bericht auf die Erben Cosmo Morningtons?«, fragte der Rechtsanwalt.
»Ja, auf die Erben in erster Linie, denn vor zwei Tagen rief er mich an und berichtete, er hätte alle Einzelheiten gesammelt und auch über … aber warten Sie! Ich erinnere mich, er sprach mit meinem Sekretär von einem Mord, der heute vor einem Monat erfolgt sein soll … Und es ist jetzt genau ein Monat, seitdem Mr. Mornington …«
Desmalions drückte hart auf seinen Glockenknopf. Ein Bürobote erschien.
»Inspektor Verot?«, sagte der Präfekt scharf.
»Er ist noch immer nicht zurück, Monsieur.«
»Dann lassen Sie ihn holen. Er muss unbedingt gefunden werden. Er soll sofort hierherkommen.«
Er wandte sich Don Luis Perenna zu.
»Inspektor Verot war vor einer Stunde hier und fühlte sich sehr unwohl, aber auch sehr erregt und erklärte, er würde beobachtet und verfolgt. Er wollte mir einen äußerst wichtigen Bericht über den Mornington Fall vorlegen und die Polizei vor zwei Morden warnen, die heute Nacht erfolgen sollten … und die mit dem Tod Cosmo Morningtons in Verbindung stünden.«
»Er fühlte sich unwohl, sagten Sie?«
»Ja, sehr verstört und recht sonderbar. Sein Geist schien getrübt. Doch er hinterließ zur Vorsicht einen Bericht über den Fall für mich. Na, der Bericht ist ein leerer Briefbogen. Hier ist das Papier und der Briefumschlag, der ihn enthielt, und hier ist auch noch ein Pappkarton, den er zurückließ. Er enthält eine Tafel Schokolade mit Zahnspuren.«
»Dürfte ich mir die Dinge ansehen, Monsieur le Préfet?«
»Ja. Aber sie werden Ihnen nichts sagen.«
»Vielleicht nicht.«
Don Luis prüfte den Pappkarton und den Briefumschlag, der den Aufdruck ‘Café du Pont-Neuf' trug, mit scharfem Blick. Die Männer um ihn warteten auf seine Worte, als würden sie irgendeine Erklärung liefern.
Er sagte lediglich: »Die Handschrift auf dem Umschlag ist nicht die Gleiche wie auf dem Karton. Die Buchstaben sind nicht so scharf, etwas wackelig, ganz offensichtlich nachgeahmt.«
»Was bedeutet das?«
»Es scheint, der Umschlag wurde nicht von Ihrem Detektiv beschriftet. Ich nehme an, nachdem er seinen Bericht an einem Tisch im Café du Pont-Neuf schrieb und versiegelte, war er einen Augenblick lang abgelenkt und jemand ersetzte das Kuvert durch ein anderes, das nur einen leeren Papierbogen enthielt.«
»Das ist nur eine Vermutung«, sagte der Präfekt.
»Möglich, aber was es beweist, ist, dass der Verdacht Ihres Inspektors, er würde beobachtet, begründet war. Und die Entdeckungen hinsichtlich der Mornington-Erbschaft, die er machte, weisen auf einen verbrecherischen Plan hin und lassen glaubhaft erscheinen, dass er sich in größter Gefahr befindet.«
»Ach, kommen Sie!«
»Er muss gefunden und gerettet werden, Monsieur le Préfet. Seit Beginn dieser Besprechung habe ich das Gefühl, wir kämpfen gegen ein Verbrechen, das schon im Gange ist. Ich hoffe, es ist nicht zu spät und Ihr Inspektor nicht das nächste Opfer.«
»Mein lieber Don Luis«, erwiderte der Präfekt. »Sie behaupten all das mit einer Überzeugung, die bewundernswert ist, aber das reicht nicht aus, um zu bestätigen, Ihre Furcht sei angebracht. Die Rückkehr Inspektor Verot wird die beste Bestätigung liefern.«
»Inspektor Verot wird nicht zurückkehren!«
»Aber warum nicht?«
»Weil er schon einmal zurückgekehrt ist. Der Bote hat ihn gesehen.«
»Der Bote hat geträumt. Sie haben keinen Beweis außer seinen Worten.«
»Sie haben einen weiteren Beweis, Monsieur le Préfet, den Inspektor Verot hier zurückließ. Diese wenigen, fast unleserliche Worte, die er auf diesen Notizblock kritzelte, die ihn Ihr Sekretär nicht schreiben sah und die ich eben selbst erst gesehen habe. Sehen Sie! Sind sie nicht der Beweis, ein deutlicher Beweis, dass er noch einmal zurückkehrte?«
Der Präfekt konnte seine Beunruhigung nicht verbergen. Der Rest der Geladenen wirkten sehr beeindruckt. Die Rückkehr des Sekretärs steigerten nur ihre Besorgnis; niemand hatte Inspektor Verot gesehen.
»Monsieur le Préfet, ich bitte Sie: Lassen Sie den Boten kommen«, sagte Don Luis.
Bald stand der Bote vor ihnen. Don Luis fragte sofort, ohne erst auf Monsieur Desmalions Worte zu warten: »Sind Sie sicher, dass Inspektor Verot diesen Raum ein zweites Mal betrat?«
»Vollkommen sicher.«
»Und Sie sahen nicht, wie er wieder ging?«
»Nein.«
»Und Ihre Aufmerksamkeit war keinen Augenblick lang abgelenkt?«
»Keine Sekunde lang.«
»Da, Monsieur, sehen Sie«, rief der Präfekt. »Wenn Inspektor Verot hier wäre, würden wir es wissen.«
»Er ist hier, Monsieur le Préfet.«
»Was?«
»Entschuldigen Sie meine Hartnäckigkeit, Monsieur le Préfet, aber ich sage, wenn ein Mensch einen Raum betritt und nicht wieder verlässt, muss er sich noch immer darin befinden.«
»Und sich verbergen?«, erwiderte Monsieur Desmalions immer gereizter.
»Nein, aber vielleicht krank, bewusstlos … tot, vielleicht.«
»Aber wo, verflucht noch mal?«
»Hinter jenem Vorhang?«
»Dahinter befindet sich nichts als eine Tür.«
»Und diese Tür …?«
»Führt zu meiner Garderobe.«
»Nun, Monsieur le Préfet, Inspektor Verot, verwirrt, taumelnd, glaubt, er ginge von Ihrem Büro in das Ihres Sekretärs – und stürzt in Ihrem Ankleideraum zu Boden.«
Desmalions rannte zu der Tür, doch als er sie schon zu öffnen gedachte, schreckte er zurück. War es Furcht oder der Wunsch, diesem erstaunlichen Mann nicht zu einem Triumph zu verhelfen, der seine Anweisungen gab, als sollte die ganze Welt ihnen folgen.
Don Luis wartete gelassen.
»Das ist doch nicht möglich!«, stieß Desmalions hervor.
»Monsieur le Préfet. Ich muss Sie daran erinnern, dass Inspektor Verot warnte, die Leben zweier Menschen stünden heute Nacht auf dem Spiel. Jede Minute ist kostbar.«
Desmalions zuckte mit der Schultern. Doch Don Luis hatte ihn mit seinen Folgerungen ins Schwanken gebracht, und er öffnete die Tür.
Er stand bewegungslos da und flüsterte nur: »Oh, ist das möglich?«
Im fahlen Licht des Fensters sah er den Körper eines Mannes auf dem Boden liegen.
»Der Inspektor! Inspektor Verot!«, keuchte der Bote und rannte herbei.
Mithilfe des Präfekten hoben sie den Körper auf und trugen ihn zu einem Sessel.
Inspektor Verot lebte noch immer, doch sie konnten kaum das Schlagen seines Herzens spüren. Ein Speicheltropfen sickerte aus einem Mundwinkel. Seine Augen waren ausdruckslos. Doch die Muskeln seines Gesichts bewegten sich, als wollte er sich an den letzten Lebensfunken klammern.
Don Luis murmelte. »Monsieur le Préfet … die braunen Flecken!«
Furcht erfüllte alle im Zimmer. Sie drückten auf die Glockenknöpfe und rissen die Tür auf um nach Hilfe zu rufen.
»Lassen Sie einen Arzt kommen!«, befahl Desmalions. »Sie sollen den ersten Doktor holen, den sie finden … und einen Priester. Wir können den armen Mann nicht so …«
Don Luis hob den Arm und gebot Schweigen.
»Wir können nichts mehr für ihn tun«, sagte er. »Aber vielleicht sind seine letzten Sekunden noch von Nutzen. Darf ich, Monsieur le Préfet?«
Er beugte sich über den Sterbenden, bettete seinen Kopf auf die Lehne des Sessels und flüsterte mit sanfter Stimme: »Verot, ich bin’s, Monsieur le Préfet. Wir brauchen Hinweise über das Verbrechen, das heute Nacht geplant ist. Hören Sie mich Verot? Wenn ja, schließen Sie bitte die Lider.«
Die Lider senkten sich. Und es war keine Reflexbewegung.
Don Luis sprach weiter: »Wir haben die Erben der Roussel-Schwestern gefunden, und sie sind es, denen der Tod droht. Der Doppelmord soll heute Nacht erfolgen. Aber wir wissen die Namen der Erben nicht, die zweifellos nicht Roussel heißen. Schließen Sie die Augen, wenn ich den richtigen Buchstaben ausspreche. Ist er ‘b’, ist er ‘c’?«
Doch er entdeckte keine Regung in dem blassen Gesicht des Inspektors. Sein Kopf sank schwer nach vorn. Er seufzte zwei oder dreimal, sein Körper zuckte, und er bewegte sich nicht mehr.
Er war tot.
Die tragische Szene hatte sich so rasch ereignet, dass die Männer einen Augenblick lang wie versteinert waren. Der Rechtsanwalt schlug das Zeichen des Kreuzes und kniete nieder. Der Präfekt murmelte.
»Armer Verot! … Er war ein guter Mensch, der nur an seinen Dienst dachte, an seine Pflicht. Anstatt Hilfe für sich zu suchen – und wer weiß, vielleicht wäre er dann noch immer am Leben – kam er hierher zurück, um sein Geheimnis weiterzugeben. Armer Verot!«
»War er verheiratet? Hat er Kinder?«, fragte Don Luis.
»Eine Frau und drei Kinder«, antwortete der Präfekt.
»Ich werde mich um sie kümmern«, versprach Don Luis.
Dann, als der Arzt gebracht wurde und Desmalions anordnete, die Leiche in einen anderen Raum zu bringen, nahm Don Luis den Arzt zur Seite und sagte: »Es gibt keine Zweifel, dass Inspektor Verot vergiftet wurde. Sehen Sie sein Handgelenk! Es trägt den Einstich einer Hohlnadel und einen roten Kreis darum.«
»Dann wurde er dort gestochen.«
»Ja, mit einer Nadel oder der Spitze einer Schreibfeder – und nicht so tief, wie sein Mörder hoffte, denn er starb erst mehrere Stunden später.«
Die Boten entfernten die Leiche, und bald blieben nur noch die fünf Menschen, die der Präfekt geladen hatte. Der amerikanische Sekretär der Botschaft und der Attaché aus Peru hielten ihre weitere Anwesenheit für nicht erforderlich und empfahlen sind, nachdem sie Don Luis für seine Enthüllungen gedankt hatten.
Ihnen folgte Major d’Astrignac, der die Hand seines früheren Untergebenen mit deutlichem Freundschaftsbeweis schüttelte. Maître Lepertuis und Perenna hatten einen Termin für die Auszahlung des Erbteils vereinbart und standen ebenfalls im Begriff zu gehen, als Desmalions zurückkehrte.
»Ah, Sie sind noch hier, Don Luis Perenna. Ich bin recht froh darüber. Ich habe eine Idee; die drei Buchstaben, die, wie Sie glauben, am Bürotisch gefunden wurden – sind Sie sicher, sie formen die Silbe ‘Fau’?«
»Das glaube ich, Monsieur le Préfet. Sehen Sie selbst! Ist das nicht ein F und ein A und ein U. Und sehen Sie, das F ist groß geschrieben. Das lässt mich glauben, es sind die ersten drei Buchstaben eines Namens.«
»Genau, genau«, bestätigte Desmalions: »Sonderbar scheint diese Silbe … Warten Sie einen Augenblick, ich werde meinen Verdacht bestätigen.«
Desmalions durchsuchte rasch den Stapel Briefe, den sein Sekretär ihm bei seiner Ankunft ausgehändigt hatte.
»Ah, hier ist er!«, rief er und blickte auf die Unterschrift eines der Briefe. »Hier ist er, genau wie ich gedacht habe. ‘Fauville’ … die erste Silbe passt genau … Sehen Sie, ‘Fauville’, ganz einfach, ohne Vornamen oder Initialen. Der Brief muss in aller Eile geschrieben worden sein. Es gibt kein Datum, keine Adresse, und die Handschrift ist recht wackelig.«
Und Desmalions las vor:
Monsieur le Préfet,
eine große Gefahr schwebt über mir und über meinem Sohn. Der Tod nähert sich rasant. Mir bleiben nur noch Stunden, heute Nacht, spätestens morgen, zu beweisen, welch teuflischer Plan uns bedroht. Ich bitte darum, Ihnen die Beweise dafür morgen bringen zu dürfen. Ich benötige Schutz und flehe um Ihre Hilfe.
Mit den besten Empfehlungen etc., etc.
Fauville
»Keine andere Bezeichnung?«, fragte Perenna. »Kein Briefkopf?«
»Nichts. Aber es handelt sich nicht um einen Irrtum. Inspektor Verots Erklärung decken sich deutlich mit diesem Hilfeersuchen. Es erscheint ganz klar, Monsieur Fauville und sein Sohn sollen heute Nacht ermordet werden. Und das Furchtbare an der Sache ist, der Name Fauville ist sehr üblich. Es ist praktisch unmöglich, dass unsere Erkundigungen uns in der zur Verfügung stehenden Zeit zu dem Richtigen führen werden.«
»Was, Monsieur le Préfet? Sicherlich, wenn Sie alle Kräfte aufbieten …«
»Gewiss, wir werden alles versuchen, und ich werde alle meine Leute darauf ansetzen. Aber Sie sehen, ich habe keinen einzigen Hinweis.«
»Das wäre wirklich entsetzlich!«, rief Don Luis. »Diese arme Kreaturen zum Tod verdammt, und wir unfähig sie zu retten. Monsieur le Préfet, ich bitte Sie, gestatten Sie mir zu helfen.«
Er hatte noch nicht ausgesprochen, als Desmalions Sekretär eintrat, eine Visitenkarte in der Hand.
»Monsieur le Préfet, dieser Besucher ist sehr aufdringlich … Ich zögere …«
Desmalions nahm die Karte, blickte darauf, und ein Ruf von Überraschung und Freude entrang sich seiner Kehle.
»Schauen Sie, Monsieur«, sagte er zu Perenna.
Und er reichte ihm die Karte.
Hippolyte Fauville
Amtlich bestellter Ingenieur
14 bis Boulevard Suchet
»Kommen Sie«, sagte Desmalions. »Das Glück ist auf unserer Seite. Wenn dieser Monsieur Fauville einer der Roussel-Erben sein sollte, erleichtert das unsere Aufgabe ungemein.«
»In jedem Fall, Monsieur le Préfet«, unterbrach ihn der Rechtsanwalt, »muss ich Sie daran erinnern, dass eine der Klauseln des Testaments bestimmt, dass es nicht eröffnet wird, bevor 48 Stunden vergangen sind. Monsieur Fauville darf deshalb nicht über den Inhalt informiert werden.«
Die Tür öffnete sich, und ein Mann schob den Boten zur Seite und eilte herein.
»Inspektor … Inspektor Verot?«, stammelte er. »Er ist tot, hat man mir gesagt. Ist das wahr?«
»Ja, Monsieur, er ist tot.«
»Zu spät! Ich bin zu spät.«
Er sank in einen Sessel, schlang die Finger ineinander und stöhnte. »Oh, die Halunken! Diese Halunken!«
Er war blass, mit hohlen Wangen, krank wirkend und etwa fünfzig Jahre alt. Über seiner faltigen Stirn war sein ganzer Kopf kahl. Ein nervöses Zucken bewegte seinen Mund und die Ohren. Die Augen waren mit Tränen gefüllt.
»Wen meinen Sie damit, Monsieur?«, fragte der Präfekt. »Inspektor Verots Mörder? Können Sie uns sagen, wer sie sind, um unsere Nachforschungen zu fördern?«
Hippolyte Fauville schüttelte den Kopf.
»Nein, nein, das wäre zurzeit nutzlos. Ich besitze nicht genug Beweise … Nein, wirklich nicht.«
Er stemmte sich aus dem Sessel hoch.
»Monsieur le Préfet, ich habe Sie in äußerst unhöflicher Weise gestört, aber ich wollte wissen … ich hoffte, Inspektor Verot sei entkommen … Seine Beweise, zusammen mit meinen eigenen wären unschätzbar gewesen. Doch vielleicht hatte er Ihnen alles schon berichtet?«
»Nein, er sprach von heute Abend … heute Nacht.«
Hippolyte Fauville zuckte zusammen.
»Heute Abend? Dann ist die Zeit gekommen. Aber nein, sie können mir noch nichts antun … es ist zu früh für sie.«
»Inspektor Verot behauptete jedoch, die beiden Morde würden heute Nacht geschehen.«
»Nein, Monsieur le Préfet, er irrte sich darin. Ich weiß alles darüber … morgen Abend frühestens … und wie werden sie in der Falle haben … Oh, diese Halunken!«
Don Luis trat auf ihn zu und fragte. »Der Name Ihrer Mutter war Ermeline Roussel, nicht wahr?«
»Ja, Ermeline Roussel. Sie ist verstorben.«
»Und sie kam aus Saint-Étienne?«
»Ja. Aber warum diese Fragen?«
»Monsieur le Préfet wird Ihnen das morgen erklären. Eine Frage noch.« Er öffnete die Pappschachtel mit der Schokoladen Tafel. »Bedeutet Ihnen das etwas? Die Zahnabdrücke?«
»Oh, wie furchtbar!«, rief der Ingenieur mit heiserer Stimme. »Wo hat der Inspektor das gefunden?«
Er sank einen Augenblick lang wieder in den Sessel, sprang jedoch nach einer paar Sekunden wieder hoch und eilte zur Tür.
»Ich gehe, Monsieur le Préfet. Ich gehe. Morgen zeige ich Ihnen … Ich werde alle Beweise besitzen … und die Polizei wird mich beschützen … Ich weiß, ich bin krank, aber ich will leben! Ich habe das Recht zu leben … auch mein Sohn … und wir werden leben. Oh, diese Halunken!«
Und er taumelte hinaus wie ein Betrunkener.
Desmalions erhob sich hastig, aus Fauville gegangen war.
»Ich werde genauere Erkundigungen über diesen Mann einholen lassen … Ich lasse sein Haus beobachten. Ich habe bereits mit der Detektiv-Abteilung telefoniert. Sie schicken jemanden, der mein vollstes Vertrauen besitzt.«
Don Luis sagte: »Monsieur le Préfet, ich ersuche Sie dringend, mir die Erlaubnis zu erteilen, dieser Untersuchung nachzugehen. Cosmos Morningtons Testament macht mir das zur Pflicht, und erlauben Sie die Bemerkung, gibt mir das Recht dazu. Monsieur Fauvilles Feinde haben Beweise für ihre außerordentliche Schläue und Verwegenheit gezeigt. Ich verlange die Ehre, heute Nacht auf dem Posten zu sein, Monsieur Fauvilles Haus und Person zu schützen, falls ihm Gefahr bedrohen sollte.«
Der Präfekt zögerte. Es war anzunehmen, dass es wohl im Interesse von Don Luis lag, weitere Erben Morningtons zu entdecken, auch wenn es ihn Millionen kosten würden. War es angebracht, seinen noblen Erklärungen des Dankes und der Freundschaft zu vertrauen und zu glauben, dass er Hippolyte Fauville und seine Familie vor dem angedrohten Tod zu retten versuchte?
Desmalions musterte sekundenlang das entschlossene Gesicht des Spaniers, diese intelligenten Augen, die so entschlossen und zugleich spöttisch erschienen, ernst und charmant, der Situation entsprechend. Sie gaben keinen Hinweis, was hinter ihnen vor sich ging, schienen jedoch voller Ehrlichkeit und Zuverlässigkeit zu sein.
Er rief seinen Sekretär: »Ist jemand von der Detektiv-Abteilung hier?«
»Ja, Monsieur le Préfet. Sergeant Mazeroux ist da.«
»Bringen Sie ihn bitte.«
Dann wandte er sich Perenna zu: »Sergeant Mazeroux ist einer unserer besten Detektive. Ich habe ihn oft zusammen mit dem armen Verot eingesetzt, wenn ich jemand benötigte, der immer auf Draht war. Er wird Ihnen eine große Hilfe sein.«
Sergeant Mazeroux trat ein. Er war klein und schlank, aber sehnig, mit einem Hängeschnurrbart, dunklen Lidern und langem, glattem Haar, das ihm einen Ausdruck von Kummer verlieh.
»Mazeroux«, sagte der Präfekt. »Sie werden bereits von dem Tod Verots gehört haben, Ihrem Kameraden, unter sehr bedauerlichen Umständen. Wir müssen ihn nun rächen und weitere Verbrechen verhindern. Dieser Herr ist vollstens mit dem Fall vertraut und wird alle notwendigen Maßnahmen erklären. Sie werden mit ihm zusammenarbeiten und mir morgen früh Ihren Bericht liefern. Das bedeutet, Don Luis Perenna hat freie Hand und Sie verlassen sich auf seine Initiative und seinen Scharfsinn.«
Don Luis verbeugte sich.
»Ich danke Ihnen, Monsieur le Préfet. Ich hoffe, Sie werden keinen Grund finden, das Vertrauen zu bereuen, das Sie in mich setzen.«
Er verabschiedete sich von Monsieur Desmalions und Maître Lepertuis, bevor er in Begleitung von Sergeant Mazeroux das Büro verließ.
Sobald sie draußen waren, erklärte er Mazeroux, was er erfahren hatte. Der Detektiv erschien sehr beeindruckt von seinen kriminalistischen Kenntnissen und bereit, seinen Vorschlägen zu folgen.
Sie entschieden, als Erstes zum Café du Pont-Neuf zu fahren. Dort erfuhren sie, dass Inspektor Verot, ein Stammkunde, an diesem Morgen einen langen Brief geschrieben hatte. Und der Kellner erinnerte sich an einen zweiten Mann am nächsten Tisch, der kurz nach dem Inspektor eingetreten war, ebenfalls um Schreibpapier und um zwei gelbe Briefumschläge gebeten hatte.
»Das ist er«, sagte Mazeroux. »Wie Sie vermutet haben, wurde ein Brief durch einen anderen ersetzt.«
Die Beschreibung des Unbekannten durch den Kellner war sehr genau, ein hochgewachsener Mann, etwas verkrümmt, mit einem rotbraunen Spitzbart, einem Schildpatt-Monokel mit schwarzem Seidenband und einem Ebenholzstock, dessen Griff die Form eines Schwanenkopfes hatte.
»Das ist etwas, mit dem sich die Polizei befassen kann«, sagte Mazeroux.
Sie standen schon im Begriff, das Café zu verlassen, als Don Luis seinen Begleiter anhielt.
»Einen Augenblick.«
»Was ist los?«
»Wir werden verfolgt.«
»Verfolgt? Was denn? Und von wem?«
»Die Person ist nicht wichtig. Ich weiß, wer es ist, und wir werden die Sache sofort erledigen. Warten Sie hier. Ich bin gleich wieder da, und wir wissen mehr.«
Eine Minute später kehrte er mit einem hochgewachsenen, dünnen Mann zurück, der einen dunklen Bart trug. Er stellte ihn vor: »Monsieur Mazeroux, ein Freund, Señor Caceres, Attaché der Gesandtschaft Perus. Señor Caceres nahm an der Besprechung mit dem Präfekten vor kurzer Zeit teil. Er war es, der dank des Innenministers Perus die Papiere, die mich ausweisen, vorlegte.« Und er fügte hinzu. »Sie suchten mich, lieber Señor Calceres. In der Tat erwartete ich das, als wir das Büro verließen.«
Der Attaché machte ein Zeichen und deutete auf Sergeant Mazeroux.
Perenna antwortete: »Oh, Sie können ruhig vor Monsieur Mazeroux sprechen. Er ist eine verschwiegene Seele. Außerdem ist er mit der ganzen Sache vertraut.«
Der Attaché schwieg beharrlich.
»Sprechen Sie ganz offen, lieber Señor Caceres. Die Angelegenheit verlangt Offenheit. Sie verletzen mich nicht durch ein unliebes Wort. Es verschwendet weniger Zeit. Sie wollen Geld, nehme ich an. Oder besser gesagt, mehr Geld. Wie viel?«
Der Attaché zögerte kurz, warf einen Blick auf Don Luis' Begleiter, bevor er dumpf hervorstieß: »Fünfzigtausend Francs.«
»Oh, meine Güte!«, rief Don Luis. »Sie sind gierig, wissen Sie das? Was sagen Sie, Monsieur Mazeroux? Fünfzigtausend Francs sind eine Menge Geld. Besonders nachdem … Hören Sie, mein lieber Caceres. Lassen Sie uns alte Felder pflügen. Vor drei Jahren hatte ich die Ehre, Sie in Algerien kennen zu lernen, als Sie jenes Land besuchten. Ich verstand sofort, welche Art von Mann Sie sind und bat Sie, mir in drei Jahren unter meinem Namen Perenna spanisch-peruanische Papiere über respektierte Ahnen zu verschaffen. Sie erklärten sich bereit. Ja, wir kamen auf einen Preis von zwanzigtausend Francs. Letzte Woche bat mich der Präfekt der Polizei um meine Papiere. Ich kam zu Ihnen und erfuhr, dass Sie angewiesen waren, Nachforschungen über meine Vorfahren anzustellen. Alles war zum Glück bereit. Mit dem Namen Perenna, gut verändert, hatten Sie mir eine erstklassige Identität verschafft. Wir vereinbarten, was Sie dem Polizei-Präfekten mitteilen würden, und ich zahlte zwanzigtausend. Wir waren uns einig. Was mehr wollen Sie?«
Der peruanische Attaché zeigte nicht die geringste Verlegenheit. Er beugte sich nach vorn und sagte sehr ruhig: »Monsieur, als ich vor drei Jahren mit Ihnen verhandelte, dachte ich, mit einem Herrn zu verhandeln, der sich in der Uniform der Fremdenlegion verbarg und einen Weg suchte, um später ein ruhiges Leben zu führen. Heute habe ich erfahren, ich habe es mit einem Mann zu tun, der morgen, unter falschem Namen, eine Million erhalten soll und in ein paar Monaten vielleicht hundert Millionen. Das ändert alles.«
Don Luis schien diese Erklärung zu verstehen. Dennoch sagte er: »Und wenn ich mich weigere?«
»Wenn Sie sich weigern, werde ich den Rechtsanwalt und den Präfekten der Polizei informieren, ich habe einen Fehler begangen und es besteht ein Irrtum, hinsichtlich Don Luis Perenna. Das bedeutet, Sie erhalten nichts und ernten vermutlich eine Gefängnisstrafe.«
»Zusammen mit Ihnen, mein werter Señor.«
»Mit mir?«
»Natürlich. Wegen Urkundenfälschung und Änderung der Registratur. Oder bilden Sie sich ein, ich werde Ihre milde Gabe so einfach in Empfang nehmen?«
Der Attaché antworte nicht. Seine Nase, umrahmt von dem Bart, schien sich zu röten und vergrößern.
Don Luis begann zu lachen: »Kommen Sie, Señor Caceres, machen Sie kein so langes Gesicht. Niemand tut Ihnen ein Leid an. Bilden Sie sich nur nicht ein, Sie hätten mich in eine Ecke gedrängt. Das haben bessere Männer als Sie versucht und es nicht geschafft. Und auf mein Wort, Sie geben keine gute Figur ab, wenn Sie versuchen, Ihre Landsleute übers Ohr zu hauen. In der Tat, Sie sehen aus wie ein Versager. Verstehen wir uns also. Wir legen die Waffen ab. Kein faules Spiel mit unserem Freund Perenna. Ausgezeichnet, Señor Caceres, ausgezeichnet. Und nun erweise ich mich als großzügig und beweise, wer der bessere von uns ist. Hier, mein lieber Freund, ist ein Scheck über zwanzigtausend Francs, ein Geschenk von Cosmo Morningtons Nachlassverwalter. Stecken Sie ihn in Ihre Tasche und geben Sie sich erfreut. Sagen Sie danke schön zu dem netten Herrn. Machen Sie sich dünn und blicken Sie nicht zurück, wie eine Tochter Lots. Los schon! Allez!«
Der Attaché gehorchte ohne Widerspruch. Er lächelte, ließ den Scheck in seiner Tasche verschwinden und bedankte sich zweimal, bevor er sich entfernte, ohne den Kopf zu drehen.
»Dieser schmutziger Kerl«, murmelte Don Luis. »Was sagen Sie dazu, Sergeant?«
Der Sergeant starrte ihn verwirrt an. »Aber Monsieur …«
»Was, Sergeant?«
»Nun, aber wer sind Sie, Monsieur?«
»Wer ich bin?«
»Ja.«
»Hat man das Ihnen nicht gesagt? Ein Edelmann aus Peru oder Spanien. Ich weiß es selbst nicht genau. Kurz gesagt, Don Louis Perenna.«
»Unsinn. Ich habe doch eben gehört …«
»Don Luis Perenna, von der Fremdenlegion.«
»Genug davon, Monsieur.«