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»Die Insel der dreißig Särge« erzählt die unheimliche Geschichte der jungen Véronique d'Hergemont, die auf der Suche nach der eigenen Vergangenheit einem schrecklichen Geheimnis auf die Spur kommt. Auf einer Insel in der Bretagne erfüllen sich grausige Prophezeiungen: Véronique muss mit ansehen, wie ihr totgeglaubter Sohn seinen Großvater ermordet, drei alte Frauen gekreuzigt und flüchtende Inselbewohner erschossen werden. Véronique stellt sich den unheimlichen Mächten. Und sie trifft wieder auf einen der abscheulichsten aber auch schillernsten Bösewichter der französischen Literatur, auf ihren verschollen geglaubten Ehemann Graf Alexis Vorski. Und welche Rolle spielt der berühmte Gentleman-Gangster Arsène Lupin in dieser Geschichte? Die Verfilmung von 1979 ist bis heute eine der erfolgreichsten Sendungen im französischen Fernsehen und wird kultartig verehrt. Null Papier Verlag
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Seitenzahl: 373
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Maurice Leblanc
Die Insel der dreißig Särge
Roman
Maurice Leblanc
Die Insel der dreißig Särge
Roman
Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2024Klosterstr. 34 · D-40211 Düsseldorf · [email protected]Übersetzung: Lothar Schmidt EV: Th. Knaur Nachf., Berlin, 1927 (358 S.) 2. Auflage, ISBN 978-3-962813-77-2
null-papier.de/neu
Inhaltsverzeichnis
Anmerkung des Verlegers
Vorspiel
I. Die verlassene Hütte
II. An der Küste des Ozeans
III. Vorskis Sohn
IV. Die armen Leute von Sarek
V. Vier Frauen am Kreuz
VI. Allesgut
VII. François und Stephan
VIII. Todesangst
IX. Die Todeskammer
X. Die Flucht
XI. Die Gottesgeißel
XII. Der Weg nach Golgatha
XIII. Eli Eli Lama Sabathani
XIV. Der alte Druide
XV. Der unterirdische Opfersaal
XVI. Der Grabstein der Könige von Böhmen
XVII. »Grausamer Fürst, gehorsam dem Geschick«
XVIII. Der Gottesstein
Epilog
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Ihr Jürgen Schulze
Der Frauenmörder
Eine Detektivin
Hemmungslos
Der Mann, der zu viel wusste
Noch mehr Detektivgeschichten
Sherlock Holmes – Sammlung
Eine Kriminalgeschichte & Das graue Haus in der Rue Richelieu
Der Doppelmord in der Rue Morgue
Indische Kriminalerzählungen
Kriminalgeschichten
und weitere …
Ich habe mir erlaubt, die in der ursprünglichen Übersetzung eingedeutschten Namen (Anton, Franz, Reinhold etc.) durch die richtigen Namen (Antoine, François, Éric etc.) der französischen Originalfassung zu ersetzen.
Jürgen Schulze, Neuss 2018
Infolge der Umwälzungen, die der Krieg hervorgerufen hat, erinnert sich heute kaum noch jemand des sogenannten Hergemont-Skandals.
Rufen wir uns kurz die Ereignisse von damals ins Gedächtnis zurück.
Im Juli 1902 ging Antoine d’Hergemont – dessen Studien über die megalithischen Denkmäler der Bretagne sehr geschätzt sind – mit seiner Tochter Véronique im Pariser Bois de Boulogne spazieren, als er von vier unbekannten Individuen angefallen und mit einem Stockschlag ins Gesicht niedergeschlagen wurde.
Nach kurzem Kampf und verzweifeltem Widerstand wurde Véronique, die schöne Véronique, wie sie von ihren Freunden genannt wurde, fortgeschleppt und in ein Automobil geworfen, das Zeugen dieses sich sehr schnell abspielenden Vorganges in der Richtung nach Saint-Cloud davonfahren sahen.
Eine Entführung also. Am folgenden Morgen wusste jeder, worum es sich handelte. Graf Alexis Vorski, ein junger polnischer Edelmann von ziemlich schlechtem Ruf, aber großartigem Auftreten, noch dazu angeblich von königlichem Blute, liebte Véronique d’Hergemont und Véronique liebte ihn wieder. Vom Vater abgewiesen und sogar verschiedentlich von ihm beleidigt, war er auf dieses Abenteuer verfallen, bei dem übrigens Véronique auch nicht im geringsten die Hand im Spiele hatte.
Antoine d’Hergemont, der – wie einige Briefe, die in die Öffentlichkeit gelangten, bestätigten – gleichzeitig heftig und zurückhaltend war und der durch seine wunderlichen Launen, seinen grausamen Egoismus und seinen schmutzigen Geiz seine Tochter überaus unglücklich gemacht hatte, schwor jetzt vor aller Welt, dass er sich in der unversöhnlichsten Weise rächen würde.
Er gab seine Einwilligung zu der Heirat, die zwei Monate später in Nizza stattfand, aber schon im nächsten Jahr erfuhr man eine Reihe aufsehenerregender Neuigkeiten. Getreu seinem Racheschwur, entführte Herr d’Hergemont das Kind, das aus der Ehe seiner Tochter mit Vorski hervorgegangen war, und in Villefranche ging er an Bord der kleinen Lustjacht, die er neu gekauft hatte.
Das Meer war bewegt. Unweit der italienischen Küste sank die Jacht; die vier Matrosen, die an Bord waren, wurden von einer Barke aufgenommen. Nach ihrem Zeugnis waren Herr d’Hergemont und das Kind in den Wellen umgekommen.
Als Véronique den sicheren Beweis ihres Todes erlangt hatte, zog sie sich in ein Karmeliterinnen-Kloster zurück.
Dies sind die Tatsachen. Vierzehn Jahre später sollten sie die entsetzlichsten und außergewöhnlichsten Geschehnisse nach sich ziehen. Geschehnisse, die, obwohl verschiedene Einzelheiten auf den ersten Blick erdichtet scheinen, sich doch wirklich zugetragen haben. Aber der Krieg hat unser Leben so aus der Bahn des Gewöhnlichen herausgerissen, dass auch vom Kriege unberührte Ereignisse wie die, die wir erzählen wollen, gleichsam etwas Ungewöhnliches, Unlogisches und mitunter Seltsames bekommen haben. Es bedarf der ganzen blendenden Helligkeit der Wahrheit, um diesen Ereignissen den Stempel einer Wirklichkeit aufzudrücken, die letzten Endes sehr einfach ist.
Mitten im Herzen der Bretagne liegt das malerische Dörfchen Faouët. Dort fuhr an einem schönen Maimorgen ein Wagen ein, dessen Insassin eine Dame von so großer Schönheit und so vollkommener Anmut war, dass auch die weite graue Reisekleidung und der dichte Schleier, der das ganze Gesicht bedeckte, diesen Eindruck nicht verwischen konnte.
Die Dame frühstückte in aller Eile in dem besten Gasthaus des Dorfes. Gegen Mittag bat sie den Wirt, ihren Koffer aufzubewahren, ließ sich einige Auskünfte über die Gegend geben und ging, nachdem sie das Dorf durchquert hatte, auf die Felder hinaus.
Bald zweigten von der Straße zwei Wege ab, der eine führte nach Quimperlé, der andere nach Quimper. Sie wählte den letzteren, stieg eine Talsenkung hinunter, dann wieder hinauf und bemerkte zu ihrer Rechten am Anfang eines Feldweges einen Wegweiser mit der Aufschrift: Locriff 3 km.
»Das ist der Ort«, sagte sie.
Nachdem sie genaue Umschau gehalten hatte, bemerkte sie nichts von allem, wonach sie suchte. Hatte sie die Angaben, die man ihr gemacht hatte, falsch verstanden?
Ringsumher war niemand zu sehen, keine Menschenseele soweit der Blick auch über die bretonische Erde schweifte, über die von Bäumen eingefassten Wiesen und die welligen Hügel. Unweit des Dorfes erblickte sie die von jungem Frühlingsgrün umsproßte Front eines Schlösschens, dessen Fenster sämtlich geschlossen waren. Es schlug zwölf und das Angelusläuten zitterte durch die Luft. Dann wieder lautlose Stille und tiefer Friede.
Die Dame setzte sich auf eine frischgemähte Böschung und zog einen Brief aus ihrer Tasche, dessen zahlreiche Blätter sie entfaltete.
Die erste Seite zeigte oben folgenden Firmenaufdruck:
Agentur Dutreillis Detektivbüro Vertrauliche Auskunft Diskretion.
dann darunter folgende Adresse:
»An Frau Véronique, Modehaus, Besançon.«
Sie las:
Sehr geehrte gnädige Frau!
Sie ahnen nicht, mit welchem Vergnügen ich mich des doppelten Auftrages entledigt habe, den Sie mir mit Ihrem Geehrten vom Mai des Jahres 1917 erteilt haben. Ich habe niemals vergessen, unter welchen Umständen es mir möglich war, Ihnen vor vierzehn Jahren wirksame Dienste zu leisten, gelegentlich der peinlichen Ereignisse, die so dunkle Schatten auf Ihr Dasein warfen. Ich war es in der Tat, dem es gelang, völlige Gewissheit über den Tod Ihres lieben und ehrenwerten Vaters, des Herrn Antoine d’Hergemont, und Ihres heißgeliebten Sohnes François zu verschaffen. Das war der erste Sieg einer Laufbahn, die noch andere glänzende Erfolge zeitigen sollte.
Ich war es gleichfalls, vergessen Sie dies nicht, der auf Ihre Bitte hin und in der Einsicht wie nützlich es sei, Sie dem Hass und – sprechen wir es ruhig aus – der Liebe Ihres Gatten zu entziehen, die ersten Schritte getan hat, um Ihren Eintritt in das Karmeliterinnen-Kloster zu ermöglichen. Endlich war auch ich es, der, nachdem Ihre Zurückgezogenheit im Kloster Ihnen gezeigt hatte, dass dieses Leben der Frömmigkeit Ihrer Natur widersprach, Ihnen jene bescheidene Stellung als Modistin in Besançon verschafft hat, fern von den Stätten, wo sich die Jahre Ihrer Kindheit und die Wochen Ihrer Ehe abgespielt hatten. Sie hatten Geschmack, hatten das Bedürfnis nach Arbeit, um zu leben und zu vergessen. Es musste Ihnen gelingen und es ist Ihnen gelungen.
Kommen wir zur Sache, zu der doppelten Tatsache, die uns beschäftigt.
Zunächst die erste Frage.
Was ist im Strudel der Ereignisse aus Ihrem Gatten, dem Herrn Alexis Vorski, nach seinen Papieren Pole von Geburt, nach seinen Reden Sohn eines Königs, geworden? Ich werde mich kurz fassen. Politisch verdächtigt, seit Beginn des Krieges in einem Konzentrationslager gefangen gehalten, ist Herr Vorski eines Tages entflohen, in die Schweiz entwichen und schließlich nach Frankreich zurückgekehrt. Hier wurde er festgenommen und der Spionage überführt. Das Todesurteil war unvermeidlich. Er entwich zum zweiten Male. Seine Spuren verloren sich im Walde von Fontainebleau, wo er schließlich, man wusste nicht recht von wem, durch einen Dolchstich ermordet wurde.
Ich erzähle Ihnen dies ganz schonungslos, gnädige Frau, weiß ich doch, welche Verachtung Sie für dieses Wesen empfinden, das Sie so abscheulich verraten hat, und dann ist mir ja auch bekannt, dass Sie aus den Zeitungen schon die meisten von diesen Tatsachen wussten, ohne dass Sie indessen ihre absolute Zuverlässigkeit hätten feststellen können.
Doch die Beweise sind da. Ich habe sie gesehen. Es gibt keinen Zweifel mehr. Alexis Vorski ist in Fontainebleau begraben.
Im Anschlusse an diese Mitteilung erlaube ich mir, Sie, gnädige Frau, auf die seltsamen Umstände dieses Todes aufmerksam zu machen. Sie erinnern sich wohl noch der merkwürdigen Prophezeiung, von der Sie mir sprachen und die Herrn Vorski betraf. Herr Vorski, dessen angeborene Intelligenz und ungewöhnliche Energie durch Unklarheit und Hang zum Aberglauben beeinträchtigt wurden und den Halluzinationen und Angstzustände peinigten, war von dieser Weissagung sehr beunruhigt. Sie lastete auf seinem Leben – sie war ihm von verschiedenen Leuten gemacht worden, die in okkulten Wissenschaften bewandert waren.
›Vorski, Sohn des Königs, du wirst von der Hand eines Freundes sterben und deine Frau wird ans Kreuz geschlagen werden.‹ Gnädige Frau, während ich diese letzten Worte schreibe, lache ich! Das ist denn doch eine Strafe, die ein wenig außer Mode gekommen ist, und in Bezug auf Ihre Person bin ich beruhigt! Aber, was denken Sie über den Dolchstoß, den Herr Vorski nach den geheimnisvollen Weisungen des Schicksals bekommen hat?
Aber genug von diesen Betrachtungen. Es handelt sich jetzt darum …
Véronique ließ einen Augenblick den Brief in ihren Schoß sinken. Die anmaßende Schreibweise, die vertraulichen Scherze des Herrn Dutreillis verletzten ihr Zartgefühl. Auch hielt das tragische Schicksal von Alexis Vorski sie im Bann. Ein Schauer durchlief sie bei der schrecklichen Erinnerung an diesen Menschen. Sie fasste sich und begann von neuem zu lesen.
Gnädige Frau, es handelt sich nunmehr um eine zweite Mission, die wichtigere in Ihren Augen, da alles übrige nur noch der Vergangenheit angehört.
Stellen wir einmal die Tatsachen fest. Es war vor drei Wochen, als Sie an einem Donnerstag abends ausnahmsweise die strenge Einförmigkeit Ihres Daseins unterbrachen und mit Ihren Angestellten ins Kino gingen. Hier begegnete Ihnen etwas höchst Seltsames. Der Hauptfilm, ›Die bretonische Legende‹ genannt, stellte im Verlauf einer Wallfahrt eine Szene dar, die sich an einem Wege vor einer kleinen verlassenen Hütte abspielte, die mit der Handlung durchaus nichts zu tun hatte. Diese Hütte stand offenbar rein zufällig da, aber etwas wahrhaft Ungewöhnliches lenkte Ihre Aufmerksamkeit auf sie. Auf den geteerten Brettern der alten Tür standen mit der Hand geschrieben folgende drei Buchstaben: ›V. v. H.‹ und diese drei Buchstaben waren ganz einfach die Anfangsbuchstaben Ihres Mädchennamens, wie Sie sie früher in Ihren Familienbriefen gebraucht hatten und wie Sie sie seit 14 Jahren nicht ein einziges Mal mehr angewandt haben! Véronique d’Hergemont! Kein Irrtum möglich. Zwei große Buchstaben, getrennt durch das kleine v, und was noch besonders auffällig war, der Querstrich des Buchstabens H war unterhalb der drei Buchstaben nach rückwärts gezogen, gleichsam einen Schnörkel bildend, genau so wie Sie es früher getan haben. Der Schrecken über dieses seltsame Zusammentreffen veranlasste Sie, meine Hilfe in Anspruch zu nehmen. Sie war Ihnen von vornherein sicher, und Sie wussten, dass sie wirksam sein würde.
Wie Sie wohl erwarten dürften, bin ich zum Ziel gelangt.
Meiner Gewohnheit gemäß werde ich mich weiter kurz fassen.
Gnädige Frau, nehmen Sie in Paris den Abendzug, der Sie am folgenden Morgen nach Quimperlé bringen wird. Von da mieten Sie einen Wagen bis nach Faouët. Dann gehen Sie zu Fuß auf der Straße nach Quimper weiter. Nach dem ersten Hügel, ein wenig vor dem Feldweg, der nach Locriff führt, steht auf einer im Halbrund von Bäumen eingefassten Anhöhe die verlassene Hütte, die jene Inschrift trägt. Nichts Bemerkenswertes ist an ihr zu sehen. Das Innere ist nichts als ein leerer Raum. Ein verfaultes Brett dient als Bank. Als Dach ein Rahmen aus Holz, durch den es hindurchregnet. Ich wiederhole, es steht außer Zweifel, dass nur der Zufall diese Hütte in den Gesichtskreis des aufnehmenden Kinematografen gebracht hat. Ich will noch hinzufügen, dass der Film ›Die bretonische Legende‹ im verflossenen September aufgenommen wurde, dass mithin die Inschrift also mindestens acht Monate zurückdatiert werden muss.
Soweit der Tatbestand, gnädige Frau. Meine doppelte Aufgabe ist beendet. Ich bin zu bescheiden, um Ihnen zu sagen, nach welchen Anstrengungen und durch welche sinnreiche Mittel ich sie in so kurzer Zeit habe erledigen können. Sie würden sonst die Summe von 500 Frank, auf die ich das Honorar meiner Bemühungen bestimmte, wirklich etwas lächerlich finden. Genehmigen Sie, gnädige Frau …
Véronique faltete den Brief wieder zusammen und überließ sich einige Minuten dem Eindruck, den diese Lektüre in ihr hervorgerufen hatte. Ein sehr schmerzhaftes Gefühl war es, wie alles, was ihr die grässlichen Tage ihrer Ehe in die Erinnerung zurückrief. Ein Eindruck besonders war in ihr ebenso wach geblieben wie am Tage, da sie, um sich ihm zu entziehen, in den Schatten eines Klosters verschwunden war. Es war das Gefühl, die Gewissheit sogar, dass all ihr Unglück, dass der Tod ihres Vaters, der Tod ihres Sohnes, alles von der Schuld herrührte, die sie durch ihre Liebe zu Vorski auf sich geladen hatte. Gewiss, sie hatte sich gegen die Liebe dieses Mannes gewehrt, sie hatte sich nur gezwungen zu der Heirat entschlossen, rein aus Verzweiflung und um Herrn d’Hergemont der Rache Vorskis zu entziehen. Aber trotz alledem hatte sie ihn geliebt, diesen Mann. Trotz alledem war sie im Anfang erbleicht unter seinem Blick und von allem, was ihr heute eine unverzeihliche Feigheit schien, blieb in ihr ein Gefühl der Reue, das die Zeit nicht gemildert hatte.
»Vorwärts«, murmelte sie, »genug geträumt, ich bin nicht hierher gekommen, um zu weinen.«
Die Neugierde, die sie aus ihrer Zurückgezogenheit in Besançon herausgelockt hatte, erwachte von neuem, und – zum Handeln entschlossen – stand sie auf.
»Ein wenig vor dem Feldweg, der nach Locriff führt, auf einer im Halbrund von Bäumen eingefassten Anhöhe« besagte der Brief des Herrn von Dutreillis. Sie war also schon an dem Ort vorüber. In großer Eile ging sie zurück und bemerkte alsbald zu ihrer Rechten die Baumgruppe, welche die Hütte ihren Blicken entzogen hatte. Als sie näher hinzukam, konnte sie die Hütte sehen.
Es war eine Art Schutzhütte für einen Hirten oder einen Chaussee-Arbeiter, die unter dem Einfluss der Witterung schon baufällig geworden war. Véronique trat näher und stellte fest, dass die Inschrift, die durch Sonne und Regen schon gelitten hatte, weit weniger deutlich zu sehen war als auf dem Film; aber die drei Buchstaben waren gut zu erkennen, ebenso der Schnörkel. Und sie entdeckte sogar darunter etwas, was Herr Dutreillis nicht festgestellt hatte, nämlich einen Pfeil und eine Nummer, die Nummer 9.
Ihre Erregung wuchs. Obwohl man in keiner Weise versucht hatte, ihre Handschrift nachzuahmen, war es doch die Unterschrift ihres Mädchennamens. Wer hatte hier in der Bretagne, wo sie niemals gewesen war, auf einer verlassenen Hütte diese Buchstaben anbringen können?
Véronique kannte auf der Welt keinen Menschen, mehr. Durch eine Folge von Umständen war mit dem Tode aller derer, die sie geliebt und gekannt hatte, ihre ganze Vergangenheit versunken. Wie war es also möglich, dass die Erinnerung an ihren Namenszug außer in ihr und denen, die nicht mehr lebten, noch fortbestand? Und dann vor allem: was sollte diese Inschrift hier an diesem Orte? Was bedeutete sie?
Véronique ging um die Hütte herum. Weder hier noch auf den Bäumen ringsum fand sie ein anderes Zeichen. Sie erinnerte sich, dass Herr Dutreillis die Hütte geöffnet und auch im Innern nichts entdeckt hatte. Trotzdem wollte sie sich selbst vergewissern, ob er sich nicht getäuscht habe.
Die Tür war durch einen einfachen hölzernen Riegel verschlossen. Sie hob diesen Riegel, und merkwürdig genug, sie musste sich unerklärlicherweise einen zwar nicht körperlichen, so doch seelischen Zwang antun und ihre ganze Willenskraft aufwenden, um diesen Riegel zu heben. Es schien, als ob sie mit dieser Bewegung in eine Welt von Geschehnissen und Tatsachen einträte, vor der sie unbewusst zurückschreckte.
»Was soll das?« sagte sie zu sich selbst, »was hält mich zurück?« und sie öffnete hastig. Ein Schrei des Entsetzens entfuhr ihr. In der Hütte lag der Leichnam eines Mannes, und in dem gleichen Augenblick, wo sie den Leichnam sah, bemerkte sie auch das besondere Merkmal dieses Toten: die eine Hand fehlte.
Es war ein Greis, dessen Bart fächerartig auseinanderfiel und dessen langes weißes Haar ihm bis zum Halse herabhing. Die schwärzlichen Lippen, eine gewisse fleckige Farbe der Haut brachten Véronique auf den Gedanken, dass er vielleicht vergiftet worden sei, denn sein Körper zeigte keine Spur einer Verwundung, mit Ausnahme der klaffenden Wunde am Arm, oberhalb des Handgelenkes, die schon einige Tage alt sein mochte. Seine Kleidung war die eines bretonischen Bauern, sauber, aber sehr abgetragen. Die Leiche lag in sitzender Stellung auf dem Boden, den Kopf an die Bank gelehnt und die Beine eingezogen.
Alle diese Feststellungen machte Véronique halb unbewusst. Erst später sollten sie ihr zum Bewusstsein kommen, denn im Augenblick blieb sie zitternd, mit starrem Blick, wie angewurzelt stehen und stammelte:
»Ein Leichnam, ein Leichnam …«
Plötzlich kam ihr der Gedanke, dass sie sich vielleicht täusche, und dass dieser Mann vielleicht nicht tot sei. Als sie aber seine Stirne berührte, erschauerte sie bei der Berührung dieser eiskalten Haut.
Diese Bewegung riss sie aus ihrer Starrheit. Sie beschloss zu handeln, und da ringsum niemand zu sehen war, wollte sie nach Faouët zurückkehren, um die Behörde zu benachrichtigen. Vorher aber betrachtete sie sorgfältig den Leichnam, um zu sehen, ob nicht ein Anhaltspunkt für seine Identität zu finden wäre.
Die Taschen waren leer. Wäsche und Kleider waren nicht gezeichnet. Als sie aber, um ihre Nachforschungen auszuführen, den Leichnam ein wenig beiseite schob, neigte sich der Kopf nach vorn, der Oberkörper sank vorn über die Beine, und der Raum unter der Bank wurde sichtbar.
Unter der Bank entdeckte sie ein zusammengerolltes Papier mit einer fast verwischten Zeichnung. Es war zerknittert, gleichsam mit Gewalt zerrieben und zusammengedreht. Sie hob es auf und faltete es auseinander. Aber kaum hatte sie dies getan, als ihre Hände zu zittern begannen, und sie stammelte: »O mein Gott … O mein Gott!« Mit aller Willenskraft wollte sie sich zur Ruhe zwingen und mit Augen schauen, die ruhig prüften, und mit einem Gehirn arbeiten, das die Dinge erfasste.
Dies gelang ihr für höchstens einige Sekunden, aber während dieser Sekunden unterschied sie durch einen immer dichter werdenden Nebel hindurch, der ihr Auge zu verschleiern drohte, eine rote Zeichnung, die vier an vier Bäumen gekreuzigte Frauen darstellte.
Und als erste sah sie auf dieser Zeichnung im Mittelpunkt des Bildes eine verschleierte, schon erstarrte Gestalt, deren Züge trotz der entsetzlichen Qualen noch deutlich zu erkennen waren. Diese gekreuzigte Frau war sie selbst. Kein Zweifel, sie war es, sie selbst, Véronique d’Hergemont. Auch befand sich oberhalb des Hauptes, nach antikem Muster, ein Schild mit einer stark hervortretenden Inschrift.
Es war der Namenszug: V. v. H. Véronique d’Hergemont.
Ein krampfartiges Zittern durchlief sie. Sie richtete sich auf, tastete schwindelnd nach der Tür und sank ohnmächtig in das Gras.
Véronique war eine gesunde, große und kräftige Frau von bewundernswertem Gleichgewicht, deren seelische Harmonie niemals durch die Prüfungen, die sie erduldet hatte, erschüttert wurde. Es bedurfte schon außergewöhnlicher, unvorhergesehener Erlebnisse, wie diese im Verein mit zwei im Zug verbrachten Nächten, um ihre Nerven und ihre Willenskraft völlig zu erschüttern.
Diese Schwäche dauerte übrigens nur zwei bis drei Minuten, dann wurden ihre Gedanken wieder klar, und sie fand ihren Mut wieder.
Sie erhob sich, trat noch einmal in die Hütte, ergriff das Papier und las es, wenn auch mit unsagbarer Herzensangst, so doch mit Augen, die ruhig prüften, und mit einem Gehirn, das die Dinge erfasste.
Zuerst die Einzelheiten, die unbedeutend schienen oder deren Bedeutung ihr zunächst nicht klar ward. Links eine schmale Spalte von ungefähr vierzehn Zeilen, die keine Worte enthielten, sondern nur aus Buchstaben bestanden, aus immer gleichen Strichen, die nur zum Ausfüllen bestimmt zu sein schienen.
An verschiedenen Stellen waren immerhin einige Worte zu lesen und Véronique entzifferte:
»Vier Frauen am Kreuz«
weiter unten:
»Dreißig Särge«
und am Schluss eine ganze folgendermaßen lautende Zeile:
»Stein Gottes, der Tod oder Leben gibt.«
Diese ganze Spalte war von zwei regelmäßig geführten Linien eingerahmt. Die eine mit roter, die andere mit schwarzer Tinte gezogen. Oben, gleichfalls rot, sah man eine Darstellung zweier von einem Mispelzweig umschlungener Sicheln, und darunter den Schattenriss eines Sarges.
Der rechte, bei weitem wichtigste Teil des Bildes war ganz ausgefüllt durch die blutfarbene Zeichnung, die der ganzen Seite mit der danebenstehenden Erklärung das Aussehen einer Buchseite gab oder vielmehr der Nachahmung einer Buchseite – das Blatt sah aus wie das eines großen mit Bilderschmuck versehenen altertümlichen Buches – worin die Gegenstände ein wenig naiv, in völliger Unkenntnis der Gesetze der Perspektive dargestellt sind.
Es waren vier Frauen an Kreuzen. Drei von ihnen füllten, immer kleiner werdend, den Hintergrund. Sie trugen bretonische Tracht und auf dem Kopf eine bretonische Haube von besonderer Art, die nur an bestimmten Orten üblich war, mit breiter, schwarzer, nach Elsässer Art geknoteter Schleife. In der Mitte der Seite aber befand sich das Schreckliche, von dem Véronique ihren entsetzten Blick nicht loslösen konnte: Das Hauptkreuz, an dem rechts und links die Arme der Frau herunterhingen.
Hände und Füße waren nicht durch Nägel gehalten, sondern durch einen Strick, der bis zu den Schultern und bis hinauf zur Gabelung der Beine reichte. An Stelle der bretonischen Tracht trug dieses Opfer eine Art Schultertuch, das fast bis zur Erde reichte und den durch die Marterung abgemagerten Körper noch magerer erscheinen ließ.
Der Ausdruck des Gesichtes war herzzerreißend. Es war ein Ausdruck schmerzlicher Ergebenheit. Es war das Gesicht Véroniques, so wie sie sich erinnerte, als Zwanzigjährige ausgesehen zu haben, wenn sie in trüben Stunden mit hoffnungslosen Augen und tränenüberströmt in den Spiegel gesehen hatte.
Und da war auch die dichte Flut ihres Haares, das in gleichmäßigen Wellen bis auf den Gürtel herabfiel.
Und oben die Inschrift V. v. H.
Véronique blieb lange in Nachdenken versunken, sie befragte ihre Vergangenheit und versuchte in dem Dunkel eine Verbindung herzustellen zwischen den Ereignissen von jetzt und den Erinnerungen ihrer Kindheit; aber ihr Geist konnte es zu keiner Klarheit bringen. Die Worte, die sie las, die Zeichnung, die sie sah, nichts von alldem hatte auch nur den geringsten Sinn für sie, nichts hätte zu der kleinsten Aufklärung führen können.
Mehrere Male prüfte sie das Papier, endlich zerriss sie es langsam in lauter kleine Stückchen, die der Wind forttrug. Als das letzte Stückchen davonflog, war ihr Entschluss gefasst. Sie schloss die Tür und entfernte sich eiligst in der Richtung nach dem Dorfe, um diesem Geschehnis den gerichtlichen Abschluss zu geben, der im Augenblick allein möglich war.
Als sie aber eine Stunde später mit dem Bürgermeister von Faouët, dem Feldhüter und einer Anzahl Neugieriger, die durch ihre Erzählung angelockt waren, zurückkam, war die Hütte leer.
Der Leichnam war verschwunden.
All dies war so sonderbar und Véronique wusste wohl, dass es ihr in dem Wirrwarr ihrer Gedanken unmöglich war, auf die Fragen, die man an sie richtete, zu antworten; ebensowenig gab sie sich Mühe, den Zweifel, den man vielleicht gegen ihren gesunden Verstand hegte, zu zerstreuen. Sie machte keinen Versuch, Missdeutungen zu vermeiden. Der Wirt war auch da und so fragte sie ihn, welches das nächste Dorf sei, das auf dem Wege liege, und ob sie auf diese Weise an eine Bahnstation käme, die ihr die Rückkehr nach Paris ermöglichte.
Sie merkte sich die beiden Namen Scaër und Rosporden, bestellte einen Wagen, der mit ihrem Koffer sie unterwegs einholen sollte, und ging.
Sie reiste ab, sozusagen ins Blaue hinein. Der Weg war lang. Meilen und wieder Meilen, aber sie hatte es so eilig, diesen unbegreiflichen Ereignissen ein Ende zu machen und wieder Ruhe und Vergessen zu finden, dass sie mit großen Schritten vorwärts strebte, ohne zu bedenken, dass diese Anstrengung überflüssig war, da ja der Wagen ihr folgte.
Sie stieg bergan, dann wieder talwärts, und sie dachte an nichts mehr. Sie wehrte sich dagegen, eine Lösung zu suchen für all die Rätsel, die sich ihr darboten, und sie hatte eine fürchterliche Angst vor dieser ihrer Vergangenheit, die den Zeitraum von ihrer Entführung durch Vorski bis zu dem Tode ihres Vaters und ihres Kindes umfasste …
An nichts weiter wollte sie denken als an das ganz bescheidene Leben, das sie sich in Besançon geschaffen hatte. Dort gab es keinen Kummer, keine Träume, keine Erinnerungen, und sie zweifelte nicht daran, dass sie inmitten ihrer kleinen täglichen Verpflichtungen, die sie in dem bescheidenen, von ihr gewählten Beruf einhüllten, die verlassene Hütte, den verstümmelten Leichnam, die entsetzliche Zeichnung und die geheimnisvolle Inschrift vergessen würde.
Als sie aber noch vor dem Marktflecken Scaër den Hufschlag eines Pferdes hinter sich hörte, sah sie an der Stelle, wo die Landstraße nach Rosporden abbog, ein altes Gemäuer, das von einem halbeingestürzten Haus übriggeblieben war.
Und auf dieser Mauer stand über einem Pfeil und der Nummer neun mit weißer Kreide jene schicksalsschwere Inschrift: V. v. H.
Véroniques seelische Verfassung schlug plötzlich um. So sehr sie mit aller Entschiedenheit vor der Gefahr zurückwich, die ihr von ihrer schlimmen Vergangenheit herzukommen schien, so sehr war sie dennoch entschlossen, den furchtbaren Weg, der sich vor ihr zeigte, bis zu Ende zu gehen.
Dieser Umschwung rührte wohl daher, dass plötzlich etwas Licht in das Dunkel zu dringen schien. Sie verstand plötzlich, um was es sich handelte. Um eine ganz einfache Sache übrigens, dass nämlich der Pfeil eine Richtung anzeigte, und dass die Nummer Zehn die zehnte einer Reihe und die Markierung einer Wegstrecke bedeuten musste.
War es ein Zeichen, das jemand einem anderen gab, um seine Schritte zu lenken? War hiermit ein Fingerzeig zur Lösung des Rätsels gegeben, inwiefern die Unterschrift aus ihrer Mädchenzeit mit all diesen tragischen Umständen verkettet war?
In diesem Augenblick erreichte sie der Wagen, der ihr von Faouët nachgeschickt war. Sie stieg ein und befahl dem Kutscher, in langsamem Tempo in der Richtung nach Rosporden zu fahren. Gegen Mittag langte sie dort an, und ihre Vorahnungen hatten sie nicht getäuscht. Zweimal sah sie, jedes Mal, wenn ein Weg abzweigte, ihren Namenszug in Verbindung mit den Zahlen elf und zwölf.
Véronique verbrachte die Nacht in Rosporden, und gleich am folgenden Morgen nahm sie ihre Nachforschungen wieder auf.
Die Zahl zwölf, die sie auf einer Kirchhofmauer fand, führte sie auf die Straße von Concarneau, die sie auch erreichte, ohne dass andere Inschriften zu finden gewesen wären.
Sie nahm also an, dass sie sich getäuscht habe, kehrte um und verlor einen ganzen Tag mit unnützem Suchen.
Erst am folgenden Tag wies ihr die stark verwitterte Nummer dreizehn die Richtung nach Fouesnaut.
Endlich kam sie an den Ozean, und zwar an den weiten Strand von Beg-Meil.
Hier im Dorfe verbrachte sie zwei Nächte, ohne dass ihr auf ihre vorsichtigen Fragen eine Antwort geworden wäre. Eines Morgens endlich, nachdem sie lange Zeit bald zwischen Felsen, die halb unter Wasser sich längs der Küste hinziehen, bald an der niedrigen Felsenküste umhergeirrt war, entdeckte sie vor einem aus Erde und Zweigen gebildeten Unterschlupf, der früher einmal den Grenzbeamten gedient haben mochte, einen kleinen Menhir Man nennt Menhir die aus der Urzeit der Bretagne stammenden Denkmäler in der Form einer Säule.
Auf diesem Menhir stand jene Inschrift mit der Zahl siebzehn dahinter.
Keinerlei Pfeil diesmal … sondern nur ein einfacher Punkt daneben. Das war alles.
In der Höhlung drei zerbrochene Flaschen und leere Konservenbüchsen.
»Hier ist das Endziel«, sagte sich Véronique. »Man hat hier gegessen, vielleicht schon auf Vorrat Lebensmittel untergebracht.«
In diesem Augenblick bemerkte sie, dass gar nicht weit von hier, am Rande einer kleinen Bucht, die sich inmitten der benachbarten Felsen wie eine Muschel rundete, ein Motorboot schaukelte.
Sie hörte Stimmen, die aus dem Dorfe herüberdrangen. Eine Männer- und eine Frauenstimme.
Von ihrem Standort aus konnte sie vorerst nur einen ziemlich bejahrten Mann sehen, der ein halbes Dutzend Säcke schleppte, die er mit folgenden Worten absetzte: »Ihr habt also eine gute Reise gehabt, Mutter Honorine?«
»Ausgezeichnet.«
»Und wo war’t Ihr?«
»In Paris. Acht Tage fortgewesen. Besorgungen für meinen Herrn …«
»Zufrieden, dass Ihr wieder da seid?«
»Na, das will ich meinen!«
»Und seht Ihr wohl, Mutter Honorine? Euer Boot liegt noch an derselben Stelle. Alle Tage habe ich danach gesehen. Heute Morgen habe ich endlich das Segel eingezogen; die Schaluppe läuft noch immer gut?«
»Wunderbar.«
»Ihr versteht aber auch etwas vom Steuern, Mutter Honorine! Wer hätte je gedacht, dass Ihr einmal dieses Handwerk betreiben würdet!«
»Das macht der Krieg. Alle jungen Leute von unserer Insel sind fort, die anderen sind auf Fischfang, auch gibt es keine Schiffsverbindung wie früher alle vierzehn Tage. So mache ich eben die Besorgungen.«
»Aber das Benzin?«
»Davon haben wir genug. In der Beziehung ist nichts zu fürchten.«
»So wäre also alles in Ordnung, Mutter Honorine? Kann man geh’n oder soll ich Euch helfen, die Sachen aufladen?«
»Ist nicht nötig, Ihr habt es eilig.«
»Für heute also wäre alles in Ordnung«, wiederholte der biedere Mann, »bis aufs nächste Mal, Mutter Honorine. Ich werde die Pakete schon vorher zurecht machen«, und er ging davon, indem er im Weiterschreiten noch einmal zurückrief:
»Gebt nur acht auf die Klippen, die Eure verdammte Insel umgeben. Sie hat gerade keinen guten Ruf, Eure Insel. Nicht umsonst nennt man sie die Insel mit den dreißig Särgen. Viel Glück zur Überfahrt, Mutter Honorine!«
Er verschwand hinter einem Felsen.
Véronique war zusammengefahren. Die dreißig Särge! Die gleichen Worte, die sie am Rande der entsetzlichen Zeichnung gelesen hatte!
Sie beugte sich vor. Die alte Frau näherte sich inzwischen dem Boot, und nachdem sie andere Vorräte, die sie selbst getragen hatte, verstaut hatte, wandte sie sich um. Jetzt sah Véronique sie von vorn. Sie trug die Tracht der bretonischen Frauen und auf ihrer Haube eine große Schleife aus schwarzem Samt.
»O mein Gott«, stammelte Véronique. »Es ist dieselbe Haube wie die der drei Frauen am Kreuz!«
Die Frau mochte ungefähr vierzig Jahre sein. Ihr großes, energisches, von Wind und Wetter gebräuntes Gesicht hatte knochige Züge und war grob geschnitten, doch zwei große, schwarze und kluge Augen belebten es. Eine schwere goldene Kette hing an ihrer Brust. Sie trug ein eng anliegendes Samtmieder.
Während sie ihre Pakete in das Boot trug, wobei sie auf einen großen Stein niederknien musste, an dem es verankert war, sang sie leise vor sich hin. Es war ein langsamer und eintöniger Sang, eine Art Wiegenlied. Während sie es sang, lächelte sie, und Véronique sah ihre schönen weißen Zähne leuchten.
Sprach die Mutter zu dem Kind: Weine nicht und schlaf geschwind! Wenn sie dich so weinen schaut, Weinet auch die Himmelsbraut. Nimm die Händchen, falte sie: Bete lächelnd zu Marie.
Sie konnte nicht zu Ende singen, denn plötzlich stand Véronique vor ihr, ihr Gesicht war bleich und verzerrt. Bestürzt murmelte sie:
»Was ist denn?«
Mit zitternder Stimme fragte Véronique:
»Wer hat Sie dieses Lied gelehrt? … Woher kennen Sie es? Es ist ein Lied von meiner Mutter … Es ist aus ihrer Heimat Savoyen … Und seit dem sie tot ist, habe ich es nie mehr gehört … Ich möchte gern …«
Sie verstummte. Die Frau betrachtete sie mit stummem Erstaunen, es schien, als ob auch sie Lust hätte, Fragen zu stellen.
Véronique aber wiederholte:
»Wer hat es Sie gelehrt?«
»Jemand aus der Gegend«, antwortete endlich die Frau, die man Mutter Honorine nannte.
»Von dort?«
»Ja, jemand von meiner Insel.«
Mit einer Art schauriger Ahnung unterbrach sie Véronique.
»Das ist die Insel mit den dreißig Särgen?«
»So nennt man sie, eigentlich heißt sie Sarek.«
Stumm sahen sie einander an, mit einem Blick gemischt aus Misstrauen und Neugier, mehr zu erfahren; und plötzlich fühlten sie beide, dass sie sich nicht als Feinde gegenüberstanden.
»Verzeihen Sie, aber es gibt Dinge, die einen außer Fassung bringen!«
Die Frau nickte zustimmend mit dem Kopfe, und Véronique fuhr fort:
»Die uns so aus der Fassung bringen und so verwirren … Wissen Sie zum Beispiel, warum ich hier an dieser Küste bin? Ich muss es Ihnen sagen, und Sie allein können mir vielleicht eine Aufklärung geben … Der Zufall … ein ganz unscheinbarer Zufall, von dem sich doch im Grunde alles herleitet, hat mich hierher geführt. Ich bin zum ersten Male in der Bretagne, und auf der Tür einer alten verlassenen Hütte an einem Wegrand sah ich die Anfangsbuchstaben meines Mädchennamens, den ich seit vierzehn bis fünfzehn Jahren nicht mehr führe. Als ich weiter wanderte, bemerkte ich noch mehrmals dieselbe Inschrift in Verbindung mit einer jedes Mal fortlaufenden Zahl. So bin ich bis hierher an den Strand von Beg-Meil gekommen. An diesen Teil der Küste, der folglich der Endpunkt einer beabsichtigten und ausgeführten Reise ist. Von wem, das weiß ich nicht.«
»Ihr Namenszug steht da?« sagte Honorine lebhaft, »wo denn?«
»Auf jenem Stein dort oben am Eingang in die kleine Höhle.«
»Ich kann es von hier aus nicht sehen, welche Buchstaben es sind.«
»V. v. H.«
Die Bretonin unterdrückte ihre Bewegung. Sie stieß zwischen den Zähnen hervor:
»Véronique? … Véronique d’Hergemont?«
»Wie«, rief die Fremde, »Sie kennen meinen Namen, Sie kennen ihn?«
Honorine ergriff ihre beiden Hände und hielt sie fest in den ihren. Ein freundliches Lächeln zeigte sich auf ihrem strengen Gesicht. Tränen traten ihr in die Augen, und sie wiederholte:
»Fräulein Véronique … Frau Véronique … Sie sind es also, Véronique? … O mein Gott! ist es denn möglich! Heilige Jungfrau, sei gebenedeit!«
In höchstem Erstaunen stammelte Véronique immer wieder:
»Sie kennen meinen Namen … Sie wissen, wer ich bin? … So können Sie mir also dieses ganze Rätsel erklären?«
Nach längerem Schweigen antwortete Honorine:
»Erklären kann ich Ihnen nichts … Ich verstehe ebenfalls nicht … aber vielleicht können wir zusammen suchen … Wie heißt doch das bretonische Dorf?«
»Faouët.«
»Faouët … das kenne ich … Wo war die verlassene Hütte?«
»Zwei Kilometer von dort entfernt.«
»Sind Sie drin gewesen?« …
»Ja, und das ist das Schrecklichste von allem … In dieser Hütte lag …«
»Sprechen Sie, was denn?«
»Der Leichnam eines alten Mannes in bretonischer Tracht. Er hatte langes, weißes Haar und einen grauen Bart … O, ich werde diesen Toten nie vergessen … Er muss wohl ermordet worden sein … Oder vergiftet, wer weiß.«
Honorine hörte gespannt zu. Dieses Verbrechen schien ihr jedoch keinen Fingerzeig zu bieten und so sagte sie nur:
»Wer war es denn? Hat man die Sache untersucht?«
»Als ich mit den Leuten aus dem Dorf zurückkam, war der Leichnam inzwischen verschwunden.«
»Verschwunden? Wer hatte ihn denn fortgeschafft?«
»Ich weiß es nicht.«
»So wissen Sie also gar nichts?«
»Gar nichts, nein. Das erstemal hatte ich in der Hütte eine Zeichnung gefunden, die ich zerrissen habe, deren Erinnerung mir aber noch wie ein Alp auf der Brust liegt … Ich kann diese Erinnerung nicht los werden. Hören Sie … es war ein Blatt, auf dem man offenbar versucht hatte, ein altes Bild wiederzugeben. Das ganze stellte, o, etwas Furchtbares dar, etwas Grausiges … Vier Frauen am Kreuz! Und die eine Frau war ich selbst, sie trug meinen Namen … die anderen drei trugen Hauben wie Sie.«
Honorine hielt Véroniques Hände krampfhaft umschlossen.
»Was sagen Sie, vier Frauen am Kreuz?«
»Ja, es war noch die Rede von dreißig Särgen, und das bezog sich folglich auf Ihre Insel.«
Die Frau legte Véronique die Hand auf den Mund.
»Schweigen Sie, schweigen Sie. Sie dürfen davon nicht sprechen. Nein, sprechen Sie nicht davon … Es gibt teuflische Dinge! Davon zu sprechen … ist Gotteslästerung … Wir wollen nicht davon sprechen … Später werden wir sehen … Nächstes Jahr vielleicht … Später … Später …«
Sie schien von Schrecken geschüttelt wie von einem Gewittersturm, der die Bäume peitscht und die ganze Natur in Aufruhr bringt. Plötzlich kniete sie auf den Felsen nieder und betete, tief gebeugt, den Kopf in die Hände vergraben, so ganz dem Gebet hingegeben, dass Véronique keine Frage weiter stellte. Endlich stand sie auf und fuhr fort:
»Ja, all dies ist schrecklich, aber ich sehe nicht ein, was dies an unserer Pflicht ändern könnte. Wir dürfen nicht zögern.«
In tiefem Ernst fuhr sie dann fort:
»Sie müssen mit mir dort hinüber.«
»Dort hinüber auf Ihre Insel?« erwiderte Véronique, ohne ihr Entsetzen davor zu verbergen.
Honorine ergriff von neuem ihre Hände, und in demselben etwas feierlichen Tone, der Véronique voll geheimer unausgesprochener Gedanken schien, fuhr sie fort:
»Sie heißen wirklich Véronique d’Hergemont?«
»Ja.«
»Und Ihr Vater hieß?«
»Antoine d’Hergemont.«
»Sie haben einen angeblichen Polen mit Namen Vorski geheiratet?«
»Ja, Alexis Vorski.«
»Sie haben ihn geheiratet nach einer aufsehenerregenden Entführung und nach einem Bruch mit Ihrem Vater?«
»Ja.«
»Sie haben ein Kind von ihm?«
»Ja, einen Sohn François.«
»Den Sie sozusagen nicht gekannt haben, denn er war Ihnen von Ihrem Vater weggenommen worden?«
»Ja.«
»Und alle beide, Ihr Vater und Ihr Sohn, sind bei einem Schiffbruch ums Leben gekommen?«
»Ja, sie sind tot.«
»Wie können Sie das wissen?«
Véronique, ohne sich über diese Frage zu wundern, antwortete:
»Die Nachforschungen, die ich angestellt habe, und die gerichtliche Untersuchung stützen sich beide auf das unanfechtbare Zeugnis der vier Matrosen.«
»Und wer sagt Ihnen, dass sie nicht gelogen haben?«
»Warum hätten sie lügen sollen?« rief Véronique erstaunt.
»Ihre Aussage kann erkauft worden sein …«
»Von wem?«
»Von Ihrem Vater.«
»Welch ein Einfall! Und wie denn …? Mein Vater war doch tot.«
»Ich frage Sie noch einmal: Wie können Sie das wissen?«
Jetzt schien Véronique zu stutzen.
»Was wollen Sie damit sagen?« murmelte sie.
»Einen Augenblick. Kennen Sie die Namen jener vier Matrosen?«
»Ich kannte sie, aber ich erinnere mich ihrer nicht mehr.«
»Sie erinnern sich nicht, dass es bretonische Namen waren?«
»Doch, aber ich begreife nicht …«
»Wenn Sie selbst niemals in der Bretagne waren, so ist doch Ihr Vater oft hier gewesen, schon seiner Studien wegen. Zu Lebzeiten Ihrer Mutter hat er sogar hier gewohnt. Dadurch kam er in Verbindung mit Leuten aus dem Volk. Setzen wir also den Fall, dass er die vier Matrosen seit langem kannte, dass diese Leute ihm ergeben waren, oder dass er sie bezahlt und sie für seine Zwecke eigens gedungen hatte. Nehmen wir an, dass sie zuerst Ihren Vater und dann Ihren Sohn in einem kleinen italienischen Hafen an Land gesetzt haben, dass dann alle vier, gute Schwimmer wie sie waren, angesichts der Küste die Jacht zum Scheitern gebracht haben. Nehmen wir an …«
»So leben diese Leute noch!« rief Véronique mit immer steigender Erregung. »Man könnte sie also befragen?«
»Zwei sind eines natürlichen Todes gestorben, schon vor Jahren. Der dritte ist ein gewisser Maguennoc, ein alter Mann, den Sie in Sarek finden werden. Den vierten haben Sie vielleicht eben selbst gesehen. Mit dem Geld, das diese Angelegenheit ihm einbrachte, hat er in Beg-Meil einen Krämerladen aufgemacht.«
»Ach, der war es. Den kann ich also gleich sprechen«, sagte Véronique zitternd vor Erregung. »Gehen wir gleich zu ihm.«
»Weshalb, ich weiß mehr von der Sache als er.«
»Sie wissen etwas?«
»Ich weiß alles, was Sie nicht wissen. Ich kann Ihnen alle Ihre Fragen beantworten. Fragen Sie nur.«
Véronique jedoch wagte nicht die wichtigste Frage an sie zu stellen. Sie fürchtete sich vor einer Wahrheit, die sie immerhin als möglich erkannte und die sie dunkel ahnte. In schmerzlichem Tone stammelte sie:
»Ich begreife nicht … Warum sollte denn mein Vater so gehandelt haben? Warum sollte er gewollt haben, dass man an seinen und meines unglücklichen Kindes Tod glaubte?«
»Ihr Vater hat geschworen sich zu rächen.«
»An Vorski wohl, aber an mir?« …
»An seiner Tochter … Und auf diese Weise. Sie liebten Ihren Gatten. Sie standen unter seinem Einfluss, und anstatt ihn zu fliehen, haben Sie eingewilligt, ihn zu heiraten. Außerdem war die Beleidigung eine öffentliche gewesen, und Sie kannten Ihren Vater als aufbrausenden, rachsüchtigen Charakter.«
»Aber seither? …«
»Seither, ja, seither! … Seither hat sich mit zunehmendem Alter auch die Reue eingestellt. Er liebte das Kind, und so hat er Sie überall suchen lassen … Was habe ich nicht für Reisen gemacht! Zuerst nach Chartres zu den Karmeliterinnen, aber dort waren Sie schon lange nicht mehr … und wo, wo nur sollte ich Sie finden?«
»Weshalb haben Sie nicht einen Aufruf in die Zeitung gesetzt?«
»Er hat es getan, aber diese Anzeige war sehr vorsichtig gehalten, schon wegen des damaligen Skandals. Es hat sich auch jemand gemeldet. Es wurde eine Zusammenkunft vereinbart, und wissen Sie, wer sich einstellte? Vorski! Vorski suchte Sie auch, er liebte Sie noch immer und hasste Sie auch. Ihr Vater wurde ängstlich und hat nicht mehr gewagt, öffentlich Schritte zu tun.«
Véronique schwieg, sie drohte umzusinken und setzte sich auf den Stein. Hier blieb sie mit gesenktem Kopf sitzen.
»Sie sprechen von meinem Vater, als ob er noch lebte«, murmelte sie.
»Er lebt.«
»Und als ob Sie ihn häufig sähen …«
»Jeden Tag sehe ich ihn …«
Aber Véronique sprach leiser: »Aber Sie reden kein Wort von meinem Sohn … Ich zittere bei dem Gedanken … Ist er nicht gerettet worden? … Ist er etwa gestorben? Sprechen Sie darum nicht von ihm?«
Mühsam wandte sie Honorine ihr Gesicht zu. Diese lächelte.
»Oh, ich flehe Sie an, sagen Sie mir die Wahrheit, es ist entsetzlich, sich Hoffnungen hinzugeben, die … Ich flehe Sie an …«
Honorine legte ihr den Arm um den Hals.
»Aber meine liebe, gute Dame, würde ich Ihnen dies alles erzählt haben, wenn er nicht lebte, mein lieber, kleiner François?«
»Er lebt, er lebt?« rief Véronique wie von Sinnen.
»Aber gewiss, und es geht ihm gut. Oh, es ist ein kräftiger Junge, er steht fest auf seinen Beinen und ich kann mit Recht stolz auf ihn sein, denn ich bin es, die ihn erzogen hat, Ihren François.«
Unter der Wucht ihrer Gefühle, die ebensoviel Schmerz wie Freude in sich bargen, lehnte sich Véronique an Honorine, die ihr freundlich zusprach.
»Weinen Sie nur, meine Liebe, das wird Ihnen wohltun. Diese Tränen sind besser als die früheren, nicht wahr? Weinen Sie nur, damit Sie all Ihr Elend vergessen. Ich gehe jetzt ins Dorf. Sie haben sicher noch einen Koffer dort? Man kennt mich. Ich hole ihn, und wir fahren ab.«
Als Honorine eine halbe Stunde später zurückkam, sah sie Véronique aufrecht im Boot stehen, die ihr zuwinkte und rief:
»Schnell doch, wie langsam Sie sind! Wir haben keine Minute zu verlieren.«
Honorine ging aber trotzdem nicht schneller, sie antwortete nicht. Kein Lächeln zeigte sich auf ihrem strengen Gesicht.
»Fahren wir denn nicht ab?« rief Véronique, »weshalb zögern wir, was hindert uns? Sie scheinen mir verändert.«
»Aber ja, aber ja …«
»Beeilen wir uns also.«
Zusammen trugen sie den Koffer und die Säcke mit Vorräten in das Schiff. Plötzlich aber trat Honorine dicht an Véronique heran und sagte:
»Sind Sie wirklich sicher, dass die Frau auf dem Kreuz Sie selbst darstellte?«
»Vollkommen sicher; außerdem stand mein Namenszug darüber! …«
»Wie seltsam«, murmelte Honorine, »und wie beunruhigend.«
»Wieso? … Irgendjemand, der mich vielleicht kannte, hat sich ein Vergnügen daraus gemacht … Ein bloßer Zufall, ein rätselhaftes Zusammentreffen hat Vergangenes heraufbeschworen.«
»Ach, nicht die Vergangenheit ist es, die mir Sorgen macht, es ist die Zukunft.«
»Die Zukunft?«
»Erinnern Sie sich an die Prophezeiung?«
»Sie kennen sie?«
»Ja, ich kenne sie, und es ist grässlich, daran und an andere Dinge zu denken, die Sie nicht wissen und die noch viel entsetzlicher sind.«
Véronique brach in Lachen aus.
»Und deshalb zögern Sie, mich mitzunehmen? … Denn darum handelt es sich doch?«
»Lachen Sie nicht! Wenn man die Hölle vor sich sieht, vergeht einem das Lachen!«
Bei diesen Worten schloss Honorine die Augen und bekreuzigte sich, dann fuhr sie fort:
»Es scheint, dass Sie sich über mich lustig machen! Sie glauben, ich bin eine Frau, die wie andere in der Bretagne abergläubisch ist, an Gespenster und Irrlichter glaubt. Ich leugne es nicht durchaus, aber es gibt noch ganz andere Dinge. Sie können mit Maguennoc darüber sprechen, wenn Sie sein Vertrauen gewinnen.«
»Maguennoc?«
»Der eine von den vier Matrosen. Er ist ein alter Freund Ihres Sohnes, er hat ihn erzogen, Maguennoc weiß mehr als alle Gelehrten, mehr als Ihr Vater.«
»Ja, ja … aber …?«
»Maguennoc hat das Schicksal herausfordern wollen und hat das erfahren wollen, was man kein recht hat zu wissen.«
»Was hat er denn getan?«
»Er wollte mit eigener Hand, wie er mir selbst gesagt hat, an das Dunkle rühren.«
»Und was geschah?« rief Véronique, die, obwohl sie dagegen ankämpfte, ein Angstgefühl überkam.
»Seine Hand verbrannte in den Flammen. Er trägt eine furchtbare Wunde, die er mir selbst gezeigt hat, die ich mit eigenen Augen gesehen habe, ähnlich einer Krebswunde. Und er litt derartig, dass … dass er mit seiner linken Hand zur Axt greifen musste und sich damit selbst die rechte Hand abschlug.«
Véronique verstummte voll Entsetzen. Die Erinnerung an den Leichnam in Faouët tauchte auf, und sie stammelte:
»Seine rechte Hand! Sie behaupten, dass Maguennoc sich die rechte Hand abgeschlagen hat?«
»Ja, mit der Axt. Es sind jetzt zehn Tage her, gerade kurz vor meiner Abreise. Ich habe ihn damals gepflegt … Warum fragen Sie danach?«
»Weil dem Toten, dem alten Mann, den ich in der verlassenen Hütte fand und der dann verschwunden war, die rechte Hand fehlte, sie war frisch abgeschlagen.«
Honorine fuhr zusammen. Auf ihrem Gesicht malte sich starrer Schrecken, der zu der gewöhnlichen Ruhe ihrer Züge im Gegensatz stand.
»Sind Sie sicher?« stieß sie hervor. »Ja, Sie haben recht, er ist es, Maguennoc, er hat lange weiße Haare, nicht wahr, und einen breiten Bart …«
Sie hielt inne und blickte sich um, als fürchte sie, zu laut gesprochen zu haben. Von neuem bekreuzigte sie sich und sagte langsam, wie zu sich selbst: