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'Arsène Lupin – Gentleman-Gauner' ist der erste Band der Abenteuer das Meisterdiebs Arsène Lupin. Der berühmte französische Einbrecher erscheint in verschiedenen Verkleidungen und führt die Polizei ständig an der Nase herum. Selbst bei seiner Verhaftung und dem Aufenthalt im berüchtigtsten Gefängnis von Paris ist er seinen Gegnern stets voraus und macht sich über sie lustig. Weder große Geldbeträge noch Schmuck oder Kunstgegenstände sind vor ihm sicher. Sogar der weltbekannte britische Detektiv Sherlock Holmes hat gegen Lupin keine Chance. Nur die Liebe zu einer Frau kann dem Gentleman-Gauner zum Verhängnis werden. Dieser Band ist eine Sammlung von neun Kriminalgeschichten, die durch eine Rahmenhandlung miteinander verbunden sind. Alle Abenteuerbände von Arsène Lupin sind jeweils in sich abgeschlossen und können unabhängig voneinander gelesen werden. Zeitgemäße Neuübersetzung des klassischen Kriminalromans 'Arsène Lupin, gentleman-cambrioleu' von Maurice Leblanc durch den bekannten Krimiautor Martin Barkawitz.
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Maurice Leblanc
Arsène Lupin
Gentleman-Gauner
Kriminalgeschichten
BE
Belle Époque Verlag
Aus dem Englischen neu übersetzt von Martin Barkawitz.
Neuausgabe des Belle Époque Verlags, Inh. G. Pahlberg, Wiesenstraße 7, 72135 Dettenhausen.
Originalausgabe: ‚Arsène Lupin, gentleman-cambrioleurʻ (1907)
Lektorat: Christian Reichenbach
Umschlaggestaltung: Belle Époque Verlag
ISBN: 978-3-96357-233-3
An Bord des Schnelldampfers La Provence, der auf der Transatlantikroute von Frankreich nach Amerika unterwegs war, herrschte eine entspannte und angenehme Atmosphäre. Doch diese scheinbar so idyllische Schiffsreise sollte bald mit einem Paukenschlag enden, auch wenn die Passagiere zu dieser Zeit noch nichts davon ahnten. Der Kapitän war ein erfahrener und entschlossener Seemann, dessen Anwesenheit auf der Brücke automatisch ein Gefühl von Sicherheit bei uns Reisenden erzeugte. Das dachten wir zumindest, bis einige unerwartete Ereignisse über uns hereinbrachen.
Wir waren eine bunt gemischte Gesellschaft aus höchst unterschiedlichen Menschen, die in erster Linie eins verband – das nötige Kleingeld. Wer sich eine Reise auf der La Provence leisten konnte, genoss seinen Wohlstand. Und genau das taten wir.
Der Reiz von neuen Bekanntschaften und vergnüglichem Zeitvertreib ließ keine Langeweile aufkommen. Wir genossen das ungewohnte Gefühl, von der Welt getrennt zu sein, praktisch für einige Tage auf einer unbekannten Insel zu leben, und deshalb miteinander auskommen zu müssen. So unterschiedlich wir auch waren, so wurden wir durch unsere gemeinsame Reise quasi aneinander gekettet und mussten unsere jeweiligen Eigenheiten ertragen. Es blieb uns nichts anderes übrig, als gemeinsam dem Zorn des Ozeans, dem schrecklichen Ansturm der Wellen, der Gewalt des Sturms und der quälenden Monotonie des ruhigen und schläfrigen Wassers zu trotzen. Es war also kein Wunder, wenn man auf eine solche Reise mit einem Gefühlsmix aus Vorfreude und Beklemmung ging.
Doch seit vor wenigen Jahren der drahtlose Telegraf erfunden worden war, also die Möglichkeit, über Funk Textnachrichten zu versenden, war ein Schiff auf der Transatlantikroute nicht mehr gänzlich vom Rest der Welt abgeschnitten. Das galt natürlich auch für die La Provence. Die Nachrichten waren sündhaft teuer, jedes Wort kostete extra, aber das konnte uns nicht beeindrucken.
Am ersten Tag auf See wurde bereits fleißig telegrafiert. Ich erhielt Nachrichten von zwei Freunden, auch zehn oder zwanzig andere Passagiere wurden mit kurzen Neuigkeiten aus der Heimat bedacht.
Doch am zweiten Tag, in einer Entfernung von fünfhundert Seemeilen von der französischen Küste und inmitten eines heftigen Sturms, erhielt das Schiff über Funk folgende Nachricht:
»Achtung: Arsène Lupin ist an Bord! Kabine der ersten Klasse, blondes Haar, verletzter rechter Unterarm, reist allein unter dem Namen R---«
In diesem Moment durchzuckte ein schrecklicher Blitz den stürmischen Himmel. Die Funkwellen wurden unterbrochen, und das Funkgerät musste danach erst wieder repariert werden. Der restliche Text hat uns nie erreicht. Von dem Namen, unter dem Arsène Lupin reiste, kannten wir deshalb nur den Anfangsbuchstaben.
Wäre die Neuigkeit weniger dramatisch gewesen, dann hätten sowohl der Schiffsfunker als auch die Offiziere sie für sich behalten. Doch wer konnte schon der Versuchung widerstehen, eine solche Sensation unter den Passagieren zu verbreiten? Noch am selben Tag wurde die Warnung zum aktuellen Klatsch und jedem Passagier wurde klar, dass sich der berühmt-berüchtigte Arsène Lupin in unserer Mitte versteckte!
Arsène Lupin unter uns! Er, der tollkühne Einbrecher, über dessen Taten in den letzten Monaten alle Zeitungen berichtet hatten! Das geheimnisvolle Individuum, mit dem sich Frankreichs scharfsinnigster Kriminalist Ganimard einen unerbittlichen Kampf geliefert hatte. Arsène Lupin, der exzentrische Gentleman, der nur in Schlössern und Salons einstieg, der eines Nachts in die Residenz des Barons Schormann eingedrungen war, aber mit leeren Händen wieder herauskam – nicht ohne seine Visitenkarte zurückzulassen, auf die er folgende Worte gekritzelt hatte: »Arsène Lupin, der Gentleman-Gauner, wird zurückkehren, wenn die Möbel echt sind!«
Arsène Lupin, der Mann der tausend Verkleidungen: abwechselnd Chauffeur, Detektiv, Buchmacher, russischer Arzt, spanischer Stierkämpfer, Handelsreisender, dynamischer Jüngling oder klappriger Greis.
Stellen Sie sich nur vor: Arsène Lupin schleicht in den Kabinengängen eines Dampfers auf der Transatlantikroute umher; in diesem winzigen stählernen Winkel der Welt, vielleicht im Speisesaal, im Rauchsalon oder im Musikzimmer? Arsène Lupin war vielleicht dieser Gentleman dort drüben … oder jener auf dem Promenadendeck … mein Tischnachbar beim Captain‘s Dinner … der Mitbewohner meiner Außenkabine!
»Und dieser Zustand wird fünf Tage andauern!«, rief Miss Nelly Underdown am nächsten Morgen anklagend. »Es ist unerträglich! Ich hoffe, dieser Erzschurke wird verhaftet.«
Dann, an mich gerichtet, fügte sie hinzu: »Und Sie, Monsieur d’Andrézy, sind ja mit dem Kapitän eng befreundet. Sie wissen doch sicher etwas mehr als die übrigen Mitreisenden?«
Ich hätte mich gefreut, wenn ich Informationen gehabt hätte, die Miss Nelly interessiert hätten. Sie war eines jener prächtigen Geschöpfe, die in jeder Gesellschaft unweigerlich die Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Reichtum und Schönheit bilden erfahrungsgemäß eine unwiderstehliche Kombination, und Nelly besaß beides im Übermaß.
In Paris unter der Aufsicht ihrer französischen Mutter erzogen, war sie nun auf dem Weg zu ihrem Vater, dem Millionär Underdown aus Chicago. Sie wurde auf ihrem Weg über den Atlantik von einer ihrer Freundinnen, Lady Jerland, begleitet.
Zuerst hatte ich vor, einen Flirt mit ihr zu beginnen. Aber in der zunehmenden Vertrautheit zwischen uns war ich bald von ihrer charmanten Art sehr beeindruckt, und meine Gefühle wurden zu tief und ehrfürchtig für eine oberflächliche Liebelei. Außerdem zeigte sie mir auch eine gewisse Zuneigung, die ich nicht leichtfertig verscherzen wollte. Sie ließ sich dazu herab, über meine kleinen Späße zu lachen und Interesse an meinen Geschichten zu zeigen. Dennoch fühlte ich, dass ich einen Rivalen in der Person eines jungen Mannes mit ruhigem und raffiniertem Geschmack hatte. Es fiel mir manchmal auf, dass sie seinen wortkargen Humor meiner Pariser Frivolität vorzog. Er gehörte zu dem Kreis von Bewunderern, der Miss Nelly zu dem Zeitpunkt umgab, als sie die Frage über Lupin an mich richtete. Wir hatten es uns in unseren Liegestühlen an Deck bequem gemacht. Der Sturm vom Vorabend hatte den Himmel aufklaren lassen. Das Wetter war jetzt herrlich.
»Ich weiß es nicht genau, Mademoiselle«, entgegnete ich, »aber können nicht wir selbst das Geheimnis genauso gut untersuchen wie der Kriminalpolizist Ganimard, der persönliche Feind von Arsène Lupin?«
»Oh, wirklich? Sie sind ja sehr ehrgeizig, Monsieur.«
»Ganz und gar nicht, Mademoiselle. Zunächst einmal möchte ich fragen, ob Sie das Problem für eine Herausforderung halten.«
»Für sehr herausfordernd, würde ich sagen«, meinte sie lachend.
»Denken Sie doch an den Schlüssel, den wir für die Lösung des Problems haben.«
»Von welchem Schlüssel sprechen Sie?«
»Ich meine natürlich die telegrafische Nachricht. Erster Punkt: Lupin nennt sich Monsieur R---.«
»Das ist eine eher vage Information«, antwortete sie.
»Zweiter Punkt: Er reist allein.«
»Hilft Ihnen das?«, fragte Miss Nelly skeptisch.
»Dritter Punkt: Er ist blond.«
»Nun gut – und weiter?«
»Jetzt müssen wir nur die Passagierliste durchschauen und nach dem Ausschlussverfahren vorgehen.«
Ich hatte tatsächlich die Liste der ersten Klasse in meiner Tasche. Ich nahm sie heraus und blätterte sie durch. Dann bemerkte ich: »Offenbar stehen auf der Passagierliste nur dreizehn Männer, deren Namen mit dem Buchstaben R beginnen.«
»Nur dreizehn?«
»Ja, zumindest in der ersten Klasse. Und von diesen dreizehn werden neun von Ehefrauen, Kindern oder Bediensteten begleitet. Damit bleiben nur noch vier Gentlemen, die allein reisen. Erstens, der Marquis de Raverdan …«
»Er ist der Sekretär des amerikanischen Botschafters«, unterbrach Miss Nelly mich sofort. »Ich kenne ihn.«
»Dann wäre da noch Major Rawson«, meinte ich.
»Er ist mein Onkel«, sagte jemand.
»Und wer ist Monsieur Rivolta?«
»Ich bin hier!«, rief ein Italiener, dessen Gesicht unter einem schweren schwarzen Bart verborgen war.
Miss Nelly brach in Gelächter aus und rief: »Was für ein herrlicher Bart. Diesen Herrn kann man wohl kaum als blond bezeichnen!«
»Nun gut«, sagte ich, »wir sind zu der Schlussfolgerung gezwungen, dass der letzte auf der Liste unser Verdächtiger ist.«
»Wie lautet sein Name?«
»Er heißt Monsieur Rozaine. Kennt ihn jemand?«
Es kam keine Antwort. Aber Miss Nelly wandte sich an den schweigsamen jungen Mann, dessen Aufmerksamkeiten ihr gegenüber mich verärgert hatten, und sagte: »Nun, Monsieur Rozaine, warum sagen Sie nichts?«
Es wurde plötzlich totenstill, alle Augen waren nun auf ihn gerichtet. Er war ein Blondschopf. Ich muss gestehen, dass ich selbst einen regelrechten Schock bekam, und auch die anderen Anwesenden wirkten zutiefst beunruhigt. Der junge Mann gab sich jedoch vollkommen unschuldig.
»Warum ich nichts darauf antworte?«, fragte er. »Nun, weil ich aufgrund meines Namens, meines Status als Alleinreisender und meiner Haarfarbe bereits zu derselben Überlegung gekommen bin und nun denke, dass ich verhaftet werden sollte.«
Monsieur Rozaine wirkte seltsam, als er diese Worte aussprach. Seine dünnen Lippen hatte er stärker aufeinander gepresst als sonst, und sein Gesicht war ziemlich blass – während seine Augen blutunterlaufen waren. Natürlich machte er einen Witz, doch sein Auftreten und seine Haltung kamen uns merkwürdig vor.
»Aber Sie sind doch gar nicht verletzt?«, fragte Fräulein Nelly mit gespielter Naivität.
»Das ist wahr«, antwortete er, »mir fehlt die Wunde.«
Mit diesen Worten zog er seinen Ärmel hoch, nahm die Manschette ab und zeigte uns seinen Arm. Diese Aktion konnte jedoch weder Fräulein Nelly noch mich täuschen. Wir tauschten einen irritierten Blick aus. Er hatte uns nämlich seinen linken Arm gezeigt. Doch gerade als ich ihn darauf aufmerksam machen wollte, nahm ein anderer Vorfall unsere ganze Aufmerksamkeit in Anspruch. Lady Jerland, Miss Nellys Freundin, kam in heller Aufregung auf uns zugerannt und rief entsetzt: »Meine Juwelen, meine Perlen! Jemand hat sie alle gestohlen!«
Nein, sie waren nicht restlos verschwunden, wie wir bald herausfanden. Der Dieb hatte nur einen Teil von ihnen mitgenommen: Er hatte sorgsam ausgewählt – eine sehr merkwürdige Tatsache.
Aus der sternförmigen Diamantbrosche, aus dem Rubin-Anhänger, aus den Colliers und Armbändern hatte er nicht die größten, sondern die feinsten und kostbarsten Steine herausgebrochen. Es waren die, wie es schien, die am wertvollsten waren und doch am wenigsten Platz in Anspruch nahmen. Die leeren Fassungen lagen noch auf dem Tisch. Ich sah sie, wir alle sahen sie, ihres Schmucks beraubt wie Blumen, denen die schönen, funkelnden, bunten Blütenblätter ausgerissen worden waren.
Und dieser Diebstahl musste begangen worden sein, als Lady Jerland gerade ihren Tee zu sich nahm: Am helllichten Tag, in einer Kabine, die auf einen stark frequentierten Korridor hinausging. Außerdem war der Dieb gezwungen gewesen, die Tür der Kabine aufzubrechen, nach dem Schmuckkästchen zu suchen, das auf dem Boden einer Hutschachtel versteckt war, es zu öffnen, seine Beute herauszusuchen und die Steine aus den Fassungen zu brechen.
Natürlich kamen alle Passagiere sofort zu demselben Schluss: Es musste das Werk von Arsène Lupin gewesen sein!
An diesem Tag blieben beim Abendessen die Plätze rechts und links von Rozaine frei. Im Laufe des Abends wurde gemunkelt, dass der Kapitän ihn unter Arrest gestellt hatte, was ein Gefühl der Sicherheit und Erleichterung hervorrief. Wir atmeten alle auf.
Später setzten wir unsere Spiele und Tänze fort. Besonders Miss Nelly war sehr fröhlich. Scheinbar konnte sie Rozaines Aufmerksamkeiten, die ihr anfangs so gefallen hatten, problemlos vergessen. Ihr Charme und ihre gute Laune verstärkten meine Gefühle für sie nur noch. Um Mitternacht, im hellen Mondlicht, offenbarte ich Miss Nelly meine Gefühle mit einer Leidenschaft, die ihr nicht zu missfallen schien.
Aber am nächsten Tag war Rozaine zu unserem allgemeinen Erstaunen wieder auf freiem Fuß. Wir erfuhren, dass die Beweise gegen ihn nicht ausreichend waren. Er hatte ganz reguläre Dokumente vorgelegt, aus denen hervorging, dass wir es mit dem Sohn eines wohlhabenden Kaufmanns aus Bordeaux zu tun hatten. Außerdem wiesen seine Arme nicht die geringste Spur einer Verletzung auf.
»Ha – Dokumente und Geburtsurkunden!«, tönten diejenigen, die Rozaine nicht wohlgesonnen waren. »Natürlich, Arsène Lupin wird Ihnen so viele ausstellen, wie Sie wünschen. Und was die Wunde angeht, so hatte er sie entweder nie, oder sie ist bereits verheilt.«
Dann wurde festgestellt, dass Rozaine zum Zeitpunkt des Diebstahls auf dem Deck spazieren war. Worauf seine Feinde erwiderten, dass ein Mann wie Arsène Lupin ein Verbrechen begehen könne, ohne tatsächlich anwesend zu sein. Und dann blieb, abgesehen von allen anderen Umständen, ein Punkt, den auch der größte Skeptiker nicht beantworten konnte: Wer, außer Rozaine, war allein unterwegs, hatte blondes Haar und trug einen Namen, der mit ‚Rʻ begann? Wenn es nicht Rozaine war – auf wen wies die telegrafische Warnung dann eigentlich hin?
Und als Rozaine ein paar Minuten vor dem Frühstück kühn auf unsere Gruppe zukam, standen Miss Nelly und Lady Jerland hastig auf und gingen weg. Sie schienen regelrecht Angst vor Rozaine zu haben.
Eine Stunde später wurde unter den Matrosen, den Stewards und den Passagieren aller Klassen ein handschriftlicher Rundbrief weitergereicht. Darin stand, dass Monsieur Louis Rozaine eine Belohnung von zehntausend Francs für die Entdeckung von Arsène Lupin aussetzte – oder einer anderen Person, die im Besitz der gestohlenen Juwelen war.
»Und wenn mir niemand hilft, werde ich den Schurken selbst entlarven«, fügte Rozaine uns gegenüber hinzu.
Also hieß es jetzt: Rozaine gegen Arsène Lupin? Oder vielmehr – so die gängige Meinung auf dem Schiff – Arsène Lupin gegen Arsène Lupin selbst? Das Duell versprach in jedem Fall interessant zu werden.
In den nächsten zwei Tagen geschah nichts. Wir sahen Rozaine umherwandern, Tag und Nacht, suchend, fragend, forschend. Auch der Kapitän zeigte lobenswerte Tatkraft – er ließ das Schiff vom Bug bis zum Heck durchsuchen. Matrosen durchwühlten jede Kabine. Es gab die plausible Theorie, dass die Juwelen überall versteckt sein könnten, außer in der Kabine des Diebes selbst.
»Ich nehme an, dass sie bald etwas herausfinden werden«, meinte Miss Nelly zu mir. »Dieser Ganove mag ein Zauberer sein, aber er kann keine Diamanten und Perlen unsichtbar machen.«
»Gewiss nicht«, antwortete ich, »aber man sollte das Futter unserer Hüte und Westen und alles, was wir bei uns tragen, ebenfalls untersuchen.«
Dann zeigte ich meinen Fotoapparat – ein kleinformatiges 9 x 12 Gerät der Marke Kodak, mit der ich die Damen bereits in verschiedenen Posen fotografiert hatte – und fügte hinzu: »In einem Apparat von dieser Größe könnte eine Person alle Juwelen von Lady Jerland verstecken. Man könnte vorgeben, Fotos zu machen, und niemand würde zwielichtige Machenschaften vermuten.«
»Aber heißt es nicht, dass jeder Dieb Spuren hinterlässt?«
»Das mag im Allgemeinen zutreffen«, antwortete ich, »aber es gibt eine Ausnahme: Arsène Lupin.«
»Warum ist das so?«
»Weil er seine Gedanken nicht nur auf den Diebstahl, sondern auf alle damit verbundenen Umstände konzentriert, die als Hinweis auf seine Identität dienen könnten.«
»Vor ein paar Tagen waren Sie noch zuversichtlich, Lupin schnappen zu können.«
»Ja, doch inzwischen habe ich ihn bei der Arbeit gesehen.«
»Und was denken Sie jetzt darüber?«, fragte sie.
»Nun, meiner Meinung nach verschwenden wir unsere Zeit.«
Und in der Tat hatte die Untersuchung kein Ergebnis gebracht. Mittlerweile war die Taschenuhr des Kapitäns gestohlen worden. Er raste vor Wut, verstärkte seine Bemühungen und beobachtete Rozaine noch genauer als zuvor. Am nächsten Tag wurde die Uhr in der Koje des zweiten Offiziers gefunden.
Dieser Vorfall sorgte für großes Erstaunen und zeigte die humorvolle Seite von Arsène Lupin, der zwar ein Einbrecher, aber auch ein Schelm war. Er verband das Geschäftliche mit dem Angenehmen. Der Ganove erinnerte uns an den Autor, der an einem durch sein eigenes Stück ausgelösten Lachanfall fast gestorben wäre. Gewiss, Lupin war in seinem Metier ein Künstler, und wann immer ich Rozaine sah, düster und zurückhaltend, und an die Doppelrolle dachte, die er spielte, konnte ich ein gewisses Maß an Bewunderung nicht unterdrücken.
Am folgenden Abend hörte der diensthabende Deckoffizier ein Stöhnen, das aus der dunkelsten Ecke des Schiffes kam. Er näherte sich und fand dort einen Mann liegen, dessen Kopf in einen dicken grauen Schal gehüllt und dessen Hände mit einer schweren Schnur zusammengebunden waren. Es handelte sich um Rozaine. Man hatte ihn angegriffen, zu Boden geworfen und ausgeraubt. Auf einem Zettel, der an seinen Mantel geheftet war, standen folgende Worte: »Arsène Lupin nimmt gerne die zehntausend Francs an, die Monsieur Rozaine für ihn ausgeben möchte.« Tatsächlich hatten sich in der gestohlenen Brieftasche aber zwanzigtausend Francs befunden.
Natürlich beschuldigten einige den unglücklichen Mann, diesen Angriff auf sich selbst simuliert zu haben. Aber abgesehen davon, dass er sich nicht auf diese Weise gefesselt haben konnte, wurde festgestellt, dass die Handschrift auf der Karte völlig anders war als jene von Rozaine selbst. Sie ähnelte stattdessen der Handschrift von Arsène Lupin, wie sie in einer alten, an Bord gefundenen Zeitung nachgedruckt war.
So stellte sich nun endgültig heraus, dass Rozaine nicht Arsène Lupin war, sondern der Sohn eines Kaufmanns aus Bordeaux. Und die Anwesenheit von Arsène Lupin auf dem Schnelldampfer wurde durch diesen Zwischenfall noch einmal bestätigt, und zwar auf höchst beunruhigende Weise.
Die Angst unter den Passagieren war so groß, dass keiner allein in einer Kabine bleiben oder sich ohne Begleitung in einsamen Bereichen des Schiffes bewegen wollte. Wir klammerten uns aus Sicherheitsgründen aneinander. Und doch entfremdete ein gegenseitiges Gefühl des Misstrauens die innigsten Bekanntschaften zwischen den Passagieren. Jeder Mann an Bord konnte Arsène Lupin sein. In unserer Verwirrung schrieben wir ihm wundersame und unbegrenzte Macht zu. Wir hielten ihn für fähig, die unerwartetsten Verkleidungen anzunehmen – abwechselnd der hochangesehene Major Rawson oder der edle Marquis de Raverdan zu sein, oder sogar – wir hielten uns nicht länger mit dem Buchstaben R auf – eine beliebige andere Person. Mit anderen Worten: jeder von uns konnte es sein.
Die ersten Funksprüche aus Amerika brachten keine Neuigkeiten; jedenfalls teilte uns der Kapitän keine mit. Die Stille war beunruhigend.
Unser letzter Tag auf dem Dampfer schien unendlich lang zu sein. Wir lebten in ständiger Angst vor irgendeiner Katastrophe. Diesmal wäre es sicher kein einfacher Diebstahl oder ein vergleichsweise harmloser Überfall. Auch ein Mord schien plötzlich denkbar. Niemand konnte sich vorstellen, dass Arsène Lupin sich auf diese beiden Bagatelldelikte beschränken würde. Wir betrachteten ihn jetzt als den absoluten Herrn des Schiffes. Die Besatzung schien machtlos. Unser Eigentum und unser Leben waren ihm ausgeliefert.
Dennoch genoss ich diese Stunden, da sie mir die Aufmerksamkeit von Miss Nelly sicherten. Tief bewegt und beunruhigt von diesen erschütternden Ereignissen suchte sie spontan an meiner Seite Schutz und Geborgenheit, die ich ihr selbstverständlich gerne bot. Innerlich segnete ich Arsène Lupin. War er nicht der unfreiwillige Vermittler, der mich und Miss Nelly einander näher brachte? Dank ihm konnte ich nun in köstlichen Träumen von Liebe und Glück schwelgen – Träume, die, wie ich spürte, für Miss Nelly nicht unwillkommen waren. Der heitere Blick ihrer schönen Augen und die Sanftheit ihrer Stimme ließen mich hoffen.
Als wir uns der amerikanischen Küste näherten, wurde die aktive Suche nach dem Dieb offenbar aufgegeben. Wir warteten gespannt auf den entscheidenden Moment, in dem das mysteriöse Rätsel aufgeklärt werden würde. Wer war Arsène Lupin? Unter welchem Namen, unter welcher Verkleidung verbarg sich der berühmte Gentleman-Gauner? Und endlich kam der große Moment. Auch wenn ich hundert Jahre alt werden sollte, werde ich bis zum letzten Moment nicht das kleinste Detail davon vergessen.
»Wie blass Sie plötzlich sind, Miss Nelly«, sagte ich zu meiner Begleiterin, als sie sich an meinen Arm lehnte und fast in Ohnmacht fiel.
»Und Sie!«, gab die schöne junge Frau zurück, »Sie kommen mir so verändert vor …«
»Nun, dies ist ein höchst aufregender Moment, und ich freue mich, ihn mit Ihnen zu verbringen, Miss Nelly. Ich hoffe, dass Sie sich gelegentlich daran erinnern werden.«
Aber sie hatte nicht zugehört. Miss Nelly war nervös und aufgeregt. Die Gangway wurde in Position gebracht, aber bevor wir sie benutzen konnten, kamen die uniformierten Zollbeamten an Bord. Meine Begleiterin murmelte: »Es würde mich nicht überraschen zu hören, dass Arsène Lupin während der Überfahrt vom Schiff geflohen ist.«
»Vielleicht zog er den Tod der Schande vor und stürzte sich lieber in den Atlantik, als verhaftet zu werden«, schlug ich vor.
»Oh, spotten Sie nicht«, sagte sie.
Ich lachte und antwortete auf ihre ursprüngliche Frage: »Sehen Sie den kleinen alten Mann, der am Ende der Gangway steht?«
»Sie meinen den Knirps mit dem Regenschirm und dem olivgrünen Mantel?«
»Richtig, Teuerste. Das ist Ganimard.«
»Der Ganimard?«
»Ja, der berühmte Kriminalbeamte, der geschworen hat, Arsène Lupin zu fangen. Ah! Ich kann jetzt verstehen, warum wir keine Nachrichten von dieser Seite des Atlantiks erhalten haben. Ganimard war bereits hier! Und er hält seine Vorhaben immer geheim.«
»Sie glauben also, dass er Arsène Lupin verhaften wird?«
»Wer kann das schon so genau sagen? Es passiert immer etwas Unerwartetes, wenn Arsène Lupin in eine Angelegenheit verwickelt ist.«
»Oh, tatsächlich?«, rief sie mit jener morbiden Neugier aus, die manchen Frauen eigen ist. »Ich würde gerne seine Verhaftung miterleben.«
»Sie werden sich gedulden müssen. Zweifellos hat Arsène Lupin seinen Feind schon gesehen und wird es nicht eilig haben, den Dampfer zu verlassen.«
Die ersten Passagiere gingen nun an Land. Ganimard stützte sich auf seinen Regenschirm und schien der Menge, die die Gangway hinuntereilte, keine Aufmerksamkeit zu schenken. Der Marquis de Raverdan, Major Rawson, der Italiener Rivolta und viele andere hatten das Schiff bereits verlassen, bevor Rozaine erschien. Die Spannung stieg.
»Vielleicht ist er ja doch der Erzschurke«, mutmaßte Miss Nelly. »Was denken Sie?«
»Ich würde es sehr interessant finden, Ganimard und Rozaine zusammen auf einem Bild zu haben. Könnten Sie bitte kurz die Kamera nehmen und ein Foto machen? Ich habe leider beide Hände voll mit Gepäck.«
Ich gab ihr meinen Apparat, aber es war zu spät, ihn zu benutzen. Rozaine hatte den Polizisten bereits passiert. Ein amerikanischer Offizier, der hinter Ganimard stand, beugte sich vor und flüsterte ihm ins Ohr. Der französische Inspektor zuckte mit den Schultern, und Rozaine ging weiter. Und wo war Arsène Lupin?
»Ja«, sagte Miss Nelly laut, als hätte sie meine Gedanken gelesen, »wer kann es sein?«
Es befanden sich nur noch etwa zwanzig Personen an Bord. Sie musterte sie einen nach dem anderen und schien zu befürchten, dass Arsène Lupin nicht unter ihnen war.
»Wir können nicht viel länger warten«, sagte ich zu ihr.
Miss Nelly bewegte sich auf die Gangway zu. Ich folgte.
Aber wir waren noch keine zehn Schritte gegangen, als Ganimard uns den Weg versperrte.
»Nun, was gibt es denn?«, sagte ich.
»Einen Moment, Monsieur. Warum haben Sie es so eilig?«
»Ich begleite Mademoiselle«, erwiderte ich und deutete auf Miss Nelly.
»Einen Moment noch«, wiederholte er in autoritärem Ton. Dann blickte der Kriminalist mir in die Augen und fragte: »Arsène Lupin, nicht wahr?«
Ich lachte und antwortete: »Nein, mein Name ist Bernard d’Andrézy.«
»Bernard d’Andrézy starb vor drei Jahren in Mazedonien.«
»Wenn Bernard d’Andrézy tot wäre, stünde ich nicht hier. Aber Sie irren sich. Hier sind meine Papiere.«
»Sie gehören dem Toten; und ich kann Ihnen genau sagen, wie sie in Ihren Besitz gekommen sind.«
»So ein Unfug!«, rief ich. »Arsène Lupin reiste unter dem Namen R---!«
Der Kriminalist erwiderte: »Ja, ein weiterer Ihrer Tricks: eine falsche Fährte, die Sie in Le Havre legten. – Sie spielen ein gewagtes Spiel, aber dieses Mal meint es das Glück nicht gut mit Ihnen.«
Ich zögerte einen Moment. Dann versetzte Ganimard mir einen scharfen Schlag auf den rechten Arm, der mich einen Schmerzensschrei ausstoßen ließ. Er hatte auf die im Telegramm erwähnte und noch nicht verheilte Wunde geschlagen.
Ich war gezwungen, mich zu ergeben. Es gab keine Alternative. Ich wandte mich an Miss Nelly, die alles mit angehört hatte. Unsere Blicke trafen sich; dann schaute sie auf den Fotoapparat, den ich ihr in die Hand gedrückt hatte und machte eine unmissverständliche Geste – Sie hatte alles verstanden. Denn dort, zwischen den engen Falten des schwarzen Leders, in der hohlen Mitte des kleinen Gegenstandes, den ich vorsichtshalber in ihre Hände gelegt hatte, waren Rozaines zwanzigtausend Francs und Lady Jerlands Perlen und Diamanten deponiert.
In dem Augenblick, als Ganimard und seine amerikanischen Kollegen mich verhafteten, war mir meine Festnahme ebenso egal wie die Feindseligkeit der Umstehenden. Mich beschäftigte eigentlich nur die Frage, was Miss Nelly mit der Beute anfangen würde, die ich ihr vorausschauend anvertraut hatte.
In Ermangelung von schlüssigen Beweisen gegen mich hatte ich nicht viel zu befürchten. Aber würde Miss Nelly sich dazu entschließen, dem Inspektor die Kamera zu geben? Ob sie mich verraten würde? Würde sie zu einer unnachgiebigen Feindin werden oder mir womöglich sogar Nachsicht und Sympathie entgegenbringen?
Sie ging scheinbar unbeeindruckt vor mir vorbei. Ich sagte nichts, verbeugte mich aber sehr tief. Unter die anderen Passagiere gemischt, begab sie sich mit meiner Kamera in der Hand zur Gangway. Es kam mir in den Sinn, dass sie es vielleicht nicht wagen würde, mich öffentlich bloßzustellen, aber sie könnte es möglicherweise später tun. Als sie jedoch den Pier erreicht hatte, ließ sie mit gespielter Unbeholfenheit die Kamera ins Wasser zwischen Schiff und Piermauer fallen. Dann eilte sie davon, und ich verlor sie aus den Augen. Sie war aus meinem Leben verschwunden.
Einen Moment lang stand ich regungslos da. Dann, zu Ganimards großem Erstaunen, murmelte ich: »Wie schade, dass ich kein ehrlicher Mann bin!«
***
Das ist die Geschichte seiner Verhaftung in New York, wie sie mir von Arsène Lupin selbst an einem Winterabend erzählt wurde. Seine weiteren Erzählungen, die ich später schriftlich festhalten werde, haben zwischen uns gewisse Bindungen geschaffen … soll ich gar von Freundschaft sprechen? Ja, ich wage zu glauben, dass Arsène Lupin mich als seinen Freund ansieht, und dass er deshalb öfters seinen jugendlichen Überschwang und seine Fröhlichkeit in die Stille meiner Bibliothek mitbringt.
Es interessiert Sie, wie er wirklich aussieht? Wie kann ich ihn beschreiben? Ich habe ihn hundertmal gesehen und jedes Mal war er ein anderer Mensch. Er selbst sagte sogar einmal zu mir: »Ich weiß nicht mehr, wer ich bin. Ich kann mich kaum im Spiegel erkennen.«
Gewiss, er ist ein großer Schauspieler und besitzt die wunderbare Gabe, sich so zu verkleiden, dass man ihn nicht erkennt. Ohne die geringste Anstrengung kann er die Stimme, Gestik und Körpersprache einer anderen Person annehmen.
»Warum«, sagte er, »sollte ich eine bestimmte Form und Eigenschaft beibehalten? Ist es nicht sinnvoller, die Merkmale einer immer gleichen Persönlichkeit zu vermeiden? Meine Handlungen werden mich identifizieren, nichts anderes.«
Dann fügte er mit einem Hauch von Stolz hinzu: »Es ist umso besser, wenn niemand jemals mit absoluter Sicherheit sagen kann: Das ist Arsène Lupin! Der wesentliche Punkt ist, dass die Öffentlichkeit auf meine Arbeit schauen und unbeirrt sagen kann: Das hat Arsène Lupin getan!«
Es gibt wohl keinen Frankreich-Touristen, der das Tal der Seine nicht kennt und dort nicht schon spazieren gegangen ist. Zwischen Jumièges und den Ruinen von Saint-Wandrille befindet sich das seltsame kleine Schloss Malaquis, das stolz auf einem Felsen mitten im Fluss thront. Die steinernen Bogen einer alten Brücke verbinden es mit der Uferstraße. Das Fundament seiner Ecktürme verschmilzt mit dem Granit, der es trägt. Der Felsen ist ein riesiger dunkler Block, der wohl durch ein gewaltiges Naturereignis an diese Stelle im Fluss geschleudert wurde. Ringsum strömt das ruhige Wasser des großen Flusses friedlich durchs Schilf, und die Bachstelzen flattern über die feuchten Steine.
Die Geschichte der Burg Malaquis ist so stürmisch wie ihr Name und so rau wie ihre Umrisse. Sie hat eine lange Reihe von Kämpfen, Belagerungen, Überfällen und Massakern hinter sich. Eine Aufzählung der Verbrechen, die dort begangen wurden, würde das mitleidloseste Herz schneller schlagen lassen. Es gibt viele geheimnisvolle Legenden, die mit dem Schloss verbunden sind. Sie erzählen von einem geheimen unterirdischen Tunnel, der einst zur Abtei von Jumièges und zum Herrenhaus von Agnes Sorel, der Mätresse von Karl VII., führte.
In der alten Behausung der Helden und Räuber lebte inzwischen der Baron Nathan Cahorn, oder Baron Satan, wie er früher an der Börse genannt wurde. Dort hatte er nämlich mit teuflischer Schnelligkeit ein stattliches Vermögen zusammengerafft. Als die völlig ruinierten Herren von Malaquis gezwungen gewesen waren, die alte Burg unter großen Verlusten zu verkaufen, war Cahorn ein dankbarer Abnehmer gewesen. Das ehrwürdige Gebäude beherbergte eine bewundernswerte Sammlung von Möbeln, Bildern, Holzschnitzereien und Fayencen. Der Baron lebte dort nun allein, und nur drei alte Diener kümmerten sich um sein Wohlergehen. Niemand betrat jemals diesen Ort. Kein Mensch hatte je die drei Rubens-Gemälde gesehen, die er besaß. Ganz zu schweigen von seinen zwei Watteaus, der Jean-Goujon-Kanzel und den vielen anderen Kostbarkeiten, die er mit beträchtlichem Geldeinsatz bei öffentlichen Versteigerungen erworben hatte.
Der Baron Satan lebte in ständiger Angst – nicht um sich selbst, sondern um die Wertgegenstände, die er mit so viel Hingabe und Scharfsinn angehäuft hatte. Er liebte sie so innig wie ein Geizhals sein Geld und so eifersüchtig wie ein Liebhaber sein Liebchen. Jeden Tag wurden bei Sonnenuntergang die Eisentore an beiden Enden der Brücke und am Eingang zum Ehrenhof geschlossen und verriegelt. Bei der geringsten Berührung dieser Tore läuteten im ganzen Schloss elektrische Glocken.
An einem Donnerstag im September erschien ein Briefträger an der Brückenpforte, und wie üblich war es der Baron selbst, der das schwere Tor einen Spalt weit öffnete. Er musterte den Mann so genau, als wäre er ein Fremder, obwohl das ehrliche Gesicht und die funkelnden Augen des Postboten dem Baron seit vielen Jahren vertraut waren. Der Mann lachte, als er sagte: »Ich bin es nur, Monsieur le Baron. Es ist kein Anderer, der meine Mütze und Uniformjacke trägt.«
»Das kann man nie wissen«, murmelte der Baron misstrauisch.
Der Postbote reichte ihm eine Anzahl von Zeitungen. Er bemerkte: »Und nun, Monsieur le Baron, habe ich noch etwas Neues für Sie.«
»Etwas Neues?«
»Ja, einen Brief. Ein Einschreiben, genauer gesagt.«
Der Baron lebte als Einsiedler, ohne Freunde und Geschäftsbeziehungen. Er erhielt nie Briefe, und jener, der ihm nun vorgelegt wurde, erweckte in ihm sofort ein Gefühl des Argwohns und des Misstrauens. Es war wie ein böses Omen. Wer war dieser mysteriöse Absender, der es wagte, die Ruhe seines Rückzugsortes zu stören?
»Sie müssen dafür unterschreiben, Monsieur le Baron.«
Er kritzelte seinen Namen auf das amtliche Dokument und nahm den Brief entgegen. Dann wartete er, bis der Postbote hinter der Straßenbiegung verschwunden war, und nach einigen Minuten des nervösen Umherlaufens lehnte er sich an die Brückenbrüstung und öffnete den Umschlag. Er enthielt einen Briefbogen mit folgender Adresse: Gefängnis la Santé, Paris. Unterschrieben hatte kein anderer als Arsène Lupin, der Gentleman-Gauner.
Der Inhalt lautete:
»Monsieur le Baron,
in der Galerie Ihres Schlosses befindet sich ein Bild von Philippe de Champaigne, das von exquisiter Ausführung ist und mir über alle Maßen gefällt. Auch Ihre Rubens-Gemälde sind nach meinem Geschmack, ebenso wie Ihr kleiner Watteau. Im Salon auf der rechten Seite habe ich den Serviertisch von Ludwig XIII., die Wandteppiche von Beauvais, das Empire-Tischchen mit der Signatur Jacob und die Renaissance-Truhe bemerkt. Im linken Salon befindet sich ein ganzes Kabinett voller Juwelen und Miniaturen.
Vorerst begnüge ich mich mit den Gegenständen, die sich bequem mitnehmen lassen. Ich bitte Sie daher, diese sorgfältig zu verpacken und mir innerhalb von acht Tagen zum Bahnhof von Batignolles zu schicken. Andernfalls werde ich gezwungen sein, sie in der Nacht vom 27. September selbst abzutransportieren. Aber unter diesen Umständen werde ich mich nicht mit den oben genannten Artikeln begnügen.
Ich entschuldige mich für die Unannehmlichkeiten, die ich Ihnen bereite, und betrachte mich als Ihr ergebener Diener, Arsène Lupin.
P.S. – Bitte senden Sie mir nicht den größeren Watteau. Obwohl Sie dreißigtausend Francs dafür bezahlt haben, handelt es sich um eine Kopie. Das Original ist leider während einer Nacht der Gewalt in den Revolutionswirren von 1796 verbrannt. Konsultieren Sie freundlichst die Memoiren von Garat, falls Sie mir nicht glauben.
Und ich mache mir auch nichts aus dem Louis-XV.-Kandelaber, da ich seine Echtheit bezweifle.«
Dieser Brief brachte den Baron völlig aus der Fassung. Hätte er eine andere Unterschrift getragen, wäre er sehr beunruhigt gewesen – aber der Namenszug am Ende stammte tatsächlich von Arsène Lupin!
Als gewohnheitsmäßiger Zeitungsleser war er mit der Geschichte der jüngsten Verbrechen vertraut und kannte daher auch die Untaten des mysteriösen Einbrechers. Natürlich wusste der Baron, dass Lupin in New York von seinem Feind Inspektor Ganimard verhaftet worden war und derzeit im Gefängnis la Santé einsaß. Aber ihm war ebenfalls bekannt, dass man von Arsène Lupin die ungewöhnlichsten Dinge erwarten konnte. Außerdem war seine genaue Kenntnis des Schlosses sowie der Standorte von Bildern und Möbeln äußerst alarmierend. Wie konnte Lupin Informationen über Dinge haben, die niemand je gesehen hatte?
Der Baron hob den Blick und betrachtete die strengen Umrisse der einsamen Felsenburg, den steilen Felssockel und die Tiefe des umgebenden Wassers. Er zuckte mit den Schultern. Es bestand doch eigentlich keine Gefahr. Niemand auf der Welt konnte sich mit Gewalt Zutritt zu diesem Heiligtum verschaffen, das seine unschätzbar wertvollen Sammlungen enthielt.
Niemand, außer vielleicht Arsène Lupin! Tore, Mauern und Zugbrücken existierten für ihn nicht. Was nützten die gewaltigsten Hindernisse oder die sorgfältigsten Vorsichtsmaßnahmen, wenn Arsène Lupin beschlossen hatte, sich Zutritt zu verschaffen?
Am Abend schrieb der Baron an den Magistrat in Rouen.