Artgerecht leben - Johannes Liess - E-Book

Artgerecht leben E-Book

Johannes Liess

0,0
10,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Die unglaubliche Geschichte eines Bürgers, der gegen alle behördlichen und institutionellen Widerstände seine Vision von einem artgerechteren Leben verwirklichte

Als Helmut Kohl 1990 von blühenden Landschaften für die neuen Bundesländer sprach, lebten noch über 200.000 Menschen mehr in Mecklenburg-Vorpommern als 2010. Der Bevölkerungsschwund traf auch das Dorf Lüchow, denn 2003 zählte es noch ganze vier Einwohner. Das änderte sich, als Johannes Liess mit seiner Familie dorthin zog und das Dorf zum Leben erweckte. Der Architekt setzte seine Vision von »blühender Landschaft« um, indem er zu Beginn eine Landschule gründete. Diese Initiative lockte Familien an. In seinem aufrüttelnden Buch stellt der Autor seine Idee vom artgerechten Leben in den Mittelpunkt. Er erzählt, was ihn dazu motivierte, ein Dorf zu retten, welche Steine ihm in den Weg gelegt wurden und warum es für jeden Menschen wichtig ist, einen Ort zu finden, an dem er sich entfalten kann. Er ermutigt dazu, unabhängig vom Staat die eigenen Träume umzusetzen. Denn Engagement lohnt sich auch im Kleinen und geht alle an. Ein Buch von beachtlicher gesellschaftspolitischer Relevanz.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 356

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Für alle, die noch Träume haben.Für alle, die versuchen, ihre Träume zu leben.Für Marie.

Lass es laufen den Berg hinunter.

Lass es laufen durchs Tal.

Gott hat dem Fluss diesen Weg gegeben, sicher tut er’s nicht noch mal.

Bitte lass ihn ungestört.

Das Wasser weiß selbst, wo es hingehört.

Die Liedtexte auf den folgenden Seiten sind von der Band Keimzeit.

Sie sind dem Album »Nachtvorstellung Live« entnommen.

Der Richtspruch ist von einer Gruppe Wandergesellen verfasst worden,

für die Errichtung unseres Werkstattgebäudes.

Inhaltsverzeichnis

WidmungPrologTraum trifft WirklichkeitArtgerecht lebenTräumen, planen, bauen, träumen, planen …Stein auf SteinMenschen, die noch Träume habenStädterromantik – und die FaktenUngeplant: ein ExkursFreunde und FeindeStarke Dörfer – ein KonzeptEpilogDanke!Copyright

Prolog

Soll ich dir vielleicht eine Geschichte erzählenoder Langhalsgiraffen imitieren?Wollen wir, wenn du willst,mit meinen Glasperlen spielen?Wenn du lachst, dann werd ich freiwillig verlieren.

Die Käfighaltung wird EU-weit verboten. Für Hühner. Damit soll ihnen ein artgerechtes Leben ermöglicht werden.

In riesigen Ställen dürfen sie dann auf dem Boden herumlaufen und Eier legen, und an glücklichen Tagen schaffen sie es auch mal für ein paar Stunden an die frische Luft.

Eine Behörde legt fest, was Hühner brauchen, um artgerecht leben zu können. Die Hühner werden nicht gefragt. Vielleicht träumen sie von einem großen Misthaufen, auf dem sich ein stolzer Hahn die Kehle nach ihnen wundkräht, von einer Dorfstraße, auf der sie mit ihren Küken spazieren gehen, ohne überfahren zu werden, und von frechen Kindern, von denen sie gefangen, geärgert, aber vor allem gestreichelt werden und für die sie auch am Sonntag mal ein Ei legen. Und jeden Nachmittag kommt eine Frau mit einem Eimer vorbei und verstreut leckere Körner.

Und der Traum geht noch weiter: Sind die Kinder nicht gerade mit den Hühnern beschäftigt, schöpfen sie für die Ponys Wasser aus dem Brunnen, helfen im großen Gemüsegarten Karotten zu verziehen oder spielen auf der Straße Räuberschach. Immer gut beaufsichtigt von den Alten, die unter der Dorfeiche sitzen, Kaffee trinken und frisch gebackene Zimtrollen vom Dorfbäcker probieren. Die Tage verlaufen im immer gleichen Rhythmus. Morgens rennen die Kinder über die Dorfwiese zur Schule, in der es nach frischen Brötchen riecht. Etwas später trotten die Kindergartenkinder hinterher. Der Tag beginnt. Die Erwachsenen machen sich an ihre Arbeit. Jeder macht hier, was er gut kann und gern tut, alle haben Arbeit und ein ausreichendes Einkommen. Am späten Vormittag kommt die Köchin und bereitet im Gemeinschaftshaus ein Mittagessen für alle zu. Die Schüler haben in der großen Pause noch schnell ein paar Kartoffeln geerntet. Um drei endet die Schule, ab jetzt sieht man frei laufende Kinder im Dorf. Achtung Hühner, die Kinder kommen!

Ein schöner Traum? Gewiss. Aber sieht unser Alltag auch nur annähernd so aus? Eher nicht. Doch könnte er so aussehen? Das habe ich mich gefragt, und das hat mein Leben ziemlich verändert. Letztlich ist es die Frage: Was bedeutet artgerechtes Leben für den Menschen?

Ganz am Anfang hatte ich diese Frage noch gar nicht im Sinn. Doch das Abenteuer nahm bereits seinen Lauf. Etwas blauäugig habe ich mir, zusammen mit meinen drei Geschwistern Dorothea, Hans-Christoph und Matthias, im Winter 1998/99 ein altes, völlig heruntergekommenes Bauernhaus gekauft, in einem kleinen, fast verlassenen Dorf am nördlichen Rand der Mecklenburger Schweiz. Wir hatten kein Geld und keine Ahnung, was wir da eigentlich taten, aber wir hatten viel Zeit. Gut zehn Jahre sind seither vergangen. Von den fünf Rentnern, die wir hier damals antrafen, leben heute nur noch zwei im Dorf, dafür aber viele neue Einwohner, die Hälfte davon sind Kinder. Fast alle damals leerstehenden Häuser sind wieder bewohnt und – bis auf unser altes Bauernhaus – auch vollständig saniert. Viele Arbeitsplätze sind mittlerweile entstanden, und an manchen Tagen habe ich das Gefühl, dass es hier ein paar Menschen geschafft haben, ihren Traum vom artgerechten Leben umzusetzen.

Was ist seit 1999 alles passiert?

Es war der wunderschöne Sommer 2003, wir wollten etwas in unserem Leben verändern und waren beinahe aus einer Laune heraus von Wien hierher umgezogen, um zu überlegen, wo und wie wir in Zukunft leben wollen. Zusammen mit meiner Frau und unseren zwei Kindern verbrachten wir drei sonnige Monate in dem alten Bauernhaus, dessen Zustand sich schon so weit verbessert hatte, dass wir es »unser Sommerhaus« nannten. Doch irgendwann wurden die Tage kürzer, die ersten Blätter bunter, und wir kamen einfach nicht los.

Wieso bleiben wir nicht noch eine Woche?

Oder bleiben wir einfach für immer?

An dem Tag, an dem wir in der Zeitung eine Anzeige für trockenes Brennholz fanden, zweiundzwanzig Euro pro Kubikmeter, war klar: Wir bleiben erst mal hier. Im Winter, bei minus zehn Grad, saßen wir dann mit zwei Kleinkindern dicht gedrängt um unseren einzigen funktionierenden Ofen und fassten drei Entschlüsse: Wenn wir hier dauerhaft wohnen wollen, brauchen wir erstens eine Wohnung, in der morgens nicht das Eis im Waschbecken steht, zweitens für unsere Kinder eine Schule im Dorf und drittens ein paar Spielkameraden für sie, denn unsere Kinder sollen nicht mit sich allein aufwachsen. Die Idee, eine Schule zu gründen und den eingeschlafenen Ort wieder zu beleben, wuchs auch im kommenden Winter weiter. Sie wuchs, bis daraus ein Konzept für ein »Starkes Dorf« entstand. Ein Dorf, das so gesund ist, dass es sich selbst versorgen kann. Ein Dorf, in dem die Grundbedürfnisse der Bewohner befriedigt werden, das den Anforderungen aller Generationen gerecht wird, in dem es genug Arbeit gibt und das Leben im Einklang mit der Natur verläuft … Der zweite Winter war vorbei und wir hatten große Pläne. Vielleicht war es ein Glück, dass wir damals nicht wussten, was bei deren Umsetzung alles auf uns zukommen würde.

Das Leben hier im Dorf hat sich in den sieben Jahren, die wir jetzt hier wohnen, auf jeden Fall ganz schön verändert. Während ich so darüber nachdenke, staune ich selbst: Hier gibt es jetzt einen Kindergarten, einen Hort, eine Schule, ein Gemeinschaftshaus, einen Dorfladen, im Bau befinden sich eine Pflanzenkläranlage, ein Kindergartenhaus, Ferienwohnungen, und auf dem Zeichentisch liegen die Pläne für ein Familienhaus mit generationenübergreifendem Wohnen, eine Gärtnerei und einen kleinen Bauernhof. Vieles hat sich so entwickelt, wie wir es uns vorgestellt hatten, vieles ist ganz anders gekommen.

Zu unseren bereits vorhandenen zwei Kindern bekamen wir noch zwei dazu. Die zwei älteren ziehen sich gerade warm an – heute Nacht gab es das erste Mal in diesem Herbst Frost. Wenn sie an ganz normalen Tagen zur Schule laufen, müssen sie nur den Dorfplatz überqueren. Unterwegs werden sie ein paar andere Dorfkinder treffen, ziemlich sicher Malte, meistens ist auch schon Sarah unterwegs. Unsere zwei Kleinen frühstücken noch. Wenn sie fertig sind, werden sie sich auf den Weg zum Kindergarten machen.

Meine Tage fangen früh an, gern setze ich mich schon um sieben Uhr an den Schreibtisch. Für mich ist das die beste Zeit, um in Ruhe vorzusortieren und zu arbeiten. Meine Mitarbeiter kommen erst gegen acht, und das Telefon klingelt um diese Zeit auch noch nicht und wenn doch, gehe ich nicht ran. Später treffe ich mich mit meiner Frau zum Frühstück. Heute wird es etwas später, da sie noch mit Katharina die Lebensmittel vom Biogroßhändler sortiert, die heute um vier Uhr früh geliefert wurden. Hoffentlich ist die Milch nicht gefroren. Sonst muss ich meinen Kaffee die ganze Woche schwarz trinken. Wenn die Flaschen einmal geplatzt sind, ist es vorbei.

Ich setze mich für ein paar Minuten vor die Haustür und schlürfe meinen frisch gemahlenen, dampfenden Kaffee, die Milch war nicht gefroren. Von hier kann ich fast das ganze Dorf überblicken. Direkt vor mir befindet sich die Schule. Das Herzstück unseres Projekts. Ohne diese Schule, die wir mit viel Mühe gegründet haben und seither mit vollem Einsatz päppeln, würden hier im Dorf nur noch zwei Rentner wohnen. Durch die Schule ist unser Dorf zu dem geworden, was es ist. Erst die Schule hat es zu neuem Leben erweckt. Zu einem Leben, das sich lohnt. Einem richtig handfesten Leben, mit Geruch, Geschmack und in Gemeinschaft. Wenn heute ein ganz normaler Tag wäre, würden wir zu Hause oder in der Schule mittagessen, je nachdem, ob meine Frau oder ich Zeit und Lust haben zu kochen. Die Kinder sind sowieso bis um drei in der Schule versorgt. Danach würden wir uns heute kurz mit den Lehrerinnen und Erzieherinnen treffen, um einen Ausflug zu organisieren. Wir wollen mit der ganzen Schule ans Meer fahren und uns den Herbstwind durch die Haare streichen lassen. Während wir uns berieten, würden die Kinder durchs Dorf toben, die Ponys versorgen, sich in ihrem Bandenquartier verstecken oder sich in eine warme Ecke hinter dem Ofen verkrabbeln. Wenn der Wind richtig wehte, würden sie Drachen steigen lassen, aber noch herrscht völlige Flaute. Um achtzehn Uhr sollen alle Dorfkinder zu Hause sein, und meistens kommen sie dann auch etwa. Wenn sie nicht irgendwo die Zeit vergessen haben.

Wenn heute ein ganz normaler Tag wäre. Doch heute ist kein ganz normaler Tag. Während ich hier über den Dorfplatz schaue, weiß ich: Das Bildungsministerium hat uns die Betriebserlaubnis für die Schule entzogen, völlig unerwartet und auf eine höchst merkwürdige Weise. Ist jetzt alles aus? Denn Fakt ist: keine Schule, kein Dorfprojekt. Ist die Schule weg, ziehen die Familien weg, dann brauchen wir auch keinen Kindergarten mehr, den Hort sowieso nicht und den Laden können wir auch gleich schließen.

Wir sind mittlerweile einiges gewohnt, doch so etwas gab es noch nicht. Dauernd kippen sie uns ganze Ladungen Feldsteine vor die Tür, die wir dann wieder wegräumen müssen. Immer haben wir das geschafft. Aber: Haben wir sonst nichts zu tun? Wir wollen nur ganz in Ruhe unsere Schule betreiben und unser Dorf aufbauen.

Diesmal klingt es so endgültig. Das totale Aus!

Ich spüre, wie die Wut in mir aufsteigt. Wieso kommen die nicht mal vorbei und schauen sich an, was sie hier schließen? Was sie hier kaputt machen? Wir bauen auf und bauen auf – und zack! mit einem Brief ist alles wieder weg. Manchmal habe ich das Gefühl, die arbeiten daran, ganz Mecklenburg einfach abzuschaffen. Alle raus, Licht aus, Feierabend. Wie viele tote Dörfer gibt es hier bereits? Soll Lüchow das nächste sein? Wut, Resignation, ein Aufbrausen neuer Kräfte. In mir tobt es, während es im Ort ganz ruhig ist. Ein paar Enten watscheln vorbei, der Specht hämmert an der Eiche. War alles umsonst? Die vielen Jahre Arbeit, all die Träume, die Erfolge, das Gefühl, dass sich ein solches Leben lohnt? Alles umsonst? Weggewischt mit einem Schreiben irgendeines Beamten weit weg in Schwerin.

Manchmal weiß ich wirklich nicht, wie lange ich die Kraft noch aufbringen möchte, immer wieder Mauern einzureißen, die andere vor unserer Nase hochziehen. Vielleicht sollte ich alles hinschmeißen. Einfach wieder in die Stadt ziehen.

Aber was soll dann werden?

Das, was vorher war?

Ja, was war eigentlich vorher?

Nichts, hier zumindest war fast nichts.

Und dann kam einer, der auszog, ein Dorf zu retten.

An einem Tag wie heute geht mir so vieles durch den Kopf. Und so möchte ich Ihnen davon erzählen: vom Leben in Lüchow, von all den Projekten, die sich entwickelt haben, von »unserem Dorfprojekt«. Auf den nächsten Seiten möchte ich von großen

Träumen und den bewegenden Momenten ihrer Erfüllung berichten. Ich schreibe vom Kampf mit den Behörden, von den Problemen bei der Finanzierung und der Überwindung unserer Ahnungslosigkeit, aber auch über kleinere und größere Wunder, von unerwarteter Hilfe und sogar von amtlicher Unterstützung.

Immer wieder werde ich gefragt, ob ich mit diesem Dorfprojekt »die Welt retten« möchte. Nein, ich glaube nicht, dass wir mit einem kleinen Dorf die ganze Welt retten können. Aber wir können unser eigenes Leben gestalten, wir können versuchen, unsere Träume zu leben, und damit ein Stück Verantwortung für uns und die Welt übernehmen – und wenn es gut läuft, wird die Welt dadurch vielleicht ein kleines bisschen besser. Und wenn es richtig gut läuft, können wir ein Vorbild dafür sein, wie man sein Leben in die Hand nimmt und das macht, was man schon immer machen wollte. Wir können andere dazu ermutigen, den Job, den sie noch nie mochten, endlich zu kündigen, und sich die entscheidende Frage zu stellen: Was möchte ich aus meinem Leben machen, wie möchte ich leben? In diesem Sinne könnte unser Dorfprojekt ein Modell sein, ein Vorbild für andere.

Wenn es richtig gut läuft, wird es bald viele kleine Dörfer geben, die alle ganz anders aussehen als Lüchow. Aber eines werden sie gemeinsam haben: Sie werden von motivierten Menschen aktiv gestaltet. Lüchow lässt sich nicht kopieren, denn dann müssten auch die Menschen, die hier leben, kopiert werden. Aber die Idee, das eigene Leben nach den eigenen Vorstellungen und in der eigenen Verantwortung zu gestalten, kann sich tausendfach verbreiten.

Ich denke, dass unsere Welt Dörfer wie Lüchow nötig hat. Denn was sicher ist: Wir leben über unsere Verhältnisse, und ob wir diesen Missstand beheben können, ist alles andere als sicher. Was nicht funktionieren wird, sind Lösungen »von oben«. Darauf sollten wir nicht warten. Die historisch gewordenen Versuche, alles von zentraler Stelle – mit Staatsgewalt – regeln zu wollen, konnten keine bessere Welt hervorbringen. Es liegt an jedem Einzelnen, sich zu überlegen, wie er leben möchte. Dazu gehört eine ganze Menge. Die aktuelle Konzentration auf die Umweltzerstörung und die Klimaerwärmung lenkt davon ab, dass es nicht ausreicht, wenn wir einfach nur etwas weniger Energie verbrauchen und nur noch in der Bioecke der Supermärkte einkaufen. Nein, unsere Lebensweise mit all ihren Verwinkelungen muss komplett hinterfragt werden.

Die Erde gab es schon viele Millionen Jahre, bevor der erste Mensch auftauchte. Und vielleicht wird es sie auch noch lange geben, entweder mit oder ohne Menschen. Wir können vielleicht das Klima verändern, aber die Welt wird so schnell nicht verschwinden. Was aber sehr wohl verschwinden könnte, ist die Bewohnbarkeit der Erde für Menschen. Ja, wir können unsere Lebensgrundlage zerstören. Und wir sind auch fleißig dabei. Es geht also nicht um eine Rettung der Welt, sondern um eine Rettung der Menschen. Wie lange wollen wir noch an dem Ast sägen, auf dem wir sitzen?

So geht es in einem kleinen Dorfprojekt tatsächlich um die Welt. Aber es geht vor allem auch darum, in welcher Welt der Einzelne leben will. Unser Dorfprojekt ist der Versuch von mir, meiner Familie und anderen Menschen, eine Antwort auf die Frage zu finden: Wie kann heute ein selbstbestimmtes Leben aussehen, das unseren Bedürfnissen, aber auch den Bedürfnissen unserer Kinder und Enkel gerecht wird, das unsere Umwelt schont und nicht auf Kosten anderer Länder und Völker geht. So wie wir versuchen, hier in Lüchow unser Leben zu gestalten, kann jeder an seinem Ort, dem Ort seines Lebens, versuchen, die lokalen Besonderheiten, die Möglichkeiten und natürlich auch die Bedürfnisse aufzugreifen und zu gestalten.

Jedes weitere »Starke Dorf« muss vor Ort entwickelt werden. Es braucht mutige Menschen, die sich dafür zusammentun – ganz gleich, ob in einem Dorf oder einer Stadt, im Osten oder im Westen, im Süden oder im Norden. Wenn etwas Sinnvolles für die Erde und unser Leben getan werden kann, dann ist es ganz sicher der Austausch und das gemeinsame Entwickeln und Umsetzen guter Ideen. Genau hierzu möchte ich mit diesem Buch und all den darin geschilderten Erfahrungen im Dorfprojekt Lüchow beitragen. Auf dass die besten, zukunftstauglichen, im wahrsten Sinne des Wortes lebenswerten Ideen sich durchsetzen.

Die Käfighaltung für Hühner wird verboten. Verschrotten wir auch unsere Käfige! Alle Käfige, die uns daran hindern, unser Leben selbst in die Hand zu nehmen, die Käfige in unseren Köpfen, die Käfige der Bürokratie, die sozialen Käfige und ganz besonders all die Käfige einer zerstörerischen Wirtschaft. Wir wollen ein artgerechtes Leben! Auch wir wollen an die frische Luft!

Traum trifft Wirklichkeit

Wir legen ab und fahren nach Singapurmit ’nem Schiff aus schäbigem Holz.Auch wenn der Wind uns das Segel zerreißt,wir müssen weiter, immer weiter. Was soll’s?

Aufgewachsen bin ich in einem kleinen Haus am Rande einer kleinen Stadt, zusammen mit fünf Geschwistern. In der Stadt gab es alles, was man zum Aufwachsen braucht, sogar einen Skilift. Nur zu ganz besonderen Anlässen mussten wir in die nächste Großstadt fahren: Tiger im Zoo besuchen, Pink Floyd live hören und schöne Schuhe kaufen.

Wenn wir an stürmischen Herbsttagen nach Hause kamen, empfing uns unsere Mutter mit einer heißen Suppe und erzählte uns von einem Land, in dem immer ein starker Wind weht. Von den Wellen der Ostsee, der Gischt, die einem ins Gesicht spritzt, von Salzhafer, Dünen und der Weite. Sie erzählte von dem Bauernhof, auf dem sie aufgewachsen war, von den Pferden, die nach einem Ausflug ans Meer den Weg allein nach Hause fanden, wenn der Kutscher wieder eingeschlafen war. Vielleicht war es die Sehnsucht meiner Mutter, durch die ich die Landschaft hier lieben lernte, lange, bevor ich sie das erste Mal betrat. Der Traum vom einfachen Leben auf dem Lande, vom Wind, der über das Wasser streicht.

Den Hof meiner Großeltern gibt es nicht mehr, er lag noch etwas weiter östlich von hier. Aber von Anfang an war mir die Landschaft vertraut, mit ihren leichten Hügeln, den verstreuten Dörfern und den Bewohnern mit ihrer ruhigen und ehrlichen Art.

Wenn ich heute anfange zu träumen, dann liege ich auf dem Rücken im hohen Gras. Wo sich momentan noch Acker befindet, werden wir einen großen See angelegt haben und rund herum wird es Wiese, Büsche und Bäume geben. Es ist später Nachmittag, ich blinzle im Gras liegend in die tief stehende Sonne. Die Erde ist noch ganz warm, sie hat die Wärme eines heißen Sommertages gespeichert. Irgendwo spielen Kinder, vielleicht sind auch meine dabei, und in der Ferne blöken ein paar Lämmchen. Das trockene Schilf raschelt leise neben dem alten Steg mit dem Ruderboot. Ich habe es dort festgemacht, nachdem ich den See überquert hatte. Hierher komme ich immer, wenn ich etwas Zeit für mich brauche. Wenn ich über die Zukunft nachdenke. Ein geschützter Platz, bewacht von mächtigen, uralten Feldsteinen und einer knorrigen Robinie, mit ihren Blättern wie zartes Gefieder.

Meine Gedanken wandern auf die andere Seite des Sees. Dort sieht man eine große Wiese mit einem Haus. Das habe ich vor ein paar Jahren gebaut, für mich und meine Familie. Es soll unsere Heimat sein, aber auch Schutz bieten an kalten Wintertagen. Das Haus steht am Rand eines Dorfes, das von Feldern, Wiesen und Weiden umgeben ist. Hecken und Bäume säumen die Feldränder, unzählige Vögel zwitschern darin.

Zwischen den Häusern ist der Dorfplatz mit seinem Brunnen. Hier finden wir sie, die große Kinderschar. Doch bald hört man eine Glocke, und dann rennen sie nach Hause, um zu Abend zu essen. Die Tiere werden in die Ställe getrieben. Dann wird es langsam still im Dorf. Nur vor der Taverne sitzen noch ein paar alte Männer und spielen Karten. Ein langer heißer Tag geht zu Ende. Das Einzige, was die Ruhe stört, sind eine Nachtigall und leise Klänge; irgendjemand spielt Klavier.

Am Dorfeingang steht eine alte Scheune, darin parken ein paar Autos, kleine und große, langsame und schnelle, die kann jeder benutzen. Aber meistens stehen sie nur herum, sie werden kaum gebraucht. Betankt werde sie mit Strom aus Solarzellen, die sich auf dem Dach der Scheune befinden. Die Nacht ist ruhig. Aber jetzt, im Sommer, nicht sehr lang. Schon früh fängt es wieder an zu dämmern. Als Erstes werden die Tiere wach. Bald darauf laufen die Kinder in die Schule, und auch die Erwachsenen haben es nicht weit. Wenn sie nicht zu Hause arbeiten, dann irgendwo im Dorf. Und auch zum Einkaufen braucht man keine großen Strecken zurücklegen, der Laden befindet sich direkt neben der Schule.

Auf der anderen Straßenseite, gegenüber der Scheune mit den Autos, steht noch eine Scheune. Darin befindet sich ein Wasserdampf-Heizkraftwerk. Es versorgt das ganze Dorf mit Strom und Wärme und wird mit Sonnenenergie, Erdwärme und Küchenabfällen betrieben. Aus dem Schornstein kommt ein bisschen Wasserdampf. Der meiste Strom wird ins Netz eingespeist, denn er wird im Dorf nicht benötigt. Und von den Erlösen aus dem Stromverkauf finanziert sich die gemeinschaftliche Infrastruktur. Strom, Wasser und Wärme, aber auch die Nutzung der Autos sind kostenfrei.

Alles Land, alle Gebäude und die gesamte Infrastruktur gehören der Gemeinschaft. Wohngebäude und private Gärten werden gepachtet. Die Nutzer sind für die Erhaltung und den Unterhalt verantwortlich. Genauso ist das mit Maschinen und Werkzeugen, aber auch mit Büro- und Praxiseinrichtungen. Werden sie nicht mehr gebraucht, können sie an die Gemeinschaft zurückgegeben werden. Über die Geschicke des Dorfes berät die Dorfgemeinschaft, dazu gehören alle, auch die Kinder, und alle haben Rederecht und Stimmrecht. Die Dorfgemeinschaft trifft sich zweimal im Jahr, zum Frühlingsanfang und zum Herbstanfang. Die Versammlungen beginnen damit, dass jeder berichtet, was er im letzten halben Jahr gemacht hat. Das wird gewürdigt, aber nicht kommentiert. Anschließend kann jeder seine Anliegen vortragen, alles wird behandelt, es gibt keine feste Agenda. Beschlüsse werden einstimmig gefasst und sind bis zur nächsten Versammlung bindend. Zum Abschluss jeder Dorfversammlung wird gemeinsam gefeiert, jeder ist aufgerufen, einen künstlerischen Beitrag zu liefern. Aber auch sonst wird viel gefeiert.

Alle Erwachsenen im Dorf sind selbstständig. Auch in den Betrieben, die es hier gibt, arbeiten nur Selbstständige. Dabei bleibt es jedem selbst überlassen, ob er sich einem Betrieb anschließt oder etwas Eigenes macht. Jeder wirtschaftet eigenverantwortlich, privat und auch in den Betrieben. Als Einkommen kann nur verteilt werden, was auch da ist, was erwirtschaftet wurde. Die dorfinterne Abstimmung zwischen den Betrieben übernimmt ein Wirtschaftsrat, in dem alle Unternehmen mit je einer Stimme vertreten sind. Dort werden die Preise verhandelt, und zwar so, dass am Ende des Tages alle genug haben. In dem Dorf gibt es keine Arbeitslosen, denn es gibt immer genug Arbeit. Es gibt keine Rente oder Berufsunfähigkeitsbezüge, jeder macht, was er kann oder noch kann, und bekommt dafür ein ausreichendes Einkommen. Eine Krankenversicherung ist nicht nötig, jeder ist für seine Gesundheit selbst verantwortlich. Nur bei schweren oder chronischen Krankheiten springt ein Gesundheitsfond ein. Die Menschen werden nicht durch anonyme Versicherungen, sondern durch ihre Gemeinschaft getragen.

Das Dorf versorgt sich selbst mit Grundnahrungsmitteln und allem, was selbst hergestellt werden kann. Es gibt eine Gärtnerei und einen kleinen Bauernhof, die Produkte werden auch gleich vor Ort verarbeitet. Aber das Dorf ist nicht abgeschlossen, es befindet sich nicht auf einer einsamen Insel. Es betreibt regen Handel und Austausch mit seinen Nachbargemeinden und vertreibt weltweit, über das Internet, die Produkte der eigenen Manufaktur.

Auf jedem Kontinent hat das Dorf eine Partnergemeinde. Zusammen bilden sie ein Weltdorf. Wichtig ist dabei die Überschaubarkeit, die Wahrnehmbarkeit der anderen und ihrer Bedürfnisse. Zwischen den einzelnen Gemeinden findet ein reger Austausch statt. Es ist Aufgabe des Weltdorfes, dafür zu sorgen, dass es den Menschen in allen dazugehörigen Gemeinden gut geht, dass alle genug zum Leben haben. Dabei ist weniger an direkte Lebensmittelhilfe gedacht, die kann es im Einzelfall, im Notfall, auch geben. Vielmehr sollen durch sinnvolle Arbeitsteilung und Handel, aber insbesondere durch gegenseitiges Lernen alle voneinander profitieren.

Alle Kommunikationsmittel werden genutzt. Die Technik hilft den Menschen, ihren Alltag einfacher und bequemer zu machen. Sie wird dort eingesetzt, wo es sinnvoll ist, aber nur, wenn dadurch nicht mehr zerstört wird als gewonnen … Plötzlich ein lauter Aufstand im Hühnerstall, die Tiere werden für die Nacht eingesperrt. Oje, ich habe völlig die Zeit vergessen. Langsam erhebe ich mich, ich rudere wieder zurück über den See ins Dorf, nach Hause. Die Kinder werden schon schlafen. Meine Frau sitzt auf der von einem Blumenmeer umgebenen Terrasse. Sie wird mich mit einem Lächeln empfangen und wir werden, wie jeden Tag, zusammen den Sonnenuntergang bestaunen. Hier enden meine Träumereien. Den See sollten wir wirklich bald mal anlegen.

Ein ganz normaler Tag im Leben von einem, der auszog, ein Dorf zu retten

6:00 Uhr

KLICK!

Kurz bevor mein Wecker klingelt, macht es KLICK. Und davon wache ich auf. Wenn ich schnell genug bin, kann ich ihn ausstellen, ohne dass meine Frau aufwacht, sie soll ruhig noch ein bisschen schlafen.

Bis das Wasser warm ist, bin ich wach. Ich koste die Wärme aus und möchte den Sonnenaufgang genießen. Die Dusche hat extra ein Fester nach Osten. Das nützt mir aber nur an ganz wenigen Tagen etwas, heute ist es im Osten noch stockdunkel. Vielleicht sollte ich meine Aufstehzeiten an den Sonnenaufgang anpassen.

Ich ziehe mich an, schwarze Hose, schwarzes Hemd, und gehe in die Küche. Bis das Wasser im zerbeulten Blechtopf kocht, mahle ich mit der alten Handmühle die frisch gerösteten Bohnen aus dem mexikanischen Hochland.

Eine große Tasse starker, frisch gebrühter Kaffee – der Tag beginnt.

Als Erstes gehe ich ins Büro, um den Ofen anzuheizen. Direkt neben der Eingangstür steht ein Hackklotz, dort mache ich mit der großen Axt Späne zurecht. Aus dem Papierkorb fische ich ein paar zerknüllte Blätter, Späne oben drauf und, ja, wo sind eigentlich die Streichhölzer? Die suche ich jeden Morgen. Das Holz neben dem Ofen wird für den Tag nicht reichen. Ich lege mir schon mal die Kettensäge zurecht, damit ich das nachher nicht vergesse. Jetzt ist es noch zu früh für solch einen Lärm. Da wecke ich sonst das ganze Dorf auf. Benzin ist noch genug im Tank, aber Öl sollte ich etwas nachfüllen und die Kette ein bisschen schärfen. Dafür setze ich mich auf die Stufen vor der Eingangstür.

Dann drehe ich schnell eine Runde mit dem Hund. Ich glaube, meine Frau wollte den Hund nur haben, damit ich mich ab und zu mal bewege.

Wir haben lange gezögert, uns hier ganz niederzulassen. Nächtelang saßen wir am Feuer, im ungemähten Gras, und haben Der-Mond-geht-auf-der-Mond-geht-unter gespielt. Wenn der Mond aufging, haben wir das erste Bier aufgemacht und uns so lange eine Zukunft ausgemalt, bis der Mond wieder untergegangen war. Leben auf dem Lande? Wir sind keine Bauern. Gemüsegarten zur Selbstversorgung? Wir sind keine Gärtner. Also, was wollen wir hier eigentlich?

Das Was-wollen-wir-hier-eigentlich verwandelte sich in ein Was-könnten-wir-hier-überhaupt-machen? Da kamen große Träume auf und wilde Pläne, sie Realität werden zu lassen. Doch daraus entstand bald das Was-gibt-es-hier-denn-überhaupt? Das real existierende Umfeld war auch auf den zweiten Blick ernüchternd. Angefangen bei unserem Dorf. Alle fünf Einwohner waren Rentner. Drei Gebäude waren bewohnt, acht standen leer. Die Infrastruktur bestand aus einem Briefkasten und einem Bus, der einmal pro Woche kam. Mehr gab es nicht.

Auch wenn unser Dorf damals nicht ganz dem Bundesdurchschnitt, ja nicht einmal dem Mecklenburger Durchschnitt entsprach, veranschaulichte es auf seine direkte Art, wo die Reise hingeht: Überalterung, leere Häuser, keine Frauen, keine Kinder und keine Jobs. Hatte uns Helmut Kohl nicht blühende Landschaften versprochen? Doch, sie blühen, die Rapsfelder, kilometerlang, in Knallgelb. Aber sonst? Sonst blüht da nicht viel. Nicht viel, was das Bruttosozialprodukt steigern könnte. Dafür gibt es aber sehr viel Freiraum und Freiheit. Es gibt Platz für Ideen, aber niemanden, der sie einem hinterherträgt. Hier haben wir uns vom ersten Augenblick an wohlgefühlt. Irgendwie spürten wir: Hier kann man gut leben, wenn man sein Leben selbst in die Hand nehmen möchte.

Mecklenburg ist ein großes Land, groß an Fläche, das Bundesland Mecklenburg-Vorpommern hat 23 180 Quadratkilometer. Und es ist ein kleines Land, klein in der Anzahl der Bewohner, es wohnen hier 1,6 Millionen Menschen. Auf jedem Quadratmeter sind es siebzig, fast so viele wie im Norden von Norwegen. Und so war es schon immer. Viele tausend Jahre lang hat sich keiner um diesen Landstrich gekümmert. Das Mammut zog seine Runden, und bei Vollmond hörte man die Wölfe heulen. Irgendwann siedelten verstreut ein paar Slaven und suchten sich schöne Hügel, um darauf Palisadenburgen zu errichten, bis dann um 1200 herum das Land von Westen her besiedelt wurde. (Alle Ossis sind eigentlich Wessis!)

In alten Dokumenten findet sich der Ort als »Taverne Lüchowo«, als Raststätte an der alten Königsstraße. Jahrhundertelang zogen alle, die entlang der Ostsee von Ost nach West wollten, oder umgekehrt, durchs heutige Lüchow. Direktverbindung Hamburg – Lüchow – Moskau. Gekreuzt wurde die Straße in Lüchow von einer Nord-Süd-Verbindung, von der Straße Berlin – Ostsee.

Es war damals viel los hier im Dorf, jeden Tag kamen die Reisenden hier durch, die Pferde wurden gewechselt, es wurde gegessen, getrunken und auch übernachtet. Aber zu mehr als einer Raststätte wollte sich der Ort nicht entwickeln. Die Leute kamen und gingen wieder, bleiben wollte fast keiner. Der ganze Spaß endete dann um 1250, als es Mönchen gelang, ein paar Brücken zu bauen und die Handelsstraße näher an die Ostsee zu verschieben. Das Dorf gehörte dann noch eine Weile zum Kloster Dargun, bis es ein selbstständiges Gut mit wechselnden Eigentümern wurde. Auch die kamen und gingen.

Die Erbregelung, nach der der Älteste alles bekommt, führte zur Bildung von landwirtschaftlichen Gütern. Heute noch hat fast jedes Dorf sein Gutshaus. Die Güter waren aber nichts anderes als große Bauernhöfe, die sich vor allem selbst versorgten und wirtschaftlich so vor sich hindümpelten. Der Verkauf der Produkte wurde durch fehlende Transportmöglichkeiten erschwert. Zu Gutszeiten haben etwa fünfzig Menschen auf dem Hof hier gelebt und die dreihundertfünfzig Hektar bewirtschaftet. Geackert wurde mit vier Pferdegespannen zu je vier Pferden. Es gab Kühe, Schafe, Schweine und natürlich Federvieh. Zur Schule liefen die Kinder über den Acker ins Nachbardorf.

Die Arbeit auf einem Gutshof war schwer, aber alle waren versorgt.

Mit dem Bau der Eisenbahnen und dem steigenden Hunger der Städter blühten die Güter ab 1900 wirtschaftlich auf. Fast alle Gutsanlagen der Gegend wurden in der Zeit neu errichtet. Das alte Gutshaus wurde abgerissen, und auf den Fundamenten entstand ein neues Haus, oft größer und schöner als das alte, und auch in die Nebengebäude wurde investiert. Viele Güter wechselten in dieser Zeit ihren Besitzer. Nicht selten gingen die neureichen Gutsherren in Berlin ihrem Vergnügen nach, während das Gut von einem korrupten Verwalter so lange ausgeplündert wurde, bis er selbst es billig erwerben konnte. Und 1945 war dann auf einmal alles aus. Die Russen vertrieben die Gutsherren. Hatte der Hof mehr als einhundert Hektar, musste sich die Herrschaft einhundert Kilometer vom Gut entfernen. Die Ländereien wurden aufgeteilt, die Güter mit Flüchtlingen aus dem Osten besiedelt.

Doch es dauerte nicht lange, bis sich die Güter wieder zusammenfanden, unter neuem Namen und unter neuer Aufsicht. Die vielen kleinen Neubauern brachten mehr oder weniger freiwillig ihr Land in Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaften, die neu entstandenen LPG, ein. Alle hatten Arbeit, alle hatten zu essen, in fast jedem Dorf gab es einen Laden, und die Schulen waren auch nicht weit weg. Nur der Wohnraum war ziemlich knapp. Schnell wurden Plattenbauten hochgezogen, nicht hübsch, aber praktisch.

Direkt nach dem Krieg hatte sich die Einwohnerzahl in Lüchow mit über einhundertfünfzig mehr als verdoppelt, vor allem durch Flüchtlinge aus dem Osten. Aber auch die wollten nicht dauerhaft hier bleiben. Nach und nach zog eine Familie nach der anderen wieder weg, in die Nachbardörfer, dorthin, wo die Neubauten standen, wo die Arbeit vor der Tür lag. In den 1980er-Jahren wurde Lüchow aufgegeben und aus dem Wohnraumbewirtschaftungsprogramm genommen. Zur Wende gab es noch drei Haushalte, die leer stehenden Gebäude wurden als Ställe genutzt oder verfielen. Noch zehn Jahre DDR, und Lüchow wäre von der Landkarte verschwunden. Mit der Wende fiel zunächst alles auseinander. Die Marktwirtschaft zog über das Land, gewappnet mit dem Satz »Rückgabe vor Entschädigung«. Das Ackerland war noch über die Landbevölkerung verstreut, aber fast keiner ergriff die Gelegenheit, sich selbstständig zu machen, seinen eigenen Hof zu betreiben. Und, schwups, waren die Güter alle wieder da. Das Land wurde aufgeteilt unter ehemaligen LPG-Vorsitzenden und Bauern aus dem Westen, die nach all den Umwälzungen des letzten Jahrhunderts immer noch Ansprüche anmelden konnten oder einfach genug auf dem Konto hatten.

Auch dieses Mal hatte sich an der Struktur der Großbetriebe nichts geändert. Nur sind – unter dem Diktat der Marktwirtschaft, dem Diktat der Effizienz – die vorher dringend benötigten Mitarbeiter zu Kostenfaktoren geworden, und Kosten musste man einsparen. Neun von zehn Arbeitsplätzen wurden für überflüssig erklärt. Ein großer Teil davon wurde durch große neue Maschinen ersetzt. Auch viele dem Gemeinwohl dienende Arbeitsplätze wurden abgeschafft, das rechnete sich jetzt nicht mehr. Dorfläden verschwanden, Dorfschulen wurden geschlossen, Gemeindeschwestern entlassen.

Und damit schnellte die Arbeitslosenquote von null auf über zwanzig Prozent. Ein Ausweichen in die Industrie war nicht möglich, Industrie gab es in Mecklenburg eigentlich noch nie. Also begann ein unglaublich schneller Abwärtstrend. Alles, was jung und gut ausgebildet war, zog nach Westen. Das waren meistens Frauen, und da die verbliebenen Frauen nicht so recht für Nachwuchs sorgen wollten, rutschte die Anzahl der Kinder von einem Tag auf den anderen in den Keller. Die Alten und die weniger Motivierten, sie kamen nicht so schnell weg, vor allem sie blieben hier. Häuser standen leer, die Preise verfielen und noch mehr Läden schlossen ihre Türen.

Doch Mecklenburg jubelte, die Arbeitslosenzahlen sanken! Ein Jobwunder? Nein, die Arbeitslosen gingen in Rente und verschwanden somit aus der Statistik. Die Arbeitslosen starben aus und die Bevölkerungsanzahl näherte sich wieder dem Zustand von 1900 an.

Ist die Talsohle damit erreicht? Woher soll man das wissen, tiefer runter geht es immer. Aber alles spricht für eine Stabilisierung, die Anzahl der Erstklässler steigt seit einigen Jahren wieder an. Wenn man den Zukunftsprognosen trauen darf, dann werden auch andere Länder in Deutschland noch durch solch ein Tal müssen. Wandel allerorts.

Bald nach der Wende hatten sich die ersten Stadtflüchtlinge in Lüchow eingefunden und versuchten, hier ein neues Leben aufzubauen, die Freiheit und die Einsamkeit zu genießen. Aber auch die sind weitergezogen. Ende der 1990er-Jahre standen dann plötzlich wir auf dem Dorfplatz und wunderten uns darüber, dass es solche verschlafenen Ecken in Deutschland überhaupt noch gibt.

Ja, es war nicht viel, was wir hier vorfanden, es gab hier fast nichts. Oder nein, es war eigentlich total viel: der perfekte Hintergrund für große Träume. Und noch sind wir hier, noch sind wir nicht weitergezogen, auch wenn wir uns hin und wieder fragen, was wir hier eigentlich machen.

Was wir vorfanden, war ein kleines Dorf mit alten kaputten Häusern, mit ein paar alten Einwohnern, die an keine großen Veränderungen mehr glaubten, die keine großen Träume mehr hatten. Bald war uns klar: Wir würden viel Zeit und Kraft und natürlich auch Geld in die Sanierung, den Wiederaufbau und in den Neubau von Gebäuden stecken müssen. Wie sich herausstellen sollte, würde das aber die leichtere Arbeit sein. Heute wissen wir, dass wir viel mehr in den Kampf mit den Behörden investieren mussten und müssen, in den Kampf mit alten Strukturen. Aber auch gegen Unverständnis, Neid und Missgunst müssen wir uns – in nie erwartetem Umfang – ständig zur Wehr setzen. Aber man stößt nicht nur auf Widerstände, wenn ein Traum auf die Wirklichkeit trifft, und das gehört wohl zu den schönsten Erlebnissen: Wie viel unerwartete und selbstlose Hilfe, Unterstützung und Aufmunterung durften wir erfahren! So lange wir unsere Träume nicht aufgeben, so lange werden wir auch von einem engen Netz der Solidarität getragen, das durften und dürfen wir erleben.

Wir sind hier, um unsere Träume zu leben. Wir wollen versuchen herauszufinden, ob es möglich ist, ein artgerechtes Leben zu leben. Wir versuchen, unsere Vision in die Realität umzusetzen, eine Dorfgemeinschaft aufzubauen, die ihr eigenes Leben in die Hand nimmt, eine selbstbestimmte Lebensgemeinschaft. Lüchow ist unsere Antwort auf die Frage, wie man im Einklang mit der Natur leben kann, zusammen mit der Natur und mit Respekt vor ihr, ohne sie auszuplündern, ohne sie zu zerstören. Wie können wir die Natur erhalten und damit unsere Lebensgrundlage, für uns, für unsere Kinder, für alle Menschen auf diesem Planeten?

Ein ganz normaler Tag im Leben von einem, der auszog, ein Dorf zu retten

7:00 Uhr

Was steht denn alles im Kalender?

Um zehn will eine Journalistin vorbeikommen. Um drei ist Konferenz, und danach muss ich auf die Baustelle nach Neubrandenburg.

Ich sehe mir die Unterlagen an, die mir meine Mitarbeiter auf den Schreibtisch gelegt haben. Ein paar Unterschriften, eine Bewerbung einer Erzieherin und ein paar Anrufe, das kann alles bis nach dem Frühstück warten. Dann gehe ich schnell noch meine eigene Liste durch. Ich habe eine Liste, da steht alles drauf, was ich machen will, machen soll oder machen muss. Restarbeiten an einem Dach, die Rechnung von einem Handwerker prüfen, den B-Plan von Bernd fertig machen, mit dem Landkreis über die Kita-Gebühren verhandeln, Fördermittel für das Kinder-Hotel beantragen … Mein Ziel ist immer, dass überhaupt keine Punkte auf dieser Liste stehen, aber das funktioniert nicht. Immer wenn ich drei Punkte abgearbeitet habe, sind fünf neue dazugekommen.

Ich streiche mir die Punkte an, die ich heute noch erledigen möchte, es ist aber eigentlich nichts Dringendes dabei.

Jetzt habe ich zwei ruhige Stunden nur für mich. Keine Arbeit, die dringend erledigt werden muss, keine Mitarbeiter, die mich was fragen, kein Telefon, das klingelt. Ich setze mich an meinen Schreibtisch und mache meinen Computer an, einen guten alten T42. Ich öffne meine Buchdatei, in zwei Wochen soll ich das Manuskript abgeben, aber es fehlt noch die eine oder andere Seite. Für einen Moment wird mir ganz flau im Magen. Jetzt hilft auch keine kreative Schreibblockade, sondern nur schreiben, schreiben, schreiben…

Also los!

Nach den ersten zwei Seiten wird es langsam hell draußen. Hell oder Hölle, wo ist hier der Unterschied? Der Terror des Alltags wird wieder versuchen, mich von meinen eigentlichen Vorhaben abzubringen, und mich am Abend vollkommen erschöpft ins Bett sinken lassen.

Ich hole mir noch einen Kaffee.

Artgerecht leben

Womit hab ich hier nur meine Tage verbracht?Ich hab mir Filme angesehen und mir’s gemütlich gemacht.Ich hab den Zug verpasst, auf den am Ende alles springt.Ich muss die Comichelden finden, unbedingt.

Ich muss die Comichelden finden und die Plastikgötter fragen, wonach wir süchtig sind und wem wir hinterherjagen.

Zum ersten Mal, seit es Menschen auf dieser Erde gibt, ist die Zahl der Städter größer als die Anzahl der auf dem Land lebenden Dorfbewohner. Nach wie vor zieht es weltweit immer mehr Menschen in die Städte. Sie alle sind von der Hoffnung getrieben, dort mehr Glück zu finden. Auch wir lebten in einer großen Stadt, aber dann haben wir uns gegen den Trend entschieden – und sind aufs Land gezogen.

Raus aus alten, hübschen, aber viel zu engen Schuhen

Heute ist ein wunderschöner und immer noch warmer Herbsttag. Die Kinder sind gerade aus dem Mittagsschlaf erwacht. Ich fache das Feuer in der Küchenhexe an und setze einen Topf mit Wasser auf. Mit der alten Kaffeemühle sind die Bohnen schnell gemahlen. Marie-Theres hat einen Apfelkuchen gebacken. Das kleine Tischchen trage ich raus und stelle es neben die Gartenbank an der von der Mittagssonne aufgeheizten Südwand. Die Kinder stopfen sich schnell etwas Kuchen in den Mund und rennen zum Sandkasten. Es ist so entspannend, wenn sich die Kinder frei im Dorf bewegen können, ohne dass wir Angst um sie haben müssen. Wenn doch mal ein Auto kommt, dann schleicht es im Schritttempo über das alte Kopfsteinpflaster. Wir haben einen weiten Blick über das Peenetal. Hinter dem Bach steigen die Hügel wieder leicht an. So weit wir blicken können, ist kein einziges Haus zu sehen. Und alles, was wir hören, ist das Summen der Bienen im Wein und ab und zu das Muhen einer Kuh auf einer entfernten Weide. Wir genießen den heißen Kaffee und erinnern uns daran, wie alles angefangen hat.

Als ich noch jung war, etwa Anfang dreißig, hatte ich einen guten Job in einem großen Ingenieurbüro. Ich wohnte mit meiner Frau und zwei Kindern in einem kleinen Häuschen in einem beschaulichen Vorort von Wien und pendelte tagsüber in die Innenstadt zum Büro. Als Filialleiter hatte ich richtig viel Geld verdient. Eigentlich war alles perfekt, selbst meine beiden Chefs waren wirklich erträglich (ja, ihr zwei, das war eine gute Zeit). Alles war, wie es sein sollte. Fast alles.

Am Montagmorgen um vier Uhr klingelte der Wecker, die Woche begann. Um halb fünf kam das Taxi und brachte mich zum Flughafen, um neun Uhr saß ich pünktlich in Frankfurt am Main im Hauptbüro in der Projektleiterbesprechung. Am frühen Nachmittag war ich wieder in Wien in meinem Büro und gegen zwanzig Uhr kam ich nach Hause. Dienstag war »Ruhetag«, gemütlich im Büro, um acht aus dem Haus und abends um acht schon wieder zurück. Oder Baubesprechung in Lyon oder Paris, dann waren die Zeiten weniger komfortabel. Mittwoch war Graz-Tag, zweihundert Kilometer südlich von Wien, und Donnerstag und Freitag entweder Frankreich oder USA. Am Wochenende war ich fix und fertig, da musste ich erst einmal richtig ausschlafen, und dann klingelte wieder der Wecker, Montagmorgen vier Uhr, und alles fing von vorn an. Dann kam der eine Sonntagmittag im Frühling 2003, ich saß an einer Bar in New York, am Flughafen JFK, war gerade aus Cleveland gekommen und musste vier Stunden auf meinen Anschlussflug warten. Ein Nachtflug nach Frankfurt, dann wäre ich am Montagmorgen pünktlich zur Projektleiterbesprechung im Hauptbüro.

Ich hatte ein gutes Buch dabei, darin blätterte ich ein bisschen, aber eigentlich hatte ich keine Lust zu lesen. Ich bestellte mir noch einen Kaffee. Der Bericht von der Besprechung in Cleveland war bereits fertig. Und doch war ich unzufrieden. Ich war drei Tage unterwegs, um an einer dreistündigen Besprechung teilzunehmen, in der es drei Minuten um mein Thema ging. Die meiste Zeit wurde über Spannungen im Team gesprochen, der Bauherr und die Architekten hatten sich gestritten, sie hatten sogar einen Mediator eingeladen, damit wir alle wieder gute Freunde wurden. Dabei war das gar nicht mein Projekt, ich hatte nur einen Kollegen vertreten. Ich sollte nur sagen, dass mit der Konstruktion und mit der Statik alles in Ordnung wäre, das würden wir schon hinbekommen – dabei hatte ich überhaupt keine Ahnung von dem Projekt. Ich war sauer. Die viele Zeit, die ganze Mühsal, für nichts und wieder nichts. Dabei hatte ich eigentlich keinen Grund, mich zu beschweren, meine Zeit wurde sehr gut bezahlt, ich hatte in einem Luxushotel übernachtet und ein Business-Class-Ticket in der Hand. Aber etwas stimmte nicht. Hatte ich mir mein Leben so vorgestellt? In teuren Hotels rumsitzen? Die Minibar plündern? Den Sonntag am Flughafen verbummeln? Wann hatte ich eigentlich das letzte Mal mit meinen Kindern gespielt? Wann hatte ich mich das letzte Mal darüber gefreut, Kinder zu haben? Wann hatte ich eigentlich das letzte Mal mit meiner Frau einen schönen Abend verbracht? Und wann hatte ich mich das letzte Mal mit Freunden getroffen? Außerhalb des Büros und einer Businesslounge?

Irgendwie war mir mein Leben entglitten. Andere bestimmten über meine Termine, meine Zeit und meine Kontakte. Andere bestimmten über die Projekte, die ich betreute, mit wem ich zusammenarbeitete und mit wem ich mittagessen ging. Vielleicht sollte ich mal wieder Urlaub machen.

Aber danach wäre wieder alles wie vorher.

War das der berühmte Moment im Leben, in dem man sich entscheiden muss? Entweder ich mache weiter wie bisher und bin ein Luxussklave im goldenen Hamsterrad oder ich steige aus. Aber was dann, was wäre die Alternative? Weiter in Wien wohnen und ein eigenes Büro eröffnen? Weitermachen wie bisher, nur auf eigene Rechnung? Wenn ich wirklich etwas ändern wollte, dann müsste ich radikaler vorgehen.

Mein Kaffee war schon wieder leer, ich brauchte noch ein Glas Wasser.

Ja, aussteigen! Aber wohin? Wieder zurück nach Berlin? Miete zahlen, Geld verdienen, Miete zahlen, Geld verdienen?

Oder ganz raus?

Einfach aufs Land?

Wir könnten erst mal in Lüchow wohnen, im alten Bauernhaus.

Aber was würde meine Frau dazu sagen?