Arztroman Dreierband1006 - Sandy Palmer - E-Book

Arztroman Dreierband1006 E-Book

Sandy Palmer

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Beschreibung

Dieser Band enthält folgende Romane: Unerwünschte Komplikationen (Anna Martach) Geschichten, die das Leben schreibt (Anna Martach) Muss ich dir die Wahrheit sagen (Sandy Palmer) Hindelfingen: da, wo die Welt noch in Ordnung ist. Zwar kennt man hier Licht und Schatten wie überall sonst und dennoch scheint das Bergdorf mit seinem ebenso sympathischen wie fähigen Arzt Daniel Ingold und seinen netten Bewohnern wahre Heilkräfte zu besitzen. Auch für den Schriftsteller Gerhard und den Buben Sven? Dann geschieht ein folgenschwerer Unfall, und ein Wettlauf mit der Zeit beginnt …

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Anna Martach, Sandy Palmer

Arztroman Dreierband1006

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Inhaltsverzeichnis

Arztroman Dreierband1006

Copyright

Unerwünschte Komplikationen

Geschichten, die das Leben schreibt

Muss ich dir die Wahrheit sagen?

Arztroman Dreierband1006

Anna Martach, Sandy Palmer

Dieser Band enthält folgende Romane:

Unerwünschte Komplikationen (Anna Martach)

Geschichten, die das Leben schreibt (Anna Martach)

Muss ich dir die Wahrheit sagen (Sandy Palmer)

Hindelfingen: da, wo die Welt noch in Ordnung ist. Zwar kennt man hier Licht und Schatten wie überall sonst und dennoch scheint das Bergdorf mit seinem ebenso sympathischen wie fähigen Arzt Daniel Ingold und seinen netten Bewohnern wahre Heilkräfte zu besitzen. Auch für den Schriftsteller Gerhard und den Buben Sven? Dann geschieht ein folgenschwerer Unfall, und ein Wettlauf mit der Zeit beginnt …

Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books, Alfred Bekker, Alfred Bekker präsentiert, Casssiopeia-XXX-press, Alfredbooks, Uksak Sonder-Edition, Cassiopeiapress Extra Edition, Cassiopeiapress/AlfredBooks und BEKKERpublishing sind Imprints von

Alfred Bekker

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© dieser Ausgabe 2023 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

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Unerwünschte Komplikationen

Alpendoktor Daniel Ingold – Band 25

von Anna Martach

Der Umfang dieses Buchs entspricht 106 Taschenbuchseiten.

Familie Enttorf ist neu in Hindelfingen. Doch Sohn Lukas leidet an einer seltenen Krankheit. Nun soll sich zeigen, ob Doktor Daniel Ingold die Behandlung übernehmen und vielleicht sogar Linderung verschaffen kann. Allerdings ist das nicht das einzige Problem, mit dem die Familie zu kämpfen hat.

Copyright

Ein CassiopeiaPress Buch: CASSIOPEIAPRESS, UKSAK E-Books und BEKKERpublishing sind Imprints von Alfred Bekker

© by Author

© dieser Ausgabe 2015 by AlfredBekker/CassiopeiaPress, Lengerich/Westfalen

www.AlfredBekker.de

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1

Es waren unbekannte Personen, da gerade die Praxis von Doktor Daniel Ingold betraten. Eine ganze Familie sogar, was schon ungewöhnlich war. Vater, Mutter und zwei Kinder.

Hermine Walther, der gute Geist der Praxis, die von allen nur Minchen genannt wurde, schaute den Leuten freundlich fragend entgegen. Das musste die Familie sein, die das alte Haus von der Friederike Senner bezogen hatte. Gut, dass frisches Blut nach Hindelfingen kam, und gut auch, dass auf diese Weise das schöne alte Fachwerkhaus nicht dem Verfall preisgegeben wurde.

Minchen erinnerte sich. Diese Leute kamen aus der Stadt, hatten das Haus zu einem günstigen Preis gekauft, und der Vater arbeitete irgendwo in einer großen Firma im Schichtdienst. Natürlich stammten diese Informationen von Vreni Kollmannberger, und der Himmel mochte wissen, woher sie diese Neuigkeiten hatte. Aber so war es ja immer, nichts geschah in Hindelfingen, ohne dass Vreni darüber Bescheid wusste.

„Enttorf ist mein Name“, stellte sich nun der Mann vor. „Ich – wir sind wegen unseres Buben hier, dem Lukas. Ist‘s möglich, rasch einen Termin beim Herrn Doktor zu bekommen?“

„Eine gute halbe Stunde wird‘s dauern“, erklärte die ältere Sprechstundenhilfe nach einem Blick auf den Jungen. Der wirkte blass und krank, bestimmt hatte niemand etwas dagegen, wenn sie die Reihenfolge der Patienten ein wenig durcheinanderbrachte. Hier bestimmte Minchen, was getan wurde, und sie hatte beim Lukas das untrügliche Gefühl, dass der Bub schwer krank war. Da musste er nicht länger als unbedingt nötig im Wartezimmer sitzen. Und die Frau wollte denjenigen sehen, der etwas dagegen hatte.

Auch Maria, ihre junge Kollegin, betrachtete das Kind mitleidig, nahm aber gleich die notwendigen Unterlagen heraus, um eine Karteikarte mit Anamnese, also der Krankengeschichte, und allen anderen notwendigen Daten anzulegen.

Siegfried Enttorf war erstaunt, dass die Wartezeit so kurz sein sollte, schließlich war das Wartezimmer voll.

„Wir brauchen aber jetzt keine Sonderbehandlung, da sind doch bestimmt noch Patienten ...“, begann er zögernd, aber Minchen winkte resolut ab.

„Die verstehen das schon, wenn‘s pressiert. Und bei dem Buben, denk‘ ich, tut Eile wohl not.“

Dankbar schaute die Mutter Lena auf die ältere energische Frau. So dauerte es tatsächlich nicht einmal eine halbe Stunde, bis die vier ins Sprechzimmer geführt wurden, wo Doktor Ingold sie freundlich begrüßte. Er musterte die Karteikarte und runzelte die Stirn.

„Ich seh‘ grad, dass der Lukas an einer seltenen Erkrankung leidet. Nun sind S‘ neu hier am Ort, und ich würd‘ mich freuen, wenn S‘ mir Vertrauen schenken wollen. Aber ein bisserl mehr muss ich natürlich schon wissen. Ich geb‘ zu, mit einem solchen Fall hab ich bisher noch nix zu tun gehabt. Da wäre es ausgesprochen hilfreich, wenn S‘ die Unterlagen vom vorherigen behandelnden Arzt dabei hätten. Sonst kann ich die allerdings auch anfordern. Vielleicht könnten S‘ mir auch ein bisserl was erzählen.“

„Net nötig, das mit den Unterlagen“, erklärte Siegfried Enttorf und gab dem Arzt einen dicken Umschlag. „Das können S‘ sich aber sicher in aller Ruhe durchlesen. Wir sind jetzt nur hier, weil der Lukas neue Schachteln mit Medikamenten braucht. Was er bisher bekommen hat, steht auf der letzten Seite. Aber ich hab mir gedacht, dass S‘ bestimmt net einfach ein Rezept ausstellen werden, ohne den Patienten wenigstens mal gesehen zu haben.“

„ Da haben S‘ allerdings richtig gedacht. Verstehen S‘ mich bitt‘schön recht, ich hege kein Misstrauen gegen meine Kollegen, und ich bin sicher, dass der Bub bisher gut behandelt wurde. Aber ich kann net einfach ohne Untersuchung Medikamente verordnen, von denen ich selbst net genau weiß, was sie bewirken. Wenn S‘ also nix dagegen haben, tät‘ ich den Lukas gern erst mal selbst untersuchen.“

Siegfried zuckte die Achseln. „Ich hab mir gedacht, da könnten S‘ einfach die Diagnose übernehmen. Wollen S‘ sich wirklich die Arbeit machen ...?“

„Ich würd‘ mir etwas seltsam vorkommen, tät‘ ich das net“, erwiderte Daniel ernst. „Und wie schon gesagt, hab ich‘s bis jetzt noch nie mit einem Fall von Neutropenie zu tun gehabt. Da muss ich mich schon vergewissern, dass ich bei der Diagnose auch nix übersehe.“

Enttorf warf einen Blick zur Uhr. „Dann würd‘ ich S‘ bitten, mich zu entschuldigen, mir wird die Zeit knapp. Aber meine Frau Lena bleibt dabei. Wenn S‘ dann also noch weitere Fragen haben, gibt‘s keine Probleme.“

Er verabschiedete sich mit einem liebevollen Klaps von Lukas, schaute seine Frau kurz an und ging dann davon. Daniel wunderte sich ein bisschen, dass das hübsche kleine Mädchen offensichtlich von beiden Elternteilen übersehen wurde, während Lukas, ein schmächtiger blasser Sechsjähriger, der sich eng an seine Schwester drückte, die wohl zwei oder drei Jahre älter war, alle Aufmerksamkeit erhielt.

Sorgfältig nahm der Arzt hinter einem Wandschirm die notwendigen Untersuchungen vor. Auch wenn es sich „nur“ um ein Kind handelte, so entstand doch durch die einfache Abschirmung ein Stück Privatsphäre.

Der Bub hatte die Untersuchungen schon mehr als einmal hinter sich gebracht und ließ sie auch dieses Mal geduldig über sich ergehen.

„Magst deine Schwester wohl sehr“, fragte der Arzt halblaut, dem das Benehmen der ganzen Familie etwas seltsam vorkam.

Lukas nickte.

„Na, dann wirst wohl bald gut auf sie aufpassen müssen. Sobald die Burschen erst einmal feststellen, dass sie ein ganz schön fesches Madl ist, werden sie ihr hinterherlaufen wie dem Rattenfänger von Hameln.“

Der Junge kicherte. Er schien nicht oft zu lachen. Armes Kind, dachte Daniel. Und auch armes Madl. Die wurde scheinbar an die Seite gestoßen, weil sich alles auf den Buben konzentrierte.

„Kannst dich wieder anziehen, schaut ja alles recht gut aus“, erklärte der Doktor nach einer Weile. Er hatte sich Notizen gemacht und würde später die Berichte der Kollegen aufmerksam studieren. Für ihn war Neutropenie Neuland, und er wollte sich später am Abend genauer damit beschäftigen und alles an Informationen einholen, was ihm möglich war. Nun wollte er ein Rezept ausschreiben, denn soweit er es sagen konnte, war die Medikation korrekt.

„Sagen S‘, Herr Doktor, gibt‘s da bei der Medizin auch noch andere Möglichkeiten?“, fragte Lena Enttorf nun und knetete etwas nervös ihre Hände. „Schauen S‘, einige der Medikamente müssen wir selbst bezahlen, außerdem braucht der Bub auch besondere Nahrungsmittel, und das alles ist sehr teuer. Wir sind net grad wohlhabend, wir haben so eben unser Auskommen. Deshalb haben wir uns auch entschlossen hier das Haus zu kaufen, es erscheint uns billiger, als wenn wir zur Miete wohnen, denn die monatliche Belastung für die Hypothek ist erträglich. Außerdem sollte der Lukas net in der Stadt leben, da ist es net gut für ihn. Hier draußen ist die Luft besser. Deshalb wär‘s schon eine Erleichterung ...“ Sie brach ab und schaute Daniel hilfesuchend an.

„Noch kann ich gar nix dazu sagen, Frau Enttorf. Erst mal will ich mir selbst ein Bild über die Erkrankung machen. Aber ich hätt‘ da einen Vorschlag. Kommt der Lukas denn wohl bis morgen aus mit seiner Medizin?“

Sie nickte.

„Dann kann ich Ihnen morgen sicher schon mehr sagen. Vielleicht hab ich bis dahin ja was gefunden, mit den gleichen Wirkstoffen, was net so teuer ist, Generika halt. Diese Medikamente können wesentlich preiswerter sein, weil da die Lizenzen abgelaufen sind, die sonst dafür sorgen, dass die hohen Kosten für die Forschung der Originale sich auch im Gewinn niederschlagen. Sobald die Rechte erloschen sind, können andere Firmen aber diese Rechte erwerben und so ein neues Medikament produzieren, bei dem nur der Wirkstoff der gleiche ist wie beim Original. Ich will sehen, was da zu machen ist. Kommen S‘ einfach morgen noch mal her. Ich sag Minchen Bescheid, dann tät‘s auch keine lange Wartezeit geben.“

Die Frau wirkte unendlich dankbar. Sie strich dem Buben über den Kopf, während Daniel sich zu dem Dirndl beugte.

„Und wie heißt diese reizende junge Dame?“

„Theresa“, kam es leise.

„Ein hübscher, sehr alter Name, der ganz prima zu dir passt. Ist ein bisserl lästig, dass sich alles um den Lukas dreht, was? Aber ich versprech‘s dir, wir werden versuchen, ihn wieder gesund zu machen.“

„Das wär‘ das Beste“, erwiderte sie sehr vernünftig. „Ich hab den Lukas nämlich gern, und wenn er wieder gesund wird, dann streiten Mama und Papa auch bestimmt net mehr.“

„Theresa“, rügte die Mutter und schaute den Arzt um Entschuldigung bittend an. „Sie hat das net so gemeint“, setzte sie fast flüsternd hinzu.

„Ich verstehe das schon, Frau Enttorf. Das ist alles sehr belastend für die ganze Familie. Dann wollen wir einfach versuchen, ob wir‘s zum Besseren wenden können.“

„Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass S‘ sich die Mühe machen wollen. Aber wir wollen niemandem zur Last fallen.“

Er lächelte zuversichtlich. „Eine Last würd‘s nur dann, wenn jemand sich net helfen lassen will, obwohl‘s möglich wär‘. Aber hier hab ich doch noch Hoffnung.“

Theresa und Lukas schauten sich an und lächelten. Hier schien alles ein bisschen anders als vorher in der Stadt. Vielleicht war es doch eine gute Entscheidung der Eltern gewesen hierherzuziehen.

2

„Hallo, du bist bestimmt Theresa“, sagte die fesche junge Frau, als sie das etwas ungepflegt wirkende Grundstück betrat und das reizende Madl erblickte.

Theresa saß auf einer Schaukel, die an einem festen Ast einer uralten Eiche befestigt war. Das Kind betrachtete die fremde Frau neugierig, blieb aber zurückhaltend.

„Und wer sind Sie?“, fragte sie.

„Mein Name ist Raffaela Meissner, und ich bin mit deinen Eltern verabredet. Die wollen nämlich ein Kindermädchen einstellen, damit deine Mutter etwas Erleichterung hat. Wo ist denn dein Bruder?“

„Meine Mama hat gesagt, ich soll net mit fremden Leuten reden. Da muss ich erst fragen, ob ich Ihnen sagen darf, wo der Lukas ist“, erklärte Theresa altklug.

Raffaela lachte. Das war schon die rechte Erziehung, da musste man nicht gleich befürchten, dass die Kinder womöglich mit einem Fremden mitgingen. Obwohl das hier in Hindelfingen kein Problem sein sollte. Die Kriminalität in diesem Ort war relativ gering, und ein Kapitalverbrechen hatte es wohl seit mehr als zweihundert Jahren nicht mehr gegeben. Aber das hieß ja nicht, dass nicht von außen Leute kommen konnten, deren Absichten undurchschaubar waren.

Im Augenblick spielte das keine Rolle, denn Raffaela wollte sich um diese Stellung bewerben. Die junge Frau hatte eine Ausbildung zur Erzieherin gemacht und auch schon einige Angebote bekommen, denn ihr Abschluss war außergewöhnlich gut gewesen. Aber alle diese Angebote waren von weit außerhalb, und Raffaela wollte Hindelfingen nicht gern verlassen. Ein Zufall hatte es mit sich gebracht, dass sie im nächsten Jahr Aussicht auf eine gute Anstellung im Kindergarten besaß. Bis dahin jedoch brauchte sie auch Arbeit, es war nicht ihre Sache untätig herumzusitzen und die Hände in den Schoß zu legen. Da sie die Arbeit mit Kindern liebte, hatte sie begeistert reagiert, als sie durch einen Freund von diesem Angebot erfahren hatte. Beim Einzug der Familie Enttorf war es bekannt geworden, dass man dort ein Kindermädchen suchte, damit die Mutter nicht weiter belastet wurde. Die Anspannung in der ganzen Familie war ohnehin schon riesengroß, so dass es mittlerweile zu Krisen kam.

Auch diese Tatsache war bereits bekannt, so wie in Hindelfingen nichts geheim bleiben konnte.

Aber Raffaela fand das alles nicht so ungewöhnlich, bei einer solchen Belastung konnte selbst die stärkste Beziehung zerbrechen, wenn es nicht irgendwo ein Ventil gab.

Auch diese Überlegungen schob die junge Frau in den Hintergrund ihrer Gedanken. Erst einmal musste sie die Stellung bekommen.

Theresa machte einen guten wohlerzogenen Eindruck, mit ihr würde es sicher wenig Schwierigkeiten geben, wenn das Kind selbst bereit war, sie zu akzeptieren. Denn da machte sich Raffaela nichts vor, sollten die Kinder sie ablehnen, würde es keinen Sinn machen, diese Stellung überhaupt anzunehmen. Doch als sie noch einmal über die Schulter blickte, sah sie, dass Theresa verschmitzt lächelte und ihr zuwinkte. Na, dann konnte vielleicht doch alles gut laufen.

Kaum hatte sie an der Haustür geklingelt, als diese auch schon aufgerissen wurde, offenbar wollte Siegfried Enttorf gerade hinausgehen und stand nun unvermittelt der Besucherin gegenüber.

Der Mann machte einen erregten Eindruck und hatte wohl auch das Klingeln nicht gehört.

„Ich sag‘s dir, so geht‘s net weiter“, brüllte er über die Schulter zurück, rannte Raffaela fast über den Haufen und schlug das kleine Gartentor hinter sich zu.

Etwas verlegen kam nun die Frau des Hauses, Lena. Sie wirkte bedrückt, war aber wohl fest entschlossen das Beste aus der Situation zu machen.

„Ach, da schau her, hat mein Mann Ihnen fast die Tür vor der Nase zugeschlagen. So ein Depp. Er ist ein bisserl aufgeregt, aber das muss S‘ ja net kümmern, Mannsbilder sind halt anders als wir Frauen. Kommen S‘ herein, ist doch richtig, dass S‘ Raffaela Meissner sind?“

Die junge Frau lächelte und streckte die Hand aus. Lena machte einen freundlichen, wenn auch angespannten Eindruck, aber sie hatte tatsächlich die Situation mit ihrer lockeren Bemerkung gerettet.

Im Wohnzimmer gab es schon keine Spuren vom Umzug mehr. Gemütlich war es, Raffaela fühlte sich auf der Stelle wohl.

„Kann ich Ihnen was anbieten?“, fragte Lena, und die Erzieherin wollte nicht unhöflich erscheinen, so bat sie um einen Tee.

Wenig später saßen sich die beiden Frauen gegenüber, Lena ließ die Zeugnisse auf den Tisch sinken. Das alles spielte für sie keine so große Rolle wie der persönliche Eindruck und die Übereinstimmung mit den Kindern. Außerdem hatte sie einige Fragen, deren Antworten niemals aus einem Zeugnis hervorgehen konnten.

„Warum wollen S‘ diese Arbeit annehmen? Wir können net besonders viel zahlen, und leben können S‘ von dem Gehalt ganz bestimmt net. Sicher gäb‘s für eine Frau mit Ihren Qualifikationen auch noch woanders eine gute Stelle. Verstehen S‘ mich bitt‘schön net falsch, ich find‘s wunderbar, dass sich eine Frau wie Sie um die Kinder kümmern will. Aber ich hab schon ein bisserl Angst, weil ich net sicher bin, dass das auch klappen kann.“

Raffaela hatte natürlich mit einem derartigen Einwand gerechnet. „Schau‘n S‘, ich kann das leicht erklären. Ich hänge sehr an meinen Eltern, und ich bin hier in Hindelfingen daheim. Während der Ausbildung in der Stadt hab‘ ich gemerkt, dass es mir sehr schwer fällt woanders zu leben. Nun dauert‘s aber wenigstens noch ein Jahr, bis ich hier am Ort eine feste Anstellung finden kann. Ich bin net unbedingt darauf angewiesen, viel Geld zu verdienen. Das klingt jetzt vielleicht ein bisserl komisch, aber meine Eltern sind wohlhabend genug, um mich net zu drängen. Ich selbst kann‘s aber nun mal gar net leiden, wenn ich nix zu tun hab, außerdem mag ich‘s net besonders, völlig von meinen Eltern abhängig zu sein. Deswegen will ich auch gern diese Stellung haben. Ich denk‘, es ist was Sinnvolles für beide Seiten.“

Lena war beeindruckt von der Offenheit der jungen Frau, und am liebsten hätte sie schon auf der Stelle zugesagt, auch deswegen, weil ihr Mann sich ohnehin nicht darum kümmern wollte. Ihm ging es nur darum, dass daheim auch endlich wieder annähernd normale Verhältnisse einkehrten. Natürlich belastete die Erzieherin die Haushaltskasse noch zusätzlich, doch diese Ausgabe war wohl unumgänglich.

Die heimtückische Krankheit bei Lukas brachte es mit sich, dass man sich davor hüten musste, dass der Bub auch nur eine Erkältung bekam. Neutropenie, oder wie in diesem Fall eine Abart davon, das Kostmann-Syndrom, war eine komplizierte Erkrankung, die eine Veränderung im Blut hervorrief. Die Zahl der Neutrophilen, die für die Abwehr von Infektionen wichtig ist, vermindert sich dramatisch, bei einigen Patienten gibt es sogar überhaupt keine mehr. So kann sich aus einer harmlosen Erkältung ein lebensgefährlicher Zustand entwickeln. Außerdem hat der Körper keine Möglichkeit Bakterien und Pilze wie auch Viren aller Art abzuwehren, wodurch eine besondere Ernährung notwendig wird. Im anderen Fall konnte es zu schmerzhaften hässlichen Hautausschlägen kommen, die nur schwer wieder unter Kontrolle zu bringen waren.

Neutropenie war in den meisten Fällen angeboren, es gab allerdings auch die seltene Möglichkeit, dass durch bisher noch unbekannte Einflüsse die Erkrankung regelrecht erworben wurde, eine sogenannte idiopathische Neutropenie.

Um einen solchen Fall handelte es sich hier bei Lukas. Als er etwa ein Jahr nach der Geburt begann, eine Infektion nach der anderen einzufangen, hatte es zunächst eine Reihe von erfolglosen Untersuchungen gegeben. Im Blut ließ sich jedoch aus dem Fehlen der so dringend notwendigen neutrophilen Granulozyten die schlimme Diagnose stellen, nachdem endlich ein Arzt überhaupt eine Vermutung in der richtigen Richtung geäußert hatte.

Dem anfänglichen Entsetzen der Eltern waren dann die Umstellungen des täglichen Lebens gefolgt. Als sich schließlich noch herausstellte, dass die Luft in der Stadt für das Atmungssystem von Lukas nicht zuträglich war, hatten Siegfried und Lena nach längerer Diskussion beschlossen nach Hindelfingen zu ziehen. Hier bot sich das Haus relativ günstig an, die Luft war sauber und besaß nur wenige schädliche Keime, und vielleicht konnte auch hier auf dem Land die ganze Familie etwas ruhiger werden.

Bisher schien das jedoch noch nicht der Fall zu sein. Schon seit einiger Zeit kam es zwischen den Eheleuten immer wieder zu Spannungen und Auseinandersetzungen. Besonders Theresa litt darunter sehr und versuchte Lukas vor den Streitigkeiten abzuschirmen. Das hübsche sensible Mädchen hätte alles getan, um dem Bruder zu helfen und die Familie wieder zusammenzuführen. Bisher hatte sie aber noch nie eine Möglichkeit gefunden etwas zu tun, doch als knapp Zehnjährige boten sich ihr nun mal nicht viele Gelegenheiten.

Theresa hatte auch in der Stadt nur eine wirkliche Freundin besessen, aber die vermisste sie jetzt nicht einmal mehr. Vielleicht würde sich irgendwann hier eine neue Freundschaft bilden, doch im Augenblick hatte sie noch kein Interesse daran. Irgendwie hatte sie sich immer vor ihrer Freundin geschämt, wenn es wieder zu einer Auseinandersetzung zwischen den Eltern gekommen war, und sie fürchtete, es könnte hier nicht anders sein.

Aber zunächst einmal wollten sich alle hier einleben, und auch Lukas musste Fuß fassen. Er fühlte sich so verloren, weil die ganze Familie auf ihn Rücksicht nehmen musste. Schuldgefühle bei einem Kind in diesem Alter waren natürlich völlig unsinnig, aber nur Theresa ahnte, wie es in dem Buben wirklich ausschaute.

Ein großer Schritt in die richtige Richtung konnte vielleicht Raffaela sein.

Theresa hatte die junge Frau intensiv gemustert und nichts als Güte und Freundlichkeit gespürt. Das war ein sehr guter Anfang.

Als Lena die Kinder hereinrief, um ihnen Raffaela vorzustellen, war Theresa längst entschlossen der Erzieherin zu vertrauen. Aber schließlich würden die Kinder viel Zeit mit der jungen Frau verbringen, und so mussten sie sich schon vertragen.

Lukas wurde von seiner großen Schwester vorgeschoben. Raffaela hatte längst alles über sein schweres Schicksal erfahren und war voller Mitgefühl. Doch sie wusste, Mitleid würde ihm nicht helfen. Soweit wie möglich sollte er am normalen Leben teilnehmen. Lena arbeitete von zu Hause aus und schrieb Artikel für eine Zeitung, auch das war ein Grund, warum die Kinder eine qualifizierte Betreuung brauchten. Es war für die Frau wichtig, den Kontakt zum Leben und zur Arbeit nicht zu verlieren, sie hoffte, eines Tages wieder voll in den Beruf einsteigen zu können.

Raffaela klopfte das Herz plötzlich bis zum Halse. Irgendwie wollte sie unbedingt, dass Lukas und Theresa sie akzeptierten. Sie glaubte, den Kindern helfen zu können, und sie spürte augenblicklich die Traurigkeit hinter dem aufgesetzten Lächeln.

„Das ist Raffaela, und sie möchte gern eure Erzieherin werden, wenn ihr sie mögt“, erklärte Lena.

„Ich denk‘ schon“, gab Theresa rasch zurück. Lukas zog die Nase kraus, schaute die junge Frau an und lachte dann.

„Ja, freilich, warum net, wenn sie dafür sorgt, dass ich ein Tier haben kann.“

Lenas Gesicht wurde traurig. „Aber du weißt doch, mein Schatz, dass das net geht.“

„Ach, dann ist mir das auch egal“, sagte der Bub jetzt geknickt und wandte sich ab. Eine erste Bewährungsprobe für Raffaela. Sie reagierte rasch, stand auf und legte ihm eine Hand auf die schmale Schulter.

„Halt, wart‘ mal, junger Mann. So ganz genau weiß ich natürlich noch net, was du darfst und was net, aber ich denk‘, wir sollten mal mit dem Doktor reden und ihn fragen. Vielleicht tät‘s ja doch noch was geben. Sei net gleich so traurig. Und wenn‘s kein Tier sein darf, dann finden wir bestimmt was anderes.“

Lena hätte es nicht für möglich gehalten, doch das Wunder geschah. Lukas lauschte den Worten und lächelte dann. Er war sonst eigentlich ein pflegeleichtes Kind, nur selten quengelte oder nörgelte er. Doch er bat seit geraumer Zeit um ein Haustier, was die Eltern aus verständlichen Gründen verweigerten.

„Bitte, machen S‘ dem Buben keine Hoffnungen, die man net erfüllen kann“, bat Lena, doch Raffaela lächelte zuversichtlich.

„Wir werden sehen. Aber nun bleibt trotzdem die Frage, ob ihr mit mir einverstanden seid“, beharrte sie und wartete auf eine Antwort.

„Ja, freilich, ich glaub‘ eigentlich net, dass wir eine finden, die noch besser ist“, bestätigte Theresa und zog das neue Kindermädchen einfach mit sich, Lukas folgte.

Lena war verblüfft, so rasch hatten die beiden noch nie Vertrauen zu jemandem gefasst. Liebe auf den ersten Blick, dachte die Frau und war erleichtert, dass es offensichtlich ein Problem weniger gab.

3

Diabetes mellitus. Die Diagnose hing wie ein Damoklesschwert über dem Mann mittleren Alters, der hier im Sprechzimmer von Daniel Ingold saß und das Ergebnis offensichtlich bezweifelte.

„Zuckerkrankheit?“, murmelte er verwirrt. „Ja, aber das kann doch gar net sein. So was kriegen ältere Leut‘, die Übergewicht haben und sich falsch ernähren und zu wenig bewegen. Aber ich doch net.“

Ferdinand Glos, der so überaus erfolgreiche Bankmanager, der in der Stadt eine gute Stellung bekleidete, schüttelte zum wiederholten Mal den Kopf.

„Das ist doch Schmarrn, Daniel, du musst dich irren. Ich leb‘ gesund, treibe Sport, rauche net und trinke mäßig. Nein, ganz bestimmt hast dich vertan.“

Doktor Ingold hatte geduldig zugehört, jetzt schüttelte er allerdings energisch den Kopf.

„Da ist kein Irrtum möglich, Ferdi. Die Untersuchungen sind da ganz eindeutig. Und es stimmt natürlich net, dass nur ältere Leut‘ mit Übergewicht und ungesunder Lebensweise Diabetes bekommen. Bei dir handelt es sich sogar um eine besondere Form, bei der eine Störung der körpereigenen Insulinrezeptoren vorliegt. Da hat‘s dir bisher wahrscheinlich schon geholfen, dass du ansonsten ziemlich gesund bist, mal abgesehen von dem Stress, dem du dich tagtäglich aussetzt. Machst also am besten weiter mit der gesunden Lebensführung.“

„Ja, schon recht, aber was bedeutet das jetzt für mich weiter? Muss ich auf alles Mögliche verzichten, vor jedem Bissen beim Essen, womöglich mit Geschäftsfreunden im Restaurant, den Blutzucker messen und dann womöglich spritzen? Du weißt ja net, wie das meiner Karriere schaden könnt‘. Wenn mein Vorstand auch nur den leisesten Verdacht hat, ich könnt‘ net mehr voll belastbar sein, täten die mich auf der Stelle entlassen. Da kannst mal sicher sein. Also muss es doch noch andere Möglichkeiten geben ...“ Er brach hilflos ab, vor seinem inneren Auge zerstörte sich das Kartenhaus aus Karriere und Wohlstand mit einem Schlag.

„Nun mach‘ dich aber mal net verrückt, Ferdi“, bremste Daniel die unangebrachte Aufregung. „Erst mal vorweg, du glaubst gar net, wie viele Leut‘ an dieser Krankheit leiden, ohne dass es jemand bemerkt. Und schließlich musst ja net öffentlich spritzen, so was sollt‘ man anderen Leuten net einfach so zumuten. Wichtig ist zunächst mal, dass du mit deinen Werten richtig eingestellt wirst. Du musst lernen, die Einheiten zu berechnen und deinem Körper mit den Injektionen eine entsprechende Hilfestellung zu geben. Sieh das also mal aus der Richtung. Du darfst jetzt net glauben, dass du deswegen net mehr belastbar bis. Wennst dich an deine Einstellungen hältst, verläuft dein Leben ganz normal, nur musst halt immer wieder auf den Blutzuckerspiegel achten. Da gibt‘s aber mittlerweile eine Menge Hilfsmittel, die das so schnell erledigen, wie du eine Unterschrift auf einen Vertrag setzt.“

Skeptisch runzelte der Mann die Stirn. „Das hab ich aber neulich bei einer alten Tante aus der Familie noch ganz anders gesehen. Die hat also einen Riesenaufstand gemacht und erst mal eine Viertelstunde herumgerechnet – und dann war‘s immer noch net richtig.“

„Das Problem ist mir leider bekannt. Grad bei älteren Leuten tauchen immer wieder Schwierigkeiten auf. Manchmal sind die net richtig eingestellt, manchmal kommen die auch mit sich selbst net klar. Und natürlich musst bedenken, dass die nur eine Grundausstattung bekommen, mehr zahlt die Krankenkasse net. Jemand der bereit ist, eine größere Summe auszugeben, kann sich eine Ausstattung besorgen, bei der es fast zum Kinderspiel wird, die regelmäßigen Kontrollen und Verabreichungen vorzunehmen. Es kostet halt eben Geld, und es liegt beim Patienten selbst, ob er das investieren kann und möchte. Du allein entscheidest, auch darüber, ob du mit der Krankheit fertig werden kannst. Wenn du sie als deinen persönlichen Feind betrachtest, wird es nicht einfach für dich werden.“

Ferdi war kleinlaut geworden. Für ihn schien es ja schon ein Unding, dass er überhaupt krank geworden war. Er passte doch immer so sehr auf. Wie konnte ihn sein Körper da einfach so im Stich lassen? Nun ging es nicht einmal darum, dass die Erkrankung in absehbarer Zeit wieder verschwinden würde – nein, er musste sich für den Rest seines Lebens damit herumplagen. Welche Zumutung! Und der Doktor saß hier in aller Gemütsruhe und versuchte ihm begreiflich zu machen, dass es doch gar nicht so schlimm sein konnte.

Nein!

Aber das Aufbegehren nützte ihm nichts. Als Geschäftsmann war er es gewöhnt, den knallharten Tatsachen ins Auge zu sehen.

Diabetes mellitus war demnach eine Tatsache, auch wenn er noch immer nicht so ganz daran glauben wollte, dass es ausgerechnet ihn getroffen hatte.

Ferdinand holte tief Luft und rang um seine Fassung.

„Ich werd‘ mich dann also mit den Tatsachen abfinden müssen, denk‘ ich. Lass uns also anfangen. Wie geht das mit dem Einstellen?“

Auch wenn Ferdi so offenbar ganz beherrscht und ruhig wirkte, ließ Daniel sich davon nicht täuschen. Der Schock saß tief in dem Mann, es fiel ihm offensichtlich schwer zu akzeptieren, dass eine solche Erkrankung einen jeden treffen konnte, mochte er nun alt oder jung, körperlich fit oder von schwächlicher Konstitution zu sein. Deshalb hatte der Arzt auch nicht vor, noch heute das Thema weiterzuführen. Fürs erste gab er seinem Patienten einige gute Ratschläge und die dringende Bitte, am nächsten Morgen gleich wieder hier zu sein. Bis dahin war der erste Schock vorbei, dann konnte man darangehen die Einstellung vorzunehmen. Anhand der augenblicklichen Werte verabreichte der Doktor ein Medikament, mit dem Ferdi bis zum nächsten Tag klarkommen sollte.

Ferdinand Glos gehörte zu den Menschen, die nur sehr selten von Krankheiten heimgesucht wurden. Er kam einmal im Jahr zur Routineuntersuchung und hielt selbst das für überflüssig. Daniel stand nun vor der gar nicht so leichten Aufgabe dem Mann beizubringen, dass diese Form von Diabetes mellitus zwar eine ernsthafte Erkrankung war, doch die Beeinträchtigung des täglichen Lebens hielt sich in Grenzen, wenn man einige Grundregeln beachtete. Das alles konnte man dem Patienten aber auch am nächsten Tag noch beibringen. Der Doktor sah ohnehin einiges an Schwierigkeiten voraus, denn diese besondere Form der Erkrankung war im Anfang schwer zu kontrollieren. Die Werte würden zunächst schwanken. Davon sagte er jetzt besser noch nichts, die Erschütterung war auch so schon groß genug. Morgen sah alles hoffentlich wieder etwas anders aus. Ferdi war ein intelligenter verständiger Mann, der würde hoffentlich rasch begreifen, worauf es ankam.

Verwirrt und niedergeschlagen verließ der Patient die Praxis, da nutzten auch die tröstenden Worte des Arztes nicht viel, er fühlte sich angegriffen und verletzt. Ein harter Schlag für den erfolgreichen Manager, der bisher von Niederlagen weitgehend verschont geblieben war.

Daniel hätte ihm gern davon erzählt, mit welcher Ruhe und Geduld der kleine Lukas sein schweres Los trug. Den Bub hatte es ja nun wirklich schlimm getroffen, aber er nahm es so hin, wie es kam. Sicher lag das auch daran, dass er von klein auf nichts anderes kannte. Überall musste er vorsichtig sein, eine Erkältung, die andere nach zwei Wochen auskuriert hatten, konnte bei ihm zu einer todbringenden Lungenentzündung ausarten, ein Schnupfen konnte über Mittelohr und Nasennebenhöhlen bereits auf das Gehirn übergreifen, und ein aufgeschlagenes blutiges Knie zog womöglich eine Sepsis nach sich.

Das waren Einschränkungen im täglichen Leben, die man schon eher als gravierend bezeichnen konnte. Davon würde Ferdi verschont bleiben. Diabetes war heutzutage gut unter Kontrolle zu bekommen, selbst diese Ausnahme.

Aber auch für Lukas gab es Hoffnung, wie der Arzt im Zuge seiner Nachforschungen herausgefunden hatte. Da er bisher noch nie mit einem Fall von Neutropenie konfrontiert gewesen war, hatte er es sich zur Aufgabe gemacht, sein Wissen zu erweitern. Schließlich besaß jeder Patient das Anrecht auf die bestmögliche Behandlung. Wenn also Familie Enttorf so viel Vertrauen zu ihm besaß, dass sie Lukas in seine Obhut als behandelnden Arzt gab, dann war es seine Sache, alles herauszufinden, was er wissen musste, um dem Patienten das Leben zu erleichtern. Dabei war er auf ein Medikament mit dem unmöglichen Namen G-CSF gestoßen. Bei einigen Patienten mit dem Kostmann-Syndrom hatte es wahre Wunder gewirkt und ermöglichte ein fast normales Leben. Das galt natürlich nicht für jeden Patienten, doch wenn man es nicht versuchte, konnte man auch nicht wissen, ob es wirkte.

Die andere Möglichkeit war eine Knochenmarktransplantation, die offenbar noch niemand ernsthaft in Erwägung gezogen hatte. Das war allerdings auch verständlich, denn der Junge war nicht gerade kräftig zu nennen, sollte es nach der Operation zu einer Abstoßungsreaktion kommen, bestand durchaus Lebensgefahr.

Vor einiger Zeit hatte es in Hindelfingen eine große Typisierungsaktion gegeben, bei der fast jeder Einwohner sich in die Liste hatte aufnehmen lassen. Eine gute Sache, und wenn man in Frage kam für eine Spende dieser Art, war es relativ einfach, ein Menschenleben zu retten. Dem Spender wurde aus dem Beckenknochen Mark entnommen, was sich rasch wieder neu bildete. Dieses Mark bildete jedoch eine gute Grundlage für den Patienten. Der Spender konnte nach drei bis vier Tagen im Hospital schon wieder zur Arbeit gehen, doch mit diesem relativ ungefährlichen Eingriff war vermutlich das Leben eines Menschen zu retten.

Knochenmarktransplantationen waren heutzutage üblich bei Leukämie, aber auch bei Neutropenie, wie Daniel mittlerweile wusste.

In diesem Fall, bei Lukas, war allerdings nicht gesagt, dass die Übertragung helfen würde. Der beste Spender war immer ein naher Verwandter, hier schien aber keiner aus der Familie passend zu sein. Oder gab es womöglich noch gar keine Kreuzproben?

Vielleicht half aber auch schon das neue Medikament, nach einer gewissen Anlaufzeit natürlich erst. Wie fast überall musste man auch hier Geduld haben. Da traf es sich gut, dass Lukas der nächste Patient im Wartezimmer war, er sollte das Rezept abholen. Er kam zusammen mit seiner Schwester und Raffaela. Nun gut, wenn das Madl die Stelle als Erzieherin hatte, war das bestimmt eine gute Idee. Aber mit ihr konnte man natürlich keine neue Therapie bereden.

Der Doktor nahm sich vor, heute oder an einem der nächsten Tage die Familie aufzusuchen. Daheim würde er dann auch vielleicht einen besseren Eindruck von den Lebensumständen bekommen.

4

„Ich find‘ diesen Doktor so ganz anders“, bemerkte Theresa, als sie mit Raffaela und Lukas die Praxis wieder verließ. Minchen, die liebevolle Arzthelferin, hatte die Kinder großzügig mit Gummibärchen versorgt, und Maria hatte sogar noch ein Puzzle aufgetrieben, was ein Pharmareferent als Werbegeschenk hiergelassen hatte. Außerdem hatte der Doktor geraten, doch mal bei der Tierärztin hineinzuschauen. Die hatte immer eine ganze Reihe von Tieren in Pflege. Wenn Lukas schon kein eigenes Haustier haben durfte, so konnte es ihm doch nicht großartig schaden, wenn er wenigstens bei einem Besuch ab und zu etwas von den Viecherln mitbekam.

Daniel fand es nicht so problematisch, dem Buben ein Tier zu schenken. Er war Tag für Tag allen möglichen Infektionen ausgesetzt, da konnte es eigentlich nicht mehr viel ausmachen, wenn er ein reinliches Haustier sein Eigen nannte. Natürlich sollte es keines sein, bei dem Haltung und Pflege die Familie und die Gesundheit noch mehr belasteten. Eine Katze, so zutraulich und anschmiegsam sie auch sein mochte, war die falsche Entscheidung. Beim Spielen oder Balgen konnte es rasch passieren, dass das Tier kratzte, und für Lukas waren auch kleine Wunden ein Risiko. Ein Hund hatte die Angewohnheit zu schlecken, auch dabei würden unnötig Keime und Bakterien übertragen. Aber ein Meerschweinchen zum Beispiel war eine gute Wahl.

Psychologisch schien es für das Kind ebenfalls von Vorteil. Nicht nur, dass der Bub dann einen kleinen Kameraden zum Kuscheln hatte, er lernte auch Verantwortung für andere zu tragen. Das war mit ein Grund, warum Daniel mit den Eltern reden wollte.

Jetzt erschien es ihm erst einmal als gute Idee die Kinder zur Bernie zu schicken, die würde schon dafür sorgen, dass ein Lachen in den viel zu ernsten Gesichtern auftauchte.

„Wieso meinst, dass dieser Doktor so ganz anders ist?“, wollte Raffaela jetzt wissen.

„Na, wir sind ja mit dem Lukas schon bei vielen Ärzten gewesen. Aber ich hab noch keinen gesehen, mit dem man so lachen kann, und der auch mal andere Fragen stellt. Net so wie nach der letzten Konstruktion der Aorta, oder wie auch immer diese Dinger heißen.“ Theresa kicherte. So hatte sie sich den Besuch beim Arzt niemals vorgestellt.

Daniel hatte gefragt, ob Lukas und sie denn schon einen Drachen besaßen, um auf den Stoppelfeldern dem großen Spaß nachzugehen. Bei ihr hatte er sich zusätzlich erkundigt, ob sie denn in der Schule schon ein Madl gefunden hatte, mit dem sie Freundschaft schließen konnte. Als er dann schließlich davon berichtet hatte, mit der Tierärztin befreundet zu sein, war gleich die Frage von Lukas nach einem Haustier gekommen. Statt des klaren Nein, was bisher von allen anderen Doktoren ausgesprochen worden war, hatte Daniel gemeint, darüber wollte er mit den Eltern reden. Die hätten schließlich die Entscheidung zu treffen. Aber bis dahin könnten sie doch mal die Bernie besuchen und dort eine ganze Reihe von Tieren bewundern und kennenlernen.

Verwundert hatte Theresa den Kopf geschüttelt. Sollte sich denn dieser Umzug in diesen kleinen Ort, der so ganz anders war als die Stadt, als Segen erweisen?

Das Dirndl freute sich auf den Besuch bei der Tierärztin, denn Raffaela hatte gleich zugestimmt, ohne erst die Eltern zu fragen, die vielleicht doch etwas dagegen einwenden würden. Aber wenn es doch der Doktor selbst vorgeschlagen hatte, konnte nichts Falsches daran sein, oder?

Im Wartezimmer bei Bernie Brunnsteiner herrschte Trubel, von der Schildkröte bis zum ausgewachsenen Rottweiler waren alle möglichen Tiere vertreten. Lukas blickte mit großen Augen umher, wich dann aber doch etwas ängstlich zurück, als er in einem Korb sogar eine Schlange entdeckte.

Die junge fesche Tierärztin war halt für alles zuständig, und schließlich betreute sie ja auch die umliegenden Gehöfte und sogar das Gestüt vom Friedrich Vorderegger.

Raffaela meldete die Kinder an der Rezeption an, und dort wusste man schon Bescheid. Gleich darauf kam die junge Frau mit den kurzen Haaren und den fröhlichen Augen mit ausgestreckter Hand auf Lukas und Theresa zu.

„Ich bin die Dr. Bernie. Der Daniel hat mir schon erzählt, dass ich hier zwei neugierige Nasen hab, die gern meinen eigenen Zoo kennenlernen wollen. Na, dann kommt mal mit. Ich will doch net hoffen, dass einer von euch Angst vor einem Pony hat?“

Das war natürlich die große Überraschung, von der Daniel sehr wohl gewusst hatte. Bernie versorgte für zwei Wochen ein quicklebendiges Pony. Eigentlich betrieb sie keine Tierpension, doch sie hatte sich den Bitten des Besitzers nicht verschließen können, und so tobte „Bonanza“ fröhlich über die Weide, die zum Grundstück der Tierärztin gehörte.

Außerdem hatte sie augenblicklich vier Hunde, drei Katzen, ein Frettchen, zwei Meerschweinchen und ein Kaninchen in Pflege. Da war es schon richtig, von einem Zoo zu sprechen, obwohl sich ein wenig außerhalb des Ortes die Filmtierschule befand, wo es dann auch wirklich exotische Exemplare gab.

Jetzt aber staunten Theresa und Lukas. Bernie hatte ihre treue Helferin, Gertrud, damit beauftragt, sich um die Kinder zu kümmern. Gemeinsam mit Raffaela setzte sie den Buben auf das Pony, und er kam zum ersten Mal in seinem Leben in den Genuss einer improvisierten Reitstunde. Natürlich kam auch Theresa an die Reihe, denn nach Ansicht von Daniel wurde sie viel zu sehr übergangen. Es wäre so wichtig für beide Kinder, viel mehr zu lachen.

Einen so wundervollen Nachmittag hatten die beiden seit langer Zeit nicht mehr erlebt – vielleicht sogar überhaupt noch nicht. Müde, erschöpft, aber überglücklich kehrten sie schließlich nach Hause zurück und überschlugen sich förmlich in ihren Erzählungen.

Das Gesicht von Siegfried verdüsterte sich zusehends.

„Ich weiß net, was diesem Doktor einfällt, unseren Buben einem solchen Risiko auszusetzen“, grollte er, hielt aber inne, als seine Frau ihn flehend anschaute.

„Meinst net, dass das bisschen Gefahr net ganz so schlimm ist, wenn der Lukas dafür ein bisserl Glück bekommt?“, gab sie zu bedenken.

Raffaela spürte die Spannungen zwischen den Eheleuten, und sie hatte längst erkannt, wo hier das Problem lag.

Siegfried fühlte sich ein bisschen um seinen Sohn betrogen. Er konnte nun einmal nicht mit Lukas zum Fußballspielen gehen, zum Angeln oder Bootfahren, weil überall die Gefahr von Verletzungen und Infektionen lauerte. Er bemühte sich Geld zu verdienen, um damit etwas zu ändern, doch Reichtümer besaß er nicht, oft genug war es mehr als knapp. Für das, was er nach Hause brachte, wollte er dann wenigstens einen Ausgleich haben, musste aber feststellen, dass seine Frau selbst viel zu sehr auf das Kind und seinen Zustand fixiert war, als dass er dort wenigstens etwas Ausgleich und Entspannung fand. Insgesamt ein unguter Zustand, an dem die junge Frau jedoch nichts ändern konnte. Aber vielleicht würde es Daniel Ingold gelingen, diesen Teufelskreis zu durchbrechen. Denn eines wusste Raffaela auch genau, Siegfried liebte seine Familie, und er würde alles für sie tun, ebenso wie Lena bereit war zu allem, um ein bisserl Glück aufkommen zu lassen.

Im Augenblick schaute es aber leider noch so aus, als sollte sich an der harmlosen Tatsache eines Besuches bei der Tierärztin ein Streit entzünden, der ebenso überflüssig war wie ein Kropf. Auch wenn es ihren Prinzipien widersprach, mischte sie sich dieses Mal ein.

„Herr Enttorf, ich glaub‘ fast, da haben S‘ bisher mit Ärzten zu tun gehabt, die sich net genug Mühe gegeben haben, ohne dass ich jetzt jemanden beschuldigen möcht‘. Aber unser Doktor Ingold ist dafür bekannt, dass er sich erst mal schlau macht, bevor er auch nur das kleinste Risiko eingeht. Und genau das hat er jetzt auch getan. Zu mir hat er jedenfalls was von einem Medikament gesagt, über das er mit ihnen beiden noch reden will. Und der Lukas könnt nur dadurch gewinnen, wenn er ein bisserl Lebensfreude hätt‘, wie auch die Theresa.“

Siegfried wollte im ersten Moment aufbrausen, weil er meinte, er müsste sich weder vom Kindermädchen noch vom Arzt in seine Familie hineinreden lassen. Nach einem Moment des Nachdenkens, in dem Raffaela ihm offen und ehrlich ins Gesicht schaute, nickte er langsam.

Hier in Hindelfingen schien alles ein wenig anders zu sein. Und wenn diese junge Frau, die durch ungerechtfertigten Widerspruch sogar ihre Stellung verlieren könnte, für den Arzt sprach, dann sollte er selbst vielleicht doch einen Versuch machen. Und ein neues Medikament? Entweder log der Arzt, oder der letzte behandelnde Doktor hatte wirklich nicht genug getan.

„Na gut, dann werd‘ ich sehen, dass wir einen Termin bei Dr. Ingold bekommen ...“

„Net nötig“, unterbrach Raffaela. „Der Daniel hat gesagt, dass er heut‘ oder morgen zu einem Hausbesuch kommt.“

„Aber das kostet“, begann der Mann, zuckte dann aber die Schultern. „Ist vielleicht gar net so verkehrt, dann muss der Lukas net im Wartezimmer sitzen und kriegt womöglich die nächste Erkältung.“

„Herr Enttorf“, sagte Raffaela sanft. „Wenn der Doktor von sich aus einen Hausbesuch verordnet, dann berechnet er das net extra. Mir ist klar, dass S‘ zunächst mal alles selbst bezahlen müssen, weil die Krankenkasse die Kosten erst später erstattet. Und wahrscheinlich werden die nachfragen, ob ein Hausbesuch unbedingt notwendig ist. Aber hier schaut das alles net so schrecklich aus. Da sollten S‘ sich mal keine großen Sorgen machen. Ich glaub‘, in der Stadt ist‘s Ihnen net besonders gut ergangen. Wollen S‘ net mal versuchen hier am Ort so zu leben, wie es alle Leut‘ tun? Das könnt doch bestimmt net schaden. Und außerdem ist hier ein jeder bereit zu helfen, wenn jemand Hilfe braucht. Hier gibt‘s keine Anonymität, sondern ein großes Miteinand‘. – Was manchmal allerdings auch zur Folge hat, dass unsere Tratschtante, die Kollmannberger Vreni, Gerüchte erzählt, die noch gar net eingetroffen sind. Aber damit kann man leben, denn sie ist auch stets die erste, die mit Rat und Tat zur Seite steht, wo‘s nötig ist.“

Siegfried schaute etwas verwirrt drein. „Ich glaub‘ fast, ich hab hier eine ganze Menge zu lernen. Ich geb‘ zu, so was bin ich net gewohnt. Wir hatten uns in der Stadt doch ziemlich von allem abgekapselt, weil wir niemandem zur Last fallen wollten mit den Sorgen um unseren Buben. Unser Freundeskreis ist arg klein, und vielleicht fehlt uns da was, der zwischenmenschliche Kontakt, oder so was. Aber von heut‘ auf morgen kann ich mich auch net ändern. Dazu braucht‘s Zeit. Nur, ich sollt‘s versuchen, aber net gleich heut‘. Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass S‘ sich die Mühe machen, uns das alles zu erklären. Für heut‘ langt‘s dann aber wohl mit den Überraschungen. Schön, dass S‘ mit den Kindern gut zurechtkommen. Dann bis morgen.“

So ganz war Raffaela noch nicht davon überzeugt, dass sich das alles so einfach gestalten würde, wie es sich im Augenblick darstellte. Hier brauchte die ganze Familie Hilfe, und die junge Erzieherin konnte die wohl kaum geben. Aber für die Kinder konnte sie da sein, vielleicht würde die Mutter auch etwas davon profitieren, dann war schon viel gewonnen.

Raffaela verabschiedete sich und schaute in die enttäuschten Gesichter der Kinder.

„Ich bin morgen wieder da“, versprach sie. „Ihr müsst net traurig sein.“

„Ist das auch wahr, kannst das versprechen?“, fragte Theresa, die offenbar ihr Herz ganz und gar verschenkt hatte.

„Aber ja, mein Schatz. Und ich lass mir was Besonderes einfallen, damit‘s uns auch net langweilig wird.“

Lena brachte die junge Frau bis zur Tür und verabschiedete sich besonders herzlich. „Ich dank‘ ihnen, Raffaela. Irgendwie hab‘ ich tatsächlich das Gefühl, hier ist was im Gange. So hab ich die Kinder noch nie erlebt, langsam glaub‘ ich selbst, es könnt‘ sich was ändern. Ich freue mich schon auf morgen. Wenn S‘ mögen, backe ich uns einen Kuchen.“

„Lassen S‘ uns das doch zusammen mit den Kindern machen. Ich bin sicher, die haben Spaß daran.“

Eine solche Idee hatte Lena noch nie gehabt, aber sie fand das hervorragend.

5

Zwei Stunden später lagen die Kinder im Bett, und die Eheleute saßen schweigsam vor dem Fernseher, ohne von dem Programm wirklich etwas aufzunehmen.

„Glaubst daran? Ich mein‘, dass es für den Lukas Hoffnung geben könnt‘?“, fragte Siegfried nach einer Weile.

„Ja“, sagte Lena fest. „Ja, ich glaub‘ daran, seit ich diesen Doktor Ingold kennengelernt hab‘. Der gibt sich Mühe, und der sieht seine Patienten net nur als Nummer an. Der nimmt Anteil.“

„Und was denkst über die Menschen hier?“

Die Frau überlegte einen Moment. „Die sind ungewöhnlich, und für uns ist das ganz sicher gewöhnungsbedürftig. So offen in der Rede, aber auch herzlich. Weißt, vielleicht sollten wir uns net länger so einigeln. Geh doch einfach mal ins Gasthaus und trink ein Glas mit den Mannsbildern hier. Tut dir sicher auch gut, wenn du mal ein bisserl Abwechslung hast.“

„Willst mich jetzt loswerden?“, neckte Siegfried plötzlich liebevoll, was er schon lang nicht mehr getan hatte. Erstaunt schaute die Frau auf.

„Ich glaub‘ tatsächlich, so langsam geht hier mit uns etwas Seltsames vor. Da sind wir grad mal ein paar Tage in Hindelfingen, und schon wird unser Leben total verändert.“

„Lass uns das Beste hoffen. Ich tät‘ viel drum geben, wenn‘s zwischen uns mal wieder so werden könnt‘ wie früher.“ Er zog sie fest an sich und küsste sie, und Lena bekam Herzklopfen. Doch da klingelte es an der Tür. Daniel Ingold machte wirklich noch einen Hausbesuch.

6

„Mama, darf ich wohl mal ein Madl aus der Schule einladen?“, fragte Theresa schüchtern.

In der vergangenen Woche hatte sich in der Familie einiges geändert. Siegfried und Lena hatten ein sehr langes Gespräch mit Daniel geführt, in dessen Verlauf der Arzt die zwei davon überzeugt hatte, dass er sich mittlerweile recht gut mit der Neutropenie auskannte. Doch von diesem neuen Wirkstoff hatten die Eltern noch nichts gehört, obwohl der seit mehr als fünf Jahren eingesetzt wurde.

G-CSF wirkte nicht bei allen Patienten, aber welches Medikament tat das schon? Einen Versuch war es allemal wert, denn verschlechtern konnte sich der Zustand des Buben kaum. Das war der erste Punkt, den Daniel auf seiner Liste abhaken konnte. Der nächste war allerdings ungleich schwieriger, ein Haustier für Lukas.

Siegfried konnte gerade noch einsehen, dass es psychologisch sinnvoll war, doch er brachte einen Einwand vor, der nicht so leicht zu entkräften war.

„Schau‘n S‘, Herr Doktor, es mag ja ein noch so kleines Tier sein, aber auch das verursacht Kosten. Ich will‘s dem Lukas gern gönnen, wenn S‘ der Meinung sind, dass es ihm hilft, aber schon jetzt bewegen wir uns am Rande unserer Möglichkeiten. Eigentlich können wir uns die Raffaela schon net mehr leisten, ich werd‘ dafür extra Überstunden machen müssen. Und dann noch ein Tier? Wenn ich ganz ehrlich sein soll, Doktor, weiß ich im Augenblick net mal, ob wir uns das auf Dauer leisten können, hier im Hause wohnen zu bleiben. So, jetzt wissen S‘, wie‘s bei uns ausschaut. Ist nix besonders Schönes. Ich geb‘ weder dem Lukas die Schuld mit der Krankheit, noch sonst wem, aber es ist eine Tatsache, dass diese Familie auseinanderbrechen wird, wenn sich nix ändert, und zwar bald.“

Daniel war froh, dass der Mann so offen über die Probleme sprach, da gab es doch wenigstens eine Möglichkeit was dagegen zu unternehmen – wenn Siegfried nichts einzuwenden hatte und die Hilfe ganz einfach zuließ. In Hindelfingen würde niemand einfach zuschauen, wenn irgendwo Not herrschte, wo man es verhindern konnte.