Aschenputtelfluch - Krystyna Kuhn - E-Book + Hörbuch

Aschenputtelfluch E-Book

Krystyna Kuhn

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Beschreibung

Idyllisch liegt das Internat Ravenhorst in einem Seitental. Doch als sich eine der Schülerinnen vom Glockenturm stürzt, wandelt sich die Idylle in einen Albtraum. Warum hat sich Kira in den Tod gestürzt? Jule, eine der Neuen im Internat, macht sich auf die Suche. Aber sie stößt bei ihren Mitschülern auf eine Mauer des Schweigens. Bis sich die Ereignisse zu wiederholen scheinen.

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Seitenzahl: 225

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Krystyna Kuhn

Aschenputtelfluch

Krystyna Kuhn wurde 1960 als siebtes von acht Kindern in Würzburg geboren. Sie studierte Slawistik, Germanistik und Kunstgeschichte, unter anderem in Moskau und Krakau. Sie arbeitete als Redakteurin und Herausgeberin. Seit 1998 ist sie freischaffende Autorin und schreibt mit Vorliebe Thriller und Krimis. Krystyna Kuhn lebt mit ihrem Mann und ihrer Tochter in der Nähe von Frankfurt.

Veröffentlicht als E-Book 2010 © 2009 Arena Verlag GmbH, Würzburg Alle Rechte vorbehalten Einbandgestaltung: Frauke Schneider ISBN 978-3-401-80070-7

www.arena-verlag.de Mitreden unter forum.arena-verlag.de

Für Jennifer James

»Mut ist nicht die Abwesenheit von Angst, sondern vielmehr die Erkenntnis, dass etwas anderes wichtiger ist als Angst.« Aus dem Film »Plötzlich Prinzessin« von Garry Marshallnach dem gleichnamigen Buch von Meg Cabot

Kiras Tagebuch

Allerletzter Eintrag

Nie hätte ich gedacht, dass ich das hier einmal schreiben würde. Wozu echte Verzweiflung fähig macht! Soll ich es wirklich tun? Ist das tatsächlich der einzige Ausweg?

Ich bestätige meinen Benutzernamen (kira) und das Passwort (cinderella) und muss nicht lange überlegen. Meine Finger fliegen geradezu über die Tasten, als würde mir ein Geist die Worte zuflüstern, die mich aus dem dunklen Tunnel führen werden.

Oder will ich nur schnell zum Ende kommen, um diese Geschichte, die mein Leben ist, hinter mich zu bringen? Egal ich kann nicht mehr. Es hat alles keinen Sinn. Wie konnte ich nur hoffen, nach den Ferien hätte sich alles geändert? Es gibt keine Wunder! Nicht für mich!

Heute Mittag war ich als Erste am Treffpunkt Hauptbahnhof Leipzig. Frau Sturm wartete bereits am Ostausgang. Ich habe sofort auf sie eingeredet, dass ich das Zimmer wechseln möchte.

»Ihr seid genau acht Mädchen in eurem Jahrgang, Kira. Die Zweibettzimmer sind voll belegt. Ich habe schon alle aufgeteilt! Und du weißt ja, Frau Schüler hat es nicht gern, wenn man ihre Pläne durcheinanderbringt.«

»Den Neuen ist es egal, mit wem sie zusammenwohnen!«

»Ist etwas nicht in Ordnung?«

Nur weil die Sturm ihre Röntgenbrille aufhat, glaubt sie, jeden von uns durchschauen zu können, und bildet sich ein, ihr entgehe nichts. Ich kann darüber nur lachen. Selbst wenn ihr Gehirn ein Computertomograf wäre, würde sie niemals hinter unsere Geheimnisse kommen. Blind ist sie! Taub und blind! Wie alle Lehrer. Sie kapieren nichts! Denn sie wollen nichts davon wissen, von den bösen, grausamen Spielen. All die Tränen, die Verzweiflung, die Wut, der Hass sie sind verborgen in unseren dunklen Seelen.

Jedenfalls musste ich lange auf sie einreden, bis sie nachgegeben hat.

Und nun? Alles umsonst! Zu spät!

Meine düsteren Vorahnungen haben sich bestätigt.

Die Zeit heilt alle Wunden?

Nein, sie macht sie nur noch schlimmer.

Wie viele Wochen, Tage, Stunden, Minuten, Sekunden soll ich noch warten? Wie viele Versuche soll ich noch unternehmen, um aus dem schwarzen Loch herauszukriechen?

Wen gibt es, der mir darauf eine Antwort geben kann?

Nein, ich bin müde, möchte mich einfach fallen lassen.

Ich habe IHN nur kurz am Bahnhof gesehen. KEIN Wort zur Begrüßung. Nicht einmal ein Blick.

Und die ganze Zeit im Bus ihre Stimme.

Wie sie mit lauter Stimme erzählt und gelacht hat. Dann wieder dieses Flüstern. Obwohl ich sie nicht sehen konnte, spürte ich ihre Blicke im Nacken wie Nadelstiche. Ja, klar, ich habe so getan, als würde ich nichts merken. Und doch habe ich die ganze Zeit an nichts anderes gedacht.

Alles ein abgekartetes Spiel, bei dem ich nur verlieren kann. Denn die Regeln haben sie mir nicht verraten.

Als ich ausgestiegen bin, fühlte ich mich wie erstarrt und wunderte mich, dass ich überhaupt noch laufen konnte. Und dann begegnete ich IHM, als ich meinen Koffer aus dem Bus holte.

»Hi, Cinderella!«, sagte er.

Bevor ich etwas sagen konnte, zog sie ihn weg und murmelte: »Ich frage mich nur, wie lange ihre Vorräte an Gehirnzellen noch reichen, um das hier zu überstehen. Die sind knapper als die Ölvorräte.«

Klar, dass alle in Lachen ausbrachen.

Jedes Wort von ihr ist vergiftet. Sie hat mich angesehen, als sie ihn geküsst hat. Ach was, geküsst abgeknutscht hat sie ihn. Ihre lange rosa Zunge in ihn hineingesteckt, als wolle sie ihn verschlucken. Aber sie knutscht jeden Mann einfach ab. Das ist ihre Natur.

Ich hörte ihr Lachen noch, als ich hier in den Keller flüchtete, um diesen meinen letzten Eintrag in das Tagebuch zu schreiben. Meine Verzweiflung ist so groß, dass ich fast nichts mehr empfinden kann. In mir ist alles kalt. Alles tot.

Und dennoch wünsche ich mir ein Happy End auf meine Weise. Vielleicht trägt mich der Wind ja auch in die Höhe? Und alles von oben zu betrachten kommt dies nicht einem göttlichen Standpunkt gleich?

Ich stelle es mir ganz genau vor: Wie alle unten im Schulhof stehen.

Die ungeduldigen Ermahnungen und falschen Ermunterungen der Eltern: Benimm dich! Dass mir keine Klagen kommen! Streng dich mehr an! Du schaffst das! Ein neues Schuljahr eine neue Chance! Neues Spiel, neues Glück!

Das Gekreische der Mädchen, die sich zur Begrüßung in die Arme fallen: Oooooh, du hast eine neue Frisur; süüüüüüß deine neue Jacke; cooooool, wir sind in einem Zimmer.

Und die Jungs: He Alter, was geht ab; na, auch wieder zurück in der Hölle?; schieb mal den iPod rüber.

Vermutlich werde ich darüber lachen, wenn die Welt dort unten auf ein Nichts zusammenschrumpft, das Ganze zu einer Playmobilschule wird. Wenn sich das Gewimmel auflöst, die Tränen aufhören zu fließen, die Eltern nach Hause fahren. Die Stimmen, das Gelächter alles wird leiser, bis ich nur noch den Wind dort oben höre und das Gekrächze der Raben, die sich auf dem Dach versammeln. Sie werden die einzigen Zeugen sein. Die einzigen, die mir Mut machen.

Werde ich die Kraft haben zu springen?

Oder nicht?

Aber ich brauche ja gar keine Kraft mehr. Das ist das Schöne. Ich muss mich einfach nur fallen lassen.

Ja, ich habe Angst!

Aber ich freue mich auch!

Denn heute noch sehe ich Mama und Papa wieder. He, werde ich zu ihnen sagen, ich habe euch so vermisst!

KAPITEL 1

Der Bus gab Vollgas, legte sich in die Kurve und bog nach rechts in eine schmale Straße, nicht mehr als ein asphaltierter Waldweg. Die hohen dunkelgrünen Tannen standen so dicht beieinander, dass nur ein schmaler Streifen blauer Himmel über uns zu sehen war.

Willkommen in Ravenhorst!

Das Schild war nicht zu übersehen.

Oh mein Gott, war ich nervös. Nur noch drei Kilometer trennten mich von meiner neuen Heimat.

Ich schloss die Augen und sagte zu mir: Calm down, Jule, du bist auf dem direkten Weg in die Freiheit.

Mein Nachbar schlief immer noch.

»Ich bin Nikolaj, zehnte Klasse«, hatte er gesagt, als wir am Hauptbahnhof Leipzig in den Bus stiegen. »Ist der Platz neben dir frei? Hinten wird mir immer schlecht.«

Ich nickte und räumte bereitwillig meinen Rucksack zur Seite.

Er setzte sich, schloss die Augen und weg war er.

Wie ich heiße, hatte er nicht gefragt.

Ich bin Jule.

Na ja, eigentlich Juliane, aber niemand nennt mich so außer meinen Eltern. Ich bin nicht nur Einzelkind, sondern auch das Produkt einer späten Liebe. Zu spät – wenn man mich fragt. Ich bin auf die Welt gekommen, als meine Mutter anfing, sich vor dem Leben zu fürchten: vor Arbeitslosigkeit, Krankheit, Tod, Wirtschaftskrise, Klimaerwärmung, Terrorismus, Vogelgrippe. Vielleicht liegt es auch daran, dass mein Vater Polizist ist. Sie weiß einfach zu viel darüber Bescheid, was alles passieren kann.

Meine Eltern sind alt. Älter als die Beatles, viel älter als das Farbfernsehen–an Computer oder Handys war noch gar nicht zu denken. Mein Daddy–er hasst es, wenn ich ihn so nenne–ist ein Jahr nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges geboren. Ist das nicht krass? Und meine Mutter sieben Jahre später. Kurz–eine Tochter in meinem Alter bedeutet für sie der totale Kulturschock.

Und deshalb bin ich jetzt unterwegs in das Internat Ravenhorst, das ehemals ein Kloster war. Ich könnte also sagen, ich gehe freiwillig ins Kloster, um der absolut peinlichen Fürsorge meiner Eltern zu entkommen und–weil ich nach der Sache mit Jasper vermutlich sowieso nie mehr eine Beziehung haben will.

Ganz davon abgesehen–es gibt Spiegel, die mir unmissverständlich zu verstehen geben: Ich, Jule Sanden, in der Blüte meiner Jugend, sprich sechzehn Jahre alt, bin flach, total platt. Exakt ausgedrückt–und ich oute mich gleich als Mathefreak–komme ich gerade mal auf Körbchengröße 70 A mit Tendenz zu 65 A, wenn ein Busen überhaupt noch kleiner sein kann. Irgendwann einmal werde ich Spiegel mit digitaler Bildbearbeitung erfinden, die so eingestellt sind, dass man sich selbst perfekt erscheint.

»Aber du bist doch so intelligent, Juliane«, jammert meine Mutter im Gegenzug, wenn ich über mein Aussehen jammere.

»Klar, Mammi, und die Kerle stehen total auf Mädchen, die klug sind. Sie mögen es, wenn man widerspricht, Matheformeln zitiert und ihnen die Theorie des Weltalls erklärt. Genau das, was sie brauchen.«

Aber das ist ein Humor, den meine Mutter nicht versteht, weshalb sie versucht, mich zu trösten: »Aber was ist mit Jasper? Der liebt dich doch!«

In solchen Momenten möchte ich sie am liebsten anschreien, aber–Mammi ist so naiv und lieb zugleich–ich bringe es einfach nicht übers Herz.

Jedenfalls, nach all der Kacke in den letzten Wochen vor den großen Ferien–und die war wirklich am Dampfen–war mir klar: Ich musste dringend weg von zu Hause. Deshalb habe ich mich für das Stipendium in Ravenhorst beworben und es bekommen. Sonst säße ich ja nicht neben diesem Nikolaj, der den Schlaf erfunden hat.

Ravenhorst ist ein ziemlich bekanntes Internat für reiche Kids und wenige Stipendiaten. Jasper hat es geschlossene Anstalt für kopfgesteuerte Intelligenzbestien genannt, die alles hinterfragen, sogar die Liebe. Aber was Jasper sagt, spielt keine Rolle mehr.

»Alle mal herhören! Wir sind bald da!«

Ich schrak zusammen, als die Stimme von Frau Sturm durch den Bus schallte, begleitet vom schrillen Pfeifen des Mikrofons.

Frau Sturm hatte uns am Bahnhof erwartet. Sie sah ganz genauso aus wie die Supernanny im Fernsehen – die gleichen langen dunkelbraunen Haare, der gleiche schwarze Pullunder über dem weißen T-Shirt, und wenn sie sprach– dann versuchten ihre blauen Augen hinter der schwarzen Brille, ganz tief in mich hineinzublicken. Ich weiß nicht genau, was in dir vorgeht, schienen sie zu sagen, aber ich finde es heraus.

»Willst du einen Kaugummi?«, hörte ich eine Stimme neben mir. Der schläfrige McDreamy war tatsächlich aufgewacht.

»Was?«

»Ich bin Nikolaj, erinnerst du dich?«

»Ich bin ja nicht dement.«

»Und wie heißt du?«

»Jule. Auch zehnte Klasse.«

»Okay«, er nickte. »Dann bist du bei uns. Wir sind eine coole Truppe. Na ja, bis auf ein paar Freaks.«

Seine schwarz gelockten Haare reichten bis auf die Schultern. Er war ziemlich blass und seine Stirn zeigte einen abartig großen Bluterguss. Aber er sah viel besser aus als Jasper. Und er roch verdammt gut nach irgendeinem Wunderdeo. Hätte ich nicht mit dem Thema Männer endgültig abgeschlossen, ehrlich, ich wäre am liebsten dicht an ihn gerückt, nur um an ihm zu schnuppern. Ein richtiger McDreamy-Typ. Und Augen hatte er–die waren so braun, dass ich sofort Heißhunger verspürte auf original italienischen Cappuccino mit viel Milchschaum.

»Also, willst du nun einen Kaugummi, Jule?«

Er grinste.

Nein, er grinste nicht, er lächelte irgendwie . . . besonders. In der Tat – ein klarer Fall von McDreamy – träumen durfte man ja.

»Okay«, erwiderte ich und wurde rot. Zumindest wurde mir heiß. Unsere Hände berührten sich, als er mir den Kaugummi Marke Strong Mint von Fisherman’s Friend reichte.

Verdammt, meine Hormone hielten sich nicht an die Regeln, die ich aufgestellt hatte. Ich war nicht gewillt, mich wieder zu verlieben, bis ich achtzehn war. Jasper, du Idiot!

»Schau mal, Kira! Da vorne sieht man schon den Kirchturm!« In der Reihe neben uns löste ein dunkelhaariges Mädchen ihren Sicherheitsgut und hüpfte vor Aufregung auf ihrem Platz auf und ab. Hemmungslos beugte sie sich über ihre Platznachbarin, ein groß gewachsenes schmales Mädchen mit honigfarbener Haarmähne, deren Gesicht so ernst war, als hätte sie ihr Lachen für alle Ewigkeit an den Teufel verkauft.

Ich sah aus dem Fenster. Tatsächlich–hinter dem Waldstück tauchte er auf, der hohe Kirchturm von Ravenhorst.

»Bitte setze dich, Emilia«, rief Frau Sturm. »Und schnall dich wieder an. Wir wollen doch nicht, dass dir bereits am ersten Tag im Internat etwas zustößt!« Ihr Blick wanderte durch den Bus. »Und ihr beiden dort hinten, Michael und Nora, bitte passt auf, dass ihr euch beim Küssen nicht gegenseitig verschluckt. Etwas dezenter bitte! Hier sind auch jüngere Schüler!«

Allgemeines Gelächter brach aus. Die Einzige, die keine Miene verzog, war die Honigblonde neben Emilia. Neugierig wandte ich mich um und musterte das Pärchen auf der Rückbank. Blonde Haare, quietschegelb und flaumig wiebei einem Küken, beugten sich über eine hellbraune Pferdemähne, die an einem roten Sweatshirt klebte.

Nein! Das war wirklich kein Filmkuss, sondern es schien eher so, als probten sie bereits das Überleben der menschlichen Spezies.

»Na«, McDreamy musterte mich aufmerksam, »neidisch?«

»Quatsch«, erwiderte ich, obwohl es mir doch einen Stich ins Herz gab. Fast hätte ich hinzugefügt: Das hätte ich vor wenigen Wochen auch haben können–und noch mehr.

»Du bist eine von den Neuen, oder?« Emilia drehte sich zu mir und starrte mich neugierig an. »Du bist bestimmt total aufgeregt. Aber keine Sorge, alles halb so schlimm.«

»Ich bin froh, von zu Hause weg zu sein. Etwas Besseres als diese Schule im Nirgendwo kann mir gar nicht passieren.«

Jetzt wandte Emilias Sitznachbarin–war ihr Name nicht Kira–den Kopf. Für einen Moment musterte sie mich. War das Mitleid in ihrem Blick? Mann, hatte sie eine Ahnung, was hinter mir lag? Nein!

Egal!

Ich wurde von einem riesigen Vogelschwarm abgelenkt. Das Krächzen der Raben, die zu Hunderten mit schwarzem Flügelschlag nach unten stürzten, war unangenehm heiser. Im nächsten Moment sammelten sie sich dick und fett auf den Baumspitzen des düsteren Nadelwaldes, an dessen Ende Ravenhorst nun in voller Pracht auftauchte.

Manche Menschen haben Angst in geschlossenen Räumen, andere fürchten sich vor der Höhe, wieder andere sterben beim Anblick von Spinnen.

ICH HASSE VÖGEL!

Und irgendwie war es klar, dass ausgerechnet ein fetter Rabe mitten auf dem Weg hockte, als ich aus dem Bus ausstieg. Er pickte an irgendetwas Ekelhaftem herum.

Nein, ich hasse Vögel nicht, ich fürchte sie.

»Was ist los?« Nikolaj stand direkt hinter mir.

Ich holte tief Luft und machte einen Schritt nach vorne. Der Vogel hüpfte mir auf seinen widerlichen Krallenfüßen entgegen, drehte ganz langsam den Kopf in meine Richtung und sein lauernder Blick traf mich, als hätte er es auf mich abgesehen.

Dann zuckte er zusammen. Ein Stein landete direkt neben seinem Kopf. Der Vogel erhob sich mit aufgeregten Flügelschlägen in die Luft und landete Sekunden später auf dem dunklen Dach des Kirchturms.

»Danke«, sagte ich erleichtert zu Nikolaj. »Aber ich bin mir sicher, er hat sich mein Gesicht gemerkt.«

»Die tun doch nichts«, wunderte er sich über die Panik in meiner Stimme.

»Von wegen! Da oben sitzt er und beobachtet uns.« Unwillkürlich schüttelte ich mich. »Für den Stein wird er sich irgendwann rächen.«

Aber Nikolaj lachte nur. »An die Raben musst du dich gewöhnen. Die sind hier überall!«

Nein, ich war nicht abergläubisch, aber sicher konnte man nie sein. Es gab zu viel zwischen Himmel und Erde, was wir Menschen noch nicht begriffen.

»Die bringen Unglück, weißt du das nicht?«

»Quatsch! Die haben total viel mit uns Schülern hier gemeinsam. Sie sind hochintelligent–wie wir! Sie leben in Gruppen–wie wir! Nächtigen gemeinsam auf ihren Schlafbäumen . . .«

»Wie wir!«

»Du lernst schnell! Und wenn sie verliebt sind, dann ziehen sie sich paarweise zurück–wie wir!«

Mann, dieses Lachen. Da konnte man wirklich alle Prinzipien vergessen!

»ICH hasse Raben, Krähen und überhaupt alle Vögel«, erwiderte ich angewidert. »Sie sind nicht nur kohlrabenschwarz, fett und dreckig, wünschen einem die Pest an den Hals, klauen, krächzen und . . .«

»Kacken?«

»Genau! Und du findest das auch noch cool! Igitt!«

»Solange sie nicht direkt auf meinen Kopf machen.«

»Ich sag doch, sie sind hinterlistig und gemein. Sei lieber vorsichtig. Wahrscheinlich hat er sich auch dein Gesicht gemerkt!«

McDreamy lachte über mich.

Das ging mir durch und durch!

Jule, pass bloß auf!

KAPITEL 2

Auf dem Schulhof ging es zu wie in einem Bienenstock, einem Ameisenhaufen, einem Taubenschlag, kurz: einem Irrenhaus. Im Bus war es klimatisiert gewesen, aber hier draußen herrschte schwüle, klebrige August-Hitze. Ich zog mein Kapuzenshirt aus und hängte es mir über die Schultern.

»Und wie gefällt es dir?« Nikolaj breitete die Arme aus, als gehöre das alles hier ihm alleine.

Ich sah mich um.

Nun, wenn jemand den FilmIm Namen der Rosegesehen hatte, dann musste man Ravenhorst nicht lange beschreiben: düstere Mauern, hohe Spitzbogenfenster, dunkle Kreuzgänge und Darstellungen von dicken Heiligen aus grauen Steinblöcken gemeißelt.

Ich legte den Kopf in den Nacken. Mein Blick blieb an dem hölzernen Turm auf dem hinteren Kirchendach hängen, in dem nun eine Glocke die Uhrzeit verkündete: vier Uhr.

»Schaurig schön«, antwortete ich auf Nikolajs Frage. »Stell dir vor, da oben zu stehen. Da kann man bestimmt die ganze Welt sehen.«

»Nein! Ganz sicher nicht! Glaub mir, du kannst nicht mal bis Leipzig schauen...«Er holte tief Luft und sein Blick bekam einen gespannten Ausdruck. Geradezu sehnsüchtig, als hätte er tatsächlich schon dort oben gestanden.

Nun klatschte Frau Sturm in die Hände und bat um unsere Aufmerksamkeit.

»Alle mal herhören! Bitte wartet, bis das Gepäck ausgeladen ist! Dann gebe ich die Zimmeraufteilung bekannt.«

»Kann ich mit Kira in eine Zelle?«, schrie Emilia, wobei sie sich nach ihrer traurigen, honigblonden Platznachbarin umsah.

»Nein, Emilia«, erklärte Frau Sturm geduldig, »das ist bereits festgelegt. Außerdem sollt ihr die Zimmer nicht Zelle nennen! Das macht den neuen Schülern nur Angst.« Sie klatschte in die Hände. »Alle Neulinge mal herhören!«

Niemand rührte sich.

»He, Novizen, raus aus eurem Versteck!« Ein Mädchen mit hellbraunem Pagenkopf, der aussah, als trüge sie eine Biotüte auf dem Kopf, schrie in die Menge.

»Vielen Dank, Beatrix, aber ich brauche deine Hilfe nicht! Und wir nennen hier auch niemanden Novizen. Wir sind ein modernes Internat und keine Klosterschule.« Supernanny schob die Papiertüte energisch zur Seite. »Also, geradeaus seht ihr den Schultrakt, wo sich im unteren Bereich Küche und Speisesaal befinden. Abendessen gibt es nach der Begrüßungsfeier durch den Direktor um Punkt achtzehn Uhr. Habt ihr verstanden? Punkt achtzehn Uhr! In den Häusern rechts von uns liegen die Schlafräume für die Jungen, in den Gebäuden hinter uns befinden sich die Mädchenzimmer.«

»Ihh! Hilfe! Bloß kein Kontakt zum anderen Geschlecht«,rief jemand von links. Ein mittelgroßer blonder Junge, der seinen Tennisschläger permanent gegen die Hand schlug und anzüglich grinste.

»Das ist Bastian, auch Womanizer genannt. Am besten du ignorierst ihn, außer du möchtest seinem Charme und dem guten Aussehen erliegen. Oder ihn für seine sportliche Figur bewundern«, flüsterte Nikolaj.

»Nein, danke!«

In diesem Moment kam direkt neben uns ein BMW zum Stehen, aus dem nun Mama, Papa und zwei Mädchen in identischen weißen Hosen, geringelten T-Shirts und roten Strickjacken ausstiegen. Die Jüngere von beiden sah total verheult aus. Immer wieder wischte sie sich mit der Hand den Rotz in die braunen Flusenhaare, die aussahen wie die Wollmäuse, die meine Mutter mit dem Staubsauger jagte.

Ihr Vater ging um den Wagen herum und öffnete den Kofferraum. Ich registrierte eine Sporttasche, drei Koffer, einen CD-Player, Tennisschläger und einen riesigen Korb mit Essensvorräten.

»Hör endlich zu flennen auf, Sonja«, fuhr er seine Tochter an. »Das ist doch wirklich schön hier! Der ideale Ort zum Lernen! Mitten in der Natur! Kein Autolärm! Keine Abgase! Mann, ich würde wer weiß was dafür geben, wenn es in meinem Büro so ruhig wäre. Und du, Patrizia«, wandte er sich an die Ältere der beiden, »wäre das nicht auch was für dich?«

»Ich bin doch nicht die, die lernbehindert ist.«

Inzwischen weinte Sonja nicht mehr, sie schluchzte und stolperte zu allem Überfluss über die Tennisschläger.

»Tollpatsch wie immer!«, murmelte Patrizia, während ihre Mutter aufschrie: »Mein Gott, Schätzchen, die neue weiße Hose!«

Oh Gott, wie peinlich!

Mann, lieber hätte ich mich mit der Post schicken lassen, als dass meine Eltern mich hier persönlich abgaben.

»Achtung«, Nikolaj tippte mir auf die Schulter. »Jetzt kannst du Big Mama kennenlernen.«

Eine große Frau mit schneeweißen Haaren, gekleidet in ein dunkelgraues Kostüm, das mich an unsere Schuluniform erinnerte, drängte sich ungeduldig an uns vorbei: »Bitte, Kinder, lasst mich doch durch!«

»Big Mama?«

»Frau Schüler, die Konrektorin. Aber wir nennen sie nur ›Big mama is watching you‹ oder kurz Big Mama.«

Big Mama übernahm sofort das Regiment, indem sie Frau Sturm die Namensliste aus der Hand riss.

»Bitte Ruhe! Alle mal herhören! Mein Name ist Schüler... Frau Schüler. Ich bin verantwortlich für die Organisation in Ravenhorst.« Ihre grauen Stöckelschuhe klackten nervös auf dem Steinfußboden. Bei jedem Wort, das sie sagte: »So . . .«, klack, »jetzt lese ich eure Namen vor . . .«, klack klack, »und ihr begebt euch mit eurem Gepäck zu euren Zimmern.«

Klack, klack, klack.

»Entschuldigung«, Sonjas Mutter trat zu der Gruppe.

»Ja, Frau . . .?«

»Winter!«

»Wie kann ich Ihnen helfen?«

»Gibt es hier einen Gepäckträger?«

»Wie bitte?« Big Mama sah ziemlich verdutzt aus ihrer strahlend weißen Bluse.

»Wir bräuchten jemanden, der meiner Tochter das Gepäck aufs Zimmer bringt.«

Die alten Mauern hallten wider von dem Gelächter, das nun einsetzte. Sogar Frau Sturm konnte ein Lächeln nicht unterdrücken, als sie kopfschüttelnd erklärte. »Darum muss sich Ihre Tochter schon selbst kümmern.«

Dagegen schaute Frau Schüler sich unter den Schülern um. Ihr Blick blieb an dem erstbesten Jungen hängen, und zwar an Bastian, dem Womanizer. »Bastian, bitte hilf doch . . . wie ist dein Name?«, fragte sie die Heulsuse.

»Sonja. Sonja Winter.« Schluchz! Schnief!

»Hilf doch Sonja mit dem Gepäck.« Frau Schüler checkte ihre Liste. »Sie ist mit Emilia im Zimmer 211.«

»Klar doch«, meinte Bastian. »So wie die aussieht, verläuft sie sich sonst in dem alten Bunker hier und wird erst am Ende des Schuljahres gefunden.« Er verdrehte die Augen und tat so, als würde er zu Boden sinken. »Vermodert in irgendeinem der schaurigen Verliese neben den bleichen Gerippen toter Mönche.«

Wieder Gelächter.

Sonjas Gesicht wurde so mädchenhaft rosa, als ginge die Sonne am Morgen auf.

»Ja, ja«, meinte Frau Sturm, »wir wissen alle, wie witzig du sein kannst, Bastian.«

Frau Schüler dagegen fuhr mit der Organisation fort. »Und nun die Zimmeraufteilung. Nikolaj . . . Jungenhauslinks, erster Stock, dein Zimmernachbar ist Michael wie letztes Jahr. Juliane Sanders?«

Aufgeregt trat ich nach vorne.

»Erster Stock, Zimmer 213, zusammen mit Margit . . .« Frau Schüler runzelte die Stirn und wandte sich an Frau Sturm. »Das war doch laut Plan ganz anders. Kira sollte mit Margit zusammenwohnen wie im letzten Jahr!«

»Kira hat mich darum gebeten, zu Johanna ziehen zu dürfen!«

»Warum das denn?«

»Sie haben sich offenbar angefreundet.«

»Wo ist Kira überhaupt?« Frau Schüler blickte sich nervös um. »Ihre Großmutter hat angerufen, sie würde ebenfalls mit dem Bus kommen.«

»Ja, ja, sie muss hier irgendwo sein«, beruhigte Frau Sturm die Konrektorin. »Sie ist vorhin mit mir zusammen ausgestiegen.«

»Immer diese Extrawürste . . .«

»Aber Sie wissen doch...« Frau Sturm warf Frau Schüler einen eindringlichen Blick zu.

»Also meinetwegen . . .«, gab diese schließlich nach, schaute auf die Liste und wiederholte ungeduldig meinen Namen. »Juliane Sanden?«

Ich hob die Hand.

»Dann wohnst du also bei Margit, Mädchenhaus, zweiter Stock links, Zimmer 213, neben dem von Emilia und Sonja. Margit ist schon oben. Und bitte trag dein Gepäck selbst hoch.«

Ich nickte, während Nikolaj von dem langhaarigen Jungen von der Rückbank begrüßt wurde, der so heftig herumgeknuscht hatte. »Hi Nick!«

»Hi, Indi! Kennst du Jule schon? Sie kommt in unsere Klasse!«

Indi nickte mir zu und wollte mir gerade die Hand reichen, als sich seine Freundin zwischen uns schob, ein Mädchen in knallengen Jeans und weißem T-Shirt. Ein Stück braun gebrannter Taille war zu sehen und knallpink lackierte Zehennägel schauten unter dem Saum ihrer Jeans hervor.

Sie war perfekt gestylt und hatte die Maße, auf die ich vergeblich hoffte: 85 D, 60, 90. Manche Menschen waren einfach Lieblinge der Götter, obwohl ich auf den Kükenflaum auf ihrem Kopf, der mir schon im Bus aufgefallen war, hätte verzichten können.

»Hi!« Sie musterte mich ohne Hemmungen. »Hast du ein Stipendium?«

Was denn? Sah man mir das an? Hatte ich einen Fleck auf der Hose, ein Loch im Schuh, einen Pickel im Gesicht? Doch sie wartete meine Antwort nicht ab, sondern wandte sich Nikolaj zu. »Na mein Prinz, auch wieder zurück im Knast? Wie waren die Ferien mit drei kleinen Schwestern?«

»Was soll ich sagen, Pink! Auf keinen Fall langweilig und ganz bestimmt laut!«

Ihre Stimme rutschte nach oben, als sie flötete: »Willst du mir nicht auch mit meinem Gepäck helfen? Vielleicht kommt das jetzt hier in Mode, dass die Jungs unsere Koffer tragen.«

»Uns bricht kein Zacken aus der Krone, wenn wir den Neuen helfen«, meinte Nikolaj schulterzuckend.

»Nur dass ich im Unterschied zu dir keine Krone besitze, mein Prinz!« Sie beugte sich zu ihm, küsste ihn auf den Mund und war im nächsten Moment verschwunden. Unwillkürlich musste ich nach Luft schnappen. Die ließ ja offenbar gar nichts anbrennen. Und einen Keuschheitsschwur schien sie auch nicht abgelegt zu haben. War sie jetzt nun mit diesem Indi zusammen? Oder wollte sie etwas von Nikolaj? Bei ihrem Aussehen und ihrer Figur konnte sie sich wahrscheinlich die Jungs aussuchen. Brennender Neid überkam mich.

»Pink, wie sie leibt und lebt«, murmelte Indi. Die Szene schien ihm peinlich zu sein. »Hast du übrigens Kira gesehen?« Unwillkürlich blickte ich mich nach der Honigblonden aus dem Bus um, doch ich konnte sie nirgends entdecken.

»Keine Ahnung, wo sie ist«, sagte jetzt auch Nikolaj.

Indi zögerte kurz, als wollte er etwas sagen, aber dann fiel sein Blick auf mich und er blieb stumm. Offenbar erschien ich ihm nicht vertrauenswürdig. »Okay, wir sehen uns in unserem Zimmer!«

Die beiden nickten sich zu und Indi folgte dem Mädchen mit dem seltsamen Namen Pink, das ein paar Meter entfernt mit verschränkten Armen auf ihn wartete.

»Warum er Indi heißt, kann ich mir ja denken, aber Pink? Ihr richtiger Name ist Nora, oder?«

»Schau dir das nächste Mal ihren Nagellack an.«

»Sind hier alle so . . .«

»Durchgeknallt?« Er lachte. »Dann warte erst einmal ab, bis du deine Zimmernachbarin kennenlernst.«

»Warum?«

»Wirst du schon sehen. Aber denk dir nichts dabei. Sie ist okay. Nur, du musst verstehen, mit der Zeit wird man hier ein wenig irre. Das bringt das Leben hinter Mauern so mit sich. Und gewöhn dich lieber auch gleich dran, dass hier jeder einen Spitznamen verpasst bekommt. Das war schon immer so beim Eintritt ins Kloster. Man lässt die Welt draußen und die Vergangenheit hinter sich.«