Aschermittwoch - Beate Winter - E-Book

Aschermittwoch E-Book

Beate Winter

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Beschreibung

Nach dem Rosenmontagsball wird die als Marilyn Monroe verkleidete Romy Seifert erstochen aufgefunden. Kriminalhauptkommissar Kilian Frommelt glaubt, ein Gespenst zu sehen, denn die Tote hatte vor einer Stunde noch quicklebendig vor seinem Haus gestanden. Nur stockend gehen die Ermittlungen voran und landen immer wieder in einer Sackgasse. Hat die verbitterte Veronika Färber, Romys beste Freundin, aus Eifersucht gemordet? Oder ist etwa Romys Ex Marc Bahrenhoff der Täter, weil Romy ein Kind von ihm erwartete? Doch dann schwebt auch Marc in Todesgefahr. Und immer wieder taucht eine seltsame Frau mit Kopftuch und Sonnenbrille auf, die Romy einst sehr gut gekannt haben muss. Kommissar Kilian Frommelt ermittelt wieder mit seinen Kollegen Hannah Seidlitz und Roland Bräuer und gerät in Verstrickungen um Eifersucht, verschmähte Liebe und Verführungen.

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Aschermittwoch

Beate Winter

1. Auflage 2019

ISBN 978-3-947706-16-7 Taschenbuch ISBN 978-3-947706-17-4 E-Book

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de

© Plattini-Verlag – Alle Rechte vorbehalten.

https://www.plattini-verlag.de

Lektorat: Silvia Hildebrandt - Reutlingen Umschlaggestaltung: Tom Jay - Gundelsheim Layout: Loredana Bursch - Erftstadt Konvertierung: Sabine Abels – www.e-book-erstellung.de

Beate Winter

Aschermittwoch

Zum Buch

Nach dem Rosenmontagsball wird die als Marilyn Monroe verkleidete Romy Seifert erstochen aufgefunden. Kriminalhauptkommissar Kilian Frommelt glaubt, ein Gespenst zu sehen, denn die Tote hatte vor einer Stunde noch quicklebendig vor seinem Haus gestanden.

Nur stockend gehen die Ermittlungen voran und landen immer wieder in einer Sackgasse. Hat die verbitterte Veronika Färber, Romys beste Freundin, aus Eifersucht gemordet? Oder ist etwa Romys Ex Marc Bahrenhoff der Täter, weil Romy ein Kind von ihm erwartete? Doch dann schwebt auch Marc in Todesgefahr.

Und immer wieder taucht eine seltsame Frau mit Kopftuch und Sonnenbrille auf, die Romy einst sehr gut gekannt haben muss.

Kommissar Kilian Frommelt ermittelt wieder mit seinen Kollegen Hannah Seidlitz und Roland Bräuer und gerät in Verstrickungen um Eifersucht, verschmähte Liebe und Verführungen.

Kapitel 1

Kilian Frommelt schob die Bettdecke zur Seite und starrte auf den Wecker. Kurz nach sieben. Er hatte verschlafen. Mit einem Satz fuhr er hoch. Im gleichen Moment war es ihm, als ob eine ganze Kolonne Lastwagen unter seiner Schädeldecke entlangfuhr und ihn sofort wieder in die Kissen warf.

Er kroch vorsichtig aus dem Bett, rückte die ausgelatschten Puschen gerade, schob sie sich umständlich über die Füße und schlappte in die Küche. Hier bereitete er die Kaffeemaschine vor und schlurfte dann ins Bad. Der müde alte Mann, der ihm mürrisch aus dem Spiegel entgegensah, gefiel ihm nicht. Dunkle Schatten unter den Augen, zerknittert und unrasiert. Die Blessuren auf seiner Seele sah man zum Glück im Spiegel nicht. Noch immer war er über die Trennung von Maren nicht hinweg. Obwohl es jetzt Birgit in seinem Leben gab. Er wusste, dass es Birgit gegenüber unfair war, noch immer in Gedanken bei Maren zu sein.

Sollte er sich krank melden? Am gestrigen Abend mit Richard war mehr Alkohol im Spiel gewesen, als sie es geplant hatten. Seit seinem letzten Fall im vergangenen Jahr war Richard Wehmeier sein bester Freund geworden. Durch eine Verkettung von tragischen Umständen, die dessen Ziehsohn Fabian Hein verursacht hatte, wäre Richard fast wieder im Gefängnis gelandet.

Normalerweise spielten sie sonntags Schach miteinander, doch Richard hatte an diesem Wochenende Fabian bei seinen Abiturvorbereitungen geholfen. Fabian Hein, der jahrelang glaubte, schuld am Tod seiner Schwester gewesen zu sein und mehrere Jahre in einer psychosomatischen Klinik verbracht hatte, entwickelte sich durch Richards Hilfe und Halt zu einem prächtigen jungen Mann.

Frommelt versuchte, sich zu erinnern, wie viel Whisky sie getrunken hatten, kam aber zu keinem messbaren Ergebnis.

Er stellte die Dusche an und zögerte.

Maren. Sie lebte nun in Berlin. Viel zu weit fort, um sie, wie noch im vergangenen Jahr, hin und wieder zufällig auf der Arbeit zu treffen. Der einzige Vorteil war, dass er auch Staatsanwalt Hausmann, seinen ehemaligen Vorgesetzten, damit losgeworden war. Kurz nachdem sich Maren von ihm getrennt hatte, waren Maren und Hausmann ein Paar geworden. Dass Maren mit seinem Chef, dieser Dumpfbacke, ein Verhältnis begann, konnte er ihr nicht verzeihen. Im vergangenen Herbst war Hausmann zum Oberstaatsanwalt befördert worden und mit Maren nach Berlin gezogen.

Je mehr Frommelt darüber nachdachte, dass Hausmann weitaus besser mit Maren harmonierte als er selbst, desto wütender wurde er. Champagner und Pellkartoffeln. Das hatte Maren gesagt, als er ihr erklärte, dass sie im Grunde gar nicht zusammenpassten. War alles noch schlimmer geworden, seit Maren fort war, oder hatte sich sein Gefühl für sie nur verlagert?

Frommelt starrte noch immer auf den Wasserstrahl der Dusche und konnte sich nicht überwinden, hineinzusteigen. Vor seinem inneren Auge sah er Maren in Hausmanns Armen liegen. Zu diesem Zeitpunkt wäre er bereit, einen Mord zu begehen. Er sollte kündigen. Den Job hinschmeißen und Fensterputzer oder Müllmann werden.

Wie er es fertig gebracht hatte zu duschen, wusste er nicht. Er fand sich vor der Kaffeemaschine mit einer leeren Tasse wieder, goss sich ein und starrte zum Fenster hinaus. Er besaß tatsächlich noch eine dieser altmodischen Filtermaschinen. Dieser Kapselkaffee wollte ihm beim besten Willen nicht schmecken und hatte immer diesen seifigen Nachgeschmack. Zudem ließ es sein Umweltbewusstsein, als ehemaliger Greenpeace-Aktivist, nicht zu. Da führen wir hier in Deutschland als erste Nation das Dosenpfand ein, um kurz darauf Kaffeekapseln zu erfinden, die noch mehr Müll verursachten, dachte er.

Draußen waberten die Nebelschwaden etwa einen halben Meter über den kalten Boden, zogen über die Felder wie hauchdünne Schleier zarter Seide. Dumpf starrte er in die milchige Morgendämmerung. Der Garten vor seinem Haus war ungepflegt, seit Maren fort war. Er bezeichnete ihn als alternativen Wildgarten. Die Straße, eher ein befestigter Weg, der zu seinem Haus führte, wurde selten befahren. Hin und wieder ein Trecker, der zu den kargen Feldern im Moor unterwegs war, ansonsten verirrte sich kaum jemand hierher. Sein Haus lag als letztes in der Straße, der Nachbar zu seiner Linken war etwa zweihundert Meter entfernt.

Er rieb sich die Augen. Hinter dem Weg, auf der mit Frost überzogenen Moorlandschaft, inmitten der anmutigen Nebelschleier, stand jemand. Die Gestalt sah irreal aus, wie ein Schemen; weiß gekleidet verschwamm sie fast mit dem Hintergrund.

Litt er unter Halluzinationen? Er löschte das Licht in der Küche und trat näher ans Fenster. War es doch ein Whisky zu viel gewesen gestern Abend? Er kniff die Augen zusammen, als ob er so besser sehen könnte.

Und wirklich, dort stand eine Frau. Die Nebelfetzen umwehten ihre nackten Beine, sodass er nicht erkennen konnte, ob sie Schuhe trug. Die Sonne versuchte gerade, die ersten morgendlichen Strahlen in den Tag zu werfen und das restliche Mondlicht ließ den Schnee silbern glänzen. Beim Anblick dieser bizarren Schönheit dachte Frommelt an eine Silberstatue. Von kaltblauem Licht beleuchtet schien nichts an ihr echt oder wirklich zu sein.

Sie stand dort und bewegte sich nicht. Etwas an ihr erinnerte ihn an Maren, er konnte es nicht zuordnen. Das Gesicht der Frau erkannte er nicht, dafür stand sie zu weit entfernt. Ihre Haare schimmerten hell. Das Oberteil des Kleides war weit ausgeschnitten und schien im Nacken gebunden zu sein, der Rock war etwa knielang und weit geschwungen. Etwas befand sich unterhalb ihres Busens, es sah aus wie ein großer, dunkler Fleck. Was tat sie da draußen? Mitte Februar lief man bei diesen Temperaturen auf keinen Fall halbnackt herum.

Er stellte seine Tasse ab, ging eilig auf den Flur und schnappte sich seinen alten Parka, den Maren schon mehr als einmal entsorgen wollte. Kurz vor ihrem Auszug hatte sie ausgemistet und er konnte den Parka gerade noch aus der Altkleidertüte retten. Er verhedderte sich im Ärmel, stellte fest, dass er dringend pinkeln musste und im gleichen Moment klingelte nebenan sein Handy. Halb im Parka steckend, rannte er ins Schlafzimmer, trat auf einen Zipfel der Jacke und wäre fast gestürzt.

»Kriminalhauptkommissar Kilian Frommelt. Wer stört zu dieser beschissenen Zeit, zu der normale Menschen noch im warmen Bett liegen?«

»Du mich auch. Einen wunderschönen guten Morgen, wünsche ich dir, lieber Kilian«, meldete sich sein Kollege Roland Bräuer. »Und jetzt schwing deinen Arsch hierher, wir haben eine Leiche.« Dann nannte er ihm den Fundort.

»Lasset die Toten in Frieden ruhen. Sag mal, Bräuer, wie sprichst du denn mit deinem Vorgesetzten?«

Bräuer machte eine seiner künstlichen Pausen und Frommelt bekam gerade noch mit, wie er sagte: »Jeder so, wie er es verdient.«

Frommelt hastete durch den Flur zur Haustür, trat hinaus ins Freie und im gleichen Moment erinnerte ihn jedes einzelne Glas Alkohol vom vergangenen Abend an seine Existenz.

Die Frau war fort. Frommelt schüttelte den Kopf, sodass ihm augenblicklich schwindelig wurde und ging wieder hinein ins Warme. Alles nur Einbildung, dachte er. Er schnappte sich den Autoschlüssel, rannte zu seinem Wagen und bevor er einstieg, begriff er, dass er unter seinem Parka nackt war.

Frommelt stapfte den schmalen, schneebedeckten Weg entlang. Seinen Wagen hatte er auf dem Parkplatz in Knesebeck zwischen Schützenhaus und dem ehemaligen Getränkemarkt an der Wittinger Straße geparkt. Von weitem sah er das rotweiße Absperrband im Wind flattern, mit dem auf der anderen Seite des Flüsschens Knesebach ein großzügiges Rechteck abgesperrt worden war. Mittendrin wuselten die in weißen Overalls steckenden Kollegen vom Erkennungsdienst herum. Sie vermittelten einen recht merkwürdigen Eindruck auf dem schneebedeckten Untergrund, fast wie Yetis, die eine Art Tanz um einen lang dahingestreckten Gegenstand aufführten. Es hatte während der Nacht noch einmal geschneit, der Boden war gefroren und der Schnee knirschte unter seinen derben Winterschuhen. Er ging am Spielplatz vorbei und musste über den Bach, um zu seinen Kollegen zu gelangen. Vorsichtig setzte er einen Fuß auf die mit Raureif überzogene Brücke, bedacht darauf, nicht auszurutschen. Er hatte keine Lust, sich hier nasse Füße zu holen. Wer wusste schon, ob das Geländer der Brücke oder die dünne Eisschicht im Bach seinem Gewicht standhalten würden.

Frommelt sah sich um. Hohe Bäume standen am Rande der Wiese, der befestigte Weg führte geradeaus weiter bis zum Schützenhaus, die nächsten Häuser waren gut zweihundert Meter entfernt.

Er hasste solche Augenblicke, jenen Moment, in dem er diesen toten Menschen zum ersten Mal in Augenschein nahm. Mühsam unterdrückte er ein Würgen und ihm fiel ein, dass er heute Morgen nichts gegessen hatte. Das war vielleicht auch ein Segen, denn den Kaffee allein wieder auszukotzen war wesentlich angenehmer. Er erkannte unter den emsig arbeitenden Personen Karina Wagenfeldt, die stellvertretende Leiterin der Kriminaltechnik. Johann Kramer, ihr Vorgesetzter, befand sich im Urlaub. Frommelt mochte Karina. Sie hatte eine angenehm warme Stimme und bedachte Bewegungen. Hektik schien ihr fremd zu sein. Ihre Gangart erinnerte ihn an die einer Raubkatze. Er ging näher, grüßte in die Runde und erntete allgemeines Kopfnicken. Jeder war in seine Arbeit vertieft und voll konzentriert.

»Sie wurde erstochen«, sagte Karina und jetzt erst merkte Frommelt, dass er bereits neben ihr stand. Er hatte die ganze Zeit auf die Leiche der zierlichen Frau vor ihm gestarrt. Die blonden, etwa kinnlangen Haare standen wirr vom Kopf der Toten ab. Raureif bedeckte ihre Haut, und da gerade die Sonne durch einen Spalt der dunkelgrauen Wolken lugte, glitzerten die eisigen Kristalle wie Diamanten. Der Rock ihres weißen, dünnen Kleides lag ausgebreitet wie ein Fächer im Schnee, ein blutroter Fleck breitete sich unter ihrem Busen aus. Doch es war nicht der sonderbar bizarr-schöne Anblick dieser Frau, der ihn verwirrte. Genau diese tote Frau hatte gerade eben sehr lebendig bei ihm vor dem Haus gestanden. Doch Frommelt wohnte in Neudorf-Platendorf, knappe zwanzig Kilometer weit entfernt. Das konnte nicht sein. Fing er jetzt an zu spinnen? Sollte er das Saufen lassen, oder die Whiskysorte wechseln?

»Hörst du mir zu, Kilian?« Das persönliche Du war unter den Kollegen der Polizei durchaus üblich. Nur in Anwesenheit von Außenstehenden siezten sie sich untereinander. Und um das zu bekräftigen, hatte er mit Karina auf der vergangenen Weihnachtsfeier Brüderschaft getrunken.

»Äh, ja, natürlich, erstochen. Kannst du sagen, wann?« Er konnte sich kaum vom Anblick der Toten losreißen. »Den genauen Todeszeitpunkt muss der Rechtsmediziner feststellen, es sieht aber so aus, als liegt sie hier seit etwa fünf Stunden.«

»Das kann nicht sein.« Das war ihm so herausgerutscht.

Karina sah ihn neugierig an. »Kennst du die Tote?«

Er schüttelte den Kopf. Wie konnte er ihr sagen, dass er sie vor einer knappen Stunde vor seinem Haus gesehen hatte? »Wer hat sie gefunden?«

»Ein Spaziergänger. Er wohnt gleich dort drüben und ist hier mit seinem Hund unterwegs gewesen.«

Schon wieder ein Hund, dachte Frommelt. Bei seinem letzten Fall war es auch ein Hundehalter gewesen, der die Leiche gefunden hatte und bei der Befragung hatte eine Stunde lang ein ausgewachsener Bernhardiner auf seinem Schoß gelegen.

Frommelt hörte leises Knirschen hinter sich.

»Er hat sofort die Notrufzentrale und den Rettungsdienst informiert. Die Wittinger Kollegen und der Notarzt waren innerhalb von zehn Minuten hier«, fuhr Karina fort.

Bräuer kam mit seinem üblichen, seltsam wippenden Gang dazu. »Saukalt heute.« Dabei schlug er die Arme um seinen Körper. Er sah müde aus, aber sein gequälter Gesichtsausdruck konnte auch an der Kälte liegen. »Ich hab eben mit unserem Zeugen gesprochen, er wohnt hier in der Nähe, hat aber nichts Verdächtiges gehört oder gesehen. Bis auf heute Morgen, als er sie gefunden hat. Aber das ist auch kein Wunder, gestern war hier mächtig was los gewesen. Rosenmontagsball.«

Frommelt nickte. »Wo ist Hannah?«

Bräuer deutete mit dem Kinn zu den parkenden Dienstwagen neben dem Schützenhaus. »Die Tote hatte ihre Tasche dabei. Ausweis, Geld, Handy, Haustürschlüssel, alles da. Also kein Raubmord. Hannah überprüft gerade die Personalien. Die Tote heißt Romy Seifert, ist vierundzwanzig Jahre alt und wohnt in Wittingen am Zimmermannsplatz. Über dem alten Mini-Mal-Markt.«

Karina räusperte sich kurz. »Wie Roland schon gesagt hat, es sieht nicht nach Raubmord aus. Wirklich viele verwertbare Spuren konnten wir noch nicht sichern, es hat in der Nacht geschneit und es sind viele Leute hier herumgelaufen.«

»Kann ich ihr Handy haben?«

»Im Moment noch nicht. Wir müssen erst die Spuren darauf sichern und die Daten auswerten. Aber ich habe etwas anderes für dich.« Karina hielt ihm die geöffnete Hand hin. Darauf lag eine silberne Kette in einem Aservatenbeutel.

»Was ist das?«, fragte Frommelt.

»Nach was sieht es denn aus? Deine Frage hätte lauten müssen: Woher hast du diese Kette? Aber um deine ungestellte Frage zu beantworten: Es scheint sich um Silber zu handeln und die Tote hatte sie um den Hals. Der Anhänger sieht aus wie eine Doppelaxt. Allerdings war der Verschluss offen, die Kette also nur um den Hals gelegt."

Karina war ihm heute Morgen viel zu kompliziert. »Und was bedeutet das?«

»Das bedeutet, dass ich mir nicht vorstellen kann, dass sich unser Opfer diese Kette kurz vor ihrem Tod selbst umgelegt hat.«

»Also könnte das der Täter gemacht haben?«

»Möglich wäre es.«

»Danke, Karina. Du hältst mich auf dem Laufenden?«

»Aber sicher doch, mein Lieblingskollege.«

Frommelt nickte und grinste in sich hinein. Er hatte schon des Öfteren gehört, dass Karina ihre Kollegen so betitelte. Und alle fühlten sich geschmeichelt.

Hannah kam zu ihnen herüber. Sie wirkte frisch und ausgeschlafen, wie immer. Frommelt fragte sich stets, wie sie das fertigbrachte. Selbst nach der Weihnachtsfeier, die bis drei Uhr früh gedauert hatte, war sie morgens um neun Uhr topfit gewesen, während er sich einen starken Espresso nach dem anderen einverleibte und nicht annähernd wach wurde.

»Hallo, guten Morgen, Kilian. Na, mal wieder durchgemacht?«

Dass sie ihm seine Sauftouren immer ansehen musste. Hannah senkte den Kopf, trotzdem sah er, dass sie grinste. »Wer bringt eine Marilyn Monroe um?«, fragte sie jetzt erst.

Das war es also, was ihm so bekannt vorkam und was er mit seiner Exfrau in Verbindung brachte. Maren hatte die Filme mit der Monroe geliebt und tat es wohl noch heute, nur mit dem Unterschied, dass sich jetzt Hausmann diese Schmachtfetzen mit ihr ansehen musste. »Hat jemand die Staatsanwaltschaft informiert?«

Hannah nickte. »Ich hab Frau Grevenbach eben auf dem Handy erreicht und kurz über den Fall informiert. Sie meinte, wenn sie es schafft, dann kommt sie noch her. Sie hatte sich eigentlich Urlaub genommen, aber Staatsanwalt Karminski, der sie vertreten sollte, hat sich eine heftige Grippe eingefangen.«

Frommelts Frage war eine reine Floskel, denn im Grunde war er froh über ihre Abwesenheit. Bislang hatten sie erst in zwei Bagatellfällen miteinander gearbeitet und er konnte nicht begründen, warum er Hausmanns Nachfolgerin, Staatsanwältin Grevenbach, nicht leiden konnte. Hannah unterbrach seine Gedanken: »Sie klang auch nicht so ganz frisch, vielleicht war sie ja auch auf einer dieser Karnevalsfeiern. Zurzeit ist ja Hochsaison.«

Frommelt fand dieses Karnevalsgehabe ziemlich übertrieben, er feierte viel lieber allein, mit seinem Freund Jack Daniel's. Als Ausnahme kam noch Richard Wehmeier infrage. Er fasste sich an den Kopf, diese verfluchten Schmerzen wollten nicht aufhören. »Was wollte sie von mir und warum liegt sie hier?«

»Kilian?«

Er hatte tatsächlich laut gedacht. »Ach, vergiss es. Und die Grevenbach kann gern auf unseren Bericht warten, das tun die sonst auch. Denen von der Staatsanwaltschaft war die Fahrt von Hildesheim bis zu uns in die Provinz doch immer zu weit gewesen.« Er ging einige Schritte weiter.

Hannah kam ihm nach. »Kilian, was ist los mit dir? Warum bist du so gereizt?«

Frommelt deutete mit einem Kopfnicken auf die Tote. »Ich hab sie heute Morgen gesehen. Sie stand in genau diesem Kleid auf der Wiese vor meinem Haus. Ich hab sie vom Küchenfenster aus beobachtet.«

»Wann war das?«

»Gleich nach dem Aufstehen, so gegen sieben.«

»Das kann nicht sein, Kilian, sie ist bereits seit fünf Stunden tot.«

Bräuer, der kurz mit einem Kollegen gesprochen hatte, kam neugierig näher.

»Ich bilde mir das doch nicht ein. Ich hab sie gesehen, die gleiche Figur, blonde Haare und diesen dunklen Fleck auf dem Kleid auch. Ich wollte gerade raus, um sie zu fragen, was sie von mir will, da hat Roland angerufen und anschließend war sie weg.«

»Du solltest nicht so viel saufen. Wann hast du das letzte Mal Urlaub gemacht?« Hannah drehte sich, ohne eine Antwort abzuwarten, um und ging davon.

Veronika Färber räumte das Geschirr in die Spülmaschine. Marc stand hinter ihr, das wusste sie. Sie fühlte seine Anwesenheit, auch wenn sie ihn nicht sah. Immer noch zögerte sie. Bislang hatten sie kein Wort miteinander gesprochen und sie wollte heute Vormittag nicht den Anfang damit machen, auch wenn es ihr auf der Seele brannte. Müde rieb sie sich die Augen und unterdrückte ein Gähnen. Die vergangene Nacht war viel zu kurz gewesen, erst nach vier hatte sie im Bett gelegen und sich noch lange herumgewälzt, bis sie endlich eingeschlafen war. Zu viele Gedanken über den gestrigen Abend waren ihr durch den Kopf gegangen.

»Was soll das, Veronika?«

Sie spürte Marcs Atem in ihrem Nacken und war froh, dass er nachgegeben hatte.

»Bitte, Vero, ich habe dich nicht betrogen, ich habe sie doch überhaupt nicht gesehen.«

Veronika drehte sich schwungvoll um. »Ach nein? Und weshalb hast du schon vor der Halle gewartet, kurz nachdem ich dich angerufen habe? Du hättest diese Strecke in der kurzen Zeit niemals schaffen können.«

Marc stand bereits fertig in Anzug und Mantel in der Küche, sah sie zerknirscht an. »Vero, ich muss zur Arbeit.«

Sie schmiss die Messer, die sie noch in der Hand hielt, in die Spüle und rannte an Marc vorbei. Er versuchte, sie am Arm festzuhalten, doch sie riss sich los.

»Warum immer sie? Ich weiß, dass ich nicht besonders gut aussehe, aber habe ich nicht das Recht, dass man fair mit mir umgeht?«

»Das tue ich doch. Du musst dich mit der Zeit vertan haben. Ich bin wirklich erst kurz vor halb vier angekommen. Ich bin mit dir zusammen, Vero, alles andere ist längst vorbei, ich dachte, du wüsstest das. Vertraust du mir nicht?«

»Wir waren Freundinnen und die erzählen sich so einiges.«

»Wieso waren?«

Veronika drehte sich um, rannte aus der Küche und schmiss die Tür mit einem Knall hinter sich zu.

Bräuer saß schon an seinem Schreibtisch, als Frommelt im Büro eintraf. Am Fundort der Leiche hatten sie sich umgesehen und wurden dort nicht weiter gebraucht. Den Bericht der Technik würden sie schnellstmöglich erhalten, dessen war er sich sicher. Und die Wohnung von Romy Seifert würden sie sich ansehen, sobald die Kollegen des Erkennungsdienstes dort fertig waren, denen wollten sie nicht vor den Füßen herumlaufen. Wenn sie überhaupt so nahe kämen. Die uniformierten Kollegen aus Wittingen befragten weiter die Bewohner der umliegenden Häuser in Knesebeck und suchten mögliche Zeugen.

Bräuer wühlte sich stets mit Akribie in den jeweiligen Fall hinein. Davor hatte Frommelt größten Respekt. Es hatte sich im Laufe der Jahre, in denen sie im Team zusammenarbeiteten, erwiesen, dass Frommelt sich hin und wieder verrannte und Bräuer derjenige war, der den Überblick behielt. Und auch wenn sein Kollege manchmal mit seiner besserwisserischen Art nervte, Frommelt mochte ihn. Er war stets bereit, anderen Kollegen zu helfen und murrte nie, wenn Überstunden anstanden. Roland war ihm ans Herz gewachsen, obwohl er ihm das niemals erzählen würde.

»Na, habt ihr ein neues Auto gefunden? Ihr wolltet doch gestern noch mal los?«, fragte Frommelt. Seit über einem Jahr suchten Bräuer und seine Frau Silke nach einem neuen Familienauto, weil ihr alter Passat in die Jahre gekommen war und unter massiven Altersbeschwerden litt.

»Hör bloß damit auf, Kilian. Ich werde noch wahnsinnig. Wir kennen mittlerweile alle Autohäuser und Gebrauchtwagenhändler im Umkreis von zweihundert Kilometern. Und nirgendwo ist auch nur annähernd ein Wagen dabei, der der Gnädigsten gefallen könnte und den ich auch bezahlen kann. Am Samstag ist sie die ganze Zeit um einen einjährigen Touran herumgeschlichen. Ich musste fast Gewalt anwenden, um sie davon wegzukriegen. Wie soll ich den denn bezahlen und wie viele Überstunden müsste ich dafür machen? Und Marvin hat nur gequengelt. Der ist schon wieder erkältet. Ich hab ihn die ganze Zeit auf dem Arm getragen. Weißt du eigentlich, wie schwer so ein vierjähriger Junge sein kann? Ich hoffe nur, dass Silke die Rotzflecken aus meiner Jacke wieder rauskriegt.« Es war selten, dass Roland Bräuer so viel Privates über sich erzählte. Es musste sich ziemlich viel in ihm angestaut haben. Da verzieh ihm Frommelt gerne den schnodderigen Ton bei dem Anruf frühmorgens. »Und was ist mit dir? Du siehst auch nicht gerade aus, als hättest du in Jungbrunnenelixier gebadet. Was meintest du vorhin eigentlich damit, dass du die Tote heute Morgen vor deinem Haus gesehen hast?«

»Das ist wirklich seltsam. Ich hab grad Kaffee gekocht und aus dem Küchenfenster geschaut, weil ich wissen wollte, ob es wieder geschneit hat. Und genau gegenüber auf der Wiese sehe ich jemanden. Die Frau hatte das gleiche weiße Kleid an, mit dem dunklen Fleck an genau der gleichen Stelle. Wie unsere Leiche. Kurz bevor du mich angerufen hast, wollte ich rausgehen und nachsehen. Anschließend war sie verschwunden.« Frommelt wühlte in den Schubladen seines Schreibtisches herum und tatsächlich fand er ein Aspirin.

»Kilian?«

»Hm?«

»Du solltest nicht so viel saufen.«

»Japp. Ich merke, wir sind ein perfektes Team. Hannah sagte vorhin das Gleiche.« Während des letzten Satzes war Hannah ins Büro gekommen. Sie hatte in Knesebeck so lange gewartet, bis die Leiche abtransportiert worden war. Nun rieb sie sich die eiskalten Finger, setzte sich auf ihren Platz und behielt den Mantel an. »Was soll ich gesagt haben?«

»Nichts von Bedeutung.«

»Na, wenn das so ist, wollen wir gleich weiter in Romy Seiferts Wohnung, oder wollt ihr mich weiter diffamieren?« Hannah sah sich suchend um. Die Kaffeemaschine stand unbenutzt auf dem Schrank.

Bräuer schlug sich vor Begeisterung auf die Oberschenkel. »Wir warten auf unsere Chefin.«

»Ach, hat sich Eure königliche Hoheit angekündigt?« Frommelt konnte sich diesen herablassenden Ton nicht verkneifen. Hannah saß, noch immer im Mantel, mit vorgeschobenen Schultern und die Arme um ihren Körper gelegt, auf ihrem Stuhl. Frommelt bemerkte ihren suchenden Blick. »Roland, würdest du uns bitte einen starken Kaffee kochen, Hannah ist völlig eingefroren.« Er hätte das normalerweise selbst gemacht, befürchtete aber, dass sein Kopf explodieren würde, sobald er seine bequeme Position auf dem Bürostuhl verließ.

»Na wenn das so ist. Das scheint hier ja wohl noch etwas zu dauern.« Hannah zog den Mantel aus und hängte ihn über die Stuhllehne.

Der Kaffee war gerade durchgelaufen, da betrat Staatsanwältin Grevenbach das Büro. Ihr gesamtes Auftreten war sehr maskulin, ohne jedoch unweiblich zu wirken. Vielleicht lag es an dem strengen Kurzhaarschnitt; ihre braunen Haare klebten fest am Kopf. Sie war nicht sehr groß und hatte eine eher knabenhafte Statur. »Guten Morgen«, sagte sie beim Eintreten und knetete ihre Finger.

Frommelt füllte die Kaffeebecher für alle und gab einen kurzen Bericht ab. Die Spurenlage war noch nicht ausgewertet, aber Karina hatte ihm ein Foto der silbernen Kette geschickt. Er gab das Smartphone an die Kollegen weiter.

»Und was hat das zu bedeuten?« Hannah vergrößerte das Bild und betrachtete den silbernen Anhänger genauer.

»Ich habe keine Ahnung. Es ist eine Doppelaxt und Frau Seifert hatte die Kette nur locker um den Hals, ohne dass sie verschlossen war.«

»Das könnte für einen männlichen Täter sprechen.« Bräuer gab Frommelt das Smartphone zurück.

Grevenbach stand steif dabei und hörte zu. Sie hatte ein verquollenes Gesicht und rote Augen. Sie kramte ein Papiertaschentuch aus ihrer Jackentasche und schnäuzte sich geräuschvoll.

»Sind Sie erkältet?«, fragte Hannah teilnahmsvoll.

»Diese verdammte Allergie.« Grevenbach rieb sich mit dem Handrücken übers Gesicht. »Es tut mir leid, dass ich heute früh nicht mit bei der Leiche war. Haben Sie die Angehörigen schon informiert?«

Warum entschuldigt sie sich dafür?, fragte sich Frommelt insgeheim. Normalerweise sah sich die Staatsanwaltschaft nur die Fotos der Leiche und die Berichte an. »Nein, noch nicht. Auf Frau Seiferts Handy sind die Nummern ihrer Eltern abgespeichert, sie scheinen getrennt zu leben.«

Bräuer fiel ihm ins Wort. »Ich hab das sofort geprüft: Die Mutter, Esther Seifert, wohnt mit ihrem neuen Lebensgefährten in Hannover und der Vater, Hagen Seifert, in Köln.«

»Danke, Roland«, sagte Frommelt, denn Bräuer holte bereits wieder tief Luft, um seine Erkenntnisse weitschweifig auszuführen. »Wir warten, bis die Technik das Handy ausgewertet hat. Sobald wir das Gerät haben, rufen wir die Eltern an. Jetzt fahren wir nach Wittingen, um uns in der Wohnung einen ersten Überblick zu verschaffen.«

Die Staatsanwältin schien ihm nicht zuzuhören. Sie war zum Fenster gegangen, sah gedankenverloren hinaus und nippte an ihrem Kaffee. Frommelt sah Bräuer irritiert an. Dieser zog die Schultern hoch.

»Köln«, sagte Grevenbach leise, als sie sich wieder umdrehte. »Da komme ich her. Das ist doch etwas anderes, als hier in der Provinz zu leben.« Als sie die fragenden Gesichter um sich herum erblickte, fügte sie schnell hinzu: »Offener, meine ich. Dort gibt es nicht so viele Vorurteile. Neulich hatte ich von einem Fall der Kollegen erfahren, bei dem ein homosexueller Mann am helllichten Tag im Magniviertel in Braunschweig erstochen wurde. Wie dann die Zeugen den Toten diskriminiert haben, das würde es in Köln ganz sicher nicht geben.«

»Aber Braunschweig ist doch keine Provinz«, verteidigte Hannah die Stadt und fügte sehr leise hinzu: »Und Gifhorn auch nicht.« Frommelt wusste, wie sehr Hannah Gifhorn liebte. Sie wohnte gern hier und verteidigte die kleine Stadt, die sich das Südtor zur Heide nannte, vehement. Ehe Grevenbach antworten konnte, ging die Tür leise auf und Valerie Mattern huschte ins Zimmer. Als sie Staatsanwältin Grevenbach sah, verfinsterte sich ihre sonst so fröhliche Miene. Sie grüßte knapp und fasste mit einem fluchtartigen Reflex zum Türgriff.

Im vergangenen Jahr war Valerie noch die Mitarbeiterin von Staatsanwalt Hausmann gewesen und Grevenbach hatte sie nach Hausmanns Versetzung nach Berlin quasi mit dem Inventar übernommen. Normalerweise hatte die für Gifhorn zuständige Staatsanwaltschaft ihre Büros in Hildesheim. Doch für Hausmann galt eine Ausnahmeregelung. Er wohnte zu der Zeit im Gifhorner Stadtteil Winkel und hielt sich gern in der Polizeiinspektion Gifhorn auf. Und da er es liebte, sich mit seinen Akten in den diversen Büros breitzumachen, beschwerten sich die Kollegen eines Tages darüber, dass sie nicht mehr an ihre Schreibtische kämen. So hatte man ihm kurzerhand und unbürokratisch ein eigenes kleines Büro zur Verfügung gestellt. Grevenbach nahm ohne zu fragen die Gegebenheiten auf und niemand hinderte sie daran. Bis sich Valerie eines Tages in eine andere Abteilung versetzen ließ. Niemand wusste, ob diese Versetzung von oben angeordnet wurde, oder ob es Valeries eigener Wunsch gewesen war. Wurde sie gefragt, antwortete sie ausweichend, dass sie einmal etwas anderes machen wollte. Sie war jetzt in der Verwaltung für die Spesenabrechnungen der Mitarbeiter zuständig. Niemand hatte jedoch in letzter Zeit einen Spesenzettel abgegeben, weil es keine Spesen gab, die sie hätten abrechnen können, so konnte es sich bei ihrem Besuch hier nur um Frommelts vierzigsten Geburtstag handeln. Man munkelte viel und natürlich hatte er mitbekommen, dass seine Kollegen für ihn sammelten, um ihm eine Überraschung zu bereiten. Darauf konnte er gern verzichten. Seit Maren fort war, feierte er seine Geburtstage nicht mehr. Sollten sie ihm doch einen Kasten Jack Daniel's schenken, mit diesen Freunden würde er gern feiern und die würden dann hoffentlich bis zu seinem nächsten Geburtstag reichen.

»Ich glaub, ich störe gerade, ich komm dann später noch mal wieder.« Valerie stand mit dem Rücken zur Wand, die Schultern fast bis an die Ohren hochgezogen.

Vielleicht war die Grevenbach sauer auf Valerie, weil sie sich hatte versetzen lassen und Valerie hat deshalb ein schlechtes Gewissen, dachte Frommelt. Er konnte sich diese geduckte, fast eingeschüchterte Haltung Valeries nicht erklären.

»Nein, nein, bleiben Sie hier, wir sind gleich fertig.« Die Staatsanwältin nagelte Valerie mit eiskaltem Blick an der Wand fest, ging dicht an ihr vorbei zur Tür, drehte sich, bevor sie hinausging, noch einmal um: »Dann bis nachher.« Sie warf Valerie noch einen tadelnden Blick zu und verschwand. Valeries Hände zerknüllten einen Bogen Papier.

»Was war das denn?«, fragte Hannah. »Die ist ja seltsam drauf. Von wegen Allergie, dass ich nicht lache. Wer hat denn bitteschön um diese Jahreszeit eine Allergie?«

»Ich«, sagte Frommelt, »gegen Karnevalsfeiern aller Art. Auf solch einer soll sie nämlich gestern gewesen sein, hat man mir zugetragen. Die Buschtrommeln funktionieren hier noch immer einwandfrei.«

Niemand beachtete Valerie, die in Gedanken versunken am Fenster stand und hinaussah.

»Wie die Grevenbach auch immer aussieht, wenn das meine Frau wäre …« Bräuer schüttelte den Kopf.

»Soviel ich weiß, ist sie nicht verheiratet«, sagte Frommelt.

»Wohl aus gutem Grund«, fügte Bräuer hinzu.

»Roland, bitte. Ich hab munkeln gehört, dass sie der Liebe wegen hierher gezogen ist.« Hannah hatte ihren besonnenen Ton angenommen. »Muss ja ein toller Typ sein, wenn sie ihm zuliebe ihre geliebte Heimat aufgegeben hat«, sagte Bräuer sarkastisch.

»Ich tippe auf ein hohes Tier.« Hannah nahm ihre Kaffeetasse in die Hand und trank einen Schluck.

»Wie kommst du darauf?« Frommelt saß an seinem Schreibtisch und sortierte lose Blätter. Neugierig sah er auf.

»Na, würde sie sonst solch eine Geheimniskrämerei daraus machen? Genau wie aus ihrem Vornamen: U. A. Karina hatte sie wohl bei der Weihnachtsfeier darauf angesprochen und sich eine derbe Abfuhr eingehandelt.« Hannah hielt die Tasse mit beiden Händen umschlossen. Sie schien noch immer zu frieren.

»Karina Wagenfeld? Die hat ja Mut.« Frommelt schaute Hannah neugierig an.

»Na, wohl eher zu viel Alkohol. Du weißt doch, dass sie mit allen und jedem Brüderschaft getrunken hat.«

Also war Frommelt nicht der einzige gewesen. Schade eigentlich.

»Sie hatte wohl noch andere auf der Feier angeraunzt und dann war sie ganz schnell verschwunden«, wusste Hannah.

»Karina?«

»Quatsch, U.A. Unmanned Aircraft «

Bräuer klatschte mit den Handflächen auf seine Oberschenkel. » Unbemanntes Luftfahrzeug, das ist gut, das merk ich mir. Wer sollte dieses hohe Tier denn sein? Ein Richter? Die einzigen, die mir einfallen und ledig sind, sind Wohlbrecht und Klarven.«

»Klarven fällt raus, der ist schwul.« Hannah schien bestens informiert zu sein.

»Schwul? Aber der …«, flüsterte Valerie, die an der Tafel mit den Tatortfotos stand und ziemlich blass wurde. Vielleicht hatte sich Valerie aus diesem Grund versetzen lassen, weil sie in Klarven verliebt war und er sie abgewiesen hatte? In der Staatsanwaltschaft arbeitete sie ja ständig mit Richtern, dachte Frommelt, erstaunt über Valeries Reaktion.

»Seit wann?«, fragte Bräuer.

»Mensch, Roland, lebst du wirklich in der Provinz?« Hannah schüttelte demonstrativ den Kopf. »Und Wohlbrecht ist viel zu alt. Es muss ja kein lediger Richter sein, wenn sie so ein Geheimnis daraus macht, dann wird der verheiratet sein.« Hannah, die sonst eher zurückhaltend war, schien es zu genießen, im Mittelpunkt zu stehen.

»Was ist mit Richter Schuft? Der baggert doch jede an, die ihm über den Weg läuft. Der scheint es wohl dringend nötig zu haben«, feixte Bräuer. Niemand außer Frommelt bemerkte, dass Hannah rot wurde.

»Können wir uns jetzt vielleicht wieder um unseren Fall kümmern?«, unterbrach Frommelt Bräuers Einwand.

Valerie druckste herum und ging auf Hannah zu. »Wie ist das eigentlich, wenn man schwul oder lesbisch ist? Merkt man das gleich, oder kommt so was plötzlich? Ich meine … wie bei Richter Klarven«, flüsterte sie leise, doch Frommelt bekam jedes Wort mit. Die Kleine ist wirklich verliebt, dachte er. Armes Mädchen, aber den Richter kannst du vergessen.

Hannah nahm ihren Mantel und verließ mit Valerie das Büro.

Veronika Färber blieb auf der Couch sitzen. Kurz nachdem sie aus der Küche gerannt war, hatte Marc wütend die Wohnung verlassen. Ihre Eifersucht sei zum Kotzen, rief er ihr noch durch die Tür zu. Bestand wirklich kein Grund dazu? Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen, zu viel ging ihr durch den Kopf. Fragen über Fragen und keine Antwort. Warum hatte sie sich von Romy zu diesem Rosenmontagsball überreden lassen? Das alles wäre nicht passiert, wäre sie zu Hause geblieben, dessen war sie sich sicher. Als sie vor gut einer Woche Romy am Telefon zugesagt hatte, wie jedes Jahr mit ihr zum Ball zu gehen, wusste sie, dass Romy sie abholen und dass sie dann auch Marc begegnen würde. Marc redete ihr gut zu, sie und Romy seien doch gute Freundinnen. Seit sie mit ihm zusammen sei, sähe sie Romy doch so selten. Sie glaubte ihm und vertraute auf ihre Liebe und seine Versprechen.

Das Fest begann ja auch sehr nett, fast wie in alten Zeiten. Romy, die im letzten halben Jahr immer so niedergeschlagen und traurig gewirkt hatte, war ausgelassen und fröhlich gewesen. Zauberhaft, in ihrem sexy Marilyn-Kostüm. Veronika machte es an diesem Abend kaum etwas aus, wieder einmal wie das plumpe Aschenputtel neben der zauberhaften und zierlichen Romy zu wirken. Sie feierten die ganze Nacht, lachten und tanzten, bis … ja, bis Romy von dieser Sache erzählte. Warum musste sie Romy auch nach ihren Problemen fragen? Mit dieser Antwort hatte Veronika niemals gerechnet.

Veronika musste nun zur Arbeit, ihr Bus fuhr gleich, doch sie konnte sich nicht aufraffen. Sie arbeitete in Gifhorn im Modehaus Becker. Normalerweise begann ihre Arbeitszeit um zehn Uhr, doch da sie gestern auf den Ball wollte, hatte sie sich heute Vormittag frei genommen.

Müde drückte sie sich vom Sofa hoch. Ihr Handy klingelte. War es Marc, der sich entschuldigen wollte? Sie glaubte nicht daran, griff sich das kleine Gerät, ohne auf das Display zu sehen und meldete sich. Linus, ihr Bruder. Was wollte der denn schon wieder? Schnell wurde ihr klar, dass es sich nur um Geld handeln konnte. Dieser arbeitslose Schmarotzer, warum ging er nicht endlich arbeiten und ließ sie in Ruhe? Sie hörte sich kurz an, was ihr Bruder zu sagen hatte. »Ja, meinetwegen. Heute Abend an der Bushaltestelle«, brummte sie und legte auf.

Frommelt war froh, dass Hannah mit Bräuer im Wagen nach Wittingen fuhr. So dachte er auf dem Weg darüber nach, wie er es verhindern konnte, dass am kommenden Wochenende sein Haus aufgeräumt werden sollte. Wehmeier und Fabian hatten sich für Samstag früh angemeldet. Nach langem Hin und Her und vor allem nach heftigen Diskussionen, in denen Richard Wehmeier ihm vorwarf, dass Birgit nie bei ihm einziehen würde, ehe er die Restanten seiner Großeltern nicht entsorgt hätte, willigte er letztendlich ein. Und auch nur, damit endlich Ruhe über dieses leidige Thema herrschte. Jetzt hatte er noch eine halbe Woche, um sich eine Lösung einfallen zu lassen. Er musste verhindern, dass die Andenken an seine Großeltern auf dem Müll landeten. Vielleicht sollte er heute Abend Ordnung schaffen, das Wort entrümpeln vermied er tunlichst. So konnte er vielleicht noch das eine oder andere Teil, an dem ihm ganz besonders lag, verstecken.

Ihm war seit dem verkorksten Date mit Hannah, an das er ungern zurückdachte, klar, dass er etwas ändern musste. In seinem Haus, aber vor allem in ihm selbst. Verschob er die Aufräumarbeiten, weil er viel zu gern allein lebte? Von Friedrun, seiner Vogelspinne, einmal abgesehen. Der war es egal, welche alten, abgesessenen und abgewohnten Möbelstücke in seinem Haus standen.

Frommelt schlug auf das Lenkrad ein. Er wusste keine Lösung für sein Problem. Erschrocken trat er auf die Bremse. Er war bereits in Knesebeck an der Rathaus-Kreuzung angelangt. Frommelt setzte den Blinker nach links. Als er am Schützenhaus vorbeikam, sah er, dass seine Kollegen auf der Wiese noch immer nach Spuren suchten.

Konnte es sein, dass Richard Wehmeier Recht hatte? Dass er, Kilian Frommelt, Angst vor einer neuen Beziehung hatte, Angst davor, dass Birgit ihn eines Tages genauso verlassen würde wie Maren? Aber Birgit war ein ganz anderer Typ als Maren. Ansatzweise dachte er an diesen billigen Ausspruch: Eine Frau zum Pferdestehlen. Nein, Pferde brauchte er beim besten Willen nicht, aber er brauchte Birgit. Brauchte sie ihn auch? Weshalb war sie mit ihm zusammen? Er kratzte sich am Kinn und verwarf seine Grübeleien. Gestern Abend hatte Richard ihm nahegelegt, dass er mit Birgit reden musste.

Völlig in Gedanken war Frommelt erstaunt, dass er bereits in Wittingen angekommen war. An der Knesebecker Kreuzung bog er rechts ab, hinter der Wittinger Brauerei nach links in den Umweg und hinter der Arztpraxis von Doktor Möhlmann fuhr er auf den Parkplatz des ehemaligen Mini-Mal- Supermarktes.

Frommelt stieg die Treppe hoch. Die Wohnungstür stand offen. Die Kollegen von der Kriminaltechnik waren noch nicht fertig mit ihrer Arbeit und wie es aussah, würde es wohl noch eine ganze Weile dauern. So lange wollte Frommelt nicht warten. Er machte sich bemerkbar und ein junger Mann mit Nickelbrille grüßte knapp und drückte ihm ein weißes Bündel in die Hand. Noch in der Wohnungstür zog er sich den Schutzanzug über die Kleidung – Plastiküberzieher und Handschuhe über Schuhe und Hände – und ging dann vorsichtig von Raum zu Raum, immer darauf bedacht, den Kollegen von der Technik nicht im Weg zu stehen.

Romy Seiferts Wohnung war sauber und ordentlich. Frommelt stand mitten im Wohnzimmer. Die Möbel schienen nicht teuer gewesen zu sein, waren aber geschmackvoll zusammengestellt. Hier sah es nicht nach einem Einbruch aus.

Hannah war bereits vor ihm eingetroffen. Als sie ihn bemerkte, kam sie auf ihn zu. »Bräuer ist im Haus unterwegs und befragt die Nachbarn.« Frommelt nickte. Hannah verließ das Wohnzimmer, er schätzte, dass sie in die Küche ging.

Von nebenan aus dem Schlafzimmer hörte er aufgebrachte Stimmen. Neugierig ging er hinüber. Karina Wagenfeld stand Auge in Auge mit Staatsanwältin Grevenbach. »Wenn Sie uns hier ständig im Weg herumlaufen, werden wir mit unserer Arbeit nie fertig«, schrie Karina.

»Werden Sie mal nicht komisch, Sie …« Grevenbach sah sich wie gehetzt im Zimmer um und stürmte dann hinaus – fast hätte sie Frommelt umgerannt. Er konnte gerade noch ausweichen.

»Ein wenig mehr Professionalität hätte ich Ihnen schon zugetraut«, rief Karina ihr hinterher. Als die Wohnungstür krachend ins Schloss fiel, ging Frommelt zu Karina: »Was war denn hier los?«

»Ach, die blöde … Entschuldige Kilian, aber die rennt hier ohne Handschuhe durch die Wohnung, von Schutzkleidung will ich gar nicht reden. Wo hat die eigentlich ihre Ausbildung gemacht?«

Hannah gesellte sich zu ihnen und schaute fragend in die Runde. Als sie keine Erklärung bekam, sagte sie: »Ich bin hier fertig, können wir?«

Frommelt nickte, doch ehe er sich umgedreht hatte, hielt ihm Karina einen Plastikbeutel vor das Gesicht. »Hier, das Handy der Toten. Die Abdrücke haben wir, der Inhalt muss aber noch ausgewertet werden. Also ich brauch's wieder, wenn du die Nummern aus dem Speicher hast.«

»Geht klar. Danke.« Gemeinsam mit Hannah ging er hinaus auf den Hausflur.

»Ist etwas passiert, was ich wissen müsste?« Hannah sah ihn belustigt an, doch Frommelt verkniff sich ein Grinsen: »Die beiden Frauen haben sich angezickt. Die eine unterstellt der anderen mangelnde Professionalität.«

»Das Übliche also.«

»Dass ihr Wei … ähm Frauen es auch nie lassen könnt.« Frommelt sah Hannah herausfordernd an. Sie reagierte prompt.

»Na, da kenne ich Männer …«, begann sie, merkte aber sofort, dass Frommelt sie auf den Arm nehmen wollte. »Das mit der Versetzung aus Liebe, das nehm ich der Grevenbach nicht ab. Ich hab munkeln gehört, dass sie sich in Köln ein dickes Ding geleistet hat und hierher quasi strafversetzt wurde. Aber wer gibt so etwas schon gerne zu?«

Ehe Frommelt darauf antworten konnte, kam Bräuer die Treppe herunter. »So, ich bin soweit durch. Mit allen Nachbarn habe ich noch nicht sprechen können, die meisten sind zur Arbeit, aber die, die zu Hause waren, meinten, Romy sei sehr nett, hilfsbereit und immer aufgeschlossen gewesen. Es hatte zwar niemand näheren Kontakt zu ihr, aber ein älterer Herr, Walter Hinz, wusste, wo Romy gearbeitet hat.« Dann machte Bräuer seine übliche Pause. Er war wohl der Meinung, somit die Spannung zu erhöhen und wichtig zu wirken. Frommelt kannte das und es ging ihm auf die Nerven. Da Bräuer aber seine Arbeit akribisch und genau erledigte, tat er ihm den Gefallen und hielt diese künstlichen Pausen aus. Er nickte zur Bestätigung, etwas, das Bräuer brauchte und anspornte, endlich weiterzusprechen. »Doktor Jens Dobrusch, Zahnarzt. Hinz ist dort selbst in Behandlung. Romy Seifert wohnte allein hier in der Wohnung, aber bis vor einem halben Jahr hat sie hier noch gemeinsam mit einer Freundin gewohnt. Sie heißt Veronika Färber.«

»Kein Freund?«, fragte Frommelt.

»Wie die Nachbarn sagen, hatte sie zurzeit keinen Freund, aber es soll da mal einen gegeben haben. Aber wie gesagt, alle habe ich noch nicht erreicht.«

»Gut, dann fährst du am besten zu diesem Zahnarzt und Hannah und ich kümmern uns um die Eltern. Wir müssen sie endlich informieren. Und um diese Veronika Färber kümmern wir uns auch.«

Auf dem Flur verließ Valerie der Mut. Hannah schien wohl gemerkt zu haben, wie es ihr in Anwesenheit der Männer im Büro ging, als sie fragte, wie man merkt, ob man lesbisch oder schwul ist. Hannah hatte ihr zwar das Gefühl gegeben, genug Zeit für sie zu haben und auf Verständnis konnte sie bei ihr durchaus hoffen, schließlich war sie ja auch eine Frau. Trotzdem wusste sie nicht, wie sie ihr Anliegen auf den Punkt bringen sollte, ohne sich zu verraten. So fragte sie ganz allgemein, ob Hannah schon einmal verliebt gewesen sei und ob Eifersucht immer dazugehörte. Mit diesen Fragen brachte sie Hannah in Verlegenheit, das hatte sie gespürt und war froh, dass Frommelt und Bräuer aus dem Zimmer kamen, um nach Wittingen zu fahren.

Sie glaubte, den Grund für Hannahs Zögern zu wissen. Bevor Frommelt und Birgit ein Paar wurden, hatte er öfter mit Valerie geflirtet. Wie gut hatte ihr diese Aufmerksamkeit getan. Und Kilian wäre durchaus ein Mann gewesen, mit dem sie sich eine Liebesbeziehung vorstellen konnte. Aber sie gönnte ihm sein Glück von Herzen. Die Flirts mit Kilian hatte bestimmt auch Hannah mitbekommen und so war ihre Reaktion nicht verwunderlich.

Wie lange schon hatte sie keine feste Beziehung mehr gehabt? Kurz nach ihrem Abitur war sie mit Johannes zusammen gewesen. Zwei Jahre dauerte diese Liebe und Valerie war so glücklich wie noch nie zuvor in ihrem Leben. Bis Johannes ihr mitteilte, er hätte ein Stipendium für eine Universität in Amerika bekommen. Sie wusste, für eine Fernbeziehung war sie nicht geschaffen und sie wusste auch, dass es das Ende ihrer großen Liebe war.

Sie huschte die Flure entlang, immer darauf bedacht, niemandem zu begegnen, bis sie in der Verwaltung an ihrem Schreibtisch saß. Seitdem grübelte sie über ihr Problem nach. Sie könnte sich wieder versetzen lassen, doch wohin? Es war ihr nicht möglich, einen längeren Anfahrtsweg bis zu ihrer Arbeitsstelle auf sich zu nehmen. Nicht nach dem Schlaganfall ihrer Mutter. Ihr Vater war mit der Pflege seiner Frau überfordert und wartete tagtäglich darauf, dass sie, Valerie, pünktlich zu Hause eintraf. Nein, eine Versetzung kam nicht infrage. Sie hatte ohnehin kaum die Gelegenheit, einmal auszugehen, um jemanden kennenzulernen, wenn sie zudem noch mehr Zeit für den Weg zu Arbeit aufbringen müsste, käme sie gar nicht mehr unter Menschen. Deshalb hatte sie sich vor einigen Monaten so sehr gefreut, als ihre Mädels anriefen. Sie wollten mal wieder nach Braunschweig, um zu feiern. Ja, sie hatte sich so auf diesen Tag gefreut. Und genau da begannen ihre Probleme.

Frommelt legte den Telefonhörer auf. »Ich hasse das. Immer, wenn ich jemanden darüber informieren muss, dass ein Angehöriger umgebracht wurde, krieg ich Magenschmerzen. Als ob ich dessen Tod hätte verhindern können.«

»Du nimmst dir das viel zu sehr zu Herzen, Kilian. Du brauchst wirklich Urlaub.« Hannah hob den Kopf und sah ihn mitleidig an.

»Kannst du das, Hannah? Allein in Urlaub fahren? Allein in so einem Hotelzimmer rumsitzen, oder beim Essen allein am Tisch hocken und neben dir sitzen nur glückliche Pärchen?«

Hannah kritzelte in ihren Unterlagen herum und Frommelt wusste, dass das nur ein Ausweichmanöver war, um ihm nicht in die Augen sehen zu müssen. »Warum fährst du nicht mit Birgit in den Urlaub?«