Verlorene Kinder - Beate Winter - E-Book

Verlorene Kinder E-Book

Beate Winter

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Beschreibung

Frommelt und sein Team geraten in dem kleinen Dorf Zahrenholz in einen Strudel aus familiären Verwicklungen. Hier scheint jeder Bewohner ein Geheimnis, aber auch ein Alibi zu haben. Und niemand hier kennt diese ominöse Louisa, dessen Name die ermordete alte Hebamme auf den Boden geschrieben hat. Immer wieder taucht eine schrullige Frau im Dorf auf und beobachtet das gerade erst zugezogene Ehepaar Leonhard und Marina. Der Fall nimmt eine plötzliche Wendung, als die depressive Marina einen Freund mit einem Messer angreift. Sie gerät in Verdacht, auch die alte Hebamme getötet zu haben. Doch sie kann sich an nichts erinnern. Je mehr die Ermittler herausfinden, umso merkwürdiger werden die Zusammenhänge um den Tod der alten Hebamme. Aber auch in Kilian Frommelts privatem Leben geht es turbulent zu. Obwohl er sich sicher ist, für immer mit Birgit zusammenzubleiben, taucht plötzlich seine Exfrau Maren bei ihm auf. Wieder einmal verdrängt er wichtige Entscheidungen. Ist er tatsächlich beziehungsunfähig, wie ihm sein Freund Richard unterstellt?

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Verlorene Kinder

Beate Winter

1. Auflage 2021

ISBN 978-3-947706-33-4 (e-Book)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de

© Plattini-Verlag – Alle Rechte vorbehalten.

https://www.plattini-verlag.de

Lektorat: Silvia Hildebrandt – Reutlingen

Korrektorat: Jana Oltersdorff – Dietzenbach

Umschlaggestaltung: Tom Jay – Gundelsheim

Foto: canicula – stock.adobe.com

Layout: Sabine Abels – Hamburg

Beate Winter

Verlorene Kinder

Zum Buch

Frommelt und sein Team geraten in dem kleinen Dorf Zahrenholz in einen Strudel aus familiären Verwicklungen. Hier scheint jeder Bewohner ein Geheimnis, aber auch ein Alibi zu haben. Und niemand hier kennt diese ominöse Louisa, dessen Name die ermordete alte Hebamme auf den Boden geschrieben hat.

Immer wieder taucht eine schrullige Frau im Dorf auf und beobachtet das gerade erst zugezogene Ehepaar Leonhard und Marina.

Der Fall nimmt eine plötzliche Wendung, als die depressive Marina einen Freund mit einem Messer angreift. Sie gerät in Verdacht, auch die alte Hebamme getötet zu haben. Doch sie kann sich an nichts erinnern.

Je mehr die Ermittler herausfinden, umso merkwürdiger werden die Zusammenhänge um den Tod der alten Hebamme.

Aber auch in Kilian Frommelts privatem Leben geht es turbulent zu. Obwohl er sich sicher ist, für immer mit Birgit zusammenzubleiben, taucht plötzlich seine Exfrau Maren bei ihm auf. Wieder einmal verdrängt er wichtige Entscheidungen. Ist er tatsächlich beziehungsunfähig, wie ihm sein Freund Richard unterstellt?

Der Duft der Rosen und der blühenden Büsche nahm ihm den Atem. Dennoch ging Kilian Frommelt weiter durch die Reihen der Gräber auf dem Friedhof am Wilscher Weg. Nach einer Weile blieb er stehen, noch immer fassungslos, dass seine Großeltern unter der schwarzen Erde lagen. Seit ihrer Beerdigung war er kaum mehr als drei oder vier Mal hier gewesen.

Der Gedanke, dass sie nicht mehr lebten, brachte ihn um den Verstand. Zudem hatte er ein schlechtes Gewissen. Seit einem halben Jahr wohnte Birgit jetzt bei ihm in jenem Haus in Neudorf-Platendorf, das er von seinen Großeltern geerbt hatte. Er wollte dieses gemütliche Heim niemals verändern, ihren Geist in den alten Möbeln, Teppichen und Gegenständen für immer bewahren.

Schon Maren, seine Ex-Frau, hatte ihm vorgeworfen, in einem Mausoleum, einer Gedenkstätte zu hausen. Aus diesem Grund war sie wohl damals ausgezogen. Frommelt merkte, wie ihm die Tränen die Wangen hinunterliefen. Er stand hier, um Abbitte zu leisten. Dafür, dass fast alle alten Möbel auf dem Sperrmüll gelandet waren. Birgit hatte das Haus renoviert, neu eingerichtet und mit einigen Erinnerungsstücken an die lieben alten Menschen ein Schmuckstück daraus gemacht. Seine Birgit. Er liebte sie über alles. Eine Weile stand er noch vor den Gräbern, bedauerte, dass sein Opa und die Oma Birgit nie kennengelernt hatten. Er schmunzelte. Sie hätten sie sofort in ihr Herz geschlossen. Dann nickte er, machte auf dem Absatz kehrt und lief zum Parkplatz, auf dem sein Auto stand. Mit einer energischen Handbewegung wischte er die Tränen fort.

***

Selbst die Fahrt war anstrengend. Marina saß im Auto, bewegte sich kaum. Ihre Hände lagen auf den Oberschenkeln, sie spürte, wie Leonhard sie aus den Augenwinkeln taxierte. Trotz der Kühle an diesem frühen Morgen schwitzte sie.

»Wir sind gleich da«, sagte er. »Nur noch wenige Kilometer bis Zahrenholz. Schaffst du das?«

Wieder war da dieser vorsichtige Unterton in seiner Stimme, den sich ihr Mann während der letzten Zeit angewöhnt hatte. Sie wusste, er sorgte sich um sie, passte auf, dass es ihr gut ging, doch sie fühlte sich wie ein kleines, unmündiges Mädchen. Von nun an würden sie nicht mehr in Braunschweig leben, sondern in einem Dorf, das sie nicht kannte. Dieser Gedanken saß in der Tiefe ihres Herzens fest wie ein Stachel und schmerzte. Sie beugte sich auf dem Beifahrersitz etwas nach rechts und schaute in den Seitenspiegel.

»Keine Bange, er ist noch immer hinter uns«, sagte Leon, der jede noch so kleine Bewegung ihres Körpers zu registrieren schien. Sie drückte sich wieder tiefer in den Sitz und versuchte, sich unsichtbar zu machen. Ihre Beine und ihr Kreuz taten weh.

Äcker, Wälder, kleine Dörfer zogen vorbei, schneller als achtzig fuhren sie nicht, was Marina sehr recht war. Sie spürte Leons Ungeduld. Immer wieder sah er in den Rückspiegel, wie um zu testen, ob er es nicht doch wagen konnte, eine geraume Strecke vorauszufahren, den Sportwagen über die B4 spurten zu lassen.

Marina beugte sich etwas vor. Die letzten Häuser Gifhorns verschwanden aus ihrem Blickfeld, eine gute Viertelstunde Fahrt lag noch vor ihnen. Sie traute sich nicht, Leon zu bitten anzuhalten, damit sie einige Schritte laufen konnte, die würzige Luft an diesem klaren Morgen tief in ihre Lungen zu saugen wie eine Ertrinkende Dann hätte aber auch der Möbelwagen der Umzugsfirma hinter ihnen halten müssen. Wir wollen doch heute noch fertig werden, hätte Leon gesagt. Darauf konnte sie gut verzichten. Fertig war sie bereits. Ausgelaugt, mit geschundenem Körper und gequälter Seele.

***

Heute Morgen hatte Frommelt einen Parkplatz in einer Seitenstraße bekommen. Auf dem Hof der Polizeiinspektion Gifhorn angekommen, wandte er sich nach links und ging zum Neubau, in dem der zentrale Kriminaldienst untergebracht war. Mehrere Kollegen kamen ihm entgegen, er grüßte knapp und schlug die Richtung ein, in der seine Abteilung vor einiger Zeit die neuen Büroräume bezogen hatte. Noch immer war er in Gedanken bei seinen Großeltern, doch kaum hatte er die Schwelle zu seinem Büro übertreten, fiel ihm ein, dass heute ja die neue Staatsanwältin vorgestellt werden würde.

Roland Bräuer saß schon mit mürrischer Miene an seinem Platz und blickte kaum auf, als Frommelt hereinkam. Frommelt war es recht, er brauchte noch ein paar Minuten für sich, um seine Gedanken auf die Arbeit richten zu können. Er blätterte lustlos einige alte Akten durch, ohne zu wissen, was er da eigentlich las, als Hannah ins Büro kam. Sie brachte eine Fröhlichkeit mit in den Raum, für die Frommelt dankbar war.

»Guten Morgen, meine Schätzchen«, sagte sie und schwang sich auf ihren Stuhl.

Frommelt staunte. Wie konnte man am frühen Morgen so gut gelaunt sein? »Sagt mal, stimmt es, dass sich heute die neue Staatsanwältin hier vorstellen will?«

Bräuer hob müde den Kopf. »Hm, ja. Hat sie aber verschoben. Ist noch eine Woche im Urlaub.«

»Roland, ist was mir dir?«, fragte Frommelt. Eigentlich wollte er ihn ja noch ein wenig in Ruhe lassen, doch es war ihm lieber, er sprach Bräuers mürrische Laune gleich an. Nicht dass sie sich noch negativ auf die Arbeit auswirkte.

»Ist nichts. Einfach ignorieren, okay.« Bräuer senkte den Kopf. Frommelt und Hannah sahen sich verwundert an. Frommelt beschloss, sich bei der nächstbesten Gelegenheit nach Bräuers Problemen zu erkundigen.

***

Marina wusste, dass Leon das Haus hier auf dem Land ihretwegen gekauft hatte, obwohl er jeden Tag knapp dreißig Kilometer bis zur Helios-Klinik nach Gifhorn fahren musste. Er hatte gesagt, es würde ihr guttun. Die frische Luft hier draußen, weitab vom trüben Dunst der Stadt mit all den Abgasen und Ausdünstungen. Sie würde es genießen. Keine Hektik, kein Stress mehr, nur Ruhe und Erholung.

Sie hatte aber keinen Stress und keine Hektik verspürt in letzter Zeit. Nur ein dumpfes Drücken in ihrem Kopf, ein wabernder Nebel, der kaum zu durchdringen war, ihr Körper so schwer wie aus Blei gegossen.

Seit sie mit Leon zusammen war, verlief ihr Leben in geordneten Bahnen. Er hatte ihr gezeigt, dass es ein Leben ohne Kummer und Sorgen geben konnte. Bis sie ihr ungeborenes Baby verloren hatte.

Sie verzog das Gesicht, unterdrückte mühsam die Tränen. »Hast du Schmerzen?«, fragte er und bezog ihre Mimik wohl auf die unebene Straße, auf die er gerade abgebogen war. Sie schüttelte den Kopf. Hinter ihnen polterte der Lastwagen über das bucklige Pflaster. »Da vorne ist schon das Dorf.«

Sie nickte nur. Abgeschoben ans Ende der Welt.

Krähen auf der Straße pickten sich ihre Mahlzeit aus einem überfahrenen Kaninchen und flogen erst davon, als der Wagen bereits unmittelbar vor ihnen war. Wie gern wäre sie mit ihnen geflogen, fort von hier und ihrem neuen Zuhause. Mit der Kaninchenmahlzeit hätte sie jedoch ihre Schwierigkeiten gehabt. Sie lächelte bei diesem Gedanken.

»Siehst du, du freust dich doch«, interpretierte Leon ihr Schmunzeln völlig falsch.

Die Vögel landeten im nächsten Baum und warteten, bis sie ihr Festessen fortsetzen konnten.

Sie ließ Leon in dem Glauben. War sie doch selbst schuld an ihrem Zustand. Sie hatte ihm das neue Leben, das in ihr gewachsen war und auf das er sich so unbändig gefreut hatte, nicht schenken können. Nun musste sie damit zurechtkommen, dass er sie wie einen alten Wischlappen ausrangierte und in der hintersten Ecke des Besenschranks verbarg.

Die Sonne stand halb hoch am Himmel und stach ihr in die Augen. Liebend gern hätte sie die Blende heruntergeklappt, doch ihre Hände lagen reglos in im Schoß und dachten gar nicht daran, ihren Gedanken zu folgen.

Eine Bäckerei gab es hier, wenigstens etwas. Leon bog kurz danach links ab auf die Straße, die nach Zahrenholz führte. Das Pflaster dröhnte unter den Reifen.

Sobald sie die ersten Häuser passiert hatten, wurde es augenblicklich dunkel. Erstaunt registrierte Marina, dass die Gebäude hier so eng aneinander bis knapp an den Straßenrand standen, dass das Sonnenlicht kaum eine Möglichkeit hatte, auf die schmale Gasse zu dringen.

Leon hielt den Wagen an. Hinter ihr quietschten die Bremsen des Lastwagens, Metall rieb auf Metall. Das Geräusch drang durch ihren Körper, pausierte eine Weile in ihrer Wirbelsäule. Sie hatte kaum bemerkt, wie Leon den Wagen verlassen hatte und jetzt mit einem der Männer vom Umzugsunternehmen redete. Er deutete mit dem ausgestreckten Arm auf ein Haus. Sie begriff diese Geste nicht, obwohl sie verstand, was sie bedeuten musste. Mühsam zog sie sich aus dem Auto. Die Männer waren noch in ihr Gespräch vertieft und beachteten sie nicht.

Das Gebäude stand eingepfercht zwischen zwei gut erhaltenen Höfen. Die Dorfstraße lag einsam und verlassen da, und außer einer älteren Frau, die sich auf der anderen Seite dicht an eine Hauswand presste, war keine Menschenseele zu sehen. Das konnte nicht Leons Ernst sein. Bis eben hatte sie die Vorstellung von einem zwar kleinen, doch passablen Häuschen gehabt. Aber das hier war eine heruntergekommene Bruchbude. Die alten Fachwerkbalken lagen sichtbar zwischen übertünchtem Mauerwerk. Die ehemals wohl weiße Farbe löste sich in großen Fetzen, hing teilweise nur noch von wenigen Stellen an den groben Steinen herunter. Die Überreste der Farbe rollten sich dort auf, wo sie noch mit dem Mauerwerk verbunden waren, hier und da war gar keine Farbe mehr vorhanden. Die derbe Holztür war wohl ehemals blau und weiß gestrichen worden, viel war davon nicht mehr übrig. Das Metall der schmiedeeisernen Klinke hatte sich im Laufe der Jahre schwarz gefärbt. Alles schien verwahrlost und heruntergekommen zu sein, als hätte sich niemand mehr die Mühe gemacht, es zu erhalten. Marina blickte sich noch einmal zu der alten Frau um. Diese duckte sich noch tiefer in den Hauseingang hinein, in dem sie sich zu verstecken glaubte. Wie ertappt ging ein Ruck durch die Alte, als sie bemerkte, dass Marina sie beobachtete. Sie stieß sich heftig von der Wand ab und stolperte hurtig mit gebeugter Körperhaltung die Straße hinunter.

Das Haus roch sauer und moderig, als Marina es betrat. Leon hatte ihr im Wagen erzählt, dass die letzten Bewohner vor fünfzehn Jahren gestorben waren und dass das Haus seitdem leer stand. »Willkommen im neuen Heim«, sagte er und sah sie lächelnd an.

Neu war dieses Haus ganz bestimmt nicht, und heimelig wurde es ihr ganz und gar nicht. Der Staub, aufgewirbelt durch ihr plumpes Eindringen, reizte ihre Nase, ihre Lungen, legte sich in ihren Augen ab. Spinnen, die hier seit Jahren nicht gestört worden waren, hatten ihr Werk vollendet. Dicke, dunkle Schwaden waberten von der Decke herunter.

Leon legte einen Arm um sie. »Na komm, das wird schon.«

Marina spürte wieder dieses beklemmende Gefühl in ihrer Brust, das sie häufig überkam, sobald sie vor einer neuen Aufgabe stand und nicht wusste, wie sie diese Herausforderung bewältigen sollte. Sie stand mit ihrem Mann in diesem Haus, das er für sie gekauft hatte, in einem Raum, der wohl das Wohnzimmer werden sollte. Die schmalen Fenster, mit schmutzig gelben Stores verhangen, ließen nur wenig Licht nach innen. Eine dicke Staubschicht lag auf den übriggebliebenen Möbeln, die wohl von den letzten Bewohnern hier vergessen worden waren.

Als ob er ihre Gedanken lesen konnte, sagte Leon: »Ich helfe dir beim Renovieren, wo ich kann. Es wird dich auf andere Gedanken bringen.«

Er hat doch keine Ahnung von meinen Vorstellungen, dachte Marina und nickte nur. So viel war in der letzten Zeit über ihren Kopf hinweg entschieden worden. Sie konnte nicht sagen, wo und an welcher Stelle sie hätte Einfluss darauf nehmen können. Das Baby war aus ihrem Leib getrieben worden, ehe es auch nur eine winzige Chance gehabt hätte, einen einzigen Streifen Tageslicht zu erhaschen. Vor fünf Monaten war das gewesen. Wer hatte das entschieden? Sie fühlte sich nutzlos, unfähig, einsam und verlassen. Und in diesem dreckigen Gemäuer sollte sie sich erholen? Was hatte Leon eben gesagt? Sie merkte, dass ihre diffusen Gedanken wieder einmal die Oberhand gewannen und die Realität außen vor ließen. Sie sollte zur Ruhe kommen, sagte er. Ruhe? Sie war ruhig. Viel zu ruhig.

Der Nebel, der in ihrem Inneren vorherrschte, verzog sich nicht. Der ganze Dreck hier im Haus bedrückte sie. So trübe wie das Licht hier im Raum waren auch ihre Gedanken. Die anderen Zimmer wollte sie erst gar nicht sehen. Doch Leon zog sie am Arm mit sich. »Komm mit nach oben, du wirst begeistert sein.« Das glaubte sie kaum, ging aber zögernd mit ihrem Mann die Treppe hinauf.

Auch hier im oberen Bereich sah es nicht besser aus. Zwei schmale Kammern, gelbfleckige Tapeten an den Wänden, die kaum noch an dem Mauerwerk hafteten. An einigen Stellen schien dunkelgrauer Putz hindurch.

Das rechte als gemeinsames Schlafzimmer, das linke als Arbeitszimmer. Leons Blick sprach Bände, als er das sagte. Marina spürte deutlich den vorwurfsvollen Unterton: Hättest du das Baby behalten, könnte es das Kinderzimmer sein. Aber da interpretierte sie wohl zu viel hinein. Leon war sonst sehr mitfühlend gewesen nach der Fehlgeburt, auch er trauerte um das Baby. Auf seine Art.

Leon redete weiter, pries die Vorzüge, hier zu wohnen. Die Worte schwebten an ihr vorbei, sie speicherte sie unbewusst, als ob man Socken in eine Schublade stopfte.

»Das Haus ist unheimlich«, sagte sie.

Marina sah durch das schmutzige Fenster hinaus auf die Straße. Der Möbelwagen parkte noch immer dort mit geschlossenen Türen am Straßenrand, die drei Umzugshelfer schienen sich gelangweilt zu unterhalten.

»Nicht mal einen Kaffee können wir ihnen anbieten«, sagte sie. »Wo sollen sie denn die ganzen Sachen abstellen?«

»Du machst dir unnötige Sorgen. Die Männer werden fürs Arbeiten bezahlt, nicht fürs Kaffeetrinken. Sie sollen die Sachen für unten ins Esszimmer stellen und für oben in das Arbeitszimmer. Die Räume brauchen wir nicht gleich.«

Noch immer begriff sie nicht, warum Leon sich nicht einige Tage länger Zeit gelassen hatte. Doch auch er hatte eine schwere Zeit hinter sich. Ihr Zustand belastete ihn bestimmt mehr, als er nach außen hin zugeben wollte. Dafür war sie ihm insgeheim dankbar. Er spielte für sie den starken Mann, aber sie wusste, dass er seinen Kummer vor ihr verstecken wollte. »Dieser Dreck überall. Warum konnten wir mit dem Umzug nicht warten, bis hier alles sauber ist? Warum diese Eile?«

»Weil ich es besser fand, wenn du in deinem Zustand nicht jeden Tag zwei Mal die lange Fahrt von Braunschweig bis hierher auf dich nehmen musst. So sind wir zum Renovieren hier vor Ort und in der Nähe meines Vaters. Ich habe dir ja erzählt, dass es ihm nach seinem Infarkt nicht sehr gut geht. Außerdem; das Modernisieren, das Einrichten. Es wird dir wieder neue Energie geben.«

***

Völlig außer Atem stand Lucy Kauber vor dem Haus, in dem Thekla wohnte. Lucy war die letzten Meter des Weges gerannt, als wäre ihr der Teufel persönlich begegnet. Sie stützte sich mit einer Hand an der Tür ab, bis sie wieder normal atmen konnte. Der Schreck saß ihr in den Gliedern, sie zitterte am ganzen Körper. Sie musste noch einen kleinen Moment verschnaufen, der Einkaufsbeutel war schwer und ihre maroden Knochen alt. In das alte Scheurich-Haus, in dem schon lange niemand mehr wohnte, zogen jetzt neue Leute ein. Sie hatte die Fahrzeuge gesehen, die Menschen, die vor dem Haus herumliefen. Einer der Männer hatte sich kurz umgedreht und in ihre Richtung geschaut. Diese eiskalten blauen Augen. Genau die gleichen Augen wie …

Sie musste mit Thekla sprechen.

Fünfzehn Jahre hatte das Haus leer gestanden, und Lucy war froh darüber gewesen. Sie konnte es nicht einmal benennen, hatte nur das Gefühl, dass dieses Haus nicht von Fremden bewohnt werden durfte. Oft hatte sie hier haltgemacht, wenn sie vom Einkaufen kam, auf der anderen Straßenseite, wie gerade eben, und nur hinüber geschaut.

Sie holte noch einmal tief Luft und klopfte an die Tür. Außer zu Thekla hatte Lucy mit niemandem Kontakt im Dorf.

Es dauerte eine ganze Weile, bis Lucy die schlurfenden Schritte der alten Frau hörte. Die Tür öffnete sich langsam, und Thekla war erstaunt, als sie Lucy sah. Bedächtig setzte sie einen Fuß vor den anderen und bat Lucy in ihr kleines Wohnzimmer.

Die ehemalige Hebamme des Dorfes war ihr Leben lang zu Fuß unterwegs gewesen. Jetzt stand ihr das Wasser in den Beinen, und das Laufen fiel ihr schwer. Aus diesem Grund ging Lucy stets zu ihr, denn Thekla war in diesem Jahr achtundsiebzig Jahre alt geworden.

Erst als sie sich gegenübersaßen, bemerkte Lucy, wie Thekla am ganzen Körper bebte.

»Geht es dir nicht gut, Thekla?«, fragte sie.

»Das Alter geht ja nun nicht spurlos an einem vorbei, oder?« Theklas Hände zitterten, doch sie schien sich zu bemühen, gelassen zu wirken.

Lucy schob es auf Theklas Gesundheitszustand. Und sie hatte ja ein ganz anderes Problem. »Hast du schon gehört, dass im alten Scheurich-Haus jemand einzieht?«

Thekla nickte. Das Zittern verstärkte sich.

»Weißt du, wer?«

»Leute aus der Stadt.«

»Fremde?«

Thekla zog die Schultern hoch.

»Mensch, Thekla. Du bist sonst nicht so kurz angebunden. Du hörst und weißt doch alles, was hier im Dorf so vor sich geht.« Lucy konnte sich nicht vorstellen, warum ihre Freundin so wortkarg war. Normalerweise schwatzten sie stundenlang, und Thekla erzählte gerne Geschichten von früher, als sie noch Kinder auf die Welt geholt hatte. Und heute war sie wie auf den Mund gefallen.

»Lucy, ich kann dir nur eins sagen. Sei in nächster Zeit ein wenig vorsichtiger.« Thekla sah sie streng an.

»Was meinst du mit vorsichtiger? Ich bin kerngesund. Oder meinst du, ich könnte im Wald tot umfallen?«

»Ich will ja nur nicht, dass dir was passiert, mein ich.«

»Thekla, ich bin seit Jahr und Tag allein, und mir ist noch nie was passiert. Warum kommst du denn ausgerechnet heute darauf? Ausgerechnet jetzt, da … hat das was mit den Fremden im Scheurich-Haus zu tun? Was ist mit denen?« Lucys Stimme klang schrill.

»Nichts. Ich sag ja nur, pass auf dich auf.« Jetzt wurde auch Thekla lauter.

»Thekla, du kennst die Leute. Wer ist das? Und der Mann? Der hat so durchdringende Augen.«

»Es ist besser, du gehst jetzt nach Hause und kümmerst dich um dein Vieh. Wir reden ein andermal darüber, mir geht es heute nicht so gut.« Um ihre Worte zu unterstützen, zeigte sie Lucy ihre zitternden Hände. »Du findest allein raus?«

In der Tür drehte Lucy sich noch einmal um. »Hat das mit dem Vertrag zu tun?«, fragte sie.

Thekla sah sie zornig an. »Die werden wohl einen Vertrag gemacht haben. Außerdem geht dich das gar nichts an. Jetzt verschwinde endlich.«

***

Marina stellte den Eimer in der Küche auf die Spüle und sank erschöpft auf einen Stuhl. Die Arbeit war schwer gewesen, den ganzen Tag hatten sie geputzt und gewienert. Jetzt war zumindest das Wohnzimmer in einem einigermaßen bewohnbaren Zustand und die Küche notdürftig eingerichtet. Leon hatte recht behalten: Trotz der körperlichen Anstrengung hatte ihr die Plackerei gutgetan. Die Möbel wollten sie in den nächsten Tagen aufstellen, nachdem sie die Räume tapeziert hatten. Im Wohnzimmer lagen zwei Matratzen nebeneinander auf dem Boden. Für eine Nacht würde dieses provisorische Lager genügen. Marina war viel zu erschöpft, um sich darüber weitere Gedanken zu machen. Sie war sich sicher, sobald sie lag, würde sie sofort tief und fest schlafen.

Leon kam zu ihr in die Küche, verschwitzt, mit hochrotem Kopf, sein übliches, verschmitztes Grinsen im Gesicht. »Das wär‘s für heute«, sagte er und legte den Lappen auf den Tisch. Sie sah auf den Lumpen und wusste nicht, was sie sagen sollte. Alle Kraft war aus ihrem Körper gewichen, sie wollte nur noch schlafen.

»Ich habe vorhin auf der Straße Moritz Weiß getroffen. Er und seine Frau Claudia haben uns heute Abend zum Essen eingeladen«, sagte Leon.

Marina schüttelte den Kopf. Nicht, dass es sie interessiert hätte, wer Moritz und Claudia waren, es waren einfach zu viele Informationen, die sie nicht verarbeiten konnte.

»Moritz. Mein alter Schulfreund.«

Als Marina nicht reagierte, ging Leon hinaus und kehrte bald mit einer sauberen Hose und einem Pulli zurück. »Hier, zieh das an. Du willst doch wohl nicht diese verdreckten Klamotten anbehalten. Außerdem hast du meine Jogginghose an. Und vergiss deine Tabletten nicht.«

Marina wollte nirgendwohin. Sie wollte ihre Ruhe, wollte schlafen, auf gar keinen Fall wollte sie aufstehen und denken müssen. Doch Leons Blick sagte ihr, dass sie sich heute Abend zusammenreißen musste. Sie fügte sich.

***

Frommelt freute sich auf einen geruhsamen Feierabend mit einem guten Schluck Jack Daniel‘s. Birgit hatte heute Spätdienst, so konnte er sich behaglich in seinen alten Lehnstuhl neben Friedruns Terrarium setzen und den Tag geruhsam ausklingen lassen. Er schloss die Haustür auf, nahm den Schlüssel für den Briefkasten und holte die Post heraus. Drei Briefe waren angekommen. Einmal Werbung, eine Rechnung und ein Brief von einem Berliner Anwalt. Ehe er seine Jacke ausgezogen hatte, ging er in die Küche. Seit Birgit bei ihm wohnte, liebte er diesen Raum und dachte nicht mehr an das Geld, das Maren für diese nagelneuen Hochglanzmöbel ausgegeben hatte. Bereits Birgits Anwesenheit verschönerte das Haus und die Dekoration, die sie überall verteilt hatte, ließ ihn zur Ruhe kommen.

Er setzte sich auf einen Stuhl, drehte und wendete den Brief des Anwalts in seinen Händen. Er rieb sich die Augen. Maren hatte bestimmt die Scheidung eingereicht. Im vergangenen Jahr war sie einmal bei ihm im Büro aufgetaucht und hatte ihm einige Schriftstücke auf den Schreibtisch gelegt. Er erinnerte sich, dass sie neben ihm ungeduldig auf der Stelle herumgetippelt war. Ihm war zugleich heiß und kalt geworden, und er hatte es nicht fertiggebracht, ihr in die Augen zu sehen. Zu seinem Glück, wie er fand, waren einige Kollegen in den Raum gekommen – Frommelt konnte nicht mehr sagen, was sie von ihm wollten, wusste nur noch, dass es sich um wichtige Ermittlungen handelte, und nahm Marens Erklärungen gar nicht mehr wahr. Er unterschrieb an der Stelle, wo sie ihren Zeigefinger auf das Papier drückte und war froh gewesen, dass sie schleunigst wieder verschwand.

Frommelt stand nun auf und steckte den Brief ungeöffnet in die Innentasche seiner Jacke, die auf dem Flur hing.

Vermutlich hatte sein bester Freund Richard recht, wenn er ihm vorwarf, mit Verdrängungen zu leben. Im vergangenen Jahr wollte Frommelt Birgit einen Heiratsantrag machen und hatte bereits die Verlobungsringe gekauft – und dann – ja, dann war ihm Birgit mit der Überraschung zu seinem Geburtstag dazwischengekommen. Anschließend hatte er es wieder und wieder verschoben, bis er es irgendwie vergessen hatte. Wo waren eigentlich die Ringe geblieben? Frommelt stand auf und tappte die Treppe hinauf ins Schlafzimmer. Im Schrank entdeckte er seine dicke Jacke, die er in dem kurzen Urlaub an der Nordsee getragen hatte. Und wirklich, in der rechten Jackentasche fand er das kleine Schmuckkästchen.

Zurück in der Küche öffnete er die Schachtel. Die Ringe gefielen ihm noch immer, und er war sich sicher, dass Birgit sich auch darüber freuen würde. Doch was sollte er jetzt tun? Auch wenn er nichts mehr wollte als Birgit – und die Scheidung von Maren herbeisehnte – es war so endgültig. So konnte er Birgit keinen Heiratsantrag machen. Wie in Trance ging er ins Wohnzimmer und holte seinen Kumpel Jack Daniel‘s aus dem Schrank. Wieder in der Küche merkte er, dass er sein liebstes Whiskeyglas vergessen hatte. Egal. Er nahm sich ein Wasserglas aus dem Schrank und goss es halbvoll mit der goldgelben Flüssigkeit.

Zum Glück war Birgit nicht zu Hause. Sie hätte ihm sein schlechtes Gewissen sofort angesehen. Warum konnte er nicht zu ihr stehen? Warum haderte er noch immer mit seinen Gefühlen? War er wirklich nicht beziehungsfähig, wie Richard ihm stets unterstellte? Als er das Glas ausgetrunken hatte, spürte er, dass ihm der Alkohol zu Kopf stieg. Er hatte heute noch nicht viel gegessen. Auch egal.

Frommelt griff nach seinem Handy und rief Richard an. Dieser meldete sich auch sofort. Doch nachdem Frommelt zwei sehr undeutliche Sätze ins Handy genuschelt hatte, machte Richard ihm klar, dass es besser sei, sofort ins Bett zu gehen und morgen noch einmal anzurufen.

***

Marina stand mit Leon vor einem alten, aber gepflegten Bauernhaus. Die roten Backsteine waren sauber erhalten, die weißen Fenster wohl erst vor kurzem neu gestrichen worden. Eine hübsche Frau, etwa in Marinas Alter, öffnete, als Leon klingelte. Das muss Claudia sein, dachte Marina. Sie strahlte Lebenslust und Fröhlichkeit aus. Ihre praktische, verstrubbelte Kurzhaarfrisur stand wirr um ihren Kopf herum. So war ich auch einmal, dachte Marina. Mit einer herzlichen Geste bat Claudia ihre Gäste ins Haus.

Moritz kam mit ausgebreiteten Armen aus dem Wohnzimmer auf sie zu. »Du musst Marina sein. Herzlich willkommen«, begrüßte er sie mit einer freundschaftlich sanften Umarmung.

Das Wohnzimmer war gemütlich eingerichtet. Marina stellte fest, dass hier mit wenig Geld ein behagliches Zuhause geschaffen worden war. Vermutlich war Claudia dafür zuständig gewesen.

»Und? Habt ihr euch schon eingelebt?«, fragte Moritz in Marinas Richtung, nachdem sie auf der Couch Platz genommen hatten.

»Es gibt noch eine Menge zu tun, ehe es richtig wohnlich wird«, antwortete Leon schnell. Ein wenig irritiert sah Moritz seinen Freund an.

»Sagt bloß, ihr seid in das Haus gezogen, ohne es vorher gründlich zu renovieren?«

»Nun ja«, sagte Leon verlegen, »du kennst ja die Situation. Mein Vater ist nach seinem Herzinfarkt noch nicht wieder völlig auf den Beinen, und auch Marina geht es nicht sehr gut.«

Marina sah an Moritz‘ und Claudias gesenkten Blicken, dass sie sehr genau über ihren Zustand und die Umstände Bescheid wussten. Wann hatte Leon es ihnen erzählt?

»Ich wollte Marina die weite Fahrt zwischen hier und Braunschweig nicht zumuten«, fuhr Leon fort. »Außerdem kann ich so meine Eltern besser unterstützen. Das Hotel macht sehr viel Arbeit, und meine Mutter schafft das nicht allein nach Vaters Herzinfarkt.«

Wann will er denn seine Eltern unterstützen?, dachte Marina. Er ist doch so schon kaum zu Hause.

»Marina sollte sich schonen«, sagte Claudia. »Warum habt ihr keine Firma für diese Drecksarbeit genommen? Verdient man als Arzt nicht genug dafür?«

Leon schaute betroffen auf seine Hände. Ehe er etwas darauf antworten konnte, sprach Claudia weiter: »Moritz könnte euch helfen. Nicht wahr?« Doch gleich darauf sah sie ihren Mann entschuldigend an, wohl wegen dieses vorschnellen Angebots.

»Na klar. Ich hab im Moment sowieso keine feste Arbeit.«

»Wenn ich dir das zumuten kann, Moritz, das wäre wirklich toll. Ich bezahl dir deine Arbeitszeit auch.«

Und mir kann er es zumuten?, dachte Marina. Ich bin ja auch nur seine Frau.

»Na hör mal, unter Freunden ist das doch selbstverständlich.«

Marina fühlte sich bei Moritz und Claudia wohl. Bei anderen Gelegenheiten, als Leon ihr Bekannte oder Arbeitskollegen vorgestellt hatte, waren sie meist essen gegangen, wo es steif und förmlich zugegangen war. Die Gespräche drehten sich vorwiegend um Berufliches: Welcher Patient welche Krankheit hatte und welche Operationen anstanden. Eigene Freunde hatte Marina nicht mehr. Leon fand ihren Bekanntenkreis gewöhnlich und albern. So war der Kontakt zu ihnen kurz nach ihrer Hochzeit mit Leon eingeschlafen.

Ganz anders hier. Claudia und Moritz Weiß waren herzlich und unkompliziert, wie es schien.

Die Wohnzimmertür öffnete sich leise quietschend. Die soliden Dielenbretter knarzten unter dem Druck der stämmigen, alten Frau, die soeben den Raum betrat. Im ersten Moment glaubte Marina, dass es die geheimnisvolle Alte im Hauseingang von heute Vormittag war, doch als sie ins Licht trat, sah Marina, dass diese sehr viel älter war und keine Ähnlichkeit mit der Fremden hatte. Bestimmt war sie schon über achtzig, dachte Marina.

»Ich wollte doch meinem Lieblingsneffen kurz guten Abend sagen«, brummte die Frau. »Ich wusste nicht, dass Besuch da ist.« Etwas irritiert hielt sie inne. Sie sah aus, als wollte sie noch etwas sagen, traute sich aber wohl wegen der Anwesenheit der Gäste nicht.

»Tante Thekla, komm herein.« Moritz stand auf und führte seine Verwandte, die offenbar schlecht auf den Füßen war, zu einem Sessel. Auch Leon stand kurz auf, um sie zu begrüßen. Als er ihr die Hand reichte, zuckte sie kurz zusammen. Marina sah es und wunderte sich.

»Das ist Leonhard Falkenberg, Tante Thekla, du kennst ihn doch sicher noch.« Thekla sah Leon fest in die Augen. Sie rührte sich nicht, verharrte wie versteinert auf der Stelle, ehe sie sich in den Sessel fallen ließ.

»Und das ist Marina, Leonhards Frau«, fuhr Moritz fort.

Ohne Marina zu beachten, stand Thekla wieder auf. Sie zitterte am ganzen Körper und tappte mit kleinen hektischen Schritten zur Tür. Bevor sie hinausging, drehte sie sich um und rief schrill: »Die Rache der verlorenen Kinder. Sie kommt. Sie werden sich rächen. Louisa kann nichts dafür.« Und so schnell, wie Marina es ihr niemals zugetraut hätte, verließ sie den Raum.

Alle vier Personen im Raum sahen sich sprachlos an. Marina saß wie versteinert neben Leon. Aus den Augenwinkeln bemerkte sie, wie er seine Finger bearbeitete, bis die Knöchel knackten. Wie zur Entschuldigung sagte Moritz: »Macht Euch nichts draus. Sie ist manchmal etwas wirr im Kopf. Sie ist ja auch nicht mehr die Jüngste und kann gestern und heute nicht richtig auseinanderhalten.«

Auf dem Heimweg traute sich Marina nicht, Leon zu fragen, was die Alte mit ihrer Aussage gemeint hatte. Konnte sie hellsehen? Hatte es sich schon im Dorf herumgesprochen, dass sie ihr Kind verloren hatte? Warum sprach diese Thekla von der Rache der verlorenen Kinder? Und wer war Louisa? Marina hatte ihr Baby behalten wollen. Oder meinte die alte Thekla Leon? Sie hatte ihn so seltsam angesehen. Doch auch er hatte sich auf seinen Nachwuchs gefreut. Oder nicht? Leon ging schweigend neben ihr her. Er sah sie nicht ein einziges Mal an. Erst im Haus merkte Marina, dass sie ihre Tasche bei Claudia und Moritz vergessen hatte.

***

Lucy brachte ihren Einkauf ins Haus und trieb die Kühe in den Stall. Was hat Thekla damit gemeint, sie soll vorsichtiger sein in Zukunft? Sicher, Lucy war nicht mehr die Jüngste, jedoch noch kräftig genug, um sich und ihre Tiere zu versorgen. Bis zum Einbruch der Dunkelheit saß sie am Tisch in der Küche und grübelte über Theklas Worte nach. Sie kam zu keinem Ergebnis. Mit einem Sprung schoss sie vom Stuhl hoch, schnappte sich die Taschenlampe vom Regal und rannte durch den Wald ins Dorf. Sie musste einfach Klarheit haben.

Kurz vor Theklas Haus hielt sie für einen Moment auf der Straße inne, verschnaufte, sonst hätte sie bei Thekla kein ordentliches Wort hervorgebracht. Und sie wusste, Thekla konnte schon sehr deutlich werden, wenn ihr etwas nicht passte.

Kaum konnte sie wieder normal atmen, sah sie einen dunklen Schatten an Theklas Haus vorbeihuschen. Es war fast schon finster, aber im schwachen Schein der Straßenbeleuchtung erkannte sie eine Person, die wohl aus Theklas Haus gekommen war und sich schnell fortbewegte.

Was sollte sie jetzt tun? Seltsam war das schon, denn ihre Freundin duldete um diese späte Zeit keinen Besuch. Sie wusste ja nicht einmal, ob Thekla sie selbst ins Haus gelassen hätte. Ein Motor brummte leise auf. Lucy verbarg sich weiterhin im Schatten der Hausecke und presste sich die Hand vor den Mund. Nur nicht schreien. Sie sah, wie zwei grelle Lichtkegel immer näher in ihre Richtung kamen. Lucy hielt die Luft an. In diesem Augenblick fuhr ein Auto langsam an ihr vorbei.

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Am nächsten Morgen fand Marina einen Zettel auf dem Küchentisch. Ich musste zu einem Notfall ins Krankenhaus. Melde mich. Marina hatte kein Telefonläuten gehört. Leon hatte ihr gleich, als sie gestern Abend zurück ins Haus gekommen waren, eine Tablette gegeben, damit sie gut schlief. Heute früh fühlte sie sich matt und ausgelaugt. Sie konnte sich nicht einmal mehr daran erinnern, wie sie sich ausgezogen hatte und ins Bett gegangen war. Die ganze Plackerei gestern, das Putzen und Einräumen, hatte an ihren Kräften gezehrt. Dazu hatte sie der Besuch bei Claudia und Moritz über alle Maßen angestrengt. Sie dachte an die beiden netten Menschen, die sie gestern Abend kennengelernt hatte, und schmunzelte. Der Abend hatte ihr wider Erwarten gutgetan. Jetzt musste sie etwas essen, um dann zu entscheiden, womit sie heute beginnen wollte. Neben dem Glas und der Flasche Saft hatte Leon ihr, wie jeden Tag, die übliche Ration Tabletten bereits eingeteilt. Sie legte eine davon auf die Zunge, doch ehe sie sie schluckte, zögerte sie einen kurzen Moment. Die Pille fühlte sich anders an als sonst. Doch sie verwarf ihre Gedanken als Einbildung und spülte das Medikament mit einem Schluck Orangensaft hinunter.

Moritz stand pünktlich um acht mit seinem Werkzeugkoffer vor Marinas Haustür. Marina starrte ihn an, als wüsste sie nicht, wer er war. Sie musste sich am Türrahmen festhalten, als sie ihn ins Haus bat. Moritz wich ihrem Blick irritiert aus. Benommen schlich sie hinter ihm in die Küche, wo Moritz schon seine Werkzeugkiste abgestellt hatte.

»Was liegt als erstes an?«, fragte er und als er Marinas lethargischen Zustand richtig zu deuten schien, fuhr er fort: »Ich geh mal nach oben, da finde ich bestimmt etwas zu tun.«

Sie konnte nur nicken. Als Moritz aus der Küche verschwunden war, bemerkte sie, dass sie noch immer im Bademantel herumlief. Panisch sah sie sich um. Hier in der Küche lagen keine Klamotten, die sie anziehen konnte. Dann mussten sie noch im Wohnzimmer sein, wo sie sich gestern Nacht ausgezogen hatte. Doch hier hing über der Stuhllehne nur ihre gute Jeans, die sie gestern Abend bei Claudia und Moritz getragen hatte. Ihr fiel die Jogginghose von Leon ein. Die musste dringend gewaschen werden, aber sie könnte sie ja heute noch zur Arbeit anziehen und dann in die Wäsche tun. Das würde Leon gar nicht merken.

Nichts. Keine Jogginghose, das konnte doch gar nicht sein. Bestimmt lag das an den Tabletten, manchmal hatte sie das Gefühl, dass sie davon nicht richtig denken konnte.

Ein schrilles Geräusch ließ sie zusammenzucken. Ehe sie begriff, was dieser Lärm zu bedeuten hatte, war Moritz bereits über den Flur gelaufen und stand am Eingang. Sie hörte, wie er leise mit jemandem redete.

Kurz darauf kam Claudia zu ihr ins Wohnzimmer. Sie nahm Marina zur Begrüßung kurz in den Arm und sah ihr dann in die Augen. »Wie geht es dir? Moritz sagte eben, dass du sehr müde aussiehst.« Claudia hielt jetzt ihre Hände fest.

Marina schüttelte sich kurz. »Alles gut. Ich habe eben meine Tabletten genommen, die machen mich manchmal etwas schlapp.«

»Aber gestern Abend ging es dir doch viel besser, oder täusche ich mich?«

»Gestern. Ja … ich weiß nicht.«

Claudia sah ihren Mann mit einem wissenden Blick an und drehte sich dann wieder zu Marina um. »Komm, zieh dir etwas an, dann gehen wir in den Garten, da kannst du dich ein wenig ausruhen.« Claudia nahm sie am Arm und zog sie mit sich. Marina blickte sich hilflos um, noch immer wusste sie nicht, was sie anziehen sollte. Claudia bückte sich und zog unter einem Haufen Kleidungsstücke ein schwarzes Teil hervor. Marina schmiss ihren Bademantel über einen Stuhl, zog die Hose sowie ein langärmeliges Shirt an, das Claudia ihr ebenfalls hinhielt.

Wieder nahm Claudia sie bei der Hand und lenkte sie zur Hintertür, die in den Garten führte.

Warum soll ich mich ausruhen, dachte Marina. Ich bin doch eben erst aufgestanden, und gearbeitet habe ich doch auch noch nichts, oder?

Sie fand sich im Garten auf einer Bank wieder. Wie sie die wenigen Schritte vom Haus bis hierher geschafft hatte, wusste sie schon nicht mehr.

»Übrigens hast du deine Handtasche bei mir vergessen. Ich wollte sie dir gestern Abend noch vorbeibringen und hab bei euch geklingelt, aber es hat niemand aufgemacht. Ihr seid ja ziemlich schnell eingeschlafen.« Claudia lachte etwas gekünstelt.

»Leon hat mir gleich eine Tablette gegeben, als wir hier waren. Er hat mir wohl angesehen, dass ich kaputt war, und meinte, dann würde ich heute ausgeschlafen sein.«

»Wo ist der eigentlich?« Claudia sah sich um.

»Er musste zu einem Notfall in die Klinik.«

»Claudia, kommst du bitte mal«, rief Moritz von der Hintertür her. Claudia stand auf, sah sich noch einmal mitfühlend nach Marina um und ging zu ihrem Mann ins Haus.

Kurze Zeit später kamen beide mit gesenkten Köpfen auf Marina zu. »Entschuldige, aber wir müssen dringend weg. Meine Mutter war eben hier und sagte, dass etwas mit meiner Tante passiert ist«, sagte Moritz. Marina begriff den Sinn dieser Worte nicht und blieb auf der Bank sitzen.

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Bernadette Lillejander stand auf der Leiter, eine eingekleisterte Tapetenbahn hatte sich um ihren Arm gewickelt. Mühsam versuchte sie, sich aus dem klebrigen Papierwust zu befreien. Tapezieren war nicht ihr Ding. Sie malerte lieber. Den Geruch der Farbe, das Ergebnis, wenn der feuchte Schimmer des Angestrichenen sich verzog und die endgültige Schattierung zum Vorschein kam, liebte sie geradezu.

Das Handy klingelte.

Ihr Vokabular der gebräuchlichsten Schimpfwörter war grenzenlos. Einen Großteil davon verbrauchte sie jetzt, als sie von der Leiter herunterstieg und sich den Kleber von der Wange wischen wollte. Sie angelte vorsichtig das Handy aus ihrer Jacke, die am Haken auf dem Flur hing. Dabei versaute sie den Stoff mit Kleister. Ein glänzender Fleck am Ärmel. »Himmelarsch und Wolkenbruch, ich klebe mich hier furchtbar ein, und ihr habt nichts Besseres zu tun, als mich zu nerven und mich von der Arbeit abzuhalten«, brüllte sie in das Gerät, in der Vermutung, ihre Mutter würde sich wieder einmal nach dem Voranschreiten ihrer Tätigkeit erkundigen.

»Entschuldigen Sie«, kam es nach einer Pause leise aus dem Mobiltelefon. »Ich konnte von hier aus leider nicht erkennen, in welch misslicher Lage Sie zu stecken scheinen.«

»Oh.« Verdammt, wer drückte sich denn so gewählt bescheiden aus?

Keine Antwort.

»Hallo?«

»Ja. Fangen wir am besten noch einmal ganz von vorne an. Tassilo von Troytem, Polizeiinspektion Gifhorn.«

»Entschuldigung. Bernadette Lillejander. Ehemalige Hauptkommissarin im Kriminaldauerdienst und zukünftige Staatsanwältin, zurzeit im Urlaub und renovierend.«

»Und ich dachte, Sie sind immer so. Leider konnte ich, wie schon gesagt, nicht erkennen, was Sie gerade tun. Zum Glück werden unsere Räume von ausgebildeten Handwerkern bearbeitet. Ich habe von Ihrer ehemaligen Dienststelle in Frankfurt erfahren, dass Sie bereits vor Ort sind. Ich weiß natürlich, dass Sie noch Urlaub haben, aber aufgrund von diversen Krankheitsfällen in der Staatsanwaltschaft Hildesheim, wo man mir mitteilte, dass Sie möglicherweise als Ersatz einspringen könnten, möchte ich Sie fragen, ob Sie Ihren Dienst vielleicht schon früher antreten könnten?«

»Sagen Sie, quatschen Sie immer so viel? Nein, tut mir leid, aber das ist unmöglich. Wie gesagt, ich stecke bis zum Hals in der Renovierung …«

»Es geht um Mord. Eine achtundsiebzigjährige Frau ist erstochen worden.«

»Wer zum Teufel tut denn so was?«

»Tja, das wäre dann meine Bitte. Dass Sie uns helfen, genau das herauszufinden.«

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Frommelt erhielt die Nachricht in seinem Büro. Eine Frau, Ende siebzig war tot in ihrem Haus aufgefunden worden. Während er von Gifhorn nach Zahrenholz fuhr, verfluchte er den Arzt, der ungeklärte Todesursache auf seinem Formular angekreuzt hatte. Und seinen Alkoholkonsum vom Vorabend. Er rieb sich die müden Augen und setzte die Sonnenbrille auf.

Eine tote Frau, fast achtzig, was sollte denn daran ungeklärt sein? Er kannte das Dorf noch von damals, als er mit Maren zusammen gewesen war. Sie hatten einen Ausflug gemacht, hier in der Gegend Pilze gesucht und sich auf piksenden Blaubeerbüschen geliebt. Ihm fiel der Brief von gestern wieder ein, er fuhr mit der Hand unter sein Jackett – der Brief war noch da – und verdrängte die Gedanken daran, dass er Birgit eine Erklärung schuldete, sofort wieder.

Es hatte sich hier scheinbar seit damals nichts verändert. Düster und unheimlich hatte er das Dorf in Erinnerung behalten, und genau dieser Eindruck stellte sich sofort wieder ein, als er über das holprige Pflaster in die kleine Straße einbog. Er parkte sein Auto hinter den Streifenwagen und stieg aus. Die uniformierten Kollegen hatten den Zugang zu dem kleinen, unscheinbaren Haus bereits mit rotweißem Band abgesperrt und teilten ihm mit, dass die Kollegen der Technik und der Rechtsmediziner noch nicht vor Ort wären. Normalerweise müsste Frommelt den Dienstweg einhalten und auf die Kollegen warten. Doch heute war es ihm egal, er wollte die Sache so schnell wie möglich hinter sich bringen, weil sich höchstwahrscheinlich herausstellen würde, dass die Frau eines natürlichen Todes gestorben war.

»Wer ist es?«, fragte er.

»Thekla Kirch. Achtundsiebzig Jahre alt. Sie war die Hebamme hier im Ort.«

Ohne weiter nachzufragen, drückte er sich an den Kollegen vorbei und ging ins Haus.

Auf dem Flur blieb er einen kurzen Moment stehen und riss sich innerlich zusammen. Er hatte hier einen Todesfall aufzuklären: Vergessen waren der Brief, sein Alkoholkonsum und seine Müdigkeit. Was jetzt zählte, waren ein klarer Kopf und seine Instinkte. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen.

Es war, als seien die Geister, die Stimmen der Toten und Lebendigen noch immer anwesend, verbargen sich hinter Schränken und Kommoden, in Mauerritzen und Deckenspalten. Genauso liebte er es. Man musste genau zuhören, still und leise sein, sonst vertrieb man sie. Dieses erste Gefühl, sobald er einen Tatort betrat, sog er mit all seinen Sinnen auf. Frommelt wusste, er würde einen gehörigen Anschiss dafür kriegen, aber diese Situation ergab sich nicht oft, und das musste er einfach ausnutzen.

Die Stimmen schienen ihm zuzuflüstern, was sich hier abgespielt hatte, doch er verstand sie nicht. Er wollte sie richtig deuten, doch er musste sich beeilen, denn sobald die Kollegen hier eintrafen, waren die Empfindungen verschwunden, die Antennen eingefahren.

Ein düsterer, schmaler Gang, rechts eine halboffene Tür. Frommelt schauderte es ein wenig, dennoch ging er in den Raum, der anscheinend das Wohnzimmer war. Zwischen Sofa und Tisch lag die Frau auf den sauberen, harten Dielenbrettern zusammengekrümmt auf ihrer linken Seite. Frommelt betrachtete den Wohnbereich. Alles hier sah sauber aus. Hatte sie in ihrem Alter noch selbst geputzt? Frommelt stellte sich die stämmige, aber nicht dicke Frau vor; den Rücken krumm, über den Wischeimer gebeugt. Den schweren Körper auf Knien, die Wurzelbürste in der Hand, den Boden schrubbend. Sauber, ja – aber diese Unordnung, die hier im Wohnzimmer herrschte, passte nicht dazu. Ordner, Schnellhefter und viele lose Blätter lagen, wie aus den Schränken gefegt, im Raum herum. Hier hatte eindeutig jemand etwas gesucht.

Die Frau trug ein hochgeschlossenes Kleid, kleine gelbe Blümchen auf dunkelgrünem Grund. An ihrem Hals rote Striemen. Sie sahen aus wie Würgemale. Verkrustetes Blut unter ihrer linken Brust. Vermutlich eine Stichverletzung. Diese alte Frau war eindeutig keines natürlichen Todes gestorben. Er zog sein Handy aus der Tasche und rief Hannah und Bräuer zur Verstärkung her. Jetzt sollte er auf den Rechtsmediziner und die Kollegen von der Technik warten und sofort das Haus verlassen, um den Tatort nicht mit seinen eigenen Spuren zu kontaminieren. Stattdessen zog er sich Einweghandschuhe an, setzte den Mundschutz auf und stülpte sich die Schutzhauben für die Schuhe über.

Der rechte Arm der Frau hing über dem Körper, die Hand berührte den Boden. Frommelt ging einen Schritt näher, bis er das Gesicht der Frau erkennen konnte. Noch sprach er den Namen der Toten nicht aus, obwohl er ihn wusste. Das kam später. Sobald er alle Einzelheiten, alle Umstände kannte, die sich hier abgespielt haben mochten.

Eine alte Hebamme. Brachte in ihrem früheren Dasein Kinder auf die Welt, schenkte Eltern neues Leben. Und dann kam ein Mensch und nahm ihr ihres. Die Welt ist paradox, dachte Frommelt und riss sich aus diesen unnützen Gedanken heraus. Was nun zählte, waren Fakten, Details, Spuren.

Hinter dem Tisch, vor der Hand der Frau, erkannte Frommelt einen ovalen Fleck mit eingetrocknetem, dunklem Blut. Die Finger der Frau blutverschmiert, davor dunkle Krakel, Striche, wie absichtlich verrieben. Ein ungewöhnliches Muster verschmierter Kringel.

Die Gardinen waren zugezogen. Frommelt hätte jetzt gern mehr Licht gehabt, vermied es aber, hier etwas zu verändern. Die Kollegen würden ihm sofort einen Anschiss verpassen, sobald er hier etwas anfasste.

Trotz des diffusen Lichts erkannte er in den Schnörkeln neben der Blutlache eine Einheit, in seinem Gehirn fügte es sich zusammen. Frommelt blieb auf der Stelle stehen, legte den Kopf schief – um die Schnörkel besser sehen zu können, kniff er die Augen zusammen. In verschlungenen Buchstaben, wie mit zitternder Hand geschrieben, stand dort das Wort: Louise. Es konnte aber auch Louisa sein, denn der letzte Buchstabe war kaum zu deuten. War das die Mörderin der alten Frau? Louise? Kam es wirklich vor, dass Opfer den Namen ihres Mörders mit dem eigenen Blut schrieben? Gesehen hatte er das noch nie, kannte es nur aus Fernsehkrimis. Frommelt beschloss, dass diese Tatsache ihn nicht von den Ermittlungen ablenken sollte.

Hinter sich vernahm er Stimmengemurmel. Er vermutete, dass Hannah und Bräuer angekommen waren, obwohl sie das in dieser kurzen Zeit niemals hätten schaffen können. Aber während der Ermittlungen in einem Mordfall verlor er schon mal jegliches Zeitgefühl.