Blauäugig - Beate Winter - E-Book

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Beate Winter

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Beschreibung

Seit fünf Wochen ist Richard Wehmeier wieder in Freiheit. Er hat die Strafe für den ihm angehängten Mord an der kleinen Betti Hein abgesessen. Langsam lebt er sich wieder in seinen Alltag ein. Da erhält er in seinem Stammlokal in Gifhorn einen Anruf; ein Unbekannter will ihn treffen, er hätte Informationen, die seine Unschuld beweisen. Wehmeier macht sich sofort auf den Weg zu der angegebenen Adresse, doch das Haus ist leer, die Tür steht offen. Ohne nachzudenken geht Wehmeier hinein. Zur gleichen Zeit steht Kommissar Kilian Frommelt vor einer Kinderleiche. Es ist Lisa Brandes, die mit ihren Eltern in genau dem Haus gelebt hat, in dem man Spuren von Wehmeier findet. Wieder ist dieser Hauptverdächtiger in einem Mordfall. Nur wie soll Wehmeier beweisen, dass er mit dem Mord an der fünfjährigen Lisa rein gar nichts zu tun hat? Und gibt es einen Zusammenhang zu dem Fall der getöteten Betti Hein?

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Blauäugig

Beate Winter

1. Auflage 2019

ISBN 978-3-947706-15-0 (e-Book)

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de

© Plattini-Verlag – Alle Rechte vorbehalten. https://www.plattini-verlag.de

Lektorat: Silvia Hildebrandt - Reutlingen Umschlaggestaltung: Tom Jay - Gundelsheim Layout: LoreDana Arts - ErftstadtKonvertierung: Sabine Abels – www.e-book-erstellung.de

Beate Winter

Blauäugig

Zum Buch

Seit fünf Wochen ist Richard Wehmeier wieder in Freiheit. Er hat die Strafe für den ihm angehängten Mord an der kleinen Betti Hein abgesessen. Langsam lebt er sich wieder in seinen Alltag ein.

Da erhält er in seinem Stammlokal in Gifhorn einen Anruf; ein Unbekannter will ihn treffen, er hätte Informationen, die seine Unschuld beweisen. Wehmeier macht sich sofort auf den Weg zu der angegebenen Adresse, doch das Haus ist leer, die Tür steht offen. Ohne nachzudenken geht Wehmeier hinein.

Zur gleichen Zeit steht Kommissar Kilian Frommelt vor einer Kinderleiche. Es ist Lisa Brandes, die mit ihren Eltern in genau dem Haus gelebt hat, in dem man Spuren von Wehmeier findet. Wieder ist dieser Hauptverdächtiger in einem Mordfall.

Nur wie soll Wehmeier beweisen, dass er mit dem Mord an der fünfjährigen Lisa rein gar nichts zu tun hat?Und gibt es einen Zusammenhang zu dem Fall der getöteten Betti Hein?

Prolog

Ein Knarren weckte sie. Sie kannte das Geräusch.

Sie kannte es sehr gut. Nun wurde es begleitet durch ein leises Schaben über den Teppichboden.

Im ersten Moment wusste sie nicht, ob das Geräusch sie geweckt hatte oder dieser Traum, der sie fast jede Nacht heimsuchte. Die Erinnerungen brachen mit solch einem Schmerz über sie herein, dass ihr schlecht wurde. Sie pinkelte wieder ins Bett.

Sie konzentrierte sich auf ihren Körper und spürte die feuchte Wärme an ihrer Haut. Wenn sie still und ruhig liegen blieb, war es nicht ganz so schlimm.

Sie musste wieder weinen. Sie durfte nicht weinen. Ganz fest drückte sie ihren Teddy an sich. Am liebsten wäre sie aus dem Bett gesprungen, zu ihrer Mutter gerannt und hätte sich ihr in die Arme geworfen. Ihre Mutter hätte ihr über das Haar gestreichelt und ihre Nähe und ihr milder Duft hätten sie beruhigt.

Doch ihre Mutter war nicht da. Sie müsse arbeiten, hatte sie ihr erklärt, und Geld verdienen, damit sie in dieser Wohnung bleiben könnten und genug zu essen hätten.

Sie wollte nicht in dieser Wohnung bleiben. Alles, was hier geschah, machte ihr Angst.

Wieder dieses Schaben der Wohnungstür über den Teppich. Zweimal hatte sie die Tür bereits ins Schloss fallen hören. Wie jeden Abend. Sie wartete darauf, bevor sie einzuschlafen versuchte. Zweimal, das war in Ordnung. Sobald die Wohnungstür ein drittes Mal ins Schloss fiel, bedeutete das, er kam wieder zu ihr. Sie zitterte. Wenn sie um diese Zeit, mitten in der Nacht, die Wohnungstür hörte, wenn es klopfte, dann kam er zurück.

Sie vermutete, dass es mitten in der Nacht war, denn es war dunkel draußen, nur die Straßenlaterne warf einen schmalen Lichtschein in ihr Zimmer.

Er hatte gesagt, sie müsse ins Heim, wenn sie nicht artig sei und ihren Mund nicht halten könne. Und dann dürfe sie ihre Geschwister nie wieder sehen.Ohne ihre Mutter und ihre Geschwister zu sein würde sie nicht ertragen. So nahm sie all das andere auf sich – krümmte sich, bäumte sich auf und schrie vor Schmerzen. Sie brauchte ihre Mutter und ihre Geschwister doch so sehr. Sie schluchzte laut auf. Die Nässe an Po und Rücken war kalt. Sie fror. Und behielt immer die Tür im Blick. Langsam wurde die Klinke nach unten gedrückt. Sie musste hier raus. Sie warf die Decke zur Seite und sprang aus dem Bett. Und schrie.

***  Erster Tag  ***

An der ehemals weißgetünchten Decke blätterte noch immer die Farbe ab. Seit fünf Wochen hatte er beim Aufwachen das gleiche Bild vor Augen. Schwarze Schimmelflecken krochen wie Krebsgeschwüre unter den gelblichen Farbfetzen hervor. Mit der linken Hand fuhr er unter die klamme Decke und tastete die Matratze ab. Auch das hatte sich nicht geändert. Im Gefängnis waren die Betten wenigstens trocken gewesen. Trübes Dämmerlicht fiel durch das schmale Fenster.

Mit einem Ruck drückte Richard Wehmeier sich hoch, schlug das Laken zur Seite und sprang aus dem Bett. Sofort durchfuhr ihn der gewohnte Schmerz. Kein physischer Schmerz, eher krampfartige Zustände, die ihn jeden Morgen überfielen und ihn daran hinderten, einen einzigen klaren Gedanken zu fassen. Und doch war es heute weitaus schlimmer als sonst.

Der Wecker zeigte fünf Uhr morgens.

Das Atmen fiel ihm schwer. Die drückende Luft, entstanden durch die Hitze der vergangenen Tage, ließ sich nicht aus der feuchten Unterkunft vertreiben. Barfuß schlurfte er in das kleine, ebenfalls von Schimmelpilzen heimgesuchte Bad. Er stellte sich zögernd unter die Dusche. Zuerst ein wenig abseits, denn es dauerte immer eine ganze Weile, bis der erste kalte Guss durchgelaufen war, und er hoffte, seit fünf Wochen mittlerweile, dass es überhaupt warm würde.

Sorgfältig seifte er sich ein. Es war die übliche Prozedur, die er genoss. Erst die Füße, zwischen den Zehen, dann die Beine – das nahm sehr viel Zeit in Anspruch. Dem restlichen Körper widmete er ebensolche Aufmerksamkeit und nach etwas über einer Stunde konnte er sich abtrocknen. Eine Reinigung, die er nur von außen vollziehen konnte, in seinem Innersten gelang es ihm nicht.

Mit dem um die Hüfte gewickelten Handtuch ging er in die kleine Küche, ein ebenso dunkles Loch wie die übrige Wohnung, wischte mehr aus Gewohnheit, als ob Krümel vorhanden wären, über die Platte der Anrichte und setzte den Kessel für das Kaffeewasser auf den Herd. Strom hatte er noch, wenn er auch sonst nicht mehr allzu viel besaß. Die Dose mit dem Kaffeepulver war leer.

Beim Anziehen fand er seine Socken nicht. Er schlüpfte barfuß in die Schuhe, stellte die Herdplatte ab und verließ das Haus. Hätte er zu diesem Zeitpunkt auch nur ansatzweise eine Ahnung gehabt, dass er nur noch eine weitere Nacht in seiner Wohnung, seinem Bett verbringen würde, wäre ihm egal gewesen, wie feucht die Matratze, wie schimmelig die Wohnung war.

Gustav Sargens schlurfte mit Pantoffeln an den Füßen aus dem Haus. Durchs Küchenfenster hatte er gesehen, dass der Briefträger die Post in den Kasten geworfen hatte. Ein kurzer Blick auf die Uhr über dem Küchenschrank sagte ihm, dass es bereits nach neun war. Er erwartete keinen Brief und diese dämliche Werbung konnten die sich sonstwo hinstecken; nur diese Trödelei ärgerte ihn ungemein. Seit über zwölf Jahren war er Rentner, doch nachlässig war er nicht. Wie früher als Maurerpolier stand er spätestens um halb sechs auf.

Er unterbrach sein zweites Frühstück und zog die Hose des einst taubenblauen Jogginganzugs aus Ballonseide am Bund über seinen bierfassähnlichen Bauch. Das Gummi war ausgeleiert, aber er wusste nicht, wie er ihn erneuern sollte. Eine Frau hatte er seit Jahren nicht mehr. Darüber war er froh, doch hierbei hätte sie ihm eine gute Hilfe sein können. Als er aus dem Haus trat, blendete ihn die Sonne. Mit verkniffenem Gesicht schlappte er Richtung Briefkasten, der neben der Gartenpforte angebracht war.

Im Nachbargarten werkelte Frau Spatzek bereits in den Blumenrabatten. Er konnte sich nicht erinnern, wann sie es nicht tat. Als sie ihn bemerkte, sah sie auf und winkte ihm fröhlich zu. »Guten Morgen, Herr Sargens, ist das nicht ein herrlicher Tag?«

»Hm«, brummte er zurück. Sie ließ sich nicht abwimmeln. So oft er es auch versuchte, sie war stets gleich freundlich, gleich aufdringlich liebenswürdig. Er wusste, sie wollte eine nähere Bekanntschaft; eine sehr nahe Bekanntschaft. Doch auch wenn sie mit ihren achtundsechzig noch recht flott und rüstig wirkte, war sie in eine Altersgruppe abgerutscht, die fernab von seinen Vorlieben lag. Seine knollenähnliche Nase, die mit der Spitze Richtung Oberlippe wuchs, seine vom Alter schlapp gewordenen Wangen, die Furchen und Tränensäcke um seine Augen – sie ließ sich durch nichts abschrecken.

Er zog drei Briefe und die tägliche Ausgabe der Aller-Zeitung aus dem Kasten und schlurfte so schnell es ging zurück ins Haus. Zwei Rechnungen und ein unfrankierter Brief – ohne Absender. Den hatte der Briefträger bestimmt nicht gebracht. Er schmiss die Rechnungen auf die Anrichte und riss zitternd den Brief auf. Die Schrift verschwamm vor seinen Augen. Er suchte die Lesebrille. Verdammt, sie war verschwunden. Erst nach einer Weile, während der er durch die Räume gehetzt war, stellte er fest, dass sie neben seiner Tasse auf dem Küchentisch lag. Doch auch mit Sehhilfe wurde der Inhalt des Briefes kein anderer. Er knüllte das Papier zusammen, rannte ins Schlafzimmer, zog sich an und warf wahllos einige Kleidungstücke in eine Reisetasche.

Schwitzend verließ er das Haus. Er bebte, als er den Motor seines dunklen Nissan startete. Mit durchdrehenden Reifen fuhr er davon.

Ratlos stand Wehmeier auf der Straße. Die Sonne warf bereits knapp über den Dächern ihre klaren Strahlen in den Tag und hatte den dunstigen Schleier, der über der Stadt gelegen hatte, vertrieben. Der Gifhorner Steinweg lag noch im Schlaf. Es waren wenige Menschen unterwegs zu dieser frühen Stunde. Fußgänger kamen ihm mit Tüten voll frischer Brötchen entgegen. Oder mit jenen mattglänzenden Aktenkoffern aus Leder, wie er selbst einst einen besessen hatte. Die Träger dieser Koffer; allesamt in Anzug und Krawatte, emsigen Schrittes, auf dem Weg zur Arbeit. Wehmeier sah sich selbst, vor etlichen Jahren, ebenso stolz, ebenso gekleidet, ein ebenso wichtiges wie dienstbeflissenes Gesicht aufsetzend.

Es war schwer: Wie jeden Morgen musste er sich für eine Richtung entscheiden – und konnte es nicht.

In diesem Dschungel kam er nicht zurecht. Diese Stadt Gifhorn sah aus wie früher, vor acht Jahren. Die gleichen malerischen, manchmal windschiefen Fachwerkhäuser in der Innenstadt. Gemütliche, kleine Geschäfte, dieselben Straßen und wohl auch die gleichen Menschen. Auf den ersten Blick zeigten die Gifhorner einen etwas drögen und spröden Charme, doch Wehmeier hielt sie eher für zurückhaltend und freundlich reserviert. Dieses scheinbar kühle und skeptische Verhalten war vielmehr taxierend, denn falls sich ein Ortsfremder traute, einen Gifhorner anzusprechen, kam überraschend viel Liebenswürdigkeit zurück. Sie fielen nicht jedem Fremden sofort um den Hals, doch hatte man einmal ihr Herz gewonnen, hielten Freundschaften meist ewig.

Aber etwas war anders geworden. Er hatte sich verändert. Acht lange Jahre hinter hohen Mauern. Aufgetürmter, gerollter Stacheldraht, fest verankert. Eingesperrt in einer winzigen Zelle, eisern verschlossen, veränderten jeden Menschen.

Als ob er seine beharrlichen Gedanken von sich werfen wollte, schüttelte er sich und setzte sich auf eine Bank in der Nähe der Ziegenskulptur.

Die Freiheit war ihm fremd. Alles Selbstverständliche, das ihn bis vor Kurzem umgeben hatte, war verschwunden.

Er war sich selbst fremd geworden. Vor fünf Wochen hatte er sich noch gekannt.

Er versuchte, die Routine der vergangenen Jahre abzulegen.

Was war von seinem früheren Leben, von ihm selbst übriggeblieben? Die engen Verhaltensregeln des Gefängnisses hatten ihn geprägt und wirkten bis heute nach. Er musste versuchen, sich von ihnen zu lösen, sonst würde er niemals frei sein. Aber hatte er jemals selbst seinem Leben eine eigene Richtung gegeben? War er nicht schon immer ein Gefangener gewesen? Gefangen in der Kleinbürgerlichkeit seiner Eltern?

Seine Kindheit war durch einen dominanten Vater geprägt worden: Dieser verhängte rigide Strafen für Noten, die in seinen Augen von der Norm abwichen.

Seine schwache Mutter, die ihrem Mann nichts entgegenzusetzen hatte, und ihr Kind nicht vor dessen Übergriffen beschützen konnte. So wunderte es ihn im Nachhinein nicht, dass er damals auf Anordnung seines Vaters eine Lehre als Verwaltungsangestellter begonnen hatte. Seit fünfzehn Jahren waren seine Eltern nun schon tot und Wehmeier war froh, dass sie seine schwerste Zeit nicht mitbekommen hatten. Das hätten sie ihm nie verziehen.

Wehmeier drückte sich schwer von der Bank hoch und ging in Richtung Rathaus. Die Kirchturmuhr der St.-Nicolai-Kirche zeigte acht. Hatte er wirklich über eine Stunde auf der Bank gesessen?

Er wandte sich nach rechts und überquerte den Steinweg Richtung Konrad-Adenauer-Straße. Einen Moment zögerte er, dann zog es ihn, wie jeden Morgen, in die gleiche Richtung. Er ging über das holprige Kopfsteinpflaster und fand sich im Innenhof des Gifhorner Welfenschlosses wieder. Er durchschritt das Gewölbe und überquerte die malerische Holzbrücke in Richtung Schloßsee. Links von ihm standen wie immer die badenden Skulpturen im Wasser und schauten in den Himmel.

Gepflegte Rasenflächen, unterbrochen von dichten Buschreihen, einzelne, hohe Bäume und sandige Wege, die sich am See entlang schlängelten, lagen vor ihm. Der Schloßsee schimmerte grau und still. Wehmeier wandte sich nach rechts.

Diesen Weg zwischen Schloßsee und Aller ging er jeden Tag wie mechanisch. Von Weitem schon sah er den Spielplatz. Dahinter lief ein Jogger seine einsamen Runden. Auf dem Querweg ging ein Mann mit seinem Hund an der Leine. Ein Schnauzer, schätzte Wehmeier auf die Entfernung hin. Das Tier zerrte an der Leine und kläffte. Eine Gruppe Kinder, unterwegs mit ihren Rädern; sie spaßten und schwatzten, fuhren in Schlangenlinien aneinander vorbei, nebeneinander her, lachten plötzlich laut auf. Er hörte es und es tat ihm gut.

Er trödelte. Zeit, in früheren Jahren eine Kostbarkeit, heute hatte er genügend davon. Sie würde für den Rest seines Lebens reichen.

Er erreichte den Spielplatz. Ein Mädchen und ein Junge, etwa drei Jahre alt, saßen zu dieser frühen Stunde im Sand und stritten um eine rote Plastikschaufel. Er hatte schon des Öfteren bemerkt, dass sich einige Mütter hier zu einem Schwätzchen trafen, bevor sie ihren Nachwuchs im Kindergarten ablieferten. An der Längsseite der Spielanlage saß eine pummelige Frau auf einer Bank. Ihr dünnes, schwarzes Haar war im Nacken mit einem Haargummi zusammengebunden. Wehmeier schätzte sie auf Anfang dreißig. Sie war ungeschminkt und sah müde aus. Ihre Augen starrten in die Ferne und schienen einen imaginären Punkt zu fixieren. Ihre Mimik war verschlossen, nahezu ausdruckslos. Wehmeier hatte sie hier schon öfter mit dem kleinen Mädchen gesehen. Er setzte sich etwas abseits auf eine andere Bank. Fast verblüfft stellte er fest, die Frau gefiel ihm.

Jetzt bewarf das Mädchen ihren kleinen Spielkameraden mit Sand. Die Frau auf der Bank schaute teilnahmslos zu. Die Mutter des Jungen bekam von alldem nichts mit, sie stand mit anderen Müttern etwas abseits und unterhielt sich. Erst als der Junge lauthals brüllte, sah sie auf. Wehmeier hatte den Eindruck, es sei ihr unangenehm, aus dem Gespräch gerissen zu werden, als hoffe sie, der Streit zwischen den Kindern würde sich von selbst erledigen. Der Kleine wehrte sich mit der gerade erkämpften Plastikschaufel und schlug, unter mörderischem Gebrüll, auf seine Spielgefährtin ein. Wehmeier sah, dass die Mutter des Jungen ihn bemerkte hatte. Beschämt ging sie zur Sandkiste und zerrte ihren Spross am Arm mit sich. Der schrie und zappelte, halb in der Luft hängend, als sie ihn fortzog. Auch die pummelige Frau auf der Bank sah ihn nun an. Sofort senkte er den Blick und schaute auf seine Füße. Es war ihm peinlich. Er kannte diesen Blick. Als ob man es ihm schon von Weitem ansah, wo er herkam. Außerdem hatte er keine Socken an. Schnell stand er auf und ging. Seine Augen brannten. Verlegen wischte er die Tränen fort. Das psychologische Gutachten, das vor Gericht zu seiner Verurteilung beigetragen hatte, ließ ihn noch heute schaudern. Es unterstellte ihm ein unterschwelliges Kindsverlangen, das er, da ihm seine Frau diesen Wunsch nicht erfüllte, anderweitig befriedigen müsse; durch ein fremdes Kind, an dem er sich für seine unterdrückten Wünsche rächen konnte.

Als Wehmeier kurz nach elf die Brasserie Paula’s am Steinweg betrat, legte Birgit das Geschirrtuch beiseite, mit dem sie gerade die Gläser abgetrocknet hatte und lächelte ihn an.

Noch waren nur wenige Gäste hier, doch er wusste, das würde sich bald ändern. Vom Schloßsee her war Wehmeier über das Parkdeck des Hempel-Parkplatzes gelaufen und hatte gesehen, dass Birgit gerade die Tür aufgeschlossen hatte. Das Paula’s war bekannt für seine freundliche Bedienung und die ausgezeichnete Küche.

Automatisch nahm Birgit ein Glas aus dem Regal.

»Guten Morgen, Richard. Whisky? Kaffee?«

Wie an jedem anderen normalen Morgen der vergangenen fünf Wochen auch, dachte Wehmeier und setzte sich auf einen der hölzernen Barhocker an die Theke. Jeden Tag aufs Neue aufstehen, zur Arbeit gehen, wenn man welche hat, jeden Tag die gleichen Handgriffe.

»In dieser Reihenfolge«, sagte er. Birgit nickte, nahm eine Flasche aus dem Regal, schenkte die bernsteinfarbene Flüssigkeit ein und stellte das Glas vor ihm ab. Er hob es hoch, prostete ihr zu und trank es in einem Zug leer. »Das kann ich aber auch heute nicht bezahlen.«

»Schon gut, ich schreib es mit auf. Irgendwann wirst du ja wohl Arbeit bekommen.« Sie nahm das Geschirrtuch wieder auf und wischte die restlichen Gläser aus. Er war dankbar, dass es einen Menschen gab, der an ihn glaubte. Wehmeier beobachtete Birgit aus den Augenwinkeln.

Ihr Busen war nicht sehr groß, passte aber zu ihrer knabenhaften Statur. In der sauberen Jeans prangte ein fester Hintern. Aber vor allem war es ihr Blick. Sie sah jeden Menschen mit halbgesenktem Kopf aus großen, dunklen Augen von unten her an, was ihr einen schelmischen Ausdruck verlieh.

Mehr als ihre Vornamen hatten sie sich nie verraten, Wehmeier war froh darüber. Vornamen genügten, mehr hätte bedeutet, dass sie sich Gedanken umeinander machen müssten.

Birgit war sehr geschickt in dem, was sie tat. In kurzer Zeit hatte sie eine Reihe sauberer Gläser vor sich stehen und sortierte sie hinter sich in die Regale ein. Er lächelte. Im verspiegelten Glasregal sah er, wie sie ihn beobachtete. Er kam seit einigen Wochen fast jeden Morgen hierher und hatte nie Geld, um sich den Whisky leisten zu können. Was mochte sie über ihn denken? Ein armer Tropf, einer, der schwere Zeiten hinter sich hatte und nicht darüber sprechen mochte? Unglück musste man nicht in die Welt hinausposaunen. Seine Vergangenheit war ihm peinlich und er wollte niemanden damit belasten.

Er sah die immerwährend freundlichen Gesichter; eine Spur zu freundlich, um ehrlich zu sein. Eine Maske, die man sich aufsetzte, um nicht über die eigenen Probleme reden zu müssen. Und mit Sicherheit nicht mit ihm.

Das Telefon klingelte. Birgit stellte das Glas ins Regal und nahm den Hörer ab. Sie lauschte einen kurzen Augenblick, wurde nachdenklich: »Einen Moment«, sagte sie und wandte sich ihm zu. »Sag mal, kann es sein, dass du Wehmeier heißt?«

Er erschrak und nickte.

Birgit hob kurz die Schultern, legte den Apparat auf den Tresen und widmete sich wieder den Gläsern.

Wer konnte wissen, dass er hier war? Er nahm das Telefon, räusperte sich, um dann ein kurzes, schnelles »Ja« in den Apparat zu raunen.

* * *

Er trat hinter dem Haus hervor und sah sich um. Dunkelheit umgab ihn wie eine schützende Hülle. Die Straßen nur spärlich beleuchtet. Das kam ihm gelegen. Verkehr herrschte um diese Zeit kaum, diese kleine Nebenstraße wurde selbst am Tag selten von Autos befahren. Er huschte auf die andere Seite der Straße, immer bedacht, sein Gesicht im Schatten zu behalten. Dann sah er ihn. Unwillkürlich zuckte er zusammen. Vergangenes, verborgen Geglaubtes drängte an die Oberfläche, zwang seinen Geist, sich zu erinnern. Noch einmal sah er ihn an. Er hatte sich kaum verändert.

Bizarre Szenen rauschten schwarzweiß durch sein Bewusstsein. Bilder, die er vergessen wollte. Worte, die er verdrängt hatte, in der Hoffnung, sie niemals gehört zu haben.

Es war doch keine Absicht gewesen.

Übelkeit stieg in ihm hoch. Er summte. Das half immer.

Meistens jedenfalls.

Nun stand er nur wenige Schritte von ihm entfernt, eingetaucht in das schale Licht der Vergangenheit. Was sollte er tun? Am liebsten wäre er auf ihn zugelaufen, hätte sich in seine Arme geschmissen, seine Nähe, seine Wärme gespürt, den Geruch seines Rasierwassers in sich aufgesogen. So wie früher. Den Duft, den er nie im Leben vergessen wollte.

Doch es war zu spät. Nicht nach all der Zeit.

Sehnsucht. Sehnsucht nach der Geborgenheit der längst vergangenen Jahre umklammerte ihn mit einer Macht, der er nicht entkommen konnte.

Geborgenheit, die er danach nie wieder verspürt hatte. Auch nicht in sich selbst.Er hatte sich verkrochen, sich selbst gesucht und nur Unglauben gefunden. Und Lügen, deren Richtigkeit er nie in Zweifel gezogen hatte. Obwohl er die Wahrheit kannte. Glaubte er.

* * *

Wehmeier war fast am Ziel angekommen, wusste aber nicht, wie er den mühevollen Weg hinter sich gebracht hatte. Geld, um mit dem Bus zu fahren, hatte er nicht. So war er über den Calberlaher Damm gelaufen, dann an der Umgehungsstraße entlang weiter bis Isenbüttel. Die Sonne brannte auf seinen Nacken, das Hemd klebte am Körper. Weit über eine Stunde war er wohl schon unterwegs. Genau konnte er es nicht sagen, er besaß keine Uhr. Die letzte hatte er von seinem Vater zu seiner Konfirmation geschenkt bekommen. Als er ins Gefängnis gekommen war, hatte er sie abgelegt. Seitdem hatte die Zeit keine Bedeutung mehr für ihn.

Kaum hatte er die letzten Häuser von Gifhorn hinter sich gelassen, tauchten rechts und links des Weges Wälder und Wiesen auf. Seine Gedanken kreisten um das bevorstehende Treffen und doch genoss er die Ruhe der weitflächigen Landschaft. Hin und wieder überholte ihn eine Gruppe schwatzender Kinder mit Fahrrädern, die auf dem Weg zum Tankumsee, dem Gifhorner Naherholungsgebiet, waren. Rechter Hand erschienen die ersten Häuser Isenbüttels.

Wehmeier erreichte eine Wohnsiedlung und versuchte, sich zu orientieren. Einige Passanten hatte er nach dem Weg gefragt und, wie es ihm schien, nur widerwillig Antwort erhalten. Kein Wunder, so wie er aussah: Abgewetzte Cordhose und eine zerknitterte Jacke, die dringend gereinigt werden müsste.

War er im Kreis gelaufen? Hatte er das Straßenschild übersehen?

Er stolperte weiter und betrachtete staunend die noblen Häuser mit den gepflegten Vorgärten und den teuren Autos. Die Gärten waren akkurat gepflegt – hatten alle Anwohner denselben Gärtner? Die Rasenflächen gewissenhaft gemäht, die Büsche und Bäume sorgfältig in Form gestutzt. Hinter den Grundstücken erstreckten sich Felder. Der Weizen war abgeerntet, jetzt lagen dort die Strohballen, in große Rollen gepresst. In der Ferne fuhr ein Traktor.

Er wischte sich mit dem Handrücken über die Wange und schluckte die bitteren Tränen hinunter. Er redete sich ein, es wäre Schweiß.

Ihm war kalt. Trotz der Hitze zog er fröstelnd die Schultern zusammen. Seine Fersen schmerzten. Die Blasen waren aufgescheuert, doch Wehmeier traute sich nicht nachzusehen. Er konnte keinen klaren Gedanken fassen, tausend Fragen schwirrten ihm im Kopf herum.

Was wollte der Anrufer von ihm? Wer war er und woher wusste der Mann, dass er sich morgens im Paula’s aufhielt? Die Stimme des Mannes hatte er noch nie zuvor gehört und doch schien sie ihn an etwas zu erinnern. Dieser fast schroffe Ton, dieses Schnarren, die Ausdrucksweise. Da war etwas, das sich in den hintersten Ecken seines Gedächtnisses verbarg. Er wusste, dass es dort war.

Er hatte seine Strafe abgesessen, also was trieb diesen Menschen nach so langer Zeit? Es ginge um Betti, hatte der Unbekannte am Telefon gesagt. Komm zu den Glockwiesen sechsunddreißig. Ich kenne die Wahrheit.

Die Sonne stand hoch über ihm, warf ihre Glut auf die Straße, brannte auf seiner Haut.

Um ihn herum herrschte mittägliche Ruhe, niemand war unterwegs. Noch vor wenigen Minuten hatte hier ein Linienbus gehalten und eine Horde Grundschüler ausgespuckt. Sie hatten ihn nicht beachtet, waren viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, schnatterten und alberten herum und waren alsbald in den Häusern verschwunden.

* * *

Dort, wo er herkam, hatte man ihn gut behandelt. Dort, wo er jetzt war, war er allein. Er konnte nicht sagen, was ihm besser gefiel. Aus den verschiedensten Gründen. Er war gern dort, aber auch gern hier allein. Es gab Zeiten, da hatte er über Wochen nicht geredet. Mit niemandem. Es lag nicht einmal daran, dass er sauer auf jemanden gewesen war, im Gegenteil, es hatte ihm niemand etwas getan. Wenn die Frau kam, stellte sie Fragen. Fragte Dinge, die er nicht beantworten konnte. Also schwieg er. Er wusste nicht, was er ihr hätte sagen sollen.

In seinen Träumen war das anders. Dort sprach er. Und jeder verstand nicht nur, was er sagte, sondern auch, was er meinte. Das war ein Unterschied. Vor allem die Tiere verstanden ihn. Er liebte Tiere. Alle. Er käme niemals auf die Idee, einem Tier Schaden zuzufügen.

Um allem auszuweichen – den Menschen, den Gesprächen – ging er nur nachts auf die Straße. Vor der Erinnerung konnte er nicht fliehen. Das hatte er schon versucht. Es schmerzte zu sehr. Doch nun war es an der Zeit, dass die Wahrheit gesagt werden musste.

* * *

Carola Brandes stellte den Topf mit Wasser auf den Herd. Automatisch drehte sie die Platte an, sah aus dem Fenster und lächelte. Lisa, ihre fünfjährige Tochter, spielte im Garten auf ihrer Babydecke mit den Puppen. Was für eine Idylle. Aus einem alten Regalbrett, das sie anscheinend im Schuppen gefunden hatte, hatte sie einen Tisch gebastelt, um den herum die drei Puppen saßen. Ganz vorn, wie immer, Clarissa, Lisas Lieblingspuppe, ohne die sie niemals auch nur einen einzigen Schritt tat. Auf dem wackeligen Tisch lag eine zarte Spitzendecke, die sie ihr wortreich abgeluchst hatte. Darauf stand das winzig kleine Puppenservice, ein Geschenk ihrer Großmutter zum letzten Geburtstag.

Lisa stand auf, hüpfte einige Schritte über den Rasen und pflückte eine Handvoll Gänseblümchen. Diese kleine Grasfläche gehörte ihr. Nachdem sie nach dem Rasenmähen stets in Tränen ausgebrochen war, hatte sich ihr Vater breitschlagen lassen, dieses winzig kleine Fleckchen fortan nicht mehr zu mähen, damit Lisa ihre Blumen behalten konnte. Sie zupfte einige davon ab, sprang vergnügt zurück zu ihrer Puppengesellschaft und steckte die Gänseblümchen in das Milchkännchen.

Carola dankte ihrem Gott still dafür, dass sie solch eine bezaubernde Tochter haben durfte. Blitzschnell zog sie die Hand vom Topf. Sie hatte gar nicht gemerkt, dass das Wasser bereits anfing zu kochen, so sehr war sie in das Spiel ihrer Tochter vertieft gewesen. Bilder ihrer Kindheit stiegen auf. Bilder vom Lachen kleiner Mädchen, vom Spielen am Bach, von dunkelblauen Augen.

Hinter einer Ligusterhecke, die ein stattliches Grundstück umsäumte, spielte ein blondes Mädchen im Schatten eines Kirschbaumes mit ihren Puppen auf einer Decke. Sie schenkte aus der kleinen Kaffeekanne in die kleinen Tässchen ein, sah jeder einzelnen Puppe dabei in die Augen und sagte irgendetwas. Sie schien ihnen eine Frage zu stellen, auf die ein zufriedenes Kopfnicken folgte. An der Hauswand rankten hohe Kletterpflanzen entlang und verdeckten fast die Haustür. Verlegen trat Richard Wehmeier auf der Stelle und sah sich um. Wenn man ihn dabei beobachtete, wie er ein fremdes Mädchen anstarrte? Der Vorwurf des Gerichts, einen Hang zu Kindern zu haben, würde ihn nie wieder loslassen. Außerdem war er sich immer noch nicht sicher, in der richtigen Straße zu sein. Der Anrufer hatte ihm nur den Straßenamen und die Hausnummer mitgeteilt, nichts weiter. Zögernd ging er rechts die Straße hinunter, machte kehrt, um in der entgegengesetzten Richtung ein Straßenschild zu suchen.

Noch einmal schielte Wehmeier sehnsuchtsvoll zum Bungalow hinüber. Davon hatte er immer geträumt. Ein Haus im Grünen, eine Familie. Kinder. Simone nicht. So hatte er sich gefügt. Doch der Wunsch war geblieben. Sie hätten sich einschränken können, dann hätte das Geld ohne weiteres für eine Familie gereicht. Das wollte Simone nicht einsehen. Simone schränkte sich niemals ein. Sie besaß Ansprüche, die er nie befriedigen konnte. Er hatte immer gespürt, dass es ihr nicht nur um Geld und ihre Figur ging. Wollte sie kein Kind in die Welt setzen, weil sie glaubte, einen Versager wie ihn zu gebären? Halbblind stolperte er weiter.

Nun war er am Ende der Straße. Vor ihm erstreckten sich Felder, linker Hand ein sandiger Fußweg, der im Kreis um eine Senke führte. Kleinere Buschgruppen und hohe Gräser wuchsen dort. Hier kam er nicht weiter, er kehrte um. Von einem Grundstück trat eine Frau mit leerer Einkaufstasche auf den Fußweg. Sie schien es eilig zu haben. Wahrscheinlich war sie unterwegs zur Bushaltestelle, um in der Stadt einzukaufen, vermutete er. Er wechselte die Straßenseite. Mit schnellen, kurzen Schritten tippelte die Frau auf dem gegenüberliegenden Fußweg an ihm vorüber. Wehmeier überlegte kurz, sie nach der Adresse zu fragen, doch als sie auf seiner Höhe war, sah er ihren vorwurfsvollen Blick. Ein Eindringling, der hier nichts verloren hatte. Er kannte das und erwartete keine freundliche Antwort.

Jetzt war er auf dem Osterkamp. Ein Schild für die Querstraße sah er nicht. Zumindest war er in der Nähe.

Hinter sich hörte er das leiser werdende, harte Klacken der Absätze der Frau auf dem Asphalt.

Vom Osterkamp gelangte er auf die Mühlenstraße. Nach wenigen Metern begriff er, dass er auf dieser Straße bereits gewesen war. Sie führte in Richtung Stadt, also zurück. Er ging weiter bis zur Rosenstraße. Sollte er den gleichen Weg noch einmal abgehen? Unentschlossen tänzelte er auf der Stelle. Von Weitem musste er einen eigenartigen Anblick bieten. Wie spät mochte es sein?

Die Häuser gaben ihm eine vermeintliche Sicherheit, doch die Anwesenheit der Menschen hinter den Fenstern machte ihm Angst.

In der Ferne schrillte ein Telefon, es interessierte ihn nicht. Zerstreut wischte er sich die Hände an der zerbeulten Hose ab.

Er bog in die nächste Straße ein, die von großzügigen Anwesen gesäumt wurde. Wehmeier sah niemanden weit und breit. Klar, dachte er, wenn ich eine solch teure Hütte hätte, müsste ich auch die ganze Woche über arbeiten, um sie finanzieren zu können. Es schmerzte ihn, sich vorzustellen, dass hinter diesen noblen Fassaden Menschen im Schutz ihrer Familie wohnten, die keine Ahnung davon hatten, wie schnell all das vorbei sein konnte.

So hatte sein Leben vor acht Jahren auch ausgesehen. Wäre das alles nicht passiert, würde er mit Simone noch immer in ihrem gemeinsamen Haus im Blumenviertel wohnen und müsste nicht in einem elendigen Loch hausen.

In einiger Entfernung sah er die Frau mit der Einkaufstasche an der Bushaltestelle. Der Linienbus bog gerade in die Rosenstraße ein. Schnell ging er weiter.

Carola rührte den Rest Gulasch, der vom Vortag übrig geblieben war und den sie nur noch aufzuwärmen brauchte, mit einem Holzlöffel um. Sie ging zum Schrank, zog die Tür auf und suchte nach Nudeln. Richtig, das letzte Paket hatte sie ja aufgebraucht. Auf dem Weg in den kleinen Vorratsraum warf sie erneut einen Blick aus dem Fenster. Lisa spielte noch immer auf ihrer Decke.

Gedankenverloren tat sie die Nudeln ins Wasser, nahm zwei Teller und Besteck aus dem Schrank und deckte den kleinen Tisch in der Küche, an dem Lisa und sie stets zu Mittag aßen. Nachdem sie das Nudelwasser abgeschüttet und beide Töpfe auf den Tisch gestellt hatte, ging sie in den Garten.

Lisa saß nicht mehr auf der Decke, zwei der Puppen lagen auf dem Rücken, hielten ihre steifen Beine in die Höhe gespreizt, die Gänseblümchen standen noch immer auf dem Tisch zwischen dem Porzellangeschirr. Sie wird sich wieder versteckt haben, dachte Carola und ging ums Haus herum. Doch sie fand sie nicht. In einer Ecke de Buchenhecke hatte Lisa eine kleine Höhle für sich und die Puppen eingerichtet. Hier verkroch sie sich, wenn sie Ärger bekommen hatte. Carola war es nicht recht, dass Lisa hier spielte, die Hecke hatte einen Durchschlupf zur Straße. Carola bückte sich. Lisa war nirgendwo zu sehen. Jetzt wurde sie ärgerlich. Das Kind wusste doch, dass es bald Essen gab, sie hatte bestimmt wieder nicht auf die Zeit geachtet und spielte irgendwo mit Annabelle. Normalerweise sagte ihre Tochter Bescheid, wenn sie zu ihrer Freundin ging, die zwei Häuser weiter wohnte. Hin und wieder vergaß sie es allerdings auch. Carola ging über den Rasen zurück zum Haus und hob automatisch einige achtlos hingeworfene Spielsachen vom Boden auf.

Das Telefon klingelte. Sie hörte es von Weitem und begann zu laufen. Beinahe wäre sie gestolpert, konnte sich gerade noch abfangen. Das Läuten verstummte im gleichen Moment, als sie durch die Terrassentür trat. Das Telefon lag auf dem Wohnzimmertisch. Atemlos nahm sie den Apparat in die Hand. Freizeichen.

In diesem Moment fiel ihr Blick auf den Gegenstand, den sie selbst gerade neben das Telefon gelegt hatte. Sie starrte ihn fassungslos an, hoffte, er möge dort nicht liegen. Hoffte vielmehr, Lisa käme jeden Augenblick übermütig ins Zimmer gestürzt. Kraftlos ließ sie sich auf die Couch sinken.

Das erneute Klingeln des Telefons riss sie aus ihren Gedanken. Mechanisch hielt sie sich den Apparat ans Ohr. Auf dem Wohnzimmertisch lag Clarissa. Als sie die toten, blauen Augen sah, stieß sie einen Schrei aus und rannte aus dem Haus.

Er war schließlich von der anderen Seite in die Straße Glockwiesen eingebogen und fand die sechsunddreißig sofort. Einige Äste der hohen Büsche hatten ihm zuvor die Sicht auf das Messingschild mit der Hausnummer genommen. Der Garten lag einsam und verlassen da, als er auf das Grundstück schlich. Noch immer wusste er nicht, ob er hier tatsächlich richtig war. Zwei Puppen lagen im Gras auf dem Rücken, hielten ihre steifen Beine gespreizt in die Höhe. Daneben, auf einem wackeligen Tischchen, standen Gänseblümchen in einer kleinen Vase.

Wehmeier starrte zum Haus hinüber. Die Terrassentür stand offen.

Er versuchte, nicht daran zu denken, wann er das letzte Mal etwas gegessen hatte. Sein Magen schmerzte, ihm war übel und schwindelig. Der Whisky bei Birgit tat sein Übriges. Vor allem aber hatte er Durst.

Die Haustür war nur angelehnt. Er sah sich um.

»Hallo?«, rief er von der Eingangstür her. Niemand antwortete. Er lauschte, klingelte. Im Haus war alles still. Nichts. Keine Schritte, keine Stimmen. Er huschte in den Flur, horchte, ob nicht doch jemand auf ihn aufmerksam wurde. Die Tür ließ er ein Stück offen. Von der Diele gelangte er ins Wohnzimmer. Auch hier war niemand. Die Gardinen wehten in den Raum hinein, wie der Schleier einer arabischen Haremsdame.

Er ging nach rechts, in die Küche. Er sah sich um, öffnete eine Schranktür und mit einer unerklärbaren Freude fand er dort Gläser. Simone hätte sie an die gleiche Stelle getan, ging es ihm durch den Kopf. Wieder schossen ihm Tränen in die Augen. Er drehte den Wasserhahn auf, ließ das Wasser eine Weile ablaufen, bis es kalt genug war, füllte das Glas und trank es in einem Zug leer. Dabei fiel sein Blick auf die Decke, auf der das Mädchen gespielt hatte.

Wehmeier knallte das Glas auf die Spüle und rannte aus dem Haus.

* * *

Die einzige Möglichkeit, all seinen Problemen zu entkommen, war zu laufen. Nachts. Am Tage traute er sich nicht hinaus. Doch er lenkte sich ab: Er stand stundenlang am verhüllten Fenster, starrte auf die Straße und registrierte die Autos. Nicht, dass er sie nur zählte, nein, er sortierte sie im Kopf nach Farben, Typen und Anzahl der jeweiligen Modelle mit den dazugehörigen Farben. So konnte er von jeder Automarke die unterschiedlichsten Typen in Gruppen ordnen und die Anzahl der Farben zählen. Das alles erledigte er im Kopf. Sein bisher bestes Ergebnis waren vier Automarken mit vierzehn Modellen in fünf unterschiedlichen Farben. Darauf konnte er stolz sein. Anschließend hatte er meist Kopfschmerzen und einen verspannten Nacken. Dann legte er sich ins Bett und schlief.

Nicht selten träumte er dann von Schafen oder Delfinen. Friedfertige Tiere, die sich gern in Gesellschaft aufhielten. Und er war in diesen Träumen mitten unter ihnen.

Nachts gelang es ihm nicht zu schlafen. Die Erinnerungen stürzten wie Mauern auf ihn ein. Sie begruben ihn unter Schutt und Asche, drückten ihm die Luft aus den Lungen, gruben sich in seinen Magen, brannten in seinen Augen. Nachts hatte er Angst.

Oft wachte er nach Luft keuchend auf. Sein Herz hämmerte bis zum Bersten, Todesangst schnürte ihm die Kehle zu. Das wollte er nie wieder durchmachen. So zählte er am Tage Autos und schlief, während er nachts durch die Straßen zog. Es trieb ihn immer weiter vorwärts – ohne Ziel. Heute war er mutig gewesen, hatte sich den Gefahren des Tages ausgesetzt. Er musste mit ihm reden. Es würde das Unglück nicht ungeschehen machen, doch er sollte es wissen.

Deshalb war er dort gewesen. Es war schiefgegangen.

* * *

Kriminalhauptkommissar Kilian Frommelt stand mitten in einer wild bewachsenen Senke und starrte auf das Gestrüpp. Zwiespältige Gefühle überwältigten ihn. Er wusste, was ihn hier erwartete, und unterdrückte vehement den Gedanken daran.

Sträucher, kleinere Bäume und Buschwerk bildeten ein kaum zu bezwingendes Hindernis. Die Natur hatte sich ihren Teil zurückerobert. Das Zelt über dem Fundort der Leiche, das die neugierigen Blicke der Schaulustigen abhalten sollte, war bereits aufgebaut. Rot-weißes Flatterband sperrte die gesamte Senke ab. Sie reichte fast bis an den Rand der Felder, ein Sandweg führte um sie herum und wurde wohl von Hundebesitzern gern als Auslauf genutzt. Zu seiner Linken floss die Ise plätschernd dahin. Die Senke war mit einem gepflasterten Zulauf verbunden und falls die Ise Hochwasser führte, würde hier ein kleiner See entstehen. Doch jetzt war sie trocken, seit Wochen schon hatte es nicht mehr geregnet. Im Unterholz lag ein Kind. Frommelt riss sich den Knöchel an Dornengestrüpp auf und fluchte leise, ehe er näher heranging.

Trotz des beklemmenden Gewitters, das sich nun in seinem Kopf zusammenbraute, versuchte er, eine klare Sicht auf die Dinge zu behalten, Entscheidungen zu treffen, strikt seinem kriminalistischen Gespür, das ihn selten trog, nachzugehen. Im gleichen Augenblick wusste er, dass es ihm nicht gelingen würde. Er hatte sich noch immer nicht daran gewöhnen können, Tote zu sehen. Er konnte ihren Anblick nicht ertragen. Die starren Augen, die noch niemand geschlossen hatte. Die steifen Glieder, der verdrehte Leib. Auch wenn die Toten noch so friedlich dalagen, die Augen geschlossen waren, der Tod erst vor Kurzem eingetreten war, wurde er an seine erste Leiche erinnert. Dieser Haufen, den er damals vor sich gesehen hatte, war einmal ein Mensch gewesen, auch wenn er nicht mehr viel Ähnlichkeit mit einem menschlichen Wesen gehabt hatte. Das Gesicht war nicht mehr vorhanden gewesen, der Mörder hatte, wie sich im Nachhinein herausstellte, einen eisernen Feuerhaken benutzt und damit, nachdem der Tod bereits eingetreten war, noch lange auf das Opfer eingedroschen. Dieses Bild stand ihm bei jeder neuen Leiche vor Augen. Es würde sich nie verlieren oder verblassen.

Die Übelkeit stieg in ihm auf.

Das, was er hier vor sich sah, war weitaus schlimmer. Vor ihm lag ein Kind, etwa fünf Jahre alt, sorgsam drapiert, fast wie aufgebahrt am Rande des Buschwerks, inmitten der Senke. Weggeworfen, dieses Wort fiel ihm spontan ein, aber die Art und Weise, wie es dalag, erinnerte ihn an ein Gemälde. Das dichte Gras umschloss den starren Körper wie ein weicher Teppich, die Augen waren geschlossen und die Hände über der Brust gefaltet. Das hellblonde, halblange Haar lag wie ein Fächer um den Kopf. Fast hatte er den Eindruck, der Mörder dieses kleinen Mädchens hatte Mitleid mit ihm gehabt. Er schloss für einen Augenblick die Augen. Seine Übelkeit bekämpfte das nicht. Was war das für ein Mensch, der das hier getan hatte?

Neben ihm knackten dürre Zweige: Johann Kramer, der Leiter des Erkennungsdienstes, erstattete ihm einen kurzen vorläufigen Bericht. »Erwürgt«, sagte Kramer knapp und verzog keine Miene. Auch daran würde er sich nie gewöhnen; an das harte, unbewegte Gesicht, wenn Kramer in sachlichem Tonfall seine Untersuchungen mitteilte. Er schätzte Kramer für seine penible, akribische Arbeit. Er wühlte sich wie ein Maulwurf in einen Fall hinein, was ihm, auch aufgrund seiner langen, spitzen Nase seinen Spitznamen beschert hatte. »Aber nicht hier«, fuhr Kramer fort. »Wahrscheinlich wurde sie woanders getötet und dann hier abgelegt.«

Abgelegt – das Wort gefiel ihm eindeutig besser als weggeworfen und es traf die Situation um einiges richtiger. »Ein Sexualdelikt?« Er bemühte sich, die Leiche nicht anzusehen.

»Nein. So viel kann ich jetzt schon sagen, die endgültigen …«

»Ja, ja, ich weiß«, Frommelt machte eine abwehrende Handbewegung. »Ich warte dann auf deinen Bericht.« Er ging davon. Er hielt es hier nicht mehr aus und seine Anwesenheit war auch nicht mehr vonnöten.

Als er endlich in seinem Wagen saß, den er am Ende der Stichstraße Am Bartelskamp vor den Metallpfosten geparkt hatte, atmete er tief durch. Wie immer nach einem Leichenfund war er sich nicht sicher, ob er den richtigen Beruf gewählt hatte. Er presste die Handflächen gegen das Lenkrad und streckte die Arme aus, so weit es ging. Er spürte die Muskeln in den Oberarmen. In der Hüftgegend machten sich bereits kleine Speckansätze bemerkbar und doch fühlte er sich fit, trotz seiner achtunddreißig Jahre. Das dunkle Haar zeigte die ersten Anzeichen silberner Fädchen, die er jeden Morgen skeptisch betrachtete. Sein markantes Gesicht mit der kleinen steilen Falte am Kinn hatte Maren geliebt. Noch immer spürte er ihre Zunge, wie sie von seiner Unterlippe abwärts über das Kinn und den Hals fuhr, dort verharrte, um sich dann über Brust und Bauch zur der Lendengegend vorzutasten. Er war sich immer bewusst gewesen, wie sie auf seine bernsteinfarbenen Augen reagieren würde, auf seine leidenschaftlichen Blicke. Sie fachten ihre Lust an, machten sie willenlos, so dass sie umgehend im Schlafzimmer landeten.

Vom Nacken her brannte ein stechender Schmerz in den Hinterkopf. Unwillkürlich zog er die Schultern hoch. Das passierte in letzter Zeit häufiger – dieser Spannungskopfschmerz. Wenn das so weiterging, würde er eines Tages seinen Beruf doch noch an den Nagel hängen, einfach alles hinschmeißen. Und dann? Er lachte laut auf und ließ den Wagen an.

Bevor er den Rückwärtsgang einlegen konnte, klopfte es ans Seitenfenster. Sein Kollege Roland Bräuer. Frommelt ließ die Scheibe herunter.

»Der Junge, Rene heißt er wohl, also der Bengel, der das Mädchen gefunden hat, ist nach Hause gefahren. Übernimmst du ihn? Dann kümmern Hannah und ich uns um die Nachbarn.«

Frommelt nickte. »Ich rede zuerst mit den Eltern des Mädchens.« Er fuhr die Scheibe wieder hoch und achtete kaum darauf, dass Bräuer seinen Kopf erst im letzten Moment zurückzog.

Wenn sein verfluchter Gerechtigkeitssinn nicht wäre. Die Gewissheit, dass ein Mensch tot war, ging ihm an die Substanz. Dennoch wollte er auch diesen Fall lösen wollen, den Mörder des kleinen Mädchens hinter Gitter bringen. Ansonsten hätte er seinen Job wohl längst schon hingeschmissen.

Aus den Augenwinkeln registrierte er, wie ihm seine Kollegen hinterhersahen. Er startete mit durchdrehenden Reifen. Die Kollegen hielten ihn anscheinend für verrückt. Das machte ihm nichts aus, ihm war bewusst, dass man ihn als sonderbar empfand, und das wollte er auch bleiben.

Den Weg zurück ging Wehmeier in Gedanken versunken. Die Vergangenheit hatte ihn eingeholt. Er hatte es nicht geschafft, ein neues Leben zu beginnen. Diese Erkenntnis war niederdrückend. Seine Knie gaben nach, seine Füße schlurften über den Asphalt, die aufgeplatzten Blasen brannten. Er sah eine Bank und setzte sich.

Er war einer Illusion nachgejagt. Warum hatte er dem unbekannten Anrufer blind vertraut? Wie hatte er nur so dumm sein können zu glauben, dass sich seine Unschuld nachträglich beweisen ließe?

Hoffnung war ein seltsames Phänomen; sie konnte einen Menschen aufrichten, ihn am Leben erhalten, den Atem zum Überleben einhauchen. Enttäuschte Hoffnung zerstörte allen Lebensmut.

Er musste wohl eine halbe Stunde auf der Bank gesessen sein, als er aufstand und weiterging. Er kam bis zur Rosenstraße und sah die Bushaltestelle. Mit seinen wundgescheuerten Hacken würde er den weiten Weg zurück in die Stadt nicht überstehen. Der Bus für die Linie 105 kam gerade herangefahren. Kurzentschlossen stieg er ein, angelte einen benutzten Fahrschein aus der Tasche und stempelte ihn erneut ab. Was sollte er anderes tun? Unbehelligt kam er in Gifhorn auf dem Steinweg an. Ohne Ziel lief er durch die Stadt und starrte auf die Häuserfront vor ihm. Bis ihm bewusst wurde, dass er seit geraumer Zeit mitten auf dem Marktplatz, gegenüber dem Rathaus, stand und den Eingang der Stadtverwaltung beobachtete.

Ob Simone noch immer hier arbeitete? Die ersten Mitarbeiter verließen das Amt, strömten dem Feierabend entgegen. Einige ihrer ehemaligen Kollegen kannte er noch. Aber die Peinlichkeit, sie anzusprechen, ersparte er sich. Was hätte er ihnen sagen sollen?

Da sah er Simone. Ihre Haare waren kürzer. Früher waren sie locker auf die Schultern gefallen, hatten bei jedem Schritt leicht gewippt. Jetzt trug sie einen Kurzhaarschnitt. Sie war älter geworden, was ihrer Schönheit jedoch keinen Abbruch tat. Noch immer besaß sie diese stolze Eleganz, die er an ihr bewundert hatte.

Simone. Er war ihr zum ersten Mal in ihrem Büro begegnet. Auf dem Weg zu einem Außentermin hatte er noch Unterlagen von einem Kollegen aus der Stadtverwaltung holen müssen. Die Tür zu ihrem Büro stand offen und vom Flur aus hatte er sie an ihrem Schreibtisch sitzen sehen: Aufrechte Haltung, aristokratische Ausstrahlung.

In den darauffolgenden Wochen beobachtete er sie heimlich und ließ keine Gelegenheit aus, ihr wie zufällig über den Weg zu laufen. Sie anzusprechen traute er sich nicht. Auf einer kleinen Feier sah er sie wieder. Sie trug ein grünes Seidenkostüm, dessen Farbton perfekt zu ihren grünen Augen passte. Sie stellte sich einfach neben ihn und plauderte. Sie schwärmte von brillanten Künstlern, die leider noch niemand entdeckt hätte, sprach von Urlauben in Italien und Konzerten bedeutender Pianisten. Er hatte geschwiegen und war wie benommen vom Klang ihrer Stimme gewesen.

Zwei Tage später trafen sie sich zufällig wieder. Obwohl er sich seine Worte schon lange überlegt hatte, bekam er in ihrer Nähe kaum ein Wort heraus. Sie sah mit einem spöttischen Lächeln zu, wie er sich wand, stotterte und verhaspelte. Trotzdem nahm sie seine Einladung an. Simone war aktiv, selbstständig, fordernd. Sie bestimmte ihrer beider Leben und er ließ sich mitziehen. Sie fragte nie, ob es ihm recht war. Und es hatte ihn nicht gestört, nein, es war ihm nicht einmal aufgefallen, so verliebt war er gewesen.

Dass Simone ausgerechnet ihn heiraten wollte verstand er nie wirklich. Er selbst hielt sich, das hatte sich bis heute nicht geändert, für einen bürokratischen Langweiler, der monoton seine Pflicht tat.

Sie heirateten im engsten Familienkreis, wobei seine Schwiegereltern den Eindruck machten, als hätte ihre einzige Tochter einen Berggorilla geehelicht. Sie hatten wohl recht. Simone, die aus einer wohlhabenden Familie stammte, heiratete unter ihrem Stand. Hatte sie sich mit dieser Ehe gegen ihre übermächtige Familie auflehnen wollen?

Damals schien er alles zu haben, was er sich vom Leben wünschte: Einen gutbezahlten Job, ein Haus, eine Frau. Das war lange her.

Das große Haus im Blumenviertel musste abbezahlt werden, deshalb arbeitete Simone. Ihr hätte es gut gefallen, noch etwas nobler zu wohnen, im Stadtteil Winkel. Vor allem, um ihren Eltern zu beweisen, dass ihr Mann kein gesellschaftlicher Blindgänger war, wie sie ihr glauben machen wollten. Dabei war ihr Haus im Blumenviertel größer geworden, als sie es sich eigentlich hatten leisten können.

Je länger er über sie nachdachte, desto weniger war ihm klar, ob Simone wirklich hatte schwanger werden wollen und aufgehört hätte zu arbeiten. Der gesellschaftliche Status und ihre gute Figur waren ihr immer wichtig gewesen. Er konnte nie wirklich mit ihr Schritt halten. Sie war zielstrebig, ehrgeizig und wunderschön gewesen, er das krasse Gegenteil.

Sie bewundere seine Ruhe, seine innere Gelassenheit, mit der er Entscheidungen treffe, seine Loyalität, versicherte sie ihm. Er sei die Mauer, die sie beschütze, an die sie sich anlehnen könne. Simone, die impulsive, die ihren Gefühlen stets freien Lauf ließ, beraubte ihn seiner Ruhe und Kraft. Doch das wollte Simone nicht sehen. Was wohl in ihr vorgegangen war, als er verhaftet und verurteilt worden war? Sie hatte mit versteinerter Miene im Gerichtssaal gesessen. Ihren Blick spürte er heute noch und er tat immer noch weh. Bis zu dem Tag, als sie ihn um die Scheidung bat, hatte sie beteuert, ihn zu lieben.

Hastig wandte sich Wehmeier ab und rannte fast die Straße hinunter. Er spürte, wie sich seine Augen mit Tränen füllten. Das fehlte ihm gerade noch, auf der Straße zu flennen wie ein Kind.

Frommelt saß auf einer unbequemen Couch in einem modern eingerichteten Wohnzimmer. Warum müssen teure Möbel eigentlich immer unbequem sein, dachte er und sagte: »Wann haben Sie Lisa zum letzten Mal gesehen?« Das war das Schwierigste; den Eltern mitzuteilen, dass ihr Kind nicht mehr lebte. Die Mutter des kleinen Mädchens, Carola Brandes, saß mit verquollenem Gesicht vor ihm. Tränen hatte sie keine mehr.

Sie antwortete nicht, schluchzte laut und vergrub ihr Gesicht in den Händen. Der Vater, Gero Brandes, saß am anderen Ende des niedrigen Couchtisches und versuchte, die Fassung zu bewahren. Frommelt sah ihm an, dass es ihm nicht mehr allzu lange gelingen würde. Er kannte das. Zuerst kam der lähmende Schock, dann, in einer überfallartigen Explosion, ließen die meisten allen Emotionen freien Lauf oder brachen zusammen. Noch war es nicht so weit und Frommelt hatte auch keine Lust, darauf zu warten. Die Schicksale dieser Familien, die auf so tragische Weise einen Angehörigen verloren hatten, gingen ihm jedes Mal nahe und er hoffte im Stillen, der Schock möge anhalten, bis er die erste Befragung abgeschlossen hatte. Er war kein Unmensch; wäre es nach ihm gegangen, hätte er das Gespräch sofort beendet, doch er brauchte die Aussagen – und das sehr schnell.

»Sie war im Garten«, sagte Carola Brandes nun plötzlich, als ob sie sich eben erst daran erinnert hätte. »Sie spielte mit ihren Puppen.«

»Wissen Sie noch, um welche Uhrzeit Sie Lisa das letzte Mal gesehen haben?«

»Ich hab das Essen gekocht. Durch das Fenster kann ich sie sehen, wenn sie im Garten spielt – gespielt hat. Das muss um eins rum gewesen sein. Ich weiß nicht mehr so genau, ich hab nicht auf die Uhr gesehen. Dann habe ich die Nudeln abgeschüttet. Danach bin ich hinaus in den Garten, um Lisa zu holen.« Sie starrte blicklos ins Leere, als versuche sie, sich alle Einzelheiten dieses Tages in ihrer Erinnerung hervorzuholen.

»Und dann?« Frommelt wusste, er musste vorsichtig sein.

»Und dann? Sie war nicht da. Ich hab sie nicht gefunden. Nur das hier«, sie stand auf und ging in den Flur. Frommelt sah sie durch den Türspalt an einem kleinen Schränkchen stehen. Sie kehrte mit einer Puppe zurück und hielt sie ihm hin, ohne sie aus der Hand zu geben.

»Was bedeutet das?«

»Sie hätte diese Puppe niemals zurückgelassen. Sie hat sie sogar heimlich mit in den Kindergarten genommen, obwohl sie keine eigenen Spielsachen mitnehmen dürfen.«

Carola Brandes stand noch immer mit ausgestrecktem Arm vor ihm. Die Puppe streckte ihre steifen Glieder weit von sich und Frommelt schauderte es. Fast wie das tote Mädchen, fuhr es ihm durch den Kopf.

Ehe er sich weiter darum Gedanken machen konnte, fragte er: »Haben Sie hier in der Gegend irgendetwas Auffälliges gesehen? Etwas, das anders war?«

Carola Brandes schüttelte den Kopf. »Nein, ich habe ja gekocht und Lisa spielte draußen. Ich weiß nicht, was Sie meinen.«

Frommelt wandte sich Gero Brandes zu, der noch immer wie versteinert, mit wie zum Gebet gefalteten Händen, auf seinem Platz saß und den Teppich zu seinen Füßen anstarrte. »Wo waren Sie, als Lisa verschwand?«

»Ich war in der Firma. Meine Frau hat mich angerufen und erzählt, dass Lisa weg ist. Ich bin dann sofort nach Hause.«

»Ist Ihnen etwas aufgefallen? Etwas, das anders war als sonst, als Sie nach Hause kamen?«

»Nein.« Brandes’ Stimme klang brüchig. »Nein, es war alles so wie immer.«

»Was haben Sie dann gemacht?« Frommelt wusste, wie sehr er Lisas Mutter mit seinen Fragen quälte, doch er konnte sie ihr nicht ersparen.

»Als ich Lisa nicht gefunden habe, meinen Sie?«

Frommelt nickte.

»Ich bin mit dem Auto los, um sie zu suchen. Ich dachte, sie ist zum Spielplatz gelaufen. Das tat sie öfter, obwohl ich es ihr verboten habe.« Mit einem kurzen Blick auf Frommelt fuhr sie fort: »Ich wollte nicht, dass sie allein dort hingeht. Man hört so viel.« Carola Brandes starrte aus dem Fenster. Es sah aus, als ob sie ihm etwas verheimlichte.»Wissen Sie, wir haben hier einen Jungen in der Nachbarschaft, Rene heißt er, er ist nicht ganz, wie soll ich sagen … helle? Er fährt hier immer mit seinem Rad herum und hat Lisa öfter angesprochen. Das hat sie mir erzählt.«

»Der Junge, Rene, hat Lisa tot in der Senke gefunden.

Ich dachte, das hätte ich Ihnen gesagt?«

»Rene?« Carola lehnte sich im Sessel zurück und schloss die Augen. »Halten Sie es für möglich, dass er es war?«

»Wir halten im Moment alles für möglich.«

Sie beugte sich wieder vor, ihre Hände zerpflückten ein Papiertaschentuch und sie starrte ihn wütend an. »Ist sie

… ist … ich meine …«

»Ob Ihre Tochter missbraucht wurde, meinen Sie?« Carola Brandes nickte.

»Nein«, sagte Frommelt. »Sie ist nicht missbraucht worden.«

Sie nickte wieder.

»Sie sind dann zum Spielplatz gefahren, sagen Sie. Wo befindet sich der genau und waren Sie noch woanders?«, fragte Frommelt weiter.

Aus den Augenwinkeln konnte er erkennen, dass Carola zusammenzuckte. »Nein«, sagte sie schnell und schüttelte den Kopf. »Der Spielplatz liegt hier im Wohngebiet, zwei Straßen weiter.« Mit den Schultern machte sie eine vage Andeutung in die Richtung.

»Haben Sie jemanden auf der Straße gesehen oder ist Ihnen etwas aufgefallen?«

Sie schüttelte erneut den Kopf. »Ich hab auch nicht drauf geachtet, ich hab nur an mein Kind gedacht.«

»Haben Sie Ihren Mann angerufen, bevor oder nachdem Sie Lisa mit dem Auto gesucht hatten?«

»Nachher.«

Er stand auf. »Vielen Dank erstmal. Der Erkennungsdienst wird gleich hier sein, bitte verändern Sie nichts im Haus. Ich habe später bestimmt noch Fragen an Sie.«

»Aber warum?« Nun schien Carola aus der Fassung zu geraten. »Glauben Sie, dass jemand hier drin war? Aber das geht doch gar nicht. Warum?«

»Nur, um sicherzugehen. Routine, kein Grund zur Sorge.« Frommelt verabschiedete sich und ging zur Tür.

Er war wieder am Schloßsee, auf dem Spielplatz. Warum war er hierher gegangen? Weil ich nichts anderes habe, dachte er. Weil mir nichts anderes bleibt als ein verschimmeltes Zimmer und ein Spielplatz, auf dem mich alle ansehen, als hätte ich mein Recht zu leben auf dieser Welt verwirkt. Sollte mein Zuhause wirklich aus diesem Spielplatz, vergammelten Zimmern und dem Paula’s bestehen?