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Ein Drache opfert nichts – erst recht nicht seine Freiheit. Cassim ist ein Verräter. Um sich und die anderen Drachenwandler aus der grausamen Herrschaft des Königs von Eldeya zu befreien, schreckt er vor keinem Verbrechen zurück. Auch seine Reiterin Yessa war für ihn nur ein Mittel zum Zweck. Doch aus der einstigen Feindin ist längst mehr geworden, und seine Liebe zu ihr könnte ihn nun alles kosten. Bleibt er bei ihr, riskiert er sein Leben. Verlässt er sie, widersetzt er sich dem Willen der Götter. Und erfährt sie das ganze Ausmaß seiner Taten, wird sie ihn auf ewig hassen … Band 2 der Dragonbound-Trilogie von Spiegel-Nr.-1-Bestseller-Autorin Marie Niehoff.
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Seitenzahl: 459
Veröffentlichungsjahr: 2025
Marie Niehoff
Roman
Ein Drache opfert nichts. Erst recht nicht seine Freiheit …
Cassim ist ein Verräter. Um sich und die anderen Drachenwandler aus der grausamen Herrschaft des Königs von Eldeya zu befreien, schreckt er vor keinem Verbrechen zurück. Auch seine Reiterin Yessa war für ihn nur ein Mittel zum Zweck. Doch aus der einstigen Feindin ist längst mehr geworden, und seine Liebe zu ihr könnte ihn nun alles kosten. Bleibt er bei ihr, riskiert er sein Leben. Verlässt er sie, widersetzt er sich dem Willen der Götter. Und erfährt sie das ganze Ausmaß seiner Taten, wird sie ihn auf ewig hassen …
Zwischen Liebe und Verrat. Band 2 der epischen Dragonbound-Trilogie.
Marie Niehoff, geboren 1996, hegt schon seit ihrer Kindheit eine Faszination für fantastische Geschichten. Diesen darf vor allem eines nicht fehlen: Romantik. Wenn sie nicht gerade schreibt, malt sie, kreiert Moodboards, kümmert sich um ihre unzähligen Zimmerpflanzen oder legt Tarotkarten. Ihr Fantasy-Debüt, «When The King Falls», stieg unmittelbar nach Erscheinen auf die SPIEGEL-Bestsellerliste ein. Band 2, «The Queen Will Rise», erreichte sogar Platz 1. Auch «Burning Crown», der erste Band ihrer neuen Dragonbound-Trilogie, ist ein SPIEGEL-Nr.1-Bestseller. Ihre Bücher wurden mittlerweile in sieben Sprachen übersetzt. Auf Instagram und TikTok ist sie unter @marienie.schreibt zu finden.
Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, Mai 2025
Copyright © 2025 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg
Redaktion und Sensitivity-Beratung Nora Bendzko (norabendzko.com)
Covergestaltung SO YEAH DESIGN, Gabi Braun
Coverabbildung Shutterstock
ISBN 978-3-644-01946-1
Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation
Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp
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Für Ali,
der selbst in die dunkelsten Tage Licht bringt.
Show me a hero,
and I’ll write you a tragedy.
F. Scott Fitzgerald
UNSECRET, Neoni – Fallout
Tommee Profitt, Jessie Early – Will I Make It Out Alive
Emma Blackery – Villains, Pt. 1
Madalen Duke, Nathan Fields – In The Game
Woodkid – To Ashes and Blood
ADONA – Dark Things
Ruelle – War Of Hearts
Hidden Citizens, Erin McCarley – Out of Time
Bolshiee – hope it kills you
SAYSH, Anderson Rocio – Know
David Thomas Connolly, Max Samuel Rowat – Revenge
Ruelle – Bad Dream
Sybrid, PLEXXAGLASS – Believer
Mark Siegel, Madalen Duke – Welcome To My Nightmare
Sam Tinnesz, Tommee Profitt – Far From Home
Tommee Profitt, Liv Ash – A Storm Is Coming
Ark of Noah, Edda Hayes – Chaos
Hidden Citizens, Rånya – Let Me Out
Generdyn, FJØRA – Bridges
Klergy, BELLSAINT – Walk Through the Fire
Oshins, ADONA – Always On Your Side
Euphoria, Bolshiee – Be A Hero
Zwölf Stunden.
So lange hat mein Vertrauen in die Götter gehalten. Genau eine Nacht mit Yessa, einen Morgen des Zweifelns und einen Moment der Erkenntnis.
Zwölf Stunden voller naiver Hoffnung und unerfüllbarer Träume.
Zwölf verdammte Stunden, um mich endgültig zu brechen.
Ich starre in Walshs Gesicht, unfähig, auch nur einen klaren Gedanken zu fassen. Seine reine Anwesenheit brennt sich wie Säure unter meine Haut, verätzt meine Lungen, hält mein Herz davon ab weiterzuschlagen.
Das kann nicht sein. Es ist unmöglich, dass er hier steht. Abgemagert, auf eine Krücke gestützt und mit diesem hämischen Grinsen im Gesicht, das in mir den lodernden Wunsch nach Gewalt schürt.
Er sollte tot sein.
Stattdessen werde ich es bald sein.
Walsh hebt erwartungsvoll die Brauen und tritt einen Schritt näher heran. Sorgt wie schon tausend Male zuvor dafür, dass ich mich in seiner Gegenwart winzig fühle, obwohl ich ihn um einen ganzen Kopf überrage. Seine Frage hängt noch in der Luft, bitter wie der Geschmack von Asche.
«Willst du nicht vor deinem Captain salutieren?»
Es ist blanker Spott. Wie immer stellt Walsh mit allen Mitteln sicher, dass mir seine Macht über mich bewusst ist.
«Hörst du schlecht?», will er wissen. Mir ist klar, dass er nur auf einen Fehltritt meinerseits wartet. Und meine Hand hebt sich wie von allein, um zu salutieren. Ich halte Walshs Blick stand. Spüre, wie meine Kehle immer enger wird und meine Angst immer größer. Sie begräbt mich regelrecht unter sich, doch es gibt ein Gefühl, gegen das sie trotzdem nicht ankommt. Den Hass.
Ich hätte sicherstellen sollen, dass er stirbt. Ich wünschte, ich hätte ihm eigenhändig das verdammte Herz aus der Brust geschnitten.
Walsh schnaubt und mustert mich von Kopf bis Fuß. «Salutieren konntest du auch schon mal besser», bemerkt er süffisant. «Aber keine Sorge. Das üben wir.» In den Worten klingt eine Drohung mit, und mein Blick schießt unvermittelt zu seiner Hand. Wie zur Bestätigung zucken seine Finger an seinem Gürtel.
In mir zieht sich alles zusammen. Dieser Wichser.
Wenn ich sterben muss, dann sicher nicht, ohne Widerstand zu leisten. Ich werde nicht zulassen, dass er mich noch einmal misshandelt oder mich auch nur berührt. Er wird tot sein, bevor er überhaupt realisiert, dass ich mich verwandle, und sie werden mich nicht lebendig zurück in meinen menschlichen Körper kriegen. Diesen letzten Kampf gewinne ich. Selbst wenn es bedeutet, alles zu verlieren.
Ich wappne mich innerlich, spanne jeden Muskel an und taste nach meiner Magie, doch Yessas Stimme reißt mich aus meinen rasenden Gedanken.
«Wie …?», ist alles, was sie herausbringt.
General Harlow mustert uns beide wie ein Raubtier. «Sicher hast du bei eurem kleinen Ausflug gesehen, dass gestern Nacht in der Nähe des Absturzgebiets ein Vulkan ausgebrochen ist. Zwei Späher unseres Nachbarcamps wollten sich ein Bild von der Lage machen und haben dabei Walsh gefunden. Nicht ganz so tot, wie man behauptet hat …» Sein Blick trifft meinen, doch ich kann nichts in ihm lesen. Sein Gesichtsausdruck ist gefährlich neutral, und das schürt meine Panik nur noch mehr. «Wir haben noch einiges zu besprechen», stellt er eisig fest. «Geht in mein Zelt und wartet dort. Gerade habe ich Wichtigeres zu tun, als mich um Abschaum wie euch zu kümmern.»
Er wendet sich abrupt ab und schreitet davon. Die Menge der Schaulustigen stiebt vogelschwarmartig auseinander und widmet sich eilig wieder ihren Vorbereitungen. Verunsichert schaue ich zu Walsh, doch der bedenkt mich lediglich mit einem unheilvollen Blick, bevor er Harlow folgt.
Ich bin kurz davor, ihn zurückzuhalten. Vielleicht ist das meine letzte Chance, ihn mit ins Grab zu nehmen, denn Harlow wird mich für meine Taten zweifelsohne zum Tode verurteilen. Aber ich bin zu überrumpelt, um mich zu rühren. Ich bleibe wie versteinert stehen und warte auf mein Schicksal wie ein Lamm auf der Schlachtbank.
Jemand packt mich am Arm. Ich zucke zurück, will mich losreißen, als ich Yessas rote Haare neben mir erkenne. Sie zerrt mich mit hastigen Schritten vom Rüstplatz, vorbei an Arden, der uns mit einem schadenfrohen Grinsen nachsieht.
Mir bleibt gar nichts anderes übrig, als ihr zu folgen. In meinem Kopf herrscht das reinste Chaos. Ich kriege keinen einzigen klaren Gedanken zu fassen und konzentriere mich stattdessen auf Yessas festen Griff. Den Matsch unter meinen nackten Füßen. Die eiskalte Luft, die mir unter den Mantel weht.
Wir kommen bei Harlows Zelt an. Die beiden Wachen davor runzeln fragend die Stirn, als sie Yessas schmucklosen schwarzen Umhang sehen. Ich spüre ihr Zögern, doch sie drückt entschlossen die Schultern durch und hebt das Kinn.
«Der General hat uns hergeschickt», verkündet sie, nicht ohne ein verräterisches Zittern in der Stimme. «Wir sollen hier warten.»
Noch immer umklammert sie meinen Oberarm. Und auch wenn es scheint, als würde sie mich führen, spüre ich, dass sie eigentlich Halt bei mir sucht. Nur kann ich ihr den gerade nicht bieten. Im Gegenteil. Zum ersten Mal kann ich ihre Berührung nicht ertragen. Obwohl sich alles in mir nach Yessas Nähe sehnt, fühlt es sich an, als würde sie mich damit in Ketten legen. Sie ist der Grund dafür, dass ich hier bin. Dass ich zurückgekommen bin.
Scheiße …
Die Wachen werfen sich einen Blick zu und geben endlich den Eingang frei. Ich habe Schwierigkeiten, einen Fuß vor den anderen zu setzen, so sehr sträubt sich mein Körper dagegen, Harlows Zelt zu betreten. Doch Yessa zieht mich weiter – durch den Vorraum, in dem glücklicherweise keine Spur von Mera ist, bis ins Hauptzelt.
Die Klappe fällt hinter uns zu, und ich mache mich von ihr los, um nach Luft zu schnappen. Das letzte Mal, als ich hier war, stand ich vor einem Rat und habe ein Verbrechen vertuscht. Es fühlt sich an, als wäre ich damals ein anderer Mann gewesen. Einer, der so naiv war zu glauben, er könne seine Freiheit schon auf der Zunge schmecken. Heute werde ich dafür bezahlen.
«Was ist da gerade passiert?», flüstert Yessa, und ich fahre zu ihr herum. Ihr Gesichtsausdruck zeigt irgendetwas zwischen Verwirrung, Trauer und Sorge. «Cassim?»
Ich schüttle nur den Kopf. Eben noch war ich wie paralysiert, jetzt ergreift eine schier unerträgliche Unruhe von mir Besitz. Ich gehe im Zelt auf und ab, meine Schritte angetrieben von der Panik, die mir im Nacken sitzt. Auf Harlow zu warten ist keine Option. Aber mir fällt keine Alternative ein. Und noch dazu bekomme ich langsam keine Luft mehr. Meine Brust fühlt sich an, als läge ein ganzes Gebirge auf ihr.
Ich kann nicht …
Ich muss …
Atmen, tönt die Stimme meiner Mutter durch meine Gedanken. Seit wann ist das so scheißschwer?
«Cassim!» Wieder schließen sich Yessas Finger um meinen Oberarm, sanft und doch mit überraschend viel Kraft. Sie hält mich zurück und zwingt mich, sie anzusehen. «Rede mit mir», fordert sie. Ihre Stimme klingt ruhig, doch nun kann ich auch in ihren Augen die Panik wachsen sehen. Das Misstrauen. Ich wette, sie wird sich jeden Moment gegen mich wenden. Vorbestimmung hin oder her, sie wird nicht für einen Mörder kämpfen.
«Du sagtest, Walsh wäre tot», flüstert sie kaum hörbar, und ich könnte schwören, mein Herz hört für einen Moment auf zu schlagen.
«Ich muss gehen», entkommt es mir, und ich reiße meinen Arm förmlich aus ihrem Griff. Mein Blick huscht durch das Zelt, verzweifelt auf der Suche nach einem Ausweg oder wenigstens dem Hauch einer Chance zu überleben, und bleibt an Yessas Gürtel hängen. Entschlossen mache ich einen Schritt auf sie zu.
«Gib mir dein Schwert.» Ich kann kaum mit Waffen umgehen, da man uns Drachen nicht trainieren lässt, aber so könnte ich zumindest die Wachen vor dem Zelt überraschen und mir genug Spielraum verschaffen, um mich zu verwandeln.
Yessa weicht vor mir zurück. «Was?», keucht sie und fällt in eine angedeutete Kampfhaltung, als müsste sie sich ernsthaft vor mir verteidigen.
Ich erstarre. Ein unerwarteter Schmerz durchzuckt meine Brust, und ich brauche einen Moment, um ihn als bittere Enttäuschung zu identifizieren.
Wie konnte ich derart naiv sein? Wie konnte ich ernsthaft glauben, die Götter würden mir jemanden schicken, um mich zu beschützen? Nach allem, was ich durchgemacht habe, all den beschissenen Schicksalsschlägen …
Diese ganze Geschichte mit unserer Vorbestimmtheit ist eine einzige große Lüge. Ein neues Mittel, um mir wieder Hoffnung zu machen und mich zu brechen. Und ich bin darauf hereingefallen. Habe mir Hoffnungen gemacht, schlimmer noch – mir Liebe ausgemalt. Habe alles geopfert, für nichts.
Fick die beschissenen Götter.
Diesmal bin ich schneller als Yessa. Ich mache einen zügigen Schritt auf sie zu und kriege den Knauf ihres Schwertes zu fassen. Ich will es aus der Scheide ziehen, aber sie legt ihre Hand über meine und hält gegen. Meine Brust stößt gegen ihre, sie kommt ins Straucheln. Ohne nachzudenken, fasse ich sie an der Taille, um sie zu stützen, und verfluche mich im gleichen Moment selbst dafür.
Wie soll ich gegen sie ankommen, wenn ich ihr derart verfallen bin? Alles, was ich will, ist, sie zu küssen und Walsh zu vergessen. Hierzubleiben, egal, wie gefährlich es ist. Das Risiko noch einmal einzugehen, weil es mir offenbar nicht reicht, ihretwegen bereits hundertmal auf die Fresse geflogen zu sein.
Yessas Nähe ist eine tödliche Versuchung.
«Was machst du?», zischt sie. Obwohl sie irritiert wirkt, lockert sie ihren Griff sofort, als ich meinen lockere. Würde ich mich zusammenreißen, wäre es vermutlich ein Leichtes, sie zu überwältigen. Sie vertraut mir zu sehr, um es zu erwarten.
Aber ich bringe es nicht über mich. Stattdessen senke ich den Kopf. Ich atme ihren Duft und lege meine Lippen auf ihre.
Der Kuss ist in Verzweiflung getränkt, ihr Geschmack so bitter, dass ich glaube, mich daran zu vergiften.
Trotzdem kann ich nicht anders. Ich muss dieses Gefühl noch einmal spüren, das Yessa in mir auslöst. Dieses Kribbeln in der Magengrube, das Flattern in meinem Herzen, diese nicht sterben wollende Hoffnung auf Liebe.
Ich habe mich viel zu lang dagegen gesträubt, es zu genießen. Und jetzt ist es zu spät. Ich habe die wenige Zeit, die mir und Yessa blieb, damit verschwendet, mein Herz vor ihr zu beschützen.
Mit einem Keuchen stößt sie mich weg. Nicht weit genug, um sich aus meiner Umarmung zu winden, doch unser Kuss verglimmt, und ihr Kopf ruckt zum Zelteingang herum. Draußen ist nichts zu hören. Die Zeltklappe bleibt geschlossen. Aber mein Herzschlag hämmert umso lauter in meinen Ohren.
«Was machst du?», wispert Yessa erneut und schaut mich entgeistert an. «Wenn uns jemand erwischt …»
Dann würde sie mit mir sterben. Verdammt, ich könnte wenigstens so umsichtig sein, sie vor meinem Schicksal zu verschonen, aber mein Arm schlingt sich nur enger um ihre Taille.
Es ist unfassbar irrational. Ich bin dem Tod geweiht – was Yessa von mir denkt, hat ohnehin keinerlei Relevanz. Und doch kann ich mich diesem Schicksal nicht stellen, ohne zu wissen, wie sie auf die Wahrheit reagiert. Bevor ich nicht sicher bin, dass sie mich fallen lässt, und dieser letzte Funken Hoffnung endlich stirbt.
«Ich bin für dich zurückgekommen», stelle ich klar. Ich lehne meine Stirn an Yessas und muss dem Drang widerstehen, sie erneut zu küssen. «Und vielleicht wäre ich sogar für dich geblieben», fahre ich atemlos fort. «Wäre Walsh nicht mehr am Leben.»
Yessa schüttelt verständnislos den Kopf. Wir umklammern beide den Schwertknauf, und sie lässt ein wenig locker, um ihre Finger zwischen meine zu schieben. «Was auch immer du vorhast, es ist eine beschissene Idee. Vertrau mir. Ich lasse nicht zu, dass Walsh dir wehtut.»
Ihre Worte stechen. Weil sie das sind, was ich hören will, und doch nicht stimmen. «Du kannst mich nicht beschützen.»
«Nur weil ich keinen Rang mehr habe, heißt das nicht, dass Walsh mit dir machen kann, was er will!», fährt sie wütend fort. «Du bist immer noch an mich gebunden, und ich werde alles tun, um …»
«Ich habe versucht, ihn zu töten, Yessa.»
Die Wahrheit rauscht auf uns herab wie ein Fallbeil. Ich kann förmlich spüren, wie sie das zarte Band zwischen uns durchtrennt. Yessa ist wie erstarrt, und ich wappne mich innerlich für ihre Reaktion. Für die Abscheu. Die Wut. Das Unverständnis.
Unter anderen Umständen hätte ich ihr die Wahrheit vermutlich niemals anvertraut. Schon jetzt bereue ich es, dabei hat Yessa noch gar nichts gesagt. Aber in dieser Situation macht es ohnehin keinen Unterschied mehr. Verraten kann sie mich nicht, weil Walsh das zweifelsohne längst getan hat. Und hassen kann sie mich, wenn ich tot bin.
Yessa blinzelt, und ich bilde mir ein, dass ihre Finger sich kaum merklich von meinen lösen. «Was?» Dafür, dass sie erfahren hat, dass ich ein Mörder bin, ist sie erstaunlich ruhig.
Ich schlucke gegen den Kloß in meiner Kehle an. «Er ist beim Angriff nicht verwundet worden. Er hat ihn nicht mal mitbekommen, weil ich mich in der Luft verwandelt habe, um ihn in den Tod stürzen zu lassen.»
Yessa keucht entsetzt auf. «Du verarschst mich.»
Ich schnaube. «Ist mein Humor so verkorkst, dass du das ernsthaft für realistisch hältst?»
«Aber …» Sie ringt nach Worten. «Du wolltest deinen eigenen Reiter töten?»
Mir entwischt ein bitteres Lachen. «Wundert es dich wirklich? Ich habe meine Chance gesehen und sie ergriffen. Der Grund macht jetzt ohnehin keinen Unterschied mehr. Sobald Walsh und Harlow hier aufkreuzen, werden sie mich exekutieren lassen.»
Yessa lässt mich los und fährt sich mit der Hand über das Gesicht. «Scheiße», bringt sie hervor. Ihr Blick huscht zur Zeltklappe, dann schließt sie die Augen und atmet tief durch.
Ich stehe unschlüssig da, noch immer das warme Metall des Schwertknaufs unter meinen Fingern. Das wäre meine Chance, sie zu überwältigen. Jetzt, bevor sie zu der Überzeugung kommt, dass ich meine Strafe verdient habe. Doch gerade als ich Yessas Schwert ziehen will, legt sie ihre Finger über meine und schaut zu mir auf. Eine neue Entschlossenheit funkelt in ihren Augen.
«Lass los und bleib hinter mir», befiehlt sie. «Ich bringe dich hier raus.»
Ich starre sie an. «Was?»
Sie schlägt ungeduldig meine Hand von ihrem Schwertknauf und weist mit dem Kinn zum Zelteingang. «Ich bringe dich hier raus», wiederholt sie.
Sie … hilft mir?
Mein Mund wird trocken. «Wie willst du das anstellen?»
«Keine Ahnung», zischt sie und setzt dazu an, die Klappe zum Vorraum zu öffnen. «Wir haben keine Zeit für Pläne, also müssen wir improvisieren.»
Ich halte sie am Arm zurück. «Du kannst da nicht mit mir raus. Du unterschreibst dein Todesurteil!»
Yessa fährt zu mir herum. «Und wenn ich hierbleibe, unterschreibe ich deines!»
Sie meint es ernst. Aber ich kann sie das nicht tun lassen. Ich schlucke schwer. «Gib mir einfach dein Schwert und sag ihnen, ich hätte es dir abgenommen.»
«Und wie weit kommst du damit?», fragt sie wütend. «Ohne Kampfausbildung? Ohne Magie?»
«Lass das meine Sorge sein.» Verdammt, ich weiß nicht, was ich erwartet habe, aber das hier war es nicht. Und sosehr ich Yessa auch an meiner Seite will – ich will nicht, dass sie für mich stirbt.
Wieder greife ich nach ihrem Schwert, aber sie weicht mir aus und öffnet die Zwischenklappe. «Hör auf zu diskutieren. Ich habe mich schon entschieden. Und jetzt beeil dich. Wir müssen hier raus, bevor Harlow kommt.»
Ich lasse Cassim gar keine andere Möglichkeit, als mir zu folgen. Zwar verstehe ich noch nicht ganz, wie wir in dieser beschissenen Situation gelandet sind, aber was ich mit Sicherheit weiß, ist, dass wir jetzt keine Zeit haben, um zu diskutieren. Harlow mag mein Leben verschont haben, aber das hat für mich keinerlei Wert, wenn Cassim im Gegenzug stirbt. Mein Versprechen an ihn ist vielleicht das letzte, das ich noch halten kann. Immerhin hat Harlow mit meiner Degradierung all meine Hoffnungen auf Einfluss in diesem Land zerschlagen. So kann ich wenigstens noch für etwas kämpfen. Für jemanden, um genau zu sein. Auch wenn ich diesen Jemand plötzlich in einem ganz anderen Licht sehe.
So ganz habe ich Cassims Geständnis noch nicht verarbeitet. Ich kann nicht glauben, dass er wirklich versucht hat, Walsh umzubringen. Obwohl ein Teil von mir es nachvollziehbar findet. Wenn es jemand verdient hätte, dann Walsh. Ich verurteile Cassim nicht für seine Tat, und doch kann ich diese Skrupellosigkeit einfach nicht mit dem Mann in Einklang bringen, mit dem ich vor ein paar Stunden noch das Bett geteilt habe. Wie kann er derart warm und doch so verdammt kalt sein? Wie konnte dieses Geheimnis wochenlang zwischen uns hängen, ohne dass ich etwas geahnt habe?
Falls wir hier lebendig rauskommen, habe ich einige Fragen. Falls …
Mit großen Schritten durchquere ich den Vorraum. Keine Ahnung, was ich den Wachen draußen erzählen soll. Sie bewusstlos zu schlagen wäre vermutlich die einfachere Lösung, aber das könnte Aufmerksamkeit auf sich ziehen, und wenn erst jemand Alarm schlägt, schaffen wir es auf keinen Fall mehr unbemerkt aus dem Camp. Wobei ich nicht mal weiß, ob ich es aus dem Camp schaffen will. Immerhin brächte ich damit meine Eltern in Gefahr. Cassim muss nur irgendwie in Sicherheit kommen. Aber kann er das denn ohne mich? Scheiße, das ist so kompliziert …
Ich schlage die Zeltklappe auf, bereit für alles und nichts. Meine Hand wandert wie von selbst zum Griff meines Schwerts, der noch warm von Cassims Berührung ist, und neue Entschlossenheit durchströmt mich.
Er hat sein Leben riskiert, um zurückzukommen und meine Eltern zu schützen. Jetzt ist es an mir, den Gefallen zu erwidern.
Doch ich komme kaum einen Schritt weit, bevor ich wie erstarrt stehen bleibe. Cassim stößt leise fluchend gegen meinen Rücken. Die Wachen drehen sich irritiert zu uns um.
Fuck.
General Harlow steuert zielstrebig auf uns zu, Walsh im Schlepptau. Eine heimliche Flucht wird definitiv nichts mehr. Und mir bleiben nur Sekunden, um mich zu entscheiden, was ich stattdessen tun soll. Kämpfen oder …
«Salutier», raunt Cassim mir zu. «Es ist in Ordnung.»
Meine Finger verkrampfen sich um den Schwertgriff. Dann lasse ich ihn widerwillig los und komme Cassims Aufforderung nach. Das Rascheln seines Mantels sagt mir, dass er es mir gleichtut. Mir ist speiübel. Erst recht, als Harlow näher kommt und abschätzig die Brauen hebt.
«Wohin des Wegs?», fragt er mit einem argwöhnischen Unterton und bleibt vor uns stehen. Die Wachen versteifen sich merklich und salutieren ebenfalls.
«Ich …» Meine Kehle ist auf einmal so trocken, dass ich kaum ein Wort herausbringe. «… wollte nur etwas frische Luft schnappen, General», lüge ich.
Harlows Gesicht bleibt hart. Völlig ungerührt weist er mit dem Kinn zum Zelteingang.
Mein gesamter Körper verkrampft sich. Wenn wir jetzt gehorchen, ist Cassims Schicksal besiegelt. Hier draußen hat er wenigstens noch eine Chance zu fliehen, egal wie klein sie sein mag. Wenn er sich verwandelt, könnte er entkommen. Aber da drin werden sämtliche seiner Fluchtversuche von den Zeltplanen vereitelt. Und wenn sie ihn erst in Ketten gelegt haben …
«Hayes!», blafft Harlow mich an, weil ich mich immer noch nicht rühre. Aus den Augenwinkeln nehme ich wahr, wie Cassim sich aus seiner Starre löst. Ich atme tief durch und wappne mich für das Chaos, von dem ich sicher bin, dass es gleich entbrennen wird. Doch Cassim dreht sich einfach nur um und geht zurück ins Zelt.
Nein …
Eilig folge ich ihm und will gerade etwas sagen, als er den Kopf schüttelt. Seine Lippen formen ein lautloses Danke, dann geht er zügig in den Hauptraum.
Plötzlich brennen mir Tränen in den Augen. Das darf alles nicht wahr sein. Ich werde nicht zulassen, dass sie ihn exekutieren!
Jemand betritt hinter mir das Zelt, und ich ringe um Fassung. Ich gehe weiter und stelle mich neben Cassim in die Mitte des Zeltes, den Blick auf Harlows Schreibtisch gerichtet. Der General umrundet uns langsam, und das Geräusch von Walshs Krücken auf dem Zeltboden begleitet ihn.
Mein Puls rast. In mir zerfällt alles zu Ruinen. Und Cassim steht völlig regungslos neben mir, wie so oft die Mauer, die einfach nicht brechen will.
Ich mustere ihn von der Seite. Er hat die Arme auf dem Rücken verschränkt, seine Haltung ist steif. Und obwohl mein Blick viel zu lang an seinem Profil hängt, dreht er den Kopf nicht zu mir. Er scheint mir nicht ins Gesicht schauen zu wollen. Vielleicht weil er genau wie ich fürchtet, es könnte das letzte Mal sein.
Ich kann ihn nicht verlieren.
Genau das war doch meine größte Angst, als ich mich an ihn gebunden habe. Genau deshalb wollte ich ihn nicht zu nah an mich heranlassen, nichts für ihn empfinden, mich nicht der Anziehung zwischen uns hingeben.
Weil ich tief in mir längst wusste, dass ich auch ihn nicht beschützen kann. Egal, wie oft ich es ihm verspreche. Er dagegen hat mein Leben bereits mehrmals gerettet, hat mich zusammengehalten, als ich glaubte, dass nichts mehr den Schmerz wert sein könnte.
Nein, ich verurteile ihn wirklich nicht für das, was er Walsh angetan hat. Ich verurteile mich dafür, dass ich es nicht schaffe, ihm den Rest seiner Freiheit zu erkämpfen.
Ich höre, wie Harlow auf seinem Stuhl Platz nimmt, und reiße mit Mühe meinen Blick von Cassim los. Der General lehnt sich zurück, Walsh bleibt hinter ihm stehen. Er stützt sich schwer auf seine Krücken, doch Harlow scheint gar nicht in Erwägung zu ziehen, ihm einen Stuhl anzubieten. Obwohl ich mir sicher bin, dass er Sympathien für Walsh hegt, scheint auch er sich in gewissen Belangen beweisen zu müssen.
«Mir war nicht bewusst, wie weit deine Unfähigkeit zum Befolgen von Befehlen wirklich reicht», beginnt Harlow und fixiert mich mit einem schier tödlichen Blick. «Wenn ich dir sage, du sollst im Zelt warten, dann tust du gefälligst genau das. Meinetwegen erstickst du hier drin, wenn du angeblich keine Luft bekommst, aber du widersetzt dich mir nicht, hast du das verstanden? Geht das in deinen kleinen sturen Schädel?»
Ich schlucke. «Ja, General», bringe ich heraus. «Verzeihung, General.»
«Gut», erwidert er hart. «Und nun zu dir.» Er nimmt Cassim ins Visier, und sein Blick verfinstert sich noch mehr. «Gibt es irgendetwas, was du uns sagen möchtest?»
Ich halte unweigerlich den Atem an. Cassim wird nicht gestehen, oder? Das würde seine Strafe sicher nicht mindern.
Einen Moment lang herrscht nachdenkliche Stille. «Ich wüsste nicht, was, General», antwortet er schließlich.
Obwohl ich weiß, dass er lügt, höre ich es seiner Stimme nicht an. Sie ist so fest wie immer. Mit diesem Tonfall könnte er mir alles erzählen, und ich würde es glauben. Wenn ich so darüber nachdenke, ist es erschreckend. Aber gerade bin ich dankbar dafür.
«Ach ja?», fragt Harlow. Mit einem Ruck steht er von seinem Stuhl auf, und die nächsten Worte brüllt er so laut, dass ich zusammenzucke. «Wieso tauchen dann Soldaten wieder auf, die du für tot erklärt hast?»
Ich wage es nicht, zu atmen. Wie gebannt starre ich den General an und warte auf Cassims Antwort.
«Verzeihung, General», sagt Cassim, weiterhin völlig ruhig. «Aber ich hielt Captain Walsh für tot. Vielleicht sollten Sie diese Frage also lieber ihm stellen.»
Ehrlich gesagt weiß ich nicht, warum Harlow überhaupt noch Fragen stellt. Was auch immer Cassim behauptet, wird ohnehin nicht gegen Walshs Aussage ankommen.
Der General zieht die Brauen zusammen. «Das habe ich längst. Leider kann er sich an nichts erinnern. Das Einzige, was ich mit Sicherheit weiß, ist, dass du mir falsche Informationen geliefert hast. Also erklär mir gefälligst, wie es dazu kommen konnte, dass ein lebendiger Soldat von dir für tot erklärt wurde!»
Ich starre Harlow an und kann nicht ganz glauben, was ich höre. Walsh erinnert sich nicht? Dann gibt es auch keine Beweise für Cassims Mordanschlag auf ihn, oder? Keine Erinnerungen an seinen Sturz, keine Anschuldigungen. Und dementsprechend auch keinen Grund, Cassim hinzurichten – vorausgesetzt, er kann sich irgendwie aus der Schlinge winden, die Walshs Rückkehr ihm um den Hals gelegt hat.
Cassim scheint ähnlich zu denken, denn er wechselt die Strategie und geht von Verteidigung auf Angriff über. «Ich bitte vielmals um Verzeihung, General», beteuert er. «Aber mir war nicht klar, dass Captain Walsh noch gelebt hat. Ich hielt ihn für tot, weil ich keinerlei Bindung mehr zu ihm gespürt habe – etwas, das nicht hätte sein dürfen, wenn er nur ohnmächtig war. Die Situation war heikel. Ich hatte keine Zeit, um meine Annahme weiter zu überprüfen. Wäre ich mit dem Captain weitergeflogen, statt ihn zurückzulassen, wären wir jetzt zweifelsohne beide tot. Vielleicht erinnert er sich nicht, weil seine Verletzungen so gravierend waren. Spricht das nicht für meine Aussage?»
«Und was für Verletzungen sollen das gewesen sein?», bohrt Harlow nach. Ich höre der Frage an, dass sie ein Test ist.
«Ich weiß es nicht», beharrt Cassim. «Er saß auf meinem Rücken, dementsprechend habe ich nicht genau wahrnehmen können, was passiert ist. Es ging so schnell, dass ich den Schmerz nicht zuordnen konnte, bevor die Verbindung zu ihm abgebrochen wurde.»
«Walsh hatte aber keine Angriffsverletzungen!», donnert Harlow.
Cassim stockt nicht mal. «Womöglich wurde er von etwas am Kopf getroffen. Unsere Feinde sind plötzlich neben uns im Nebel aufgetaucht, ich habe einen der Drachen sogar gestreift, als ich ausweichen wollte. Das könnte auch sein gebrochenes Bein erklären.»
Das Herz schlägt mir bis zum Hals, und mein Blick huscht unsicher zu Walsh. Er lehnt sich schwer auf seine Krücken, sein Gesicht verzerrt vor Abscheu. Auch wenn Cassims Argumente überzeugend klingen, ist mir völlig klar, dass er ihm nicht glaubt. Harlow wirkt ebenso misstrauisch, hat allerdings keine Möglichkeit, an Beweise zu kommen.
Walsh erinnert sich an nichts, und Cassim hat bereits bei der Anhörung damals glaubwürdig dargelegt, warum er keine Erinnerungen hat, mit denen er Walshs Tod belegen könnte. Es steht also seine Aussage gegen eine vage Schuldvermutung. Leider ist Cassim ein Drache. Und in dieser Armee lautet das Sprichwort: Im Zweifel für den Reiter.
«Du hast deinen Reiter dem Tod überlassen», stellt Harlow fest, und mir läuft ein kalter Schauer über den Rücken. Scheiße …
«Und eine andere Reiterin hat er gerettet», werfe ich ein und ziehe die Schultern nach hinten. «Wohlgemerkt nicht, ohne dabei sein Leben für mich zu riskieren, General.»
Harlow starrt mich nieder. «Das stimmt mich nicht gerade milder.»
Autsch … «Ich möchte damit nur sagen, dass Cassim seine Loyalität der Armee gegenüber deutlich gezeigt hat. Offensichtlich hat er einen Fehler gemacht, aber Sie sagten doch eben selbst, dass Sie jeden Soldaten brauchen.»
«Loyalität?», fällt Walsh mir harsch ins Wort. Er richtet sich auf und macht einen Schritt nach vorn. Der Hass steht ihm ins Gesicht geschrieben. «Cassim weiß nicht mal, was dieses Wort bedeutet! Wann war er je loyal? Oder hat sich auch nur an einen simplen Befehl gehalten? Vermutlich war er froh, mich los zu sein. Hat die erstbeste Chance ergriffen, um es mir heimzuzahlen. Genauso ungehorsam und nutzlos wie immer.»
Heiße Wut kocht in mir hoch, und ich schlucke sie nur mit Mühe hinunter. Es juckt mich in den Fingern, auf Walsh loszugehen und persönlich dafür zu sorgen, dass er nie wieder solche Dinge über Cassim sagt.
Normalerweise bin ich niemand, der anderen etwas Schlechtes wünscht. Aber er hätte meinetwegen gern in den Bergen verrotten können. Am besten langsam und qualvoll, damit er eine Vorstellung davon bekommt, was für Leid er Cassim jahrelang zugefügt hat.
Die beiden liefern sich ein Blickduell – Walshs blaue Augen voller Abscheu, während in Cassims braunen nichts als Gleichgültigkeit liegt. «Wie gesagt», setzt er tonlos an. «Ich hielt Sie für tot, Captain.»
«Und wer soll dir das glauben?», brüllt Walsh.
Cassim atmet schnaubend aus. «Vielleicht sollten Sie mir lieber dankbar sein. Denn wäre ich weitergeflogen, wären Sie jetzt vermutlich nicht mehr am Leben.»
«Dankbar?», wiederholt er. «Ich werde dir Dankbarkeit beibringen! Wenn ich mit dir fertig bin, wirst du …»
«Das reicht!», unterbricht Harlow ihn scharf und bedeutet Walsh mit einer Handbewegung, zurückzutreten. Sein strenger Blick mustert uns alle, und die Unzufriedenheit in seiner Miene wächst sekündlich. «Ich will keine lächerlichen Drohungen hören! Das hier ist offensichtlich reine Zeitverschwendung. Bis Sie mir nicht sagen können, was beim Angriff passiert ist, ist die Sache erledigt, Captain. Ihr beide», er weist mit dem Kinn zu Cassim und mir, «findet euch morgen früh auf dem Rüstplatz ein. Abtreten.»
Ich atme auf. Sofort salutieren wir und wenden uns ab. Doch noch bevor wir den ersten Schritt in Richtung Ausgang gemacht haben, ertönt Walshs schneidende Stimme hinter uns.
«Stopp!»
Wir bleiben wie versteinert stehen.
«Was noch?», fragt Harlow entnervt. «Ich will keine Vermutungen mehr hören, Walsh!»
«Ich will ihn zurück.»
Alles in mir gefriert zu Eis.
Das würde er nicht …
Das kann er nicht …!
Entsetzt wirble ich herum und treffe Walshs kalten Blick. «Nein», entkommt es mir.
Doch er hebt nur spöttisch das Kinn. «Wie sprichst du mit deinem Captain?»
«Die Bindung ist schon vollzogen», wende ich mich an Harlow und hoffe, dass seine Zweifel darüber mittlerweile ausgeräumt sind. «Sie haben selbst gesehen, wie erfolgreich es war, General.»
«Habe ich das?» Er mustert mich nachdenklich. «Oder habe ich dich versagen sehen?»
Ich schüttle vehement den Kopf. «Ich habe die Magie unter Kontrolle. Zumindest das habe ich Ihnen bewiesen, oder nicht?»
«Das tut nichts zur Sache», mischt Walsh sich ein. «Ich bin der Captain. Und du weniger als eine einfache Soldatin. Er gehört mir.»
Ich öffne den Mund, um zu protestieren, doch Harlow kommt mir zuvor.
«Nein», sagt er.
Walsh stockt. «Was, nein?»
«Nein», wiederholt er tonlos. «Sie bekommen einen neuen Drachen. Ende der Diskussion.»
Er keucht ungläubig. «Sie lassen ihr den Vortritt? Nach allem, was passiert ist?» Da ist so viel Wut in seiner Stimme. Und offenbar lässt sie ihn vergessen, mit wem er spricht, denn Harlows Miene verfinstert sich bei seinem Tonfall. «Er war mein Drache, und das wird er auch bleiben! Kein Wunder, dass Ihre Captain sich als verzogene Verräterin entpuppt, wenn Sie ihr alles durchgehen lassen!»
Abrupt steht Harlow von seinem Stuhl auf und macht einen drohenden Schritt auf Walsh zu. «An deiner Stelle würde ich lieber aufpassen, dass du dich nicht gleich wieder von deinem Rang als Captain verabschieden musst. Du willst Konsequenzen sehen? Sprich noch einmal so mit mir, und ich lasse dich dafür auf dem Rüstplatz vor dem ganzen Camp auspeitschen. Verstanden?»
Mit offenem Mund starrt Walsh ihn an, sein Gesichtsausdruck irgendwo zwischen rasend und eingefroren.
Harlows Kopf ruckt zu uns herum. «Abtreten, habe ich gesagt!», brüllt er, und wir fliehen förmlich aus dem Zelt.
Die Wachen draußen machen uns unaufgefordert Platz. Harlows Befehl war wohl nicht zu überhören. Jetzt hingegen dringt der Bariton seiner Stimme nur noch dumpf durch die Zeltwände. Was auch immer er Walsh für einen Vortrag hält, die Worte sind unverständlich.
Ich schlage instinktiv den Weg zu unserem Zelt ein, Cassim dicht hinter mir. Mein Herz rast noch immer, und meine Gedanken überschlagen sich. Wir müssen dringend reden. Aber nicht hier, wo uns jeder sehen und hören kann. Nach allem, was Cassim mir erzählt hat, habe ich das Gefühl, das Camp hätte plötzlich überall Augen und Ohren.
Mehrmals schaue ich mich um und versichere mich, dass uns niemand folgt. Vielleicht war der Freispruch nur ein Vorwand, um uns in Sicherheit zu wiegen. Oder Walsh überredet Harlow doch noch dazu, ihm Cassim zurückzugeben. Aber den ganzen Weg über werden wir kaum beachtet, geschweige denn verfolgt, und allmählich lässt meine irrationale Panik nach, macht Platz für den klaren Kopf, den ich jetzt brauche. Ich betrete den Vorraum, halte inne und versuche, mich zu sammeln. Cassim hingegen steuert sofort auf den Haufen mit unseren Habseligkeiten zu.
Binnen Sekunden hat er seinen Mantel abgelegt und sich eine Hose angezogen. Er zieht einen Stiefel aus dem Chaos hervor, findet bei der Suche nach dem zweiten seinen Beutel und fängt kurzerhand an, wahllos Kleidung hineinzustopfen. Seine Lippen sind zusammengepresst, seine Schultern verkrampft. Und mein Herz zieht sich schmerzhaft zusammen.
«Was machst du da?», bringe ich hervor.
«Wonach sieht es denn aus?», sagt er, ohne auch nur innezuhalten.
«Es sieht aus, als würdest du völlig überstürzte Entscheidungen treffen.» Meine Finger zittern. Aus irgendeinem Grund ist es ausgerechnet der Anblick, wie Cassim seine Sachen packt, der mich zerstört.
Er fährt zu mir herum. «Überstürzt? Mir bleibt keine Zeit für ausgeklügelte Pläne, Yessa! Ich muss hier weg, solange ich noch kann.»
Der Gedanke will nicht in meinen Kopf. Ich dachte, Harlows Entscheidung würde auch bedeuten, dass Cassim bleiben kann. «Walsh erinnert sich an nichts», versuche ich es erneut.
Er schnaubt verbittert. «Und wie lang wird das wohl so bleiben? Wie lang, bis ihm doch wieder einfällt, was passiert ist? Wie lang, bis sie andere Beweise für meine Schuld finden?»
Meine Kehle wird eng. «Was, wenn das nie passiert?»
Kopfschüttelnd richtet er sich auf, den Riemen des Beutels fest umklammert. Sein Blick findet meinen, und die Verzweiflung in seinen Augen frisst mich förmlich auf. «Dieses Risiko kann ich nicht eingehen.»
Scheiße … Ich weiß, dass er recht hat. Aber alles in mir sträubt sich dagegen, ihn gehen zu lassen. Ich habe keine Ahnung, wo unser Beinahe-Fluchtversuch vorhin geendet hätte, denn mit ihm zu fliehen stand eigentlich nie zur Option. Nur … ihn ziehen zu lassen ebenso wenig. Ersteres verbietet mir mein Verstand. Letzteres mein Herz.
«Du kannst nicht einfach deine Sachen packen und abhauen», erinnere ich ihn. «Sobald sie merken, dass du fliehen willst, werden sie dich töten. Dann haben sie ihre Beweise – von dir auf dem Silbertablett präsentiert. Du würdest außerhalb des Camps keine hundert Meter weit kommen, ohne …»
Cassim schleudert den Beutel von sich und fährt sich mit beiden Händen über die kurz geschorenen Haare. «Denkst du, das weiß ich nicht? Ich habe aber keine beschissene Wahl! Ich kann nicht hier rumsitzen und darauf warten, dass man mich verurteilt! Oder darauf, dass er doch seinen Willen durchsetzt und ich wieder an ihn gebunden werde. Wenn ich ihn auch nur sehe, will ich ihm die Kehle rausreißen, verstehst du das? Ich kann das nicht noch mal. Ich kann ihn nicht gewinnen lassen. Ich kann nicht alles einfach so aufgeben. Ich kann nicht …»
Seine Stimme bricht. Und irgendetwas in mir tut es auch. Ich will ihm helfen. Verdammt, ich war vorhin bereit, ihn um jeden Preis aus diesem Camp zu kriegen. Aber da wäre er nicht weit gekommen. Flieht er in Menschengestalt, hat er keine Chance. Flieht er als Drache, verliert er ohne mich als Anker zu schnell den Verstand. Und begleite ich ihn, gelte ich als Deserteurin und opfere meine Eltern. Weder das eine noch das andere ist eine Option. Aber was, wenn das hier eine Entweder-oder-Entscheidung ist? Wenn ich mich für einen Tod entscheiden muss …?
Nein – es muss doch einen anderen Weg geben.
Ich trete vor Cassim, nehme sein Gesicht zwischen meine Hände und zwinge ihn, den Kopf zu heben und mich anzusehen. Stelle mich der Angst in seinen braunen Augen und wünsche mir die Glut zurück, die dort vor Kurzem noch gelodert hat.
«Ich gebe dich nicht auf», flüstere ich. «Wir finden eine Lösung.» Ich weiß zwar nicht wie, aber wir schaffen das. Wir müssen es schaffen. «Vorerst bist du hier sicher.»
Cassim umfasst meine Handgelenke und schüttelt schwach den Kopf. «Solange Walsh lebt, werde ich hier niemals sicher sein.»
Solange Walsh lebt.
Er ist die unberechenbare Variable, die alles zu zerstören droht. Denn er könnte sich jederzeit an Cassims Mordversuch erinnern. Und selbst wenn er das niemals tut, ist es nur eine Frage der Zeit, bis er einen Weg findet, um sich an Cassim zu rächen.
Wenn wir bleiben wollen … muss er gehen.
Ich blinzle, und plötzlich ist Cassim fort. Stattdessen liegt der Captain vor mir auf dem Zeltboden. Er hat eine Hand an seiner Kehle und blinzelt zu mir hoch. Hass schlägt mir aus seinen blauen Augen entgegen, doch er scheint Mühe zu haben, sie offen zu halten.
«Du …», röchelt er. Vergeblich versucht er, sich aufzurichten, bevor er wieder kraftlos auf den Rücken sackt.
Mein Herz rast. Wie gebannt starre ich auf ihn hinunter und beobachte, wie er immer verzweifelter nach Luft ringt. Meine Finger schließen sich um ein Fläschchen in meiner Jackentasche. Ich umklammere es, während Walshs Blick sich trübt. Er fixiert weiter mich, doch er sieht mich längst nicht mehr. Das Rasseln seines Atems wird immer langsamer und stockt dann endgültig.
Beinahe glaube ich, mein Herz würde es ihm gleichtun. Ein Schrei steckt in meiner Kehle fest, aber ich kann mich nicht rühren. Das warme Glas des Fläschchens drückt sich in meine Handfläche, als wollte es mir etwas sagen, und Schuld macht meine Füße bleischwer.
Jemand packt mich am Arm. Ich zucke zusammen und stolpere rückwärts. Als ich wieder blinzle, ist Walshs lebloser Körper verschwunden. Ich schaue in das Gesicht von Cassim, der mich besorgt mustert.
«Alles in Ordnung?»
Ich atme zittrig aus. Noch eine dieser Visionen.
Ein wenig bereue ich es, mir nicht angehört zu haben, was genau sie bedeuten. Gleichzeitig tut es nichts zur Sache, denn Cassim weiß Bescheid. Wären sie etwas Schlechtes, hätte er es mir gesagt. Und ob das eben nun wirklich die Zukunft war oder nicht … In jedem Fall ist es eine Lösung.
«Ich bringe zu Ende, was du angefangen hast», beschließe ich.
Vielleicht ist es irrsinnig.
Naiv.
Gefährlich.
Aber ich habe ihm etwas versprochen. Und jetzt ist es an der Zeit, dieses Versprechen zu halten.
«Ich werde Walsh töten.»
Ich starre Yessa an, unfähig, ihre Worte zu verarbeiten. Es ist unmöglich, dass sie das wirklich gesagt hat. Nicht sie. Nicht diese prinzipientreue Frau, die in den letzten Wochen immerzu versucht hat, jedes noch so kleine Leid zu verhindern.
Ich habe schon den Gedanken nicht ertragen, dass sie ihr Leben riskieren wollte, um mir bei der Flucht zu helfen.
Aber das hier? Das bringt mich um.
Sie gibt alles für mich auf. Ihre Sicherheit. Ihre Ziele. Und jetzt auch ihre Moral. Sie wirft alles hin für einen selbstsüchtigen Mörder wie mich. Und ich lasse sie abermals gewähren.
Ich bin nicht entsetzt über ihr Vorhaben.
Ich sage ihr nicht, wie irrsinnig es ist.
Stattdessen küsse ich sie schon wieder. Mit der Verzweiflung eines Todgeweihten und dem ungezügelten Verlangen von jemandem, der seine Vorherbestimmte gefunden hat und weiß, dass er sie niemals haben kann.
Mein Mund erobert Yessas. Ich ziehe sie an mich, schiebe eine Hand in ihren Nacken und genieße ihr überraschtes Keuchen. Sie stützt sich an meiner nackten Brust ab, ihre Finger kalt auf meiner erhitzten Haut, doch im Gegensatz zu vorhin schiebt sie mich nicht von sich. Im Gegenteil. Sie erwidert den Kuss ebenso drängend, schmiegt sich enger an mich.
Ich weiß nicht, wann ich zuletzt etwas derart Dummes gemacht habe. Mein Leben hängt am seidenen Faden, wir haben nicht mehr als einen spontanen Einfall ohne jeglichen Plan, und alles, was ich will, ist, sie zu spüren. Jetzt, sofort. Bevor die Realität über mich hereinbricht.
Meine Lippen lassen von Yessas ab, wandern ihr Kinn entlang bis zu ihrem Hals. Sie atmet scharf ein, und nun scheint sie doch wieder zur Besinnung zu kommen, denn sie entzieht sich mir.
«Cassim …» Sie klingt erstickt.
Widerwillig hebe ich den Kopf und mustere ihre geröteten Wangen. In ihrem Gesichtsausdruck finden sich Verwirrung, Entschlossenheit und Erregung. Alles davon sorgt dafür, dass ich meinen Arm umso fester um ihre Taille schlinge.
«Spiel jetzt nicht die Vernünftige», hauche ich und lehne meine Stirn an ihre. «Wenn ich vernünftig wäre, wäre ich längst weg. Verdammt, wenn ich vernünftig wäre, dann wäre ich niemals mit dir zurückgekommen. Und wenn du vernünftig wärst, würdest du mich einfach meinem Schicksal überlassen, statt dein Leben für mich zu riskieren. Wenn du das hier mit mir durchstehen willst, darfst du keine Angst vor den Konsequenzen haben. Denn früher oder später werden sie kommen.»
Yessa schluckt. «Ich habe keine Angst vor den Konsequenzen. Ich habe Angst davor, dich zu verlieren.»
Geradezu ehrfürchtig umfasse ich ihr Kinn. «Und ich habe Angst davor, dich niemals wirklich zu haben.»
Die Worte hallen unerwartet schmerzhaft in mir nach. Weil ich nicht wusste, wie wahr sie sind, bis ich sie ausgesprochen habe.
Egal, was das zwischen uns werden mag – es wird immer auf Lügen basieren. Es wird nie zwischen ihr und mir entstehen, sondern immer nur zwischen ihr und der Person, die ich vorgebe zu sein. So, wie es in meinem Leben immer war.
Und doch habe ich die Hoffnung, dass sie irgendwann den wahren Cassim sehen und ihn lieben könnte. Dass sie mir all meine Fehler verzeiht, so wie sie mir den Mordversuch an Walsh vergeben hat. Dass sie in jeder meiner Lügen die Not sieht, die mich zu ihnen getrieben hat.
«Ich kann nicht untätig hier sitzen, völlig abstrakte Pläne schmieden und darauf warten, dass mich jemand für meine Hinrichtung abholt», fahre ich atemlos fort. «Ich habe fünfundzwanzig Jahre lang alles getan, um zu überleben. Wenn du willst, dass ich bei dir bleibe, dann gib mir etwas, wofür es sich zu sterben lohnt.»
Yessa schnaubt leise. «Für Sex lohnt es sich also zu sterben?»
Ich senke den Kopf. «Nein», raune ich an ihren Lippen. «Aber für dich.»
So irrational das auch klingen mag – vielleicht ist es sogar die Wahrheit.
Yessas Blick wird weich. Sie legt ihre Hände an meine Wangen und zieht mich zu sich herunter, um mich zu küssen. Sanfter diesmal. Und obwohl ich mich nach mehr sehne, klärt der Kuss meinen Kopf ein wenig. Sie lehnt sich zurück und streicht mir über die Schläfen. «Keiner von uns wird sterben», flüstert sie bestimmt. «Also gibt es auch keinen Grund, unser Leben noch mehr in Gefahr zu bringen.»
Seufzend lehne ich meine Stirn gegen Yessas und schließe die Augen. Leider habe ich meine Zweifel am ersten Teil ihrer Aussage. Aber der zweite bleibt dennoch wahr. Leider. Denn das beklemmende Gefühl in meiner Brust ist kaum zu ertragen, und ich hätte nur zu gern wenigstens ein paar Minuten lang meinen Kopf ausgeschaltet.
«Na schön», murmle ich.
Zu meinem Leidwesen lehnt sie sich zurück und bringt Abstand zwischen uns. «Also», setzt sie an. «Ich denke, die beste Möglichkeit, um Walsh loszuwerden, wäre Gift.»
Ich stocke. Sie meint das wirklich ernst. Eigentlich habe ich nie daran gezweifelt, dass sie das tut, aber es geht dennoch nicht in meinen Kopf. «Du wirst Walsh nicht töten, Yessa.»
Irritiert runzelt sie die Stirn. «Wieso nicht?»
«Weil ich nicht will, dass du das für mich tust.»
Die Funken in Yessas Augen flackern gefährlich. «Das ist mir herzlich egal. Was ist denn die Alternative? Dass du bei einem Fluchtversuch stirbst? Es ist der einzige Weg, um dein Leben zu retten.»
Meine Brust wird immer enger. «Das ist es mir nicht wert.»
«Was genau?» Sie klingt wütend, doch ich bleibe ruhig.
«Deine Sicherheit», erkläre ich schlicht und ernte ein weiteres Schnauben.
«Ich bezweifle, dass ich sicher bin, solange dieser Mann mein Captain ist.»
Ich beiße mir auf die Lippe. «Deine Unschuld.»
Yessa entkommt ein Grunzen. «Was?»
«Ich werde dich nicht zu einer Mörderin machen.»
Verständnislos starrt sie mich an. Ich erkenne Schmerz in ihrem Blick, aber auch er bringt sie nicht von ihrem Plan ab. «Cassim … Ich habe unzählige Leute getötet. Ich bin längst eine Mörderin.»
«Du hast Feinde getötet», korrigiere ich sie scharf. «Im Kampf. Aber das hier ist dein Captain.»
«Er ist mehr mein Feind als irgendjemand sonst!», fährt sie mich an. «Vermutlich hat jeder von den Reitern und Drachen, die meinetwegen ihr Leben gelassen haben, mehr meiner Werte geteilt als Walsh!»
«Es ist trotzdem etwas anderes», beharre ich und verziehe bei der Vorstellung von Yessas Opfern das Gesicht. «Es fühlt sich nicht genauso an, glaub mir. Je weniger Blut du an deinen Händen hast, desto besser.» Ich weiß, wovon ich spreche. Aber das kann ich ihr so natürlich nicht sagen.
Yessa greift nach meiner Hand und drückt meine Finger. «Das hast du nicht für mich zu entscheiden», stellt sie klar. «Es ist ein Preis, den ich zu zahlen bereit bin. Wenn es sein muss, bade ich für dich in Blut. Ich würde alles tun, solange es bedeutet, dass du vor diesem Mann sicher bist. Du verdienst es, beschützt zu werden.»
Meine Kehle ist so eng, dass ich das Gefühl habe, keine Luft mehr zu bekommen. Sie weiß nicht, was sie da redet. «Ich bin nicht der Mann, für den du mich gehalten hast, Yessa.»
«Und ich bin offensichtlich nicht die Frau, für die du mich hältst, wenn du ernsthaft denkst, ich würde dich in dieser Situation alleinlassen! Abgesehen davon kannst du mich sowieso nicht mehr abhalten. Ich habe schon gesehen, dass er stirbt.»
Mein gesamter Körper verkrampft sich. «Du hattest eine Vision?»
Meine Reaktion scheint sie zu verunsichern, denn sie nickt nur zögerlich.
«Ist das schlecht?» Besorgnis schwingt in ihrer Stimme mit. «Du meintest gestern, Ilia hätte dir nichts Schlimmes erzählt.»
Ich bleibe ihr eine Antwort schuldig. «Was genau hast du gesehen?»
«Ich habe ihn vergiftet. Er ist vor meinen Augen erstickt.»
Meine Gedanken überschlagen sich. Ich versuche, mir alles, was Ilia mir gestern erklärt hat, wieder in Erinnerung zu rufen, um herauszufinden, was genau Yessas Vision bedeuten könnte. Aber es gelingt mir nicht, und wenn ich noch länger darüber grüble, wird sie merken, dass etwas nicht stimmt.
«Es wäre einfacher, wenn ich aus dem Camp verschwinde», sage ich kurzerhand.
«Du würdest sterben.»
«Aber du wärst sicher.»
Yessa stellt sich auf die Zehenspitzen und küsst mich, die Geste so sanft, dass ich glaube, mein Herz müsste zerspringen. «Ich habe dich nicht um Sicherheit gebeten», flüstert sie. «Und du bist sie mir nicht schuldig, weil du deine oft genug für mich riskiert hast. Bitte lass mich dir helfen. Wir schaffen Walsh aus dem Weg, und dann können wir in Ruhe überlegen, wie es weitergeht.»
Sie wird sich nicht umstimmen lassen. Ich versuche es trotzdem noch einmal. «Und was, wenn er sich in der Zwischenzeit an alles erinnert?»
Yessa erschaudert. «Daran will ich gar nicht denken. Aber dieses Risiko ist immer noch besser als dein sicherer Tod, wenn du versuchst, allein zu fliehen. Wir müssen uns einfach beeilen.»
Ich gebe mich geschlagen. «Gift also», brumme ich. «Das ist unberechenbar. Du musst ihn dazu bringen, es einzunehmen. Und auch noch die richtige Dosis, sonst überlebt er es und ist danach umso aufmerksamer. Dann wäre noch die Frage, wie du Harlow davon abhältst, danach uns zu verdächtigen.»
«Walsh ist ohnehin noch geschwächt von seinen Verletzungen und den Wochen in den Bergen», wendet sie ein. «Wir bräuchten nur etwas, das es so aussehen lässt, als wäre er doch daran gestorben. Solange wir alle Beweise vernichten und darauf achten, dass mich niemand sieht, kann auch niemand nachweisen, dass ich es war.»
Das sind ganz schön viele Dinge, die sich fügen müssen. Trotzdem ziehe ich sie wieder enger an mich. «Wenn du das machst, dann nicht allein.»
Sie reckt das Kinn. «Du darfst gerne beraten. Das war’s.»
«Yessa …»
«Du wärst der Hauptverdächtige. Ich will nicht, dass dich irgendjemand damit in Verbindung bringen kann.»
«Du bist so ein Sturkopf.»
«Hast du zufällig Expertise in Giften? Ansonsten muss ich mal schauen, was ich so besorgen kann.»
Ich spüre, wie sich meine Gesichtszüge immer weiter verhärten. Wenn sie wüsste … «Wie willst du überhaupt an Gift rankommen?»
«Das verrate ich dir erst, wenn du mir versprichst, dass du mich die Drecksarbeit machen lässt. Ich habe keine Lust darauf, dass du mich hier irgendwo festzurrst, um selbst loszuziehen.»
Ich verdrehe die Augen. Zu solchen Methoden würde ich bei ihr mittlerweile nicht mehr greifen. «Was ist dir ein Versprechen von einem Mörder wert?», frage ich verbittert.
«Du bist kein Mörder. Und ich vertraue deinem Wort. Also?»
«Das hier ist so viel dümmer als Sex», murmle ich und lege gleichzeitig eine Hand an Yessas Wange. Vorsichtig hebe ich ihr Kinn, sodass meine Lippen ihre streifen. «Ich werde für immer in deiner Schuld stehen.»
«Ich glaube, du bist gut darin, dich zu revanchieren», haucht sie zurück.
Mir entkommt ein leises Seufzen. «Ich verspreche, mich aus deinem Vorhaben rauszuhalten, wenn du mich noch mal küsst», schwindle ich.
«Jetzt stellst du auch noch Bedingungen?», fragt sie belustigt.
Meine Hand wandert in ihren Nacken. «Das ist mein letztes Angebot.»
«Dreist.» Ich spüre ihr Lächeln auf meinen Lippen. Und diesmal widerspricht sie nicht.
Yessa und ich haben bis nach dem Abendessen gewartet, damit sie im Schutz der Nacht das Gift besorgen kann. Und während sie am anderen Ende des Camps ihr Leben für mich riskiert, stelle ich einer anderen Frau nach. Wenn das nicht der endgültige Beweis dafür ist, dass sie etwas Besseres verdient hat, weiß ich auch nicht.
Ich bin ein guter Lügner.
Wenigstens was das angeht, waren die Götter mir gnädig. Yessa scheint nicht mal in Erwägung zu ziehen, dass ich noch Vorbehalte habe. Und ich schätze, ich kann ihr nicht verübeln, dass sie so denkt. Sie kennt mich kaum. Hat bisher nur meine schlechten Seiten gesehen. Sie kann nicht wissen, dass ich sie niemals so gefährden würde, ohne vorher sämtliche anderen Optionen ausgelotet zu haben.
Zugegeben …
Es war nicht immer so.
Noch vor kurzer Zeit ist Yessa für mich nicht mehr als eine Reiterin gewesen, die ich bereitwillig geopfert hätte. Ich habe sie für meine Feindin gehalten. Für jemanden, der niemals meine Ansichten teilen könnte.
Aber ich habe so verdammt falschgelegen. Und jetzt, wo ich weiß, was für eine Person sie ist, kann ich unmöglich mein Wohl über ihres stellen. Ich bin gestern Nacht bereits daran gescheitert, als ich mich entschieden habe, sie trotz allem hierher zurückzubringen, und ich werde es auch jede weitere tun. Denn auch wenn sie es nicht weiß – Yessa hat bereits viel zu viel für meine Freiheit bezahlt.
Meine Hoffnungen, sie aus der Sache rauszuhalten, sind allerdings bedenklich geschwunden. Denn wenn Yessa eine Vision davon hatte, wie sie Walsh tötet, ist die Angelegenheit ernst. Ich habe die letzte Stunde damit verbracht, mir den Kopf darüber zu zerbrechen. Immer wieder muss ich daran zurückdenken, wie ich mit Ilia gestern Nacht am Lagerfeuer saß. Ich sehe die ältere Frau wieder vor mir, spüre den kalten Wind im Haar und die Wärme des knisternden Feuers auf meinem Gesicht. Ihre Stimme klingt mir in den Ohren, als hätte sich jedes ihrer Worte auf ewig in mein Gedächtnis gebrannt.
«Diese Visionen sind etwas sehr Mächtiges. Sie sind direkte Botschaften der Götter. Yessa wurde von ihnen auserwählt, um dich zu beschützen. Und das kann sie nur, wenn sie an deiner Seite ist. Vermutlich zeigen sie ihr deshalb Momente der Intimität. Sie versuchen, euch beide so eng zusammenzubringen, dass euch nichts mehr trennen kann.»
Fast hätte ich aufgelacht. Ich müsste Yessa nur die Wahrheit sagen, und sie würde mich nie wieder ansehen. Die Götter denken ja wohl nicht ernsthaft, ein bisschen Intimität könnte daran etwas ändern? Das ist doch kompletter Unsinn. Aberglaube.
Trotzdem liegt mir nun ein schwerer Stein im Magen.
«Dann ist alles, was Yessa womöglich für mich empfindet, gar nicht echt?»
Ilia lächelt mich über das Feuer hinweg an, als könnte sie mir all meine Gedanken vom Gesicht ablesen. «Wieso sollte es nicht echt sein?»
«Wenn es doch angeblich Schicksal war? Hatte sie überhaupt eine andere Wahl?»
«So simpel ist es nicht. Ja, eure Verbindung war vorherbestimmt. Aber nur ihr legt fest, wie sie letztendlich aussieht. Sie hätte auch rein freundschaftlich sein können – hättet ihr rein freundschaftlich füreinander empfunden. Die Götter zeigen Yessa nicht, was sie tun soll, sondern wo ihre eigenen Entscheidungen sie hinführen. Sie helfen ihr zu erkennen, ob sie auf dem richtigen Weg ist.»
Nachdenklich beobachte ich die Flammen. Sehe den tanzenden Funken zu, die sich immer wieder aus der Glut lösen, und frage mich, was diese Götter sich dabei gedacht haben, mich ausgerechnet an die Frau zu binden, der ich das größte Leid angetan habe. «Und was, wenn sie diesen Weg nicht will?», frage ich leise. Wenn sie mich nicht will …
«Dann muss sie ihn auch nicht gehen. Ebenso, wie sie nichts für dich empfinden muss. Sie hat immer noch einen freien Willen. Hätte sie diese Visionen mit dir gesehen und sie als abstoßend empfunden, hätte sie sicher anders gehandelt. Und damit wären die Visionen auch nie wahr geworden. Wenn es um die Zukunft geht, ist nichts in Stein gemeißelt. Selbst die Götter können unsere Entscheidungen nur bedingt beeinflussen. Ansonsten würde die Königsfamilie noch leben, und dieses Land wäre noch eins.»