When The King Falls - Marie Niehoff - E-Book
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When The King Falls E-Book

Marie Niehoff

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Beschreibung

Der Auftakt der zweibändigen Vampire-Royals-Reihe. Für alle Fans von Tracy Wolff und Scarlett St. Clair. Ich bin seine Auserwählte. Ich bin sein Schicksal. Ich bin sein Tod … London, Gegenwart. Seit Jahrhunderten herrschen die Vampire mit harter Hand über die Menschheit. Doch im Untergrund hat sich eine Rebellion gebildet. Eine Gruppe von Menschen, die nicht länger bereit ist, diese Unterdrückung hinzunehmen. Auch Florence ist Teil des Widerstands und wurde von Geburt an auf ihre bevorstehende Aufgabe vorbereitet. Mit ihr hat die Rebellion erstmals die Chance, eine Attentäterin ins Crimson Heart, das Schloss des Vampirkönigs, einzuschleusen. An jeder Wintersonnenwende wählt der König eine neue Blutbraut aus, von der er sich nähren wird. Und dieses Jahr gehört Florence zu den Kandidatinnen. Sie soll ihn dazu bringen, sich für sie zu entscheiden, sie zu begehren, ihr zu vertrauen. Und sie wird all das gegen ihn benutzen, um ihn zu töten. Es sei denn, ihr eigenes Herz verrät sie …

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Seitenzahl: 470

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Marie Niehoff

When The King Falls

Roman

 

 

 

Über dieses Buch

Ich bin seine Auserwählte.

Ich bin sein Schicksal.

Ich bin sein Tod …

 

London, Gegenwart. Seit Jahrhunderten herrschen die Vampire mit harter Hand über die Menschheit. Doch im Untergrund hat sich eine Rebellion gebildet, der sich nun die einmalige Chance bietet, eine Attentäterin ins Crimson Heart, das Schloss des Vampirkönigs, einzuschleusen. An jeder Wintersonnenwende wählt der König eine neue Blutbraut aus, von der er sich nähren wird. Dieses Jahr gehört Florence, eine junge Rebellin, zu den Kandidatinnen. Sie soll ihn dazu bringen, sich für sie zu entscheiden, sie zu begehren, ihr zu vertrauen. Und sie wird all das gegen ihn benutzen, um ihn zu töten. Es sei denn, ihr eigenes Herz verrät sie …

 

Dunkel, verführerisch, episch.

Der Auftakt der zweibändigen Vampire-Royals-Reihe.

Vita

Marie Niehoff, geboren 1996, hegt schon seit ihrer Kindheit eine Faszination für fantastische Geschichten. Diesen darf vor allem eines nicht fehlen: Romantik. Wenn sie nicht gerade schreibt, malt sie, kreiert Moodboards, kümmert sich um ihre unzähligen Zimmerpflanzen oder legt Tarotkarten. Unter anderem Namen hat sie bereits Bücher im New-Adult-Genre veröffentlicht, mit «When The King Falls» und «The Queen Will Rise», der Vampire-Royals-Dilogie, legt sie ihr Fantasy-Debüt vor. Auf Instagram und TikTok ist sie unter @marienie.schreibt zu finden.

Impressum

Veröffentlicht im Rowohlt Verlag, Hamburg, November 2023

Copyright © 2023 by Rowohlt Verlag GmbH, Hamburg

Covergestaltung ZERO Werbeagentur, München

Coverabbildung Shutterstock

ISBN 978-3-644-01640-8

 

Schrift Droid Serif Copyright © 2007 by Google Corporation

Schrift Open Sans Copyright © by Steve Matteson, Ascender Corp

 

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www.rowohlt.de

Für Sarah

Für alles und für immer.

Hell is empty and all the devils are here.

 

- William Shakespeare, The Tempest

Playlist

AURORA – Blood In The Wine

Two Feet – Play The Part

Georgi Kay – Scary People

PVRIS, 070 Shake – Use Me

Lucy Daydream – Monsters

Ramsey – See You Bleed

Madalen Duke – How Villains Are Made

Transviolet – Destroy Destroy Destroy

Two Feet – Tell Me The Truth

Woodkid – Drawn To You

Hayley Williams – Good Grief

The Crystal Method, Koda, VAAAL – Watch Me Now

Transviolet – Run Towards The Monster

BANKS – Drowning

Llynks – Fantasies

Elias – Green Eyes

Woodkid – Goliath

Billie Eilish – No Time To Die

Karliene – Become the Beast

Two Feet – You?

Kapitel eins

Blood In The Wine

«Sie sieht glücklich aus», flüstere ich über das Raunen der Menge hinweg und ernte einen missbilligenden Blick von Valerian.

«Natürlich tut sie das», murmelt er und senkt seine Stimme noch weiter, damit ihn ja niemand hört. «Ansonsten würde er sie vermutlich umbringen lassen.»

Mein Bruder verzieht bei dieser Aussage nicht mal einen Mundwinkel. Regungslos steht er neben mir, in einem piekfeinen schwarzen Anzug, der seine Haut noch blasser wirken lässt als sonst. Er hat die Hände hinter dem Rücken verschränkt und beobachtet das Geschehen auf der marmornen Treppe an der Stirnseite des Saals. Die Blutbraut des Königs steht dort, unschwer zu erkennen an den tropfenförmigen Ohrringen aus Rubin, die sie trägt. Ihre rabenschwarzen Haare sind zu einer aufwendigen Hochsteckfrisur aufgetürmt. Im Licht der Scheinwerfer wirkt ihre braune Haut fast golden, und ihr dunkelroter Sari scheint nahtlos in den Teppich überzugehen, der die Treppenstufen hinunter bis in die Zuschauermenge fließt. Sie sieht wunderschön aus. Und trotz allem, was sie im letzten Jahr vermutlich durchmachen musste, hält sie das Kinn erhoben.

«Aber ihr geht es gut», versuche ich es noch einmal anders. Ich wollte keinen Pessimismus von ihm, sondern Zuspruch.

Als Val mich diesmal ansieht, ist aus der Missbilligung Mitleid geworden. Er legt mir kurz eine Hand zwischen die Schulterblätter, als wolle er mich mit dem leichten Druck beruhigen, und lächelt kaum merklich. «Ja. Sie ist bei bester Gesundheit.»

Ich weiß, was er denkt. Dass es zwar so aussehen mag, als wäre diese junge Frau unversehrt, aber sie vermutlich Wunden trägt, die tiefer gehen, als Bissspuren oder Narben es je könnten. Wenngleich ich mir einzureden versuche, dass es ihr gut geht, bin ich nicht so naiv, das wirklich zu glauben. Ein ganzes Jahr hat sie im Schloss des Königs verbracht. Zwölf Monate lang hat er von ihr getrunken. Und was er sonst noch von ihr verlangt hat, will ich mir nicht mal vorstellen.

Dennoch ist es mein Ziel, selbst dort oben zu stehen.

Manchmal frage ich mich, ob ich noch ganz bei Sinnen bin. Nur ein Narr würde sich sehenden Auges dieses Schicksal aussuchen. Die anderen Bewerberinnen sind vielleicht von der Aussicht auf ein besseres Leben so geblendet, dass sie die Wahrheit nicht erkennen, aber ich nicht.

Leider ist es zu spät für Zweifel. Nervös streiche ich mein cremeweißes Kleid glatt und taste nach Valerians Arm, um mich an ihm festzuklammern.

Seufzend lässt er es zu. «Ich dachte, darüber hätten wir gesprochen, Flo», raunt er mir zu.

«Ich werde ja wohl noch meinen Bruder berühren dürfen», beschwere ich mich leise.

«Wie eine Klette an mir zu hängen, macht keinen guten ersten Eindruck. Mum hat dir hundertmal gesagt, dass das kindisch wirkt. Du lieferst ihm schon jetzt Gründe, dich auszusortieren.»

Widerwillig lasse ich ihn los und verschränke stattdessen die Finger vor meinem Bauch. Unsere Mutter hat mir diese Haltung eingeprägt. Laut ihr steht sie für Fruchtbarkeit – etwas, worauf König Benedict Wert legen dürfte.

Mir läuft ein Schauer über den Rücken.

Von seinen bisherigen Blutbräuten war noch keine schwanger. Doch das heißt nicht, dass er es nicht versucht hat. Und erst recht nicht, dass er es nicht versuchen wird. Immerhin braucht er einen Thronfolger, und für Vampire sind Kinder eine Seltenheit. Er wird jede Chance auf Nachkommen nutzen, die er kriegen kann.

In dem verzweifelten Versuch, mich abzulenken, lasse ich den Blick über die anderen Anwesenden schweifen. Die Anwärterinnen und ihre Begleitpersonen sind die einzigen menschlichen Gäste auf dieser Feier. Der Rest besteht aus bluthungrigen Monstern. Ich versuche, mir nicht anmerken zu lassen, wie nervös mich diese Tatsache macht. Val ist es gewohnt, täglich dieser Gefahr ausgesetzt zu sein, aber ich bin behüteter aufgewachsen.

Mein Blick gleitet wieder nach vorn, als das Licht gedimmt wird. Nur das Geschehen auf der Treppe bleibt von zwei großen Scheinwerfern beleuchtet. Völlig unvermittelt legt sich Stille über den Saal, und die Härchen auf meinen nackten Armen stellen sich auf. Die Blutbraut versteift sich, und es wirkt fast, als wolle sie sich unsichtbar machen. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob sie noch atmet, so regungslos steht sie da. Wie ein Reh, das sich plötzlich einem Wolf gegenübersieht.

Das kann nur eines bedeuten.

Leise, langsame Schritte erklingen, doch es ist unmöglich auszumachen, woher genau sie kommen. Neugierig recke ich den Hals und lasse den Blick über die Balustraden links und rechts von uns schweifen, in der Hoffnung, den König dort in der Dunkelheit zu entdecken. Ich will wissen, wer der Mann ist, in dessen Hände ich mein Leben lege. Ich will sein Gesicht sehen und mir endlich vorstellen können, wie er aussieht, wenn er stirbt.

Die Schritte kommen näher, doch noch immer entdecke ich ihn nicht. Um uns herum beginnt das Rascheln von Hunderten Kleidern, als etwas die Menge in Bewegung bringt. Sehen sie ihn schon?

Aus dem Augenwinkel bemerke ich, wie die Leute neben mir zurücktreten. Verwirrt blicke ich mich um. Sie schauen gar nicht nach vorn zur Treppe, sondern nach hinten. Und genau in dem Moment, in dem ich mich ebenfalls umdrehe, fasst Valerian mich am Arm und zieht mich zu sich.

Jemand streift meine Schulter. Ein schwerer, einnehmender Duft umfängt mich, ein Blick aus grünen Augen trifft meinen. Der Mann, der mich soeben fast angerempelt hätte, mustert mich im Vorbeigehen. Es ist nur ein flüchtiger Moment, und dennoch registriere ich seine helle Haut und die dunklen Locken, die ihm leicht in die Stirn fallen. Seine vollen Lippen. Den gepflegten Dreitagebart.

Er ist unglaublich schön. Ich finde keine anderen Worte dafür. Aber bevor ich Gelegenheit habe, sein Gesicht länger zu betrachten, ist er auch schon an mir vorbei, und mir bleibt nur der Anblick seines breiten Rückens in einem schwarzen Anzug.

Mein Magen macht einen nervösen Hüpfer und sackt dann schlagartig ab. Wieder raschelt es um mich herum, und nun erst verstehe ich, warum Bewegung in die Menge gekommen ist. Sie haben eine Schneise gebildet, die vom Eingang des Saals bis zu den Treppenstufen führt. Eine Schneise für ihn.

König Benedict I.

Und ich stand ihm als Einzige im Weg.

Die Lücke schließt sich wieder, und Valerian lehnt sich näher zu mir. «Reiß dich zusammen», raunt er mir ins Ohr.

Ich schlucke schwer. «Warum trägt er denn keine Krone?», ist alles, was ich herausbringe.

Val schnaubt. «Sieht er aus, als würde er eine brauchen?»

Mir fällt keine Erwiderung ein. Stattdessen beobachte ich den König dabei, wie er mit gleichbleibend langsamen Schritten die Stufen bis zu seiner Blutbraut erklimmt und ihr seine Hand anbietet.

Er umschließt ihre zitternden Finger, küsst ihren Handrücken, und seine Mundwinkel heben sich zu einem kalten, grausamen Lächeln.

Obwohl ich nun weiß, was er ist, finde ich ihn noch immer attraktiv. Er sieht gut zehn Jahre jünger aus, als er ist, höchstens wie Ende zwanzig. Und vermutlich wird sich daran so bald auch nichts ändern. Fast glaube ich, seinen Duft wieder wahrzunehmen, und erschaudere. Je länger ich diesen Mann betrachte, desto mehr empfinde ich eine seltsame Mischung aus Faszination, Anziehung und Furcht. Doch keines dieser Gefühle darf ich zulassen.

Der König zieht die junge Frau vor sich, und sie legt bereitwillig den Kopf in den Nacken. Ich halte den Atem an, weiß nicht, wo ich hinsehen soll. Der Anblick ist grotesk, aber das Gesicht abzuwenden, wäre ein Fauxpas. Und davon habe ich mir bereits einen zu viel geleistet.

Die Blutbraut ballt die Hände zu Fäusten, und er legt seine kräftigen Finger an ihre Arme, hält sie fest. Sein Griff wirkt nicht grob, doch ich wette, er ist eisern. Vampire sind uns Menschen körperlich ohnehin überlegen. Und je länger die Nächte, desto stärker werden sie.

Kein Mucks ist mehr zu hören. Kein Rascheln von Stoff, kein Tuscheln. Nur mein lauter Herzschlag, als er den Kopf senkt und seine Nasenspitze ihren Hals streift.

Gänsehaut überzieht meinen gesamten Körper. Für den Bruchteil einer Sekunde sehe ich die Fangzähne des Königs aufblitzen, bevor sie sich in ihr Fleisch graben. Die Blutbraut gibt einen kaum hörbaren schmerzerfüllten Laut von sich.

Mir wird schlecht.

Der König schließt die Augen, während er von ihr trinkt. Es wirkt sinnlich, und dennoch ist es das Scheußlichste, was ich je gesehen habe.

Eine halbe Ewigkeit beobachten wir regungslos, wie er sich an ihrem Blut bedient und sie dabei immer mehr in sich zusammenzufallen scheint. Als er sich endlich von ihr löst und sich wieder zu seiner vollen Größe aufrichtet, schnappe ich zittrig nach Luft.

Noch immer blickt er nicht in die Menge. Er schaut auf seine Braut herab und mustert sie nachdenklich, als müsste er erst überlegen, ob er zufrieden mit ihr ist. Schließlich nickt er kaum merklich, und sie entledigt sich mit fahrigen Bewegungen der Rubinohrringe. Vor unser aller Augen lässt sie diese in seine ausgestreckte Hand fallen.

Der König deutet mit dem Kinn in Richtung der Treppe. «Du bist entlassen.»

Einen Moment lang füllt nichts als seine tiefe Stimme den Raum. Dann bricht tosender Beifall los.

Die ehemalige Blutbraut tritt von ihm zurück, verbeugt sich und geht hastig die Stufen hinunter. Das Licht wird wieder angeschaltet, und bevor ich noch einen Blick auf den König erhaschen kann, schiebt Valerian sich mit grimmigem Gesichtsausdruck in mein Sichtfeld.

«Bereit?», will er leise wissen, und ich bringe nur mit Mühe ein Nicken zustande. Seine Miene ist so finster wie noch nie. Ich schätze, ihm geht es genauso wie mir. Zu sehen, was er mit ihr tut – was er mit mir tun wird –, hat es realer gemacht.

Mein Blick bleibt unweigerlich an Vals Hals hängen. An der Narbe, die sich rot und weiß von seinem Ohr nach unten zieht und in seinem Hemdkragen verschwindet. Ein verworrenes Muster grausamer Blutgier. Sie erinnert mich daran, wofür ich kämpfe, und zugleich scheint sie mir sagen zu wollen, dass ich gerade den Fehler meines Lebens begehe.

«Denk an alles, was wir dir beigebracht haben. Wir haben nur diese eine Chance, Florence. Es muss funktionieren.»

Ich vergrabe die Finger im Stoff meines Kleides, um ihr Zittern nicht zu offenbaren. «Ich weiß», sage ich mit fester Stimme.

Er mustert mich noch einen Moment länger.

Ob er Angst um mich hat? Ob er es bereut? All die Pläne und Entscheidungen, die uns, die mich hierhergeführt haben?

Ich werde keinen Rückzieher machen. Es ist mein Schicksal, diese Rolle zu spielen. Ich werde die sein, die dieses Königreich zugrunde richtet. Aber wenn Val sich umentscheidet …

«Gut», sagt er plötzlich und dreht mich am Ellbogen herum, sodass wir wieder in Richtung der Treppe blicken. Der König ist mittlerweile umringt von Bewerberinnen in weißen Kleidern. «Verlieren wir keine Zeit. Das Spiel hat begonnen.»

Es scheint unmöglich zu sein, den König abzupassen. Er bewegt sich durch die Menge wie ein Phantom und bleibt selten lang genug an einem Ort, um ihm dorthin zu folgen. Wenn eine der Anwärterinnen ihn doch erwischt, wimmelt er sie schneller ab, als sie ihren Namen sagen können. Und jedes Mal, wenn er wieder eine von ihnen enttäuscht zurücklässt, wird mir ein wenig mulmiger zumute.

Alles an ihm wirkt mühelos. Wie er auftritt, wie er spricht, wie er sich bewegt. Und wo auch immer er sich befindet, scheint sein Umfeld den Atem anzuhalten. Valerian hatte recht. Er braucht keine Krone, um als König dieses Landes erkannt zu werden. Ich hingegen fühle mich, als würde ich an einer skurrilen Schnitzeljagd teilnehmen, die einzig und allein meiner Demütigung dient.

Wieso macht er es uns so schwer, an ihn heranzukommen? Wie will er am Ende des Abends eine neue Blutbraut wählen, wenn er keiner von uns auch nur zehn Sekunden seiner Aufmerksamkeit schenkt?

Vielleicht ist es wirklich ein Spiel. Für ihn. Er gibt sich unerreichbar, und wenn er doch mal länger an einem Ort verweilt, unterhält er sich mit den anderen Vampiren, sodass keine von uns es wagt, ihn zu stören. Es wäre unhöflich. Aber wozu sind wir eigentlich hier, wenn er uns ohnehin nur ignoriert? Es sei denn …

Vielleicht wartet er nur darauf, dass eine von uns sich traut.

Was, wenn er uns herausfordert? Wenn er nur sehen will, welche von uns mutig genug ist, um ihm die Stirn zu bieten?

Bedauerlicherweise ist das reine Spekulation. Und ich kann das Risiko nicht eingehen. Nicht mit dem Image, das wir für mich entworfen haben, und erst recht nicht, wenn alles, worauf wir zwanzig Jahre lang hingearbeitet haben, von dieser Begegnung abhängt.

«Du starrst ihm ein Loch in den Schädel», ertönt Valerians Stimme an meinem Ohr.

Ich schnaufe. «Dann wäre unser Problem gelöst, oder nicht?»

König Benedict steht etwa zehn Meter entfernt in einer Runde mit drei Männern und schwenkt unbeteiligt sein Glas Wein. Oder zumindest dachte ich, es sei Wein. Als ich meinen Blick von seinem Gesicht löse und er auf seine Hände fällt, bemerke ich, dass die tiefrote Flüssigkeit dicke Schlieren am Glas zieht. Ich glaube, mir wird übel.

Mein Bruder hält mir eine Sektflöte hin. Ich nehme sie, wende mich ab und trinke einen tiefen Schluck.

«Ich habe dich noch nicht mit ihm reden sehen.» Der leise Vorwurf in Vals Stimme entgeht mir nicht.

«Versuch du doch, ihn zu erwischen!», zische ich. «Er ist wie ein Schatten.» Ich drehe mich wieder um, und wie zur Bestätigung stehen die drei Männer nun allein dort. «Wo … Verflucht!»

«Bei der Treppe», lässt Val mich ruhig wissen und weist mit dem Kinn in die Richtung. König Benedict durchquert soeben den Raum, und zwei Anwärterinnen hängen ihm förmlich an den Fersen. Er wimmelt sie ebenso schnell ab wie alle vor ihnen.

«Er spricht mit keiner von uns», stelle ich frustriert fest.

«Dann ändere es.»

«Hast du auch hilfreiche Ratschläge?»

Er schenkt mir ein schiefes Lächeln, das ebenso charmant wie unausstehlich ist. «Partys sind dein Metier. Ich bin für die Drecksarbeit zuständig, schon vergessen? Und jetzt entschuldige mich, während ich versuche, die Konkurrenz zu sabotieren.» Valerian schiebt sich an mir vorbei und steuert zielstrebig auf eine der Frauen zu, die anhand ihres weißen Kleides offensichtlich als Anwärterin zu erkennen ist. Der Dresscode kommt uns zugute. Das Weiß fällt in der sonst schwarz gekleideten Menge auf und sorgt dafür, dass Val leicht alle neun anderen Frauen im Blick hat. Jetzt bleibt nur zu hoffen, dass sein hübsches Gesicht reicht, um sie von ihrem eigentlichen Ziel abzulenken. Sein Charakter wird es wohl kaum tun, zumindest nicht, wenn er ihr gegenüber genauso großkotzig ist wie bei mir.

Ändere es.

Als könnte ich mit dem Finger schnippen und den König Englands dazu bringen, mich zu beachten! Doch leider hat Val recht. Das hier ist meine Aufgabe. Und ich sollte ihn nicht von seiner eigenen ablenken, immerhin ist es für den Rest unseres Plans essenziell, dass er heute Abend so viele Informationen sammelt wie möglich. Ich möchte das Schloss nach dieser Mission vorzugsweise lebendig wieder verlassen. Wobei ich mir noch nicht sicher bin, wie realistisch das ist.

Ich erhasche einen Blick auf König Benedict. Er durchquert nur ein paar Meter von mir entfernt den Saal. Offenbar hat er zumindest für den Moment alle Anwärterinnen abgewimmelt, denn die Einzige, die abgesehen von mir in der Nähe zu sein scheint, ist diejenige, die Valerian soeben in ein Gespräch verwickelt hat.

Das ist meine Chance, um ihn auf mich aufmerksam zu machen. Doch ich muss es geschickter anstellen als die Frauen vor mir.

Zielstrebig setze ich mich in Bewegung. Statt direkt auf den König zuzugehen, tue ich so, als würde ich in eine andere Richtung steuern. Unsere Wege kreuzen sich scheinbar zufällig hinter einer kleinen Gruppe von Vampiren. Ich passe perfekt den Moment ab, in dem er diese umrundet, und stolpere ihm direkt in die Arme. Mein Champagnerglas schwappt über. Ein wenig von der prickelnden Flüssigkeit läuft mir über die Finger und tropft auf den Boden.

«Oh!», stoße ich aus und bemühe mich, innerlich ruhig zu bleiben. Der König ist abrupt stehen geblieben. Ich halte den Blick gesenkt und wische eilig am Ärmel seines Anzugs herum, der nicht mal etwas abbekommen hat. «Verzeihung, Sir! Wie ungeschickt von mir, ich …» Erst jetzt schaue ich ihm ins Gesicht. Ich muss meine Überraschung nicht einmal spielen. Zwar wusste ich, wer er ist, doch beim Anblick von ihm so nah vor mir gefriert mir trotzdem das Blut in den Adern.

König Benedict hat den Kopf leicht schiefgelegt und mustert mich aus seinen grünen Augen wie ein Raubtier seine Beute. Ich unterdrücke ein Schaudern. Sein Blick ist so durchdringend, dass ich das Gefühl habe, er könnte jeden meiner Gedanken lesen. Und gleichzeitig ist da wieder diese seltsame Faszination, die ich schon vorhin verspürt habe. Wie kann ein derart grausames Monster wie er nur so anziehend wirken? Sein Duft steigt mir in die Nase, und ich muss schlucken. Ob seine Lippen noch nach ihrem Blut schmecken?

Himmel, was denke ich da?

«Oh», bringe ich hervor. «Eure Majestät, ich …» Hastig mache ich einen Knicks und senke den Kopf. «Ich bin untröstlich und bitte vielmals um Verzeihung. Offenbar bin ich heute nicht ganz bei mir.»

Er schnaubt leise. «Offenbar», bestätigt er trocken und macht Anstalten, sich an mir vorbeizuschieben. Verdammt. So war das nicht geplant!

«Habe ich Euch erwischt?», frage ich und versperre ihm kaum merklich den Weg. «Mit dem Champagner, meine ich.»

Er hält inne. Wir schauen uns in die Augen, und mein Herz hämmert so heftig, dass ich es bis in meinem Hals spüre.

«Wie lautet dein Name?», fragt er. Sein eisiger Tonfall jagt mir Gänsehaut über die nackten Arme.

«Florence Hawthorne, Eure Majestät.» Ich versuche mich an einem vorsichtigen Lächeln.

Der König zuckt nicht einmal mit der Wimper. «Nun, Florence. Es scheint, als müsste ich meine Bediensteten nächstes Jahr dazu anhalten, die Anwärterinnen auf ihren Gleichgewichtssinn zu prüfen. Guten Abend.» Er schiebt mich mit einer Hand beiseite und verschwindet in der Menge. Ich bin so perplex, dass ich ihm nur ungläubig hinterherschauen kann.

Das … das war doch nicht sein Ernst, oder?

Blinzelnd schaue ich mich um. Einige Leute haben sich zu uns umgedreht und das Schauspiel beobachtet. Mir entgeht nicht, wie sie über mich tuscheln.

Großartig. Er hat mich nicht nur beleidigt, sondern auch noch öffentlich blamiert. Ich hätte in Betracht ziehen müssen, dass mein Plan nach hinten losgehen könnte. Aber meine Ungeschicktheit sollte sympathisch wirken und ihn nicht dazu veranlassen, mich derart bloßzustellen!

Wütend schüttle ich den Champagner von meinen Fingern, aber sie fühlen sich klebrig an, also steuere ich auf das Badezimmer zu. Ich stelle einem Kellner das halb volle Glas aufs Tablett und betrete kurz darauf den kleinen Raum.

Die Holztüren der beiden Kabinen sind nur angelehnt, also bin ich glücklicherweise allein. Ich stelle mich vor eines der Waschbecken, wo ich halb von der grellen LED-Beleuchtung des Schminkspiegels geblendet werde, und erlaube mir, einen Moment lang meine Fassade fallen zu lassen. Dieser Abend ist viel zu frustrierend, um es nicht zu tun.

«Arroganter Arsch!», zische ich und pumpe rote Seife in meine Handfläche. Natürlich ist sie rot. Gott, diese Vampire sind so dramatisch. Ich frage mich, wie sehr sie noch auf die Farbe stehen würden, wenn es ihr Blut wäre, das am Buffet serviert wird. «Offenbar», äffe ich den König nach, beiße mir jedoch sofort danach auf die Lippe. Ich muss mich zusammenreißen. Dort draußen darf niemand merken, wie wenig ich von ihm halte. Aber ich bin so sauer! Würde ich dieses Monster nicht umbringen wollen, hätte ich ihm keine Sekunde meiner Zeit gewidmet. Stattdessen muss ich nun um ihn buhlen wie ein vernarrter Teenager. Das ist doch zum Kotzen!

«Über wen lästern wir?»

Ich zucke zusammen, als eine Stimme ertönt. Im Spiegel sehe ich, wie sich eine der angelehnten Kabinentüren öffnet und eine Frau mit dunkelbraunen Locken, heller Haut und Sommersprossen hinter mich tritt. Sie wirkt ein paar Jahre jünger als ich, vielleicht um die zwanzig. Dennoch trägt sie ein schneeweißes, altmodisch wirkendes Kleid mit Rüschenärmeln. Konkurrenz. Davon kann mich auch ihr freundliches Lächeln nicht ablenken.

«Tut mir leid. Ich dachte, ich bin allein», erwidere ich, womit ich bewusst der Frage ausweiche, und werfe einen verwirrten Blick in die Kabine hinter ihr. Was hat sie bei offener Tür da drin gemacht?

Sie stellt sich neben mich, bückt sich und schiebt ein abgewetztes Buch unter das Waschbecken, bis es nicht mehr zu sehen ist. Mir bleibt beinahe der Mund offen stehen. Hat sie ernsthaft ein Buch zur Sonnenwendfeier mitgenommen und es zum Lesen auf der Toilette deponiert? Sie weiß aber schon, wieso sie hier ist, oder?

«Ich hab mich vor meinem Bruder versteckt», erklärt sie grinsend.

Ich kann nicht verhindern, dass sich meine Lippen zu einem Lächeln verziehen. «Das kann ich gut verstehen.»

«Hast du auch so einen?», fragt sie augenrollend und richtet sich wieder auf.

«Ja. Sie sind furchtbar, oder?»

«Unerträglich», bestätigt sie. «Ist er der Arsch, den du eben verflucht hast, oder hast du Bekanntschaft mit dem König gemacht?»

Das verräterische Schnauben entkommt mir, bevor ich darüber nachdenken kann, ob es klug ist, so offen zu sein.

«Ah», meint sie und grinst noch breiter. «Letzteres also. Hier.» Sie reicht mir ein Handtuch, damit ich meine Hände abtrocknen kann.

«Danke. Du hattest also auch schon die Ehre?», hake ich vorsichtig nach. Dass sie ebenso genervt von dem Mann zu sein scheint wie ich, erfüllt mich mit einer angenehmen Genugtuung. Ich vertraue ihr nicht, aber nachdem ich meine ungefilterte Reaktion auch nicht rückgängig machen kann, schadet ein Gespräch sicher nicht.

«Mhm. Er zeigt sich heute von seiner besten Seite, oder? Wahrhaft königlich. Es ist ein Wunder, wenn am Ende des Abends noch Anwärterinnen übrig bleiben, die die Rolle der Blutbraut übernehmen wollen. Bestimmt ergreifen alle noch vor der Verkündung die Flucht. Ich zumindest möchte nicht freiwillig ein Jahr mit dem Kerl verbringen.»

«Verständlich», gebe ich zu. Ihr scheint wirklich nichts daran zu liegen, heute Abend ausgewählt zu werden. Das verrät allein die Tatsache, dass sie heimlich auf dem Klo liest, statt dem König hinterherzueiern, wie es der Rest von uns tut. Aber wozu dann überhaupt der ganze Aufwand einer Bewerbung? All die Fragebögen, Gespräche und Untersuchungen, nur um mit sehr viel Glück bis zu einem Ball zu kommen, bei dem sie sich dann versteckt?

Ob ihr Bruder sie gezwungen hat, hier mitzumachen? Das wäre furchtbar. Man kann über Valerian sagen, was man will, aber wenigstens zwingt er mich nicht dazu, mich fremden Männern anzubieten. Ich bin freiwillig hier. Und werde es auch bleiben, bis man mich nach Hause schickt. «Irgendjemand wird sicher übrig bleiben. Es geht schließlich nicht allen um den König», füge ich hinzu.

«Um was dann?», fragt sie interessiert. «Macht? Einfluss? Geld?»

Dass sie das überhaupt fragen muss. Ich wette, neunzig Prozent der Anwärterinnen bewerben sich aus diesen Gründen. Immerhin lockt die Krone uns doch mit genau solchen Versprechungen – mit einem besseren, sichereren Leben. Und wenn man in einer Gesellschaft lebt, die uns Menschen so viele Wege nach oben versperrt, ergreift man selbst die kleinste Chance auf ein bisschen Wohlstand. «Vielleicht. Ich denke, jede von uns hat andere Beweggründe.»

Neugierig schaut sie mich an. In dem grellen Licht ist ihre Augenfarbe undefinierbar. Sie könnten ebenso gut blau wie grün sein. «Und warum machst du es?», will sie wissen.

Ich zögere. Kann sie mir gefährlich werden? Vermutlich nicht. Vielleicht spielt es mir sogar in die Hände, sie auf meiner Seite zu haben, und sei es nur, weil sie dann noch weniger selbst zur nächsten Blutbraut werden will. Also gebe ich ihr die ehrliche Antwort. Oder zumindest die, die für die offizielle Florence Hawthorne ehrlich ist.

«Ich setze mich für Bedürftige ein», erkläre ich. «Für Waisenkinder und arbeits- oder obdachlose Eltern. Ich denke, mit dem Geld und der Aufmerksamkeit, die ich hier bekäme, könnte ich viel bewirken. Das ist es mir wert, mich ein Jahr lang mit besagtem Arsch rumschlagen zu müssen.»

«Ahh!», sagt sie und strahlt mich an. «Du bist Florence, oder? Ich hab von dir gehört!»

Das … ist ungewöhnlich. Der Skandal vor vierzig Jahren, bei dem unsere Familie alles verlor, ist eigentlich lang genug her, dass niemand in London mehr über uns spricht. Aber sie scheint keinen negativen Eindruck von mir zu haben – im Gegenteil. Hat sie also auf andere Art von mir erfahren? «Ja», gestehe ich. «Und was ist mit dir? Warum machst du hier mit?»

«Oh, ich will gar nicht mitmachen», versichert sie mir und lächelt. «Keine Sorge, ich bin keine Konkurrenz.»

«Ich leider auch nicht», murmle ich. «Mich hasst er noch mehr als die anderen.»

Verwirrt runzelt sie die Stirn. «Wieso das?»

Ich kann nicht verhindern, dass ich ein wenig rot werde. «Ich habe ihn angerempelt.»

«Ups.»

«Mhm. Zweimal, um genau zu sein.» Ich verziehe das Gesicht.

«Ach.» Sie winkt ab. «Er wird’s überleben! Und vielleicht kriegst du noch eine dritte Chance, um ihm zu zeigen, dass Anrempeln nicht deine einzige Qualität ist. Du solltest ihn dann nur nicht als Arsch beschimpfen. Das kommt vermutlich nicht besonders gut an.» Mit einem Augenzwinkern wendet sie sich zum Gehen. «Ich muss los, mein Bruder sucht mich bestimmt schon. Wenn er mich nicht findet, macht er immer ein Drama daraus, und das will hier niemand erleben. Wir sehen uns, Florence! Viel Glück!»

Sie verlässt den Raum, und ich starre für einen Moment reglos auf die Tür.

Glück werde ich brauchen. Jede Menge davon.

Kapitel zwei

Play The Part

Die aufmunternden Worte der Fremden helfen mir leider nicht weiter. Nach der Abfuhr des Königs bin ich komplett planlos. Auf seiner Liste an potenziellen Blutbräuten bin ich vermutlich Platz zehn von zehn – und das angesichts einer Anwärterin, die lieber auf der Toilette Bücher liest, statt um ihn zu buhlen. Wenn mir nicht schleunigst eine Möglichkeit einfällt, an ihn heranzukommen, ist diese Mission gestorben.

Ich finde Valerian am Buffet. Auf einer meterlangen Eichentafel sind unzählige Speisen und Getränke aufgereiht, ein Teller schöner angerichtet als der andere. Dazwischen stehen riesige Bouquets aus roten und weißen Rosen, ein blutroter Tischläufer erstreckt sich über beide Enden. Bedienstete tun den Gästen Essen auf, damit auch ja keiner der Vampire einen Finger zu viel rühren muss.

Mein Bruder wurde ebenfalls bereits versorgt. Allerdings scheint er seinen Teller nicht angerührt zu haben. Stattdessen tut er das, was er am besten kann. Spionieren.

Obwohl sein Fokus gänzlich auf einer Gruppe Männer ein paar Schritte weiter liegt, bemerkt er mich, bevor ich ihn erreiche. Er dreht sich zu mir um und mustert mich abschätzig.

«Und?», fragt er. «Hier, du hast noch nichts gegessen.» Er drückt mir seinen Teller mit verschiedenen Häppchen darauf in die Hand.

«Ich war eigentlich ganz froh, dass Mum nicht mitgekommen ist», erkläre ich frostig. «Du musst sie nicht unbedingt ersetzen.» Dennoch nehme ich das Essen entgegen, mustere es kurz prüfend und beiße schließlich von einer Lachsschnitte ab. «Mh», entwischt es mir. Das schmeckt göttlich. Ich schätze, an die Mahlzeiten im Schloss könnte ich mich gewöhnen.

«Das nennt sich Familiensinn, Schwesterherz», erwidert Valerian. «Wie war dein Gespräch mit dem König?»

Natürlich hat er das gesehen. Val sieht alles, wie auch immer er das hinbekommt. «Durchwachsen», murmle ich.

«Durchwachsen.» Sein Tonfall verrät, dass ihm diese Antwort weder gefällt noch ausreicht. «Nachdem ihr euch verabschiedet habt, sah er aus, als würde er gleich deinen Kopf fordern. Musstest du ihn anrempeln? Ich kann mich nicht erinnern, das je in Mums Strategienkatalog gesehen zu haben.»

«Partys sind mein Gebiet, schon vergessen?», zische ich und halte trotz meines Ärgers ein mildes Lächeln auf meinen Lippen. «Du hast doch gesehen, dass es nichts bringt, ihn plump anzusprechen!»

«Damit wärst du wenigstens nicht negativ aufgefallen», raunt er und hält sein Gesicht ebenso neutral.

«Immerhin falle ich auf. Der Abend ist noch nicht vorbei, und an mich erinnert er sich jetzt zumindest!»

Val schnaubt. «Ich kann nur hoffen, dass du recht hast, Flo.»

«Falls nicht, kannst ja gerne nächstes Mal du versuchen, ihn zu verführen.»

«Wenn er mich lassen würde, jederzeit.»

«Du bist unausstehlich.»

Die Worte ernten mir ein ehrliches Schmunzeln. «Sagt die Ziege zum Bock …»

Ich verdrehe die Augen, muss aber ebenfalls grinsen. Schnell beiße ich wieder in die Lachsschnitte, um es zu verbergen. Diesen Satz haben unsere Eltern etabliert. Wir bekamen ihn als Kinder immer zu hören, wenn wir uns gezankt haben – und das war nicht selten der Fall. Bis heute hält er uns vor Augen, wie ähnlich wir uns sind, wenngleich wir unsere Differenzen haben. Valerian und ich sind trotz oder vielleicht auch wegen dieser Unterschiede ein gutes Team. Eines, das dieses Königreich stürzen könnte – wenn es sich ein bisschen zusammenreißt.

Obwohl ich ihn jetzt gern umarmen würde, halte ich mich diesmal an unsere Abmachung, Val während des Balls nicht zu berühren. Na ja, fast. Ich stoße ihn kaum merklich mit der Schulter an, und er erwidert die Geste ebenso sanft. Eine stille Bekundung unserer Zuneigung.

«Also, wie geht es weiter?», fragt er leise. «Brauchst du mich zum Verkuppeln?»

Ich überlege einen Moment. Wir wissen nicht viel über König Benedict. Allein zwischen dem Inner District, der Vampirstadt innerhalb Londons, und den Vierteln der menschlichen Bevölkerung liegen Welten. Vom Palast, dem sogenannten Crimson Heart, ganz zu schweigen. Informationen über alles, was hier passiert, sind dementsprechend schwer zu bekommen, und oft ist kaum zu unterscheiden, was wahr ist und was man uns nur glauben lassen will. Kein Mensch traut einer Zeitung, die von Vampiren geschrieben wird, und es ist uns bisher noch nicht gelungen, einen der menschlichen Bediensteten im Schloss für unsere Sache zu gewinnen. Wir können also nur spekulieren, wie der König tickt. Allerdings wirkt er durchaus wie die Art von patriarchalischem Arschloch, das eher der Meinung eines Mannes über eine Frau trauen würde als der Frau selbst.

Trotzdem …

Ich präsentiere mich als die Vorkämpferin für die Schwachen und Hilfsbedürftigen, während Val sich im Schatten der Gesellschaft bewegt. Er ist Taxifahrer für die Vampirgesellschaft im Inner District und riskiert täglich sein Leben für ein paar aufgeschnappte Informationsfetzen. Es ist einer der gefährlichsten Jobs in der Stadt. Die Narbe an seinem Hals zeugt davon, und mit dieser ist er noch gut davongekommen. Der Angriff blieb unaufgeklärt, weil sich letztendlich niemand darum schert, welcher Vampir die Gesetze bricht und sich so Blut von der Vene verschafft. Doch Val hat überlebt. In vielen anderen Fällen verschwinden die Menschen einfach spurlos. Kollateralschäden einer Gesellschaft, für die wir mehr Ware als Lebewesen sind.

Dennoch macht mein Bruder weiter. Tut so, als wäre nichts – als würde er diese Monster nicht hassen bis aufs Blut. Je unauffälliger er sich verhält, desto weniger Fragen wirft es auf. Auch hier im Schloss sollte er sich bedeckt und im Hintergrund halten. Doch wenn er aktiv versucht, den König von mir zu überzeugen, wird das schwierig. Dann stünde er mitten im Rampenlicht.

Wieder ein Risiko. Diesmal eines, das ich nicht eingehen will. Wir haben unsere Rollen aus gutem Grund so strikt getrennt.

«Ich versuche es noch mal allein», entscheide ich. «Erst mal. Du bist der Notfallplan.»

Ich habe zwar keine Ahnung, wie ich die Blamage von vorhin wieder ausbügeln soll, aber das werde ich schon schaffen. Vielleicht mit ein wenig Humor und einer aufrichtigen Entschuldigung. Oder ich bitte meine Toilettenbekanntschaft um Hilfe. Sie schien mich zu mögen und hat selbst kein Interesse daran, ausgewählt zu werden. Sofern sie nicht gelogen hat. Sie könnte mir ebenso gut in den Rücken fallen …

Verdammt, warum ist das nur alles so kompliziert? Ich hasse diese ewigen Intrigen. Man entkommt ihnen nicht. Man rutscht nur von einer in die nächste.

Spannung legt sich so plötzlich über den Raum, als wäre in der Nähe ein Blitz eingeschlagen. Die Gespräche werden leiser, die Gesten nervöser. Irritiert schaue ich mich um. Valerian berührt mich am Ellbogen und lenkt meinen Blick so zur Ursache.

Auf dem Treppenabsatz, auf dem vorhin die letzte Blutbraut verabschiedet wurde, hat mittlerweile ein Ensemble seine Instrumente aufgebaut. Davor steht König Benedict und blickt grimmig in die Menge, als würde er jemanden suchen. Sein rechter Fuß wippt auf dem Teppich, der einzige Beweis dafür, dass er ungeduldig zu sein scheint.

Stoff raschelt, und leises Gemurmel erklingt, als sich jemand einen Weg zwischen den Gästen hindurchbahnt. Eine Frau im weißen Kleid mit kurzen Rüschenärmeln betritt die Treppe und hastet die Stufen zum König hinauf. Ihre dunklen Haare fallen ihr in leichten Locken bis zu den Schulterblättern, und mein Herz sackt unvermittelt ab.

Das ist die Fremde von der Toilette. Warum hat er sie zu sich bestellt? Er hat sich doch nicht etwa bereits entschieden? Die Verkündung der neuen Blutbraut ist für Mitternacht geplant, und es kann unmöglich später sein als neun Uhr.

«Was passiert da?», flüstere ich Valerian zu.

Er hat die Stirn in Falten gelegt und beobachtet das Geschehen mit unverkennbarer Skepsis.

Ich hefte meinen Blick wieder auf den König und die Unbekannte. Sie platziert sich an seiner Seite und wendet sich freudestrahlend dem Publikum zu. Erst jetzt bemerke ich das goldene Diadem, versetzt mit roten Rubinen, das inzwischen auf ihrem Kopf thront. Mir stockt der Atem. Wieso trägt sie das? Wenn ich mich nicht täusche, sind das Kronjuwelen. Nichts, was man der Blutbraut überlassen würde.

«Ah», macht Valerian neben mir. «Das muss seine Schwester sein.»

Mir wird eiskalt. «Seine Schwester», wiederhole ich tonlos.

Nein.

Nein, nein, nein!

Ich verstecke mich vor meinem Bruder.

Oh Gott, das darf nicht wahr sein.

«Lyra Tudor», erklärt Val überflüssigerweise. «Die Beschreibung passt. Ich frage mich nur, warum sie Weiß trägt.»

Das kann ich ihm beantworten. Sie tut es, um so für ihren Bruder die Anwärterinnen auszuspionieren. Und ich habe ihn in ihrer Gegenwart mehrfach beschimpft. Ich bin direkt in ihre verfluchte Falle getappt. Sicher hat sie ihm von meinem Verhalten erzählt. Der Abend ist gelaufen. Unsere Mission endet hier. Ich habe es ruiniert.

«Willkommen.»

König Benedicts Stimme erklingt, und sofort tritt durchdringende Stille ein. Trotz der Größe des Saals braucht er kein Mikrofon, um sich Gehör zu verschaffen. Die Akustik und seine Präsenz sorgen dafür, dass man ihn auch so klar und deutlich versteht. Es ist das erste Mal an diesem Abend, dass er sich an seine Gäste wendet, und aus irgendeinem Grund fühlt es sich an, als würde er mich direkt ansprechen.

Gänsehaut kriecht mir über die Arme. Ich stelle meinen Teller auf einem Tisch neben mir ab und schlinge sie um meinen Körper.

«Heute haben wir gleich zwei Gründe zum Feiern», verkündet König Benedict. «Zum einen die Wintersonnenwende, die längste Nacht des Jahres. Zum anderen werde ich um Mitternacht meine neue Blutbraut erwählen. Bis dahin empfehle ich Ihnen, den Abend in vollen Zügen zu genießen. Die Tanzfläche ist hiermit eröffnet.» Er gibt dem Ensemble ein Zeichen, und die ersten Noten eines langsamen Walzers erklingen, um das Schweigen der Menge fortzuspülen. Gemeinsam mit seiner Schwester verlässt der König den Treppenabsatz und mischt sich wieder unter seine Gäste.

Selbst seine Ansprache war reduziert auf das Nötigste. Sein Interesse an dieser Feier scheint wirklich begrenzt zu sein. Vermutlich wird er einfach die Frau auswählen, die ihn am wenigsten belästigt hat. Vielleicht auch die, die er am attraktivsten findet. Aber nicht mich. Ganz sicher nicht mich.

Ich starre hinauf zu der Stelle, an der er eben noch stand, und versuche, meine Gedanken zu sortieren. Die Melodie des Ensembles nehme ich kaum wahr, dabei ist es so selten, dass ich Musik live hören kann statt durch einen blechern klingenden Lautsprecher. In meinem Kopf überschlägt sich alles, und ein mulmiges Gefühl, das Übelkeit gleicht, hat sich in meinem Magen breitgemacht.

«Was ist?», will Valerian wissen und berührt mich am Arm.

Zögernd sehe ich ihn an. Offenbar beobachtet er mich schon länger, denn er hat die Brauen misstrauisch zusammengezogen. Ich schlucke. Es hat keinen Sinn, es schönzureden oder optimistisch zu bleiben. Er muss wissen, wo wir stehen. «Es tut mir so leid, Val», bringe ich heraus. «Ich habe versagt.»

«Wovon redest du da?»

Ich kann nur den Kopf schütteln, während mir die bittere Realität immer schmerzhafter bewusst wird.

Wir hatten so viel Glück, für diesen Ball ausgewählt zu werden. Das hier war unsere Chance. Die erste und beste. Und ich habe sie zunichtegemacht.

Generationen von Hawthornes haben darauf hingearbeitet, die Menschen aus der Herrschaft der Vampire zu befreien. Ich hätte ihre Ziele erreichen können. Ich hätte diejenige sein können, die uns endlich nah genug an die Königsfamilie heranbringt, um genau dort zuzuschlagen, wo sie am verwundbarsten ist.

Doch ich habe alles ruiniert. Unzählige Menschen werden weiter leiden, weiter bluten – meinetwegen.

«Sprich mit mir», fordert Val und legt seine Hände schwer auf meine Schultern. «Florence. Was ist passiert?»

Wie soll ich ihm das erklären? Und viel wichtiger – wie soll ich es wiedergutmachen? Meine Eltern werden am Boden zerstört sein. Wir wussten, dass unser Plan schon heute Abend scheitern könnte. Doch niemand, erst recht nicht ich selbst, hat damit gerechnet, dass ich diese einzigartige Chance derart leichtsinnig verspiele.

«Ich …»

«Miss Hawthorne?»

Der Klang der tiefen Stimme lässt mich stocken.

Valerian versteift sich. Sein Blick wandert über meine Schulter, und sein Mundwinkel zuckt. Langsam nimmt er seine Hände von mir und verbeugt sich. «Eure Majestät.»

Mir wird heiß und kalt zugleich. Ich drehe mich um und schaue direkt in König Benedicts grüne Augen. Sein Gesicht ist eine Maske. Ich kann nichts darin lesen, weder Wut noch sonst irgendwas erkennen. Aber ich mache mir nichts vor. Er weiß, was ich über ihn gesagt habe. Und nun werde ich die Konsequenzen meiner unbedachten Worte zu spüren bekommen. Mit ein wenig Glück verweist er mich nur des Schlosses. Mit Pech …

Ich wette, er hat schon Leute für weniger in den Tower sperren lassen. Doch hätte er das vor, hätte er direkt seine Wachen auf mich angesetzt, oder? Warum steht er persönlich vor mir?

Ich mache einen Knicks und bemühe mich, meine Atmung ruhig zu halten. Mein cremeweißes Ballkleid fühlt sich plötzlich viel zu eng an. «Ja, Eure Majestät?»

König Benedict mustert mich für einen langen Moment. Und dann … lächelt er. Nicht breit. Nicht ehrlich. Aber auch nicht grausam. «Darf ich um diesen Tanz bitten?», fragt er, und seine Stimme klingt wie schwarze Seide, dunkel und weich.

Völlig perplex starre ich ihn an. Was … Hat er das wirklich gefragt?

«Meine Schwester gehört ganz Euch», verkündet Valerian und ist schneller von meiner Seite verschwunden, als ich meine Stimme wiederfinde.

Der König beachtet ihn nicht weiter. Sein Blick hängt an mir, und ich bin sicher, dass ihm nichts entgeht. Kein Atmen, kein Blinzeln, kein unsicheres Zögern. Reiß dich zusammen, Florence.

«Natürlich», bringe ich heraus. «Es ist mir eine Ehre.»

Er bietet mir seine Hand an, und ich ergreife sie. Seine Finger sind heiß, als müssten sie mir verdeutlichen, was für ein Monster er ist. Und anscheinend brauche ich diese Erinnerung. Denn als König Benedict mich ein paar Meter weiter zu einem freien Platz auf der Tanzfläche geleitet und seine Hand an meine Taille legt, durchläuft ein wohliger Schauer meinen Körper.

Verräter!

Wieder ist da dieser schwere Duft, der mich einhüllt und mir das Denken unmöglich macht. Er riecht holzig, nach Kiefer oder Tanne vielleicht. Es erinnert mich an seltene Ausflüge in den Wald und Abende vor dem Kamin.

«Ich hoffe, Ihr habt Eure Füße diesmal unter Kontrolle», murmelt er und führt uns in den Tanz.

Der trockene Seitenhieb bringt mich für eine Sekunde aus dem Takt, und am liebsten würde ich mich sofort für die Worte revanchieren. Stattdessen besinne ich mich auf meine Rolle, hebe das Kinn ein wenig und lächle entschuldigend. «Ich bin wirklich untröstlich über unseren Zusammenstoß, Eure Majestät.»

«Zusammenstöße», verbessert er mich, und ich erkenne den Hauch eines Schmunzelns auf seinen Lippen. Es mag sarkastisch sein, doch es bringt ein Grübchen in seiner rechten Wange zum Vorschein, und ich stelle mir unweigerlich vor, wie es wohl aussieht, wenn er ehrlich lächelt.

«Ich bin noch untröstlicher», scherze ich zaghaft.

Das Halblächeln bleibt noch einen Moment, aber er geht nicht weiter darauf ein. Stattdessen mustert er mich schweigend. Sein Blick hat etwas an sich, das mich dazu verleitet, mich kleiner zu machen, als ich bin. Seine gesamte Präsenz strahlt Autorität aus. Sie erinnert mich daran, dass er der mächtigste Vampir dieses Landes ist und ich nicht mehr als ein Mensch.

Ich versuche, nicht darüber nachzudenken. Wenn ich mir bewusst mache, mit was für einer Bestie ich gerade tanze, verliere ich meinen letzten Nerv. Es kommt Folter gleich. Während mein Verstand sich nichts sehnlicher wünscht, als aus diesem Saal zu fliehen, drängen sowohl mein Körper als auch meine Aufgabe mich in die entgegengesetzte Richtung. Es ist, als würde ich innerlich zerreißen.

«Ihr wirkt nicht, als würdet Ihr Euch besonders gut amüsieren», bemerke ich, als der König nichts weiter sagt.

Er verzieht keine Miene, während er mich in eine Drehung führt. «Ich bin hier, weil es meine Pflicht ist. Nicht, weil ich gern den Gastgeber spiele.»

«Hättet Ihr Eure Blutbraut lieber im kleineren Rahmen gewählt?» Eventuell schlage ich mit meinen Fragen über die Stränge. Sie sind ein wenig zu persönlich, um sie ausgerechnet ihm zu stellen, doch diese Feier und seine schlechte Laune sind die einzigen Bezugspunkte, die ich zum König habe. Sie scheinen mir die beste Möglichkeit, ein Gespräch zu eröffnen, das nicht leer und oberflächlich bleibt. In all den Jahren der Planung haben wir nie in Erwägung gezogen, dass er eine derartige Abneigung gegenüber den Anwärterinnen an den Tag legen könnte.

«Wenn es nach mir ginge, fände gar keine Wahl statt», erwidert er kühl.

Was meint er damit? Will er keine Blutbraut? Oder hat er sich vorab bereits auf eine andere Frau festgelegt? Doch falls dem so ist, warum tanzt er dann mit mir?

Ich öffne den Mund, um eine weitere Frage zu stellen, als er mir zuvorkommt. «Man sagte mir, Ihr wärt eine Aktivistin?»

Das Wort lässt mich einen Moment stocken. «So würde ich es nicht nennen», wende ich ein und ernte eine fragend gehobene Augenbraue.

«Warum nicht?»

«Die Bezeichnung lässt meine Bemühungen größer klingen, als sie sind.»

«Was genau tut Ihr denn?», will er wissen.

«Meist plane ich Spendenkampagnen oder kümmere mich um die Verteilung von Mitteln an die Bedürftigen. Hin und wieder unterstütze ich auch die Mitarbeitenden in den Waisenunterkünften.»

«Das klingt ziemlich aktivistisch.»

«Es könnte mehr sein.» Und das meine ich ernst. Dieses Image ist ein Mittel zum Zweck, aber die Hilfsorganisationen und ihre Ziele liegen mir tatsächlich am Herzen. Hätte ich nicht so viel Zeit auf die Planung und das Training für diese Mission verwenden müssen, wäre ich jede freie Minute dort gewesen. Es tut mir in der Seele weh, diese Menschen im Stich lassen zu müssen, sollte ich als Blutbraut ausgewählt werden. Doch leider geht es nicht anders. Und letztendlich geht es bei diesem Vorhaben nicht um mich, sondern um unser aller Wohl.

«Woher nehmt Ihr die Zeit dafür?», will König Benedict wissen. «Ihr arbeitet doch auch, oder nicht? Soweit ich informiert bin, ist die Familie Hawthorne nicht wohlhabend genug, um die einzige Tochter rund um die Uhr für Benefizarbeit zu entbehren.» Noch immer hält sein Blick meinen gefangen. Er mustert mich mit einer solchen Sorgfalt, dass ich das Gefühl habe, nur einmal falsch blinzeln zu müssen, um aufzufliegen.

«Ich arbeite als Schneiderin. Aber uns geht es nicht schlecht», weiche ich aus. Letzteres stimmt nicht. Natürlich geht es uns schlecht. Finanziell kommen wir über die Runden, auch nach dem Skandal. In dieser Hinsicht haben wir weniger Sorgen als andere Familien. Aber kein Mensch in diesem Land kann von sich behaupten, dass es ihm gut ginge. Wir stehen in dieser Gesellschaft am Ende der Nahrungskette und dürfen uns nur so weit nach unseren Träumen strecken, wie die Vampire es uns erlauben.

Ich frage mich, ob der König mich mit seiner Aussage ködern wollte. Mir liegen unweigerlich Anschuldigungen auf der Zunge. Sicher weiß er ebenso gut wie ich, dass meine Familie einst wohlhabend war. Und warum sie es nun nicht mehr ist. Wir wollten Gerechtigkeit. Vergeltung für den Mord an meiner Großmutter. Mein Großvater beschuldigte damals einen Vampir, sie getötet zu haben, doch es kam nie zu einer Anklage. Im Gegenteil. Er wurde wegen Verleumdung und Aufwiegelung verurteilt und das Hawthorne-Anwesen auf dem Land sowie seine Geschäfte wurden enteignet. Sie nahmen uns alles, was wir hatten. Eine der ältesten Adelsfamilien der Stadt – ruiniert.

«Aber Ihr wollt mehr.» Er lässt es klingen wie eine Feststellung, und sofort schüttle ich den Kopf.

Er soll nicht denken, es ginge mir um das Geld oder den Status, den diese Rolle mit sich bringt. Es ist nicht mein Ziel, unserer Familie wieder zu ihrem alten Rang zu verhelfen. Dieser wird ohnehin nichts mehr wert sein, wenn das Königreich erst in Trümmern liegt.

«Ich tue das nicht für mich», sage ich ehrlich. Lügen müsste ich erst, würde er nachfragen, für wen ich es sonst tue. Doch er geht wie erhofft davon aus, ich würde noch immer über die Hilfsorganisationen sprechen.

«Ihr scheint es meiner Schwester angetan zu haben», meint er und führt mich erneut in eine Drehung. Anschließend legt er seine Hand wieder an exakt die gleiche Stelle wie zuvor. Er lässt sie nicht wandern, kommt mir nicht näher. Wir behalten dieselbe höfliche Distanz bei, mit der wir den Tanz begonnen haben und die sich gleichzeitig nach zu viel und zu wenig anfühlt.

«Das … freut mich», antworte ich vorsichtig. Es ist unmöglich zu sagen, was genau sie ihm erzählt hat. Und ich bin nicht darauf aus, ihm versehentlich die Beleidigungen zu beichten, sollte er noch nichts davon wissen.

«Sie sagte, Ihr wärt erfrischend ehrlich. Was auch immer das bedeutet.» Ist das ein Funken Neugier in seinen Augen?

«Das kann ich Euch nicht beantworten, aber ich fühle mich geehrt. Tatsächlich wusste ich gar nicht, wer sie ist, bis sie auf der Treppe neben Euch stand.»

Schwach schüttelt er den Kopf. «Das wundert mich nicht. Lyra hat Freude daran, Chaos zu stiften. Es ist ihr Lebenselixier, und irgendwann wird sie mich damit ins Grab bringen, so viel ist sicher.»

«Das Gefühl kenne ich. Mein Bruder raubt mir manchmal auch den letzten Nerv. Aber am Ende gibt es nichts Wichtigeres als Familie und Liebe, meint Ihr nicht?»

«Eine romantische Vorstellung. Leider keine besonders realistische.»

Ich ziehe die Augenbrauen hoch. «Ihr seht das anders?»

Er lächelt kalt. «Es gibt immer Dinge, die größer sind als Liebe, Miss Hawthorne. Aber ich wünsche Ihnen, dass Sie von diesen verschont bleiben.» Das Lied klingt aus, und König Benedict lässt mich langsam los. Er führt meine Hand an seinen Mund und küsst sanft meine Knöchel. Es ist nur der Hauch einer Berührung. Dennoch wird mir dabei so heiß, als würden Flammen durch meine Adern tanzen. «Es war mir eine Ehre», raunt er, und ich bringe nicht mehr als ein gestammeltes Danke zustande, bevor er in der Menge verschwindet.

Sein Kuss brennt auf meiner Haut nach, und erst jetzt wird mir bewusst, wie schnell mein Herz schlägt. Was bedeutet dieser Tanz? War es eine gute Unterhaltung oder habe ich es vermasselt? Dieser Mann ist so undurchschaubar, dass ich meine Chancen nun noch schlechter einschätzen kann als zuvor.

Es gibt immer Dinge, die größer sind als Liebe.

Wenn er wüsste, wie recht er damit hat. Wie gut ich die Bedeutung dieser Worte verstehe.

In der Familie Hawthorne steht Liebe schon seit Generationen nur an zweiter Stelle.

An erster steht sein Tod.

Ich begegne König Benedict nicht noch einmal. Den gesamten restlichen Abend suche ich ihn auf der Tanzfläche, doch er ist wie vom Erdboden verschluckt.

Auch von seiner Schwester fehlt jede Spur, und Valerian ist zu sehr mit Spionieren beschäftigt, um mich von meinen rasenden Gedanken abzulenken. Also unterhalte ich mich mit den anderen Anwärterinnen. Das scheint mir sicherer, als die anwesenden Vampire anzusprechen und dabei im Schlangennest der Inner-District-Gesellschaft zu stochern. Mir ist viel zu bewusst, dass ich mich inmitten von Monstern befinde. Und auch, wenn es ihnen nicht erlaubt ist, Menschen zu beißen, fühle ich mich hier alles andere als sicher.

Die zehn Anwärterinnen könnten verschiedener nicht sein. Allein vom Aussehen her unterscheiden wir uns so sehr, dass es wirkt, als hätte man dem König möglichst viel Auswahl geben wollen, statt gezielt nach seinem Geschmack auszusuchen. Und wenn man sich seine bisherigen Blutbräute so ansieht, scheint er auch keine konkreten Vorlieben zu haben.

Dennoch – nur zehn Frauen werden jedes Jahr zur Wahl der neuen Blutbraut eingeladen. Wie genau sie ausgesucht werden, weiß niemand so recht, doch es ist sicherlich kein Zufall, wer von den Hunderten von Bewerberinnen es bis hierher schafft. In den fünf Jahren, die ich mich erfolglos beworben habe, hat es sich zwar manchmal wie Willkür angefühlt, doch die vielen Fragebögen und Formulare, die ich jedes Mal ausfüllen musste, sprechen eine andere Sprache.

Nach der Begegnung mit Lyra bin ich vorsichtiger geworden. Unsere Gespräche beschränken sich auf Small Talk und langweilen mich innerlich zu Tode, doch wenigstens lenken sie ein wenig vom Warten ab. Nur herumzustehen und nichts tun zu können, um König Benedicts Wahl zu beeinflussen, macht mich fertig.

Was für ein Bild hat er von mir? Rückblickend wirkte der Tanz wie ein Test. Vielleicht war es die dritte Chance, von der Lyra gesprochen hat. Aber habe ich diesen Test bestanden oder nicht?

Kurz vor Mitternacht begebe ich mich gemeinsam mit Valerian zur Treppe. Alle Anwärterinnen und ihre Begleitpersonen sollen dort in erster Reihe stehen, wenn gleich die Entscheidung verkündet wird.

«Was denkst du?», raunt Val mir zu.

«Ich weiß es nicht», gestehe ich flüsternd, während das Ensemble das letzte Lied ausklingen lässt, das Licht gedimmt wird und die übrigen Gäste ruhiger werden.

Mein Bruder schweigt. Ist er zuversichtlich? Oder überlegt er, wie er unseren Eltern erklären soll, dass ich gescheitert bin? Plant er bereits den nächsten Mordanschlag – einen, der nicht auf so vielen Variablen fußt? Auch wenn sie es nie ausgesprochen haben, weiß ich, dass meine Familie zu anderen Mitteln greifen wird, sollte ich heute scheitern. Verzweifelteren Mitteln.

Eine Frau in einem schwarzen Jumpsuit betritt den Treppenabsatz. Ihre dunklen Haare sind kurz geschnitten, ihre Augen dezent geschminkt. Goldene Armreifen heben sich von ihrer braunen Haut ab und stellen ihren einzigen Schmuck dar. Sofort tritt Stille ein, und ich bezweifle, dass es nur an der Tatsache liegt, dass sie dort oben steht. Sie hat eine ähnlich dominante Ausstrahlung wie der König selbst. Sie muss wichtig sein. Eine Frau, welcher der Inner District zu Füßen liegt.

«Ist das Eris Hyll?», wispere ich. Zwar kommt sie mir von Zeitungsartikeln bekannt vor, die vereinzelt Einblicke in den Beraterkreis des Königs gewähren, doch ich bin mir nicht sicher, ob ich sie richtig zuordne. Valerian ist derjenige, der sich die Gesichter sämtlicher Vampire einprägt, als würde er die Polizeiakte eines Mordfalls führen.

«Ja», murmelt er kaum hörbar.

«Seine Rechte Hand leitet die Zeremonie?»

«Offensichtlich.»

Hyll lässt den Blick abschätzig über den Raum schweifen, bevor sie zu sprechen ansetzt. Ihre Stimme hallt klar und scheinbar mühelos durch den Saal.

«Danke, dass Sie alle heute anwesend sind, um einem unserer wichtigsten Rituale beizuwohnen. Seit Jahrhunderten sorgt die Blutgabe für den Zusammenhalt dieser Gesellschaft. Sie verbindet Menschen und Vampire und nährt die Macht unseres Herrschers. König Benedict hat seine neue Blutbraut erwählt, und mir obliegt die Ehre, den Bund zu besiegeln. Sie alle sind Zeugen dieser Vereidigung, die bis zur nächsten Wintersonnenwende bestehen wird.»

Sie macht eine Pause, und Applaus erklingt. Als sie nickt, bricht er ebenso abrupt wieder ab, wie er begonnen hat. «Ich darf nun verkünden, wem die ehrenvolle Aufgabe zuteilwird, König Benedict zu nähren.»

Ich halte den Atem an, und es wirkt, als würde der gesamte Saal dasselbe tun. Alle warten auf den Namen, der so viel bedeutet. Für sie. Für mich. Für unsere Zukunft. Nur ich will ihn nicht hören. Egal, ob es nun mein eigener sein wird oder ein fremder. Ist es meiner, zahle ich mit meinem Leben – auf die eine oder andere Weise. Ist es ein fremder, habe ich versagt.

«Die neue Blutbraut Englands ist Florence Hawthorne.»

Alles in mir zieht sich vor Panik zusammen. Valerian fasst mich von hinten am Ellbogen und drückt meinen Arm. Ich höre ihn einen Fluch murmeln, der in meinen eigenen Gedanken widerhallt.

Passiert das wirklich?

Ich bin nicht bereit. Ich habe es mir anders überlegt. Das war alles ein riesengroßer Fehler.

«Miss Hawthorne?» Hylls Blick findet meinen mit erschreckender Sicherheit. Die ganze Zeit scheint sie gewusst zu haben, wo ich stehe, und kein einziges Mal hat sie hergeschaut. Sie hebt kaum merklich das Kinn, doch es ist Zeichen genug. Ich weiß, was nun passiert. Den Ablauf der Zeremonie mussten alle Anwärterinnen proben, damit sie reibungslos verläuft. Und das ist womöglich das Einzige, was mich in diesem Moment noch aufrecht hält und mir hilft, den Rest meines Muts zusammenzukratzen.

Valerian lässt meinen Arm los, und ich mache einen zittrigen Schritt auf die Treppe zu. Der Teppich verschwimmt vor meinen Augen zu einem blutroten Wasserfall, und der Atem bleibt mir in der Brust stecken.

Nein.

Ich muss das jetzt tun. Ich muss das schaffen.

Mit pochendem Herzen erklimme ich die Stufen. Der Weg bis zum Treppenabsatz scheint endlos, jeder Schritt fühlt sich an wie eine Meile. Dennoch komme ich oben an. Vor der Rechten Hand des Königs bleibe ich stehen, blicke ihr direkt ins Gesicht und mache einen Knicks.

«Kniet nieder», befiehlt sie mit ruhiger Stimme, und während ich gehorche, nehme ich wahr, wie der gesamte Saal hinter mir dasselbe tut. Hunderte Personen, die in Ehrfurcht zu Boden gehen.

Hyll tritt beiseite, und die Stille wird so durchdringend, dass mir mein Blut in den Ohren rauscht. Kein Atmen ist zu hören. Kein Tuscheln mehr, kein Rascheln. Und in das Nichts hinein erklingen harte, sichere Schritte.

Mein gesamter Körper prickelt. Ich kann mein Herz hämmern spüren, meine Hände sind schwitzig.

Diesmal kommt König Benedict von einer der Emporen herunter. Ich wage es nicht, den Blick zu heben, doch seine Schritte kommen näher, bis sich seine blank polierten schwarzen Schuhe in mein Blickfeld schieben.