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Gottlos glücklich - Ein sinnstiftendes Buch für junge Menschen Brauchen wir Gott, um gute Menschen zu sein? Wie entscheiden wir, was gut oder böse ist? Und woran können wir glauben? Ein Leitfaden für Kinder aus der Feder des wichtigsten Evolutionsbiologen unserer Zeit. Es ist schön, die Geschichte der Arche Noah zu hören, aber besser, sie zu hinterfragen. Kann Jesus ein Vorbild sein, auch wenn ich nicht an Gott glaube? Richard Dawkins schreibt eine Anleitung für Jugendliche. Er zeigt, wie sie ihre Überzeugungen aus wissenschaftlichen Fakten gewinnen können – und sich vom Glauben emanzipieren und zu selbstbestimmten Menschen heranwachsen.
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Das Buch
Brauchen wir Gott, um gute Menschen zu sein? Wie entscheiden wir, was gut oder böse ist? Und woran können wir glauben? In dieser rasanten Einführung in den modernen Atheismus erklärt der berühmte Wissenschaftsautor seine Sicht auf Welt und die Religion – für junge Menschen. Denn es ist zwar schön, die Geschichte der Arche Noah zu hören, aber besser, sie zu hinterfragen. Kann Jesus ein Vorbild sein, auch wenn ich nicht an Gott glaube? Richard Dawkins schreibt eine Anleitung für Jugendliche. Er zeigt, wie sie ihre Überzeugungen aus wissenschaftlichen Fakten gewinnen können, sich vom Glauben emanzipieren und zu selbstbestimmten Menschen heranwachsen.
Der Autor
RICHARD DAWKINS, 1941 geboren, ist Evolutionsbiologe. Von 1995 bis 2008 hatte er den Lehrstuhl für Public Understanding of Science an der Universität Oxford inne.
Sein Buch Das egoistische Gen gilt als zentrales Werk der Evolutionsbiologie. Seine Streitschrift Der Gotteswahn ist ein Bestseller.
RICHARD DAWKINS
Aus dem Englischen von Sebastian Vogel
Ullstein
Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel Outgrowing God. A Beginner’s Guide bei Penguin Random House, UK
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ISBN 978-3-8437-2128-8
© 2019 Richard Dawkins
© der deutschsprachigen Ausgabe Ullstein Buchverlage GmbH, Berlin 2019
Lektorat: Dunja Reulein
Illustrationen im Innenteil: Jana Lenzova
Umschlaggestaltung: Rudolf Linn nach einer Vorlage von © Bantam Press.
E-Book: LVD GmbH, Berlin
Alle Rechte vorbehalten.
Für William
Und alle jungen Leute, sobald sie alt genug sind, für sich selbst zu entscheiden
Teil 1
Tschüss, Gott!
· 1 ·
So viele Götter!
Glaubst du an Gott?
An welchen Gott?
Im Lauf der Geschichte wurden auf der Welt Tausende von Göttern angebetet. Polytheisten glauben an viele Götter gleichzeitig (das griechische Wort theos bedeutet »Gott«, und poly sind »viele«). Der Obergott der Wikinger war Wotan (oder Odin). Dann gab es Baldur (den Gott der Schönheit), Thor (den Donnergott mit seinem riesigen Hammer) und dessen Tochter Thrud. Es gab Snotra (die Göttin der Klugheit), Frigg (die Göttin der Mutterschaft) und Ran (die Meeresgöttin).
Auch die alten Griechen und Römer waren Polytheisten. Ihre Götter waren wie die der Wikinger sehr menschenähnlich und hatten starke menschliche Begierden und Gefühle. Die zwölf griechischen Götter und Göttinnen werden häufig neben ihre römischen Entsprechungen gestellt, die angeblich die gleichen Aufgaben erfüllten: der Götterkönig Zeus (römisch Jupiter) mit seinen Donnerkeilen; seine Frau Hera (Juno); der Meeresgott Poseidon (Neptun); Aphrodite (Venus), die Göttin der Liebe; der Götterbote Hermes (Merkur), der sich mittels geflügelter Sandalen fortbewegte; und Dionysos (Bacchus), der Gott des Weines. Unter den wichtigsten Religionen, die bis heute überlebt haben, ist der Hinduismus mit Tausenden von Göttern ebenfalls polytheistisch.
Unzählige Griechen und Römer hielten ihre Götter für echt – man betete zu ihnen, opferte ihnen Tiere, dankte ihnen, wenn man Glück gehabt hatte, und machte ihnen Vorwürfe, wenn etwas schiefgegangen war. Woher wissen wir, dass diese antiken Götter nicht die richtigen waren? Warum glaubt heute niemand mehr an Zeus? Genau können wir es nicht wissen, aber die meisten von uns bezeichnen sich voller Selbstbewusstsein im Hinblick auf diese alten Götter als »Atheisten« (ein »Theist« ist jemand, der an einen Gott oder auch mehrere glaubt; ein Atheist – das »a« steht für »nicht« – tut das nicht). Die Römer bezeichneten früher die Christen als Atheisten, weil sie nicht an Juno, Neptun und ihresgleichen glaubten. Heute verwenden wir das Wort für Menschen, die an keinerlei Götter glauben.
Wie vermutlich du, so glaube auch ich nicht an Jupiter oder Poseidon, Thor oder Venus, Cupido oder Snotra, Mars oder Odin oder Apollon. Ich glaube auch nicht an altägyptische Götter wie Osiris, Thot, Nut, Anubis oder seinen Bruder Horus, der angeblich wie Jesus und viele andere Götter aus der ganzen Welt von einer Jungfrau zur Welt gebracht wurde. Ich glaube nicht an Hadad oder Enlil oder Anu oder Dagon oder Marduk oder irgendeinen altbabylonischen Gott.
Ich glaube nicht an Anyanwu, Mawu, Ngai oder einen der Sonnengötter Afrikas. Ebenso glaube ich nicht an Bila, Gnowee, Wala, Wuriupranili, Karraur oder eine der Sonnengöttinnen der australischen Ureinwohnerstämme. Ich glaube nicht an die vielen keltischen Götter und Göttinnen wie die irische Sonnengöttin Edain oder den Mondgott Elatha. Ich glaube weder an die chinesische Wassergöttin Mazu noch an den Haigott Dakuwaqa von den Fidschi-Inseln oder den hethitischen Meeresdrachen Illuyanka. Ich glaube an keinen der Hunderte und Aberhunderte von Himmelsgöttern, Flussgöttern, Meeresgöttern, Sonnengöttern, Sternengöttern, Mondgöttern, Wettergöttern, Waldgöttern … so viele Götter, und an keinen davon muss man glauben.
Ich glaube auch nicht an Jahwe, den Gott der Juden. An ihn glaubst du wahrscheinlich, wenn du als Jude, Christ oder Muslim aufgewachsen bist. Der jüdische Gott wurde von den Christen und (unter dem arabischen Namen Allah) von den Muslimen übernommen. Christentum und Islam sind Ableger der alten jüdischen Religion. Der erste Teil der christlichen Bibel ist rein jüdisch, und das heilige Buch der Muslime, der Koran, leitet sich teilweise von jüdischen Schriften ab. Diese drei Religionen – Judentum, Christentum und Islam – werden oft zusammenfassend als »abrahamitische« Religionen bezeichnet, weil alle drei ihre Wurzeln auf den mythischen Stammvater Abraham zurückführen, der auch als Begründer des jüdischen Volkes verehrt wird. Abraham wird uns in einem späteren Kapitel wieder begegnen.
Alle drei Religionen werden auch als monotheistisch bezeichnet, weil ihre Mitglieder behaupten, sie würden nur an einen Gott glauben. Dass ich »behaupten« sage, hat mehrere Gründe. Jahwe, heute der beherrschende Gott, den die meisten Menschen meinen, wenn sie »Gott« sagen, fing relativ klein an als Stammesgott der alten Israeliten, die sich für sein »auserwähltes Volk« hielten und glaubten, er werde für sie sorgen. (Dass Jahwe heute auf der ganzen Welt angebetet wird, ist ein historischer Zufall: Es liegt daran, dass Kaiser Konstantin das Christentum 312 n. Chr. zur Staatsreligion des Römischen Reiches machte.) Die Nachbarstämme hatten ihre eigenen Götter, die ihnen nach ihrem Glauben besonderen Schutz gewährten. Und auch wenn die Israeliten ihren Gott Jahwe anbeteten, heißt das nicht zwangsläufig, dass sie nicht auch an andere Götter glaubten, so an Baal, den Fruchtbarkeitsgott der Kanaaniter; sie hielten Jahwe nur für mächtiger – und (wie wir später noch genauer erfahren werden) für extrem eifersüchtig: Wehe dem, der dabei erwischt wurde, wie er mit einem der anderen Götter liebäugelte.
Auch der Monotheismus der heutigen Christen und Muslime ist zweifelhaft. Sie glauben beispielsweise an einen bösen »Teufel« namens Satan (im Christentum) oder Schaitan (im Islam). Er ist auch unter verschiedenen anderen Namen bekannt, wie Beelzebub, Old Nick, der Böse, der Widersacher, Belial oder Luzifer. Sie würden ihn nicht als Gott bezeichnen, schreiben ihm aber göttliche Kräfte zu, und es heißt, er führe mit seinen Kräften des Bösen einen gigantischen Krieg gegen die guten Kräfte Gottes. Religionen erben häufig Ideen von älteren Religionen. Die Vorstellung von einem kosmischen Krieg zwischen Gut und Böse geht wahrscheinlich auf den Zoroastrismus zurück, eine frühe Religion, die von dem persischen Propheten Zoroaster (auch Zarathustra genannt) gegründet wurde und Einfluss auf die abrahamitischen Religionen hatte. Der Zoroastrismus war eine Zwei-Götter-Religion, in der ein guter Gott (Ahura Mazda) gegen den Gott des Bösen (Angra Mainyu) kämpfte. Noch heute gibt es insbesondere in Indien einige Zoroastrianer. Auch das ist eine Religion, an die ich nicht glaube, und du vermutlich auch nicht.
Zu den eher seltsamen Vorwürfen, die insbesondere in Amerika und in islamischen Ländern gegen Atheisten erhoben werden, gehört die Behauptung, sie würden den Satan anbeten. Natürlich glauben Atheisten ebenso wenig an böse Götter wie an gute. Sie glauben an überhaupt nichts Übernatürliches. Nur religiöse Menschen glauben an den Satan.
Das Christentum grenzt auch in anderer Hinsicht an Polytheismus. »Vater, Sohn und Heiliger Geist« werden als »Dreieinigkeit« oder »Dreifaltigkeit« bezeichnet. Was das genau bedeutet, wurde im Lauf der Jahrhunderte immer wieder hitzig und oftmals unter Gewaltanwendung diskutiert. Es hört sich wie eine Formel an, mit der man den Polytheismus in das Korsett des Monotheismus zwängen will. Es ist also verzeihlich, wenn man von Tritheismus spricht. In der Geschichte des Christentums wurde die erste Spaltung in östliche (orthodoxe) und westliche (römisch-katholische) Kirche im Wesentlichen durch Meinungsverschiedenheiten über folgende Frage ausgelöst: Geht der Heilige Geist aus dem Vater und dem Sohn hervor (was das auch heißen mag) oder nur aus dem Vater? Theologen verwenden tatsächlich ihre Zeit darauf, über solche Dinge nachzudenken.
Und dann gibt es Maria, die Mutter Jesu. Für Katholiken ist Maria in jeder Hinsicht mit Ausnahme des Namens eine Göttin. Sie streiten zwar ab, dass Maria eine Göttin ist, beten sie aber dennoch an. Sie glauben, Maria habe »unbefleckt empfangen«. Was bedeutet das? Nun ja, Katholiken glauben, wir seien alle »in Sünde geboren«. Selbst kleine Babys, von denen man meinen könnte, sie seien zu jung zum Sündigen. Jedenfalls war Maria (wie Jesus) nach Ansicht der Katholiken eine Ausnahme. Wir anderen erben alle die Sünde Adams, des ersten Mannes. In Wirklichkeit hat es Adam nie gegeben, also konnte er auch nicht sündigen. Aber von solchen kleinen Details lassen sich katholische Theologen nicht abschrecken. Katholiken glauben auch, Maria sei nicht wie alle anderen Menschen gestorben, sondern körperlich in den Himmel »aufgefahren«. Sie gilt ihnen als »Himmelskönigin« (manchmal sogar als »Königin des Universums«!), die oben auf dem Kopf eine kleine Krone balanciert. All diese Dinge, so scheint es, machen sie mindestens ebenso sehr zu einer Göttin wie die Tausenden und Abertausenden von hinduistischen Gottheiten (die in der Vorstellung der Hindus selbst nur verschiedene Spielarten eines einzigen Gottes sind). Wenn Griechen, Römer und Wikinger Polytheisten waren, sind es die Katholiken auch.
Katholiken beten auch einzelne Heilige an, tote Menschen, die als besonders heilig gelten und von einem Papst »kanonisiert« wurden. Papst Johannes Paul II. kanonisierte 482 neue Heilige, und der derzeitige Papst Franziskus nahm an einem einzigen Tag nicht weniger als 813 Heiligsprechungen vor. Viele Heilige sollen besondere Fähigkeiten haben, und deshalb lohnt es sich, zu ihnen zu beten, wenn man ein bestimmtes Anliegen hat oder zu einer bestimmten Menschengruppe gehört. Der heilige Andreas ist der Schutzpatron der Fischhändler, der heilige Thomas ist der Schutzpatron der Architekten, der heilige Donatus der Schutzpatron der Winzer, der heilige Vinzenz der Schutzpatron der Holzfäller, die heilige Lidwina die Schutzpatronin der Schlittschuhläufer. Wer um Geduld beten muss, dem wird ein Katholik vielleicht raten, sich an die heilige Rita von Cascia zu wenden. Wenn der Glaube wankt, kann man es mit dem heiligen Johannes vom Kreuz versuchen. Wenn jemand Kummer oder seelische Furcht empfindet, ist die heilige Dymphna vielleicht am besten. Krebskranke versuchen es gern beim heiligen Peregrinus Laziosi. Wenn man die Schlüssel verloren hat, ist der heilige Antonius der Richtige. Dann gibt es noch die Engel mit ihren verschiedenen Rängen von den Seraphim an der Spitze über die Erzengel bis hinunter zum persönlichen Schutzengel. Auch hier werden Katholiken abstreiten, dass es sich bei den Engeln um Götter oder Halbgötter handelt, und sie werden auch einwenden, dass man zu Heiligen eigentlich nicht betet, sondern sie nur bittet, bei Gott ein gutes Wort einzulegen. Muslime glauben ebenfalls an Engel, außerdem an Dämonen, die sie Dschinns nennen.
Nach meiner Ansicht spielt es keine Rolle, ob Maria, die Heiligen und die Erzengel nun Götter, Halbgötter oder keines von beiden sind. Darüber zu streiten, ob Engel Halbgötter sind, ist das Gleiche, als würde man fragen, ob Feen das Gleiche sind wie Elfen.
An Feen und Elfen glaubst du vermutlich nicht, aber wahrscheinlich bis du in einer der drei abrahamitischen Glaubensrichtungen als Jude, Christ oder Muslim aufgewachsen. Ich wurde zufällig christlich erzogen. Ich ging auf christliche Schulen und wurde mit dreizehn Jahren in der anglikanischen Kirche konfirmiert. Mit fünfzehn gab ich das Christentum schließlich auf. Unter anderem hatte das folgenden Grund: Schon mit neun Jahren war mir klar, dass ich fest an Odin und Thor geglaubt hätte, wenn meine Eltern Wikinger gewesen wären. Wäre ich im alten Griechenland geboren worden, hätte ich Zeus und Aphrodite angebetet. Wenn ich in der heutigen Zeit in Pakistan oder Ägypten das Licht der Welt erblickt hätte, würde ich glauben, dass Jesus nur ein Prophet war, aber nicht der Sohn Gottes, wie es die christlichen Priester lehren. Und wenn ich das Kind jüdischer Eltern wäre, würde ich nicht glauben, dass Jesus der Messias war, wie ich es in meinen christlichen Schulen gelernt hatte, sondern ich würde noch heute auf den Messias warten. Menschen, die in verschiedenen Ländern aufwachsen, machen es ihren Eltern nach und glauben an den Gott oder die Götter ihres Landes. Diese Glaubensrichtungen widersprechen einander, also können nicht alle richtig sein.
Und wenn eine davon richtig wäre: Warum sollte das ausgerechnet diejenige sein, die du zufällig in dem Land, in dem du geboren wurdest, geerbt hast? Man muss kein Zyniker sein, um ungefähr Folgendes zu denken: »Ist es nicht bemerkenswert, dass nahezu jedes Kind derselben Religion angehört wie seine Eltern, und dass das immer zufällig die richtige Religion ist?« Eines meiner Lieblingsärgernisse ist die Gewohnheit, Kinder mit der Religion ihrer Eltern zu etikettieren: »katholisches Kind«, »protestantisches Kind«, »muslimisches Kind«. Solche Aussagen hört man über Kinder, die so klein sind, dass sie noch nicht sprechen können, von religiösen Überzeugungen ganz zu schweigen! Mir kommt das ebenso absurd vor, als würde man von einem »sozialistischen Kind« oder einem »konservativen Kind« sprechen, und tatsächlich würde niemand solche Formulierungen verwenden. Auch von »atheistischen Kindern« sollten wir meiner Meinung nach nicht sprechen.
Nun noch ein paar Bezeichnungen für ungläubige Menschen. Viele vermeiden das Wort »Atheist«, obwohl sie an keinen mit einem Namen versehenen Gott glauben. Manche sagen einfach »ich weiß es nicht, wir können es nicht wissen«. Solche Menschen bezeichnen sich als »Agnostiker«. Der Begriff (der auf das griechische Wort für »Unwissen« zurückgeht) wurde von Thomas Henry Huxley geprägt, einem Freund von Charles Darwin. Huxley wurde vielfach als »Darwins Bulldogge« bezeichnet, weil er sich öffentlich für Darwin einsetzte, wenn dieser selbst zu schüchtern, zu beschäftigt oder zu krank war. Nach Ansicht mancher Menschen, die sich Agnostiker nennen, ist es gleichermaßen wahrscheinlich, dass es Götter gibt oder nicht. Ich halte das für eine ziemlich schwache Ausrede, und Huxley hätte mir zugestimmt. Wir können auch nicht beweisen, dass es keine Feen gibt, aber das heißt nicht, dass die Chance, dass Feen existieren, fünfzig zu fünfzig beträgt. Vernünftigere Agnostiker erklären, sie könnten es nicht sicher wissen, halten es aber für sehr unwahrscheinlich, dass es irgendwelche Götter gibt. Andere halten es vielleicht nicht für unwahrscheinlich, sagen aber, wir wüssten es einfach nicht.
Manche Menschen glauben auch nicht an Götter, die einen Namen tragen, sehnen sich aber nach »einer höheren Macht«, einem »reinen Geist«, einer kreativen Intelligenz, über die wir nichts wissen, außer dass sie das Universum erschaffen hat. Sie sagen dann vielleicht: »Nun ja, an Gott« – womit sie vermutlich den abrahamitischen Gott meinen – »glaube ich nicht, aber ich kann mir auch nicht vorstellen, dass das hier alles ist. Es muss doch noch mehr geben, etwas darüber Hinausgehendes.«
Manche derartige Menschen nennen sich »Pantheisten«. In der Frage, was sie glauben, sind sie ein wenig vage. Sie sagen Dinge wie »mein Gott ist alles«, »mein Gott ist die Natur« oder »mein Gott ist das Universum«. Oder »Mein Gott ist das Geheimnis von allem, was wir nicht verstehen«. Ungefähr in diesem zuletzt genannten Sinn bediente sich der große Physiker Albert Einstein des Wortes »Gott«. Das ist etwas ganz anderes als ein Gott, der unsere Gebete erhört, unsere innersten Gedanken lesen kann und unsere Sünden vergibt (oder bestraft) – was der abrahamitische Gott angeblich alles kann. Einstein erklärte klipp und klar, dass er nicht an einen persönlichen Gott glaube, der solche Dinge tut.
Andere, die sich selbst »Deisten« nennen, glauben an keinen der mit Namen versehenen Götter aus der Geschichte. Aber sie glauben im Vergleich zu den Pantheisten an etwas ein bisschen Konkreteres: an eine kreative Intelligenz, die die Gesetze des Universums erfunden und am Anbeginn von Raum und Zeit alles in Bewegung gesetzt hat, um sich dann zurückzulehnen und nichts mehr zu tun. Sie ließ nur noch alles nach den Gesetzen geschehen, die sie (es?) festgelegt hatte. Einige Gründerväter der Vereinigten Staaten, Männer wie Thomas Jefferson und James Madison, waren Deisten. Mein Verdacht: Hätten sie nicht im 18. Jahrhundert, sondern nach Charles Darwin gelebt, wären sie Atheisten gewesen; beweisen kann ich das allerdings nicht.
Wenn Menschen sich als Atheisten bezeichnen, meinen sie damit nicht, sie könnten beweisen, dass es keine Götter gibt. Zu beweisen, dass etwas nicht existiert, ist streng genommen niemals möglich. Dass es keine Götter gibt, wissen wir letztlich ebenso wenig, wie wir beweisen können, dass Feen oder Elfen oder Kobolde oder Trolle oder rosa Einhörner nicht existieren; genauso wenig können wir beweisen, dass es den Weihnachtsmann, den Osterhasen oder die Zahnfee nicht gibt. Wir können uns unzählige Dinge ausdenken, und niemand kann uns widerlegen. Diese Tatsache verdeutlichte der Philosoph Bertrand Russell sehr eindringlich mit einem Wortspiel. Wenn ich dir erzähle, so sagte er, dass sich eine Porzellanteekanne in einer Umlaufbahn um die Sonne befindet, könntest du meine Behauptung nicht widerlegen. Aber wenn man etwas nicht widerlegen kann, ist das kein stichhaltiger Grund, es zu glauben. In einem strengen Sinn wären wir also alle »Teekannen-Agnostiker«. In der Praxis sind wir A-Teekannisten. Atheist (streng genommen also Agnostiker) kann man ebenso sein, wie man A-Teekannist, A-Feeist, A-Elfist-, A-Einhornist oder A-was-du-dir-ausdenken-kannst-ist sein kann.
Streng genommen sollten wir also im Hinblick auf die unzähligen Dinge, die wir uns ausmalen und nicht widerlegen können, Agnostiker sein. Aber wir glauben nicht an sie. Solange nicht jemand einen guten Grund nennt, warum wir daran glauben sollen, ist es Zeitvergeudung, uns darum zu bemühen. Diese Einstellung haben wir alle gegenüber Thor und Apollo und Ra und Marduk und Mithras und dem Großen Juju auf dem Berg. Können wir nicht einen Schritt weiter gehen und genauso auch über Jahwe oder Allah denken?
»Solange nicht jemand einen guten Grund nennt«, habe ich gesagt. Nun ja, viele Menschen haben vermeintliche Gründe dafür genannt, warum sie an diesen oder jenen Gott glauben sollten. Oder auch an eine nicht benannte »höhere Macht« oder eine »kreative Intelligenz«. Wir müssen uns also diese Gründe ansehen und feststellen, ob es wirklich gute Gründe sind. Einige davon werden wir in diesem Buch betrachten, insbesondere im zweiten Teil, der von Evolution handelt.
Über dieses große Thema möchte ich hier nur sagen: Die Evolution ist eine eindeutige Tatsache. Wir sind die Vettern der Schimpansen, etwas weiter entfernte Vettern der Kleinaffen, sehr weit entfernte Vettern der Fische und so weiter.
Viele Menschen glauben wegen bestimmter Schriften an ihren Gott oder ihre Götter: wegen der Bibel, des Korans oder eines anderen heiligen Buches. Dieses Kapitel hat dich vielleicht bereits darauf eingestimmt, an solchen Gründen für den Glauben zu zweifeln. Es gibt so viele Glaubensrichtungen. Woher weißt du, dass das heilige Buch, mit dem du aufgewachsen bist, das richtige ist? Und wenn alle anderen unrecht haben, wie kommst du dann darauf, dass nicht auch dein heiliges Buch unrecht hat? Viele von euch, die diese Zeilen lesen, sind wahrscheinlich mit einem ganz bestimmten heiligen Buch groß geworden: der Bibel der Christen. Das nächste Kapitel handelt von der Bibel. Wer hat sie geschrieben, und welche Gründe könnte man haben, daran zu glauben, dass ihre Aussagen wahr sind?
· 2 ·
Aber ist es wahr?
Wie viel von dem, was in der Bibel steht, ist wahr?
Woher wissen wir überhaupt, was in früheren Zeiten wirklich geschehen ist? Woher wissen wir, dass Julius Caesar existiert hat? Oder Wilhelm der Eroberer? Augenzeugen gibt es heute nicht mehr; und selbst Augenzeugen sind oftmals erstaunlich unzuverlässig – das kann jeder Polizeibeamte bestätigen, der Aussagen aufnimmt. Dass Caesar und Wilhelm gelebt haben, wissen wir, weil Archäologen aufschlussreiche Überreste gefunden haben und es viele Bestätigungen in Dokumenten gibt, die zu ihren Lebzeiten geschrieben wurden. Wenn aber die einzigen Belege für ein Ereignis oder eine Person erst Jahrzehnte oder Jahrhunderte nach dem Tod aller Zeugen niedergeschrieben wurden, sind Historiker misstrauisch. Die Belege sind dann nur schwach, weil sie mündlich überliefert wurden und dabei leicht verzerrt werden konnten. Das gilt insbesondere, wenn der Autor voreingenommen war. Winston Churchill sagte einmal: »Die Geschichte wird freundlich mit mir umgehen, denn ich habe vor, sie zu schreiben!« In diesem Kapitel werden wir erfahren, dass die meisten Geschichten über Jesus im Neuen Testament problematisch sind. Das Alte Testament muss bis zum dritten Kapitel warten.
Jesus sprach Aramäisch, eine semitische Sprache, die mit dem Hebräischen verwandt ist. Die Bücher des Neuen Testaments wurden ursprünglich auf Griechisch geschrieben, die des Alten Testaments auf Hebräisch. Es gibt davon viele Übersetzungen. Die berühmteste englische Fassung ist die King-James-Bibel von 1611, die so genannt wird, weil König James (Jakob) I. (Jakob VI. von Schottland) sie in Auftrag gab. Die King-James-Bibel ist auch meine Lieblingsübersetzung, weil ich die Sprache wunderschön finde – was nicht verwunderlich ist, denn ihr Englisch ist jenes der Shakespeare-Zeit. Da diese Sprache aber für heutige Leser nicht immer gut zu verstehen ist, habe ich mich widerwillig entschlossen, für dieses Buch eine moderne Übersetzung zu verwenden, die New International Version. Aus ihr stammen die Zitate, wenn nicht etwas anderes angegeben ist.1
Es gibt ein Partyspiel, das in Großbritannien als »Chinese Whispers«, in Amerika als »Telephone« und in Deutschland als »Stille Post« bekannt ist. Die Teilnehmer – beispielsweise zehn Personen – stellen sich in einer Reihe nebeneinander. Die erste Person flüstert ihrem Nachbarn etwas ins Ohr – beispielsweise eine Geschichte. Die zweite flüstert die Geschichte an die dritte weiter, die dritte an die vierte und so weiter. Wenn die Story schließlich bei der zehnten Person angekommen ist, wiederholt diese vor der ganzen Gruppe, was sie verstanden hat. Sofern die ursprüngliche Geschichte nicht außerordentlich einfach und kurz war, hat sie sich unterwegs in der Regel stark und häufig auf lustige Weise verändert. Dabei wandeln sich nicht nur die Worte, sondern auch wichtige inhaltliche Details der Geschichte selbst.
Bevor die Schrift erfunden war und die wissenschaftliche Archäologie begonnen hatte, waren mündlich überlieferte Erzählungen mit all ihren Stille-Post-Verfälschungen der einzige Weg, auf dem Menschen etwas über die Vergangenheit erfuhren. Und dieser Weg ist entsetzlich unzuverlässig. Jedes Mal, wenn eine Generation von Geschichtenerzählern der nächsten Platz macht, wird die Handlung weiter verfälscht. Am Ende ist die Geschichte – die tatsächlichen Ereignisse der Vergangenheit – in Mythen und Legenden verloren gegangen. Heute lässt sich nur schwer feststellen, ob hinter dem griechischen Sagenhelden Achilleus oder der sagenumwobenen Schönheit Helena, deren Gesicht »tausend Schiffe ablegen ließ«, jemals echte Menschen steckten. Als der Dichter Homer die Erzählungen niederschrieb (und wir wissen nicht einmal auf das Jahrhundert genau, wann das war), waren sie längst durch Generationen der mündlichen Nacherzählung verändert. Jede verlässliche Wahrheit hatte sich aufgelöst. Wir wissen nicht, wer »Homer« war oder wann er lebte, ob er blind war, wie die Legende es behauptet, und ob es sich dabei um eine Person oder um mehrere handelte. Und wir wissen nicht, wo seine Geschichten ihren Ursprung hatten, bevor sie den verzerrenden Filter der mündlichen Überlieferung durchliefen. Waren es ursprünglich Tatsachenberichte, die dann verfälscht wurden? Oder waren es von vornherein ausgedachte Erzählungen, die sich im Lauf der Zeit durch wiederholtes Nacherzählen veränderten?
Für die Geschichten im Alten Testament gilt das Gleiche. Wir haben nicht mehr Grund, sie für wahr zu halten, als bei Homers Erzählungen über Achilleus oder Helena. Die Geschichten von Abraham und Josef sind hebräische Legenden, genau wie die Erzählungen von Homer griechische Legenden sind. Und wie sieht es mit dem Neuen Testament aus? Hier besteht mehr Hoffnung, wahre historische Hintergründe zu finden, denn es berichtet über eine spätere Periode als das Alte: über die Zeit vor nur zweitausend Jahren. Aber wie viel wissen wir wirklich über Jesus? Können wir sicher sein, dass er überhaupt existierte? Die meisten heutigen Fachleute – allerdings nicht alle – glauben, dass es vermutlich so war. Welche Belege sprechen dafür?
Die Evangelien? Sie stehen am Anfang des Neuen Testaments, deshalb könnte man glauben, sie seien als Erstes geschrieben worden. In Wirklichkeit finden wir die ältesten Bücher im Neuen Testament fast ganz am Ende: Es sind die Briefe des Paulus. Leider sagt Paulus kaum etwas über das Leben Jesu. In seinen Briefen steht viel über Jesu religiöse Bedeutung, insbesondere über seinen Tod und die Wiederauferstehung, aber sie enthalten fast nichts, das auch nur den Anspruch auf eine historische Darstellung erhebt. Vielleicht glaubte Paulus, seine Leser würden die Geschichte über das Leben Jesu bereits kennen. Möglicherweise kannte aber auch Paulus selbst sie nicht: Wie gesagt, die Evangelien waren noch nicht geschrieben. Vielleicht hielt er sie auch nicht für wichtig. Die Historiker wundern sich darüber, dass Tatsachen über Jesus in den Paulusbriefen fehlen. Schließlich war Paulus daran gelegen, dass die Menschen Jesus anbeteten; ist es da nicht ein wenig seltsam, dass er fast nichts darüber berichtet, was Jesus tatsächlich gesagt oder getan hatte?
Auch etwas anderes beunruhigt die Historiker: In historischen Schriften außerhalb der Evangelien wird Jesus kaum einmal erwähnt. Der jüdische Historiker Josephus (37/38 – ca. 100 n. Chr.) hatte über ihn nur Folgendes zu sagen:
Ungefähr zu dieser Zeit lebte Jesus, ein weiser Mensch, wenn man ihn überhaupt einen Menschen nennen kann. Er war nämlich jemand, der erstaunliche Taten vollbrachte, und er war ein Lehrer, von dem die Leute die Wahrheit gern annahmen. Er gewann viele Juden und viele Griechen für sich. Er war der Messias. Und als Pilatus ihn nach einer Anklage unserer wichtigsten Männer zur Kreuzigung verurteilt hatte, gaben diejenigen, die ihn als Erste geliebt hatten, nicht auf. Er schien ihnen am dritten Tag wieder ins Leben zurückgekehrt zu sein, denn die Propheten Gottes hatten dies und tausend andere wundersame Dinge über ihn vorhergesagt. Und der Stamm der Christen, die sich nach ihm so nennen, ist bis heute nicht verschwunden.
Viele Historiker haben den Verdacht, dass dieser Absatz eine Fälschung ist, die später von einem christlichen Autor hinzugeschmuggelt wurde. Am verdächtigsten ist die Formulierung »er war der Messias«. In der jüdischen Überlieferung war »Messias« der Name eines lange versprochenen jüdischen Königs oder Militärführers, der geboren wurde, um über die Feinde der Juden zu triumphieren. Die Christen lehrten, Jesus sei dieser Messias (»Christus« ist einfach die griechische Übersetzung des Worts). Aber auf einen gläubigen Juden wirkte Jesus überhaupt nicht wie ein Militärführer. Damit drückt man es sogar noch milde aus. Seine Friedensbotschaft – wenn jemand dich auf die eine Wange schlägt, halte ihm auch die andere hin – ist nicht gerade das, was wir von einem Soldaten erwarten. Und Jesus führte auch keineswegs die Juden gegen die römischen Unterdrücker seiner Zeit in den Kampf, sondern ließ sich widerstandslos von ihnen hinrichten. Die Idee, Jesus sei der Messias, wäre einem frommen Juden wie Josephus ziemlich hirnrissig vorgekommen. Und wenn Josephus irgendwie seine ganze Erziehung hinter sich gelassen und sich selbst überzeugt hätte, dass ein so unwahrscheinlicher Charakter wie Jesus tatsächlich der Messias war, hätte er es sicher an die große Glocke gehängt. Er hätte nicht nur beiläufig den Satz »er war der Messias« fallen lassen. Das Ganze hört sich stark nach einer späteren christlichen Fälschung an. Und genau das glauben heute auch die meisten Fachleute.
Der einzige andere antike Historiker, der Jesus erwähnt, ist der Römer Tacitus (ca. 54–120 n. Chr.). Seine Schriften liefern überzeugendere Belege dafür, dass Jesus existierte, und das aus dem zweifelhaften Grund, dass Tacitus über die Christen nichts Gutes zu sagen hatte. Er schrieb auf Lateinisch über ein Ereignis während der Verfolgung der ersten Christen durch den Kaiser Nero (37–87 n. Chr.):
Um also dieses Gerücht niederzuschlagen, schob Nero die Schuld auf andere und belegte mit den ausgesuchtesten Strafen jene Menschen, die das Volk wegen ihrer Schandtaten hasste und Christen nannte. Ihr Namensgeber, Christus, war unter der Regierung des Tiberius durch den Prokurator Pontius Pilatus hingerichtet worden. Für kurze Zeit war jene heillose Schwärmerei dadurch unterdrückt, brach aber aufs Neue aus, nicht allein in Judäa, von wo das Unheil ausgegangen war, sondern auch in der Hauptstadt, in die von überallher alle Gräuel und Schändlichkeiten zusammenströmen und Anklang finden.2
Hier fügten Christen später nichts hinzu!
Unter dem Strich spricht die Wahrscheinlichkeit nach Ansicht der meisten, aber nicht aller Fachleute dafür, dass Jesus tatsächlich existiert hat. Natürlich wüssten wir es mit Sicherheit, wenn wir davon ausgehen könnten, dass die vier Evangelien des Neuen Testaments historisch zutreffen. Bis vor kurzer Zeit zweifelte niemand an ihnen. Es gibt sogar die Redewendung, eine Äußerung oder Schrift als Evangelium zu bezeichnen, was bedeutet, dass sie wahrer nicht sein kann. Aber diese Formulierung klingt heute, nach Untersuchungen (insbesondere deutscher) Wissenschaftler aus dem 19. und 20. Jahrhundert, ziemlich hohl.
Wer hat die Evangelien geschrieben? Und wann? Viele Menschen glauben fälschlich, das »Matthäusevangelium« sei von dem Steuereintreiber Matthäus geschrieben worden, einem der zwölf engen Gefährten oder Jünger von Jesus. Auch das Johannesevangelium wurde nicht von dem Johannes aus der kleinen Gruppe verfasst, der als der »Lieblingsjünger« bekannt wurde. Sie glauben, ein junger Gefährte von Jesu wichtigstem Jünger Petrus sei der Verfasser des Markusevangeliums, und »Lukas« sei ein Arzt und Freund von Paulus gewesen. In Wirklichkeit hat aber niemand auch nur die geringste Ahnung, wer die Evangelien wirklich geschrieben hat. In allen vier Fällen gibt es dafür keine überzeugenden Belege. Die Namen wurden später von Christen einfach aus Gründen der Bequemlichkeit an den Anfang der Evangelien gestellt. Das sah sicher besser aus, als wenn man ihnen langweilige, neutrale Namen wie A, B, C und D gegeben hätte. Kein ernst zu nehmender Wissenschaftler glaubt heute noch, dass die Evangelien von Augenzeugen geschrieben wurden; vielmehr sind sich alle einig, dass sogar das älteste, das Markusevangelium, erst fünfunddreißig bis vierzig Jahre nach dem Tod Jesu entstanden ist. Lukas und Matthäus bezogen ihre Geschichten zum größten Teil aus dem Markusevangelium sowie aus einem verschollenen griechischen Schriftstück, das als »Q« bekannt ist. Alles, was in den Evangelien steht, hat durch jahrzehntelange mündliche Überlieferung gelitten; nach Art der Stillen Post kam es zu Verzerrungen und Übertreibungen, bevor die vier Texte am Ende aufgeschrieben wurden.
Bei der Ermordung des Präsidenten Kennedy im Jahr 1963 gab es Hunderte von Zeugen. Das Ereignis wurde im Film festgehalten. Zeitungen auf der ganzen Welt berichteten noch am selben Tag. Die sogenannte Warren-Kommission wurde eingerichtet, um jede Einzelheit des Geschehens aufzuklären. Sie holte sich fachkundigen Rat von Wissenschaftlern, Ärzten, forensischen Ermittlern und Experten für Feuerwaffen. Der Warren-Report gelangte auf 888 Seiten zu dem Schluss, dass Kennedy von dem Einzeltäter Lee Harvey Oswald getötet wurde. Im Lauf der Jahre entwickelten sich jedoch Mythen, Legenden und Verschwörungstheorien, und die werden vermutlich weiter wachsen und erzählt werden, wenn alle Augenzeugen längst tot sind.
Die »9/11«-Anschläge auf New York und Washington ereigneten sich vor noch nicht einmal zwanzig Jahren, das ist ein kürzerer Zeitraum, als zwischen dem Tod Jesu und der Entstehung des ältesten Evangeliums, des Berichts nach Markus, verging. Die Tatsachen des 11. September 2001 wurden umfassend dokumentiert, zahlreiche Zeugen berichteten darüber, und sie wurden in allen Einzelheiten immer wieder durchgekaut. Und doch besteht darüber keine Einigkeit. Im Internet wimmelt es von widersprüchlichen Gerüchten, Legenden und Theorien. Manche Leute glauben, dass Ganze sei eine amerikanische Verschwörung gewesen. Oder eine israelische Verschwörung. Oder sogar eine Verschwörung von Aliens aus dem Weltraum. Andere glaubten zu jener Zeit ohne jeden Beleg, die Planung sei von Saddam Hussein ausgegangen, dem Diktator des Irak. Das rechtfertigte in ihren Augen die Invasion des Präsidenten Bush in dieses Land (auch wenn es nie als offizielle Begründung genannt wurde). Augenzeugen fotografierten das vermeintliche Gesicht des Satans in den Rauch- und Staubwolken, die an jenem Tag über New York hingen.
Leider stimmt es – und das Internet macht es deutlicher als je zuvor –, dass Menschen sich Dinge einfach ausdenken. Und Gerüchte und Tratsch verbreiten sich wie Epidemien, und zwar unabhängig von der Wahrheit. Der große amerikanische Schriftsteller Mark Twain soll einmal gesagt haben: »Eine Lüge kann sich um die halbe Welt verbreiten, bevor sich die Wahrheit auch nur die Schuhe angezogen hat.« Das gilt nicht nur für boshafte Lügen, sondern auch für gute Geschichten, die nicht stimmen, aber amüsant sind, sodass es Spaß macht, sie weiterzuerzählen, insbesondere wenn man sie in gutem Glauben hört und nicht sicher weiß, dass sie unwahr sind. Oder auch für Storys, die nicht lustig, aber gespenstisch und unheimlich sind – auch das ist ein Grund, warum sie so vielfach weitergegeben werden.
Ich möchte ein typisches Beispiel dafür nennen, wie eine unwahre Geschichte sich verbreitet, weil sie unterhaltsam ist und zu den Erwartungen und Vorurteilen der Menschen passt. Zunächst ein wenig Hintergrundwissen. Der eine oder andere hat vielleicht schon einmal etwas von »Entrückung« gehört. Einige Prediger und Autoren haben in letzter Zeit unter Bezugnahme auf bestimmte Bibelstellen Tausende von Menschen vor allem in Amerika zu der Überzeugung verleitet, einige wenige Glückliche, die wegen ihres guten Charakters auserwählt wurden, würden plötzlich gen Himmel fliegen und dort verschwinden. Diese »Entrückung« kündigt demnach die Wiederkehr Christi an. Wir anderen, die nicht entrückt wurden, »bleiben zurück«. Menschen, die wir kennen, werden plötzlich spurlos verschwinden. »Gen Himmel fahren« bedeutet also vermutlich, dass entrückte Australier in entgegengesetzter Richtung in den Himmel schießen werden wie entrückte Europäer!
Und jetzt kommt die Geschichte. Sie stimmt nicht, wird aber weithin geglaubt und zeigt, wie eine gute Story sich ausbreiten kann. Eine Frau aus Arkansas fuhr hinter einem Lastwagen her, der lebensgroße Ballons in Menschenform geladen hatte. Der Lastwagen hatte einen Unfall, und die rosafarbenen, aufgeblasenen Puppen, die mit Helium gefüllt waren, schwebten gen Himmel. Die Frau glaubte, sie werde Zeugin der Entrückung und der zweiten Wiederkehr Jesu, deshalb schrie sie: »Er ist wieder da, er ist wieder da!« Sie kletterte durch das offene Verdeck ihres fahrenden Autos, um ebenfalls in den Himmel entrückt zu werden. Bei der nachfolgenden Massenkarambolage mit zwanzig Autos kamen nicht nur die Frau selbst, sondern auch dreizehn Unschuldige ums Leben. Man beachte die verdächtig genaue Angabe von »dreizehn Unschuldigen«. Man sollte meinen, ein bloßes Gerücht würde nicht solche Details beinhalten. Aber diese Vermutung ist falsch.
Außerdem erkennt man, wie »verbreitungsfähig« die Geschichte ist. Würde sie jemand so erzählen, als wäre sie eine Tatsache, würden wir sie mit ziemlicher Sicherheit sofort einem anderen weitererzählen. Geschichten verbreiten sich einfach deshalb, weil sie gute Geschichten sind. Vielleicht sind sie lustig. Vielleicht sonnen wir uns in der Aufmerksamkeit, die uns beim Weitererzählen einer guten Story zuteilwird. Die Geschichte von den Heliumpuppen ist nicht nur höchst anschaulich, sondern sie entspricht auch den Erwartungen oder Vorurteilen der Leute. Erkennst du, wie das Gleiche auch für die Erzählungen über die Wunder Jesu oder seine Wiederauferstehung gelten könnte? Die ersten Anhänger der jungen christlichen Religion waren möglicherweise besonders erpicht darauf, Geschichten oder Gerüchte über Jesus weiterzuerzählen, ohne ihren Wahrheitsgehalt zu überprüfen.
Man braucht nur an die verzerrten Legenden über den 11. September oder den Tod Kennedys zu denken, dann kann man sich vorstellen, wie viel einfacher und gründlicher die Dinge verzerrt werden konnten, als es keine Kameras, keine Zeitungen und bis dreißig Jahre nach dem Ereignis auch keine schriftlichen Berichte gab. Man konnte sich auf nichts verlassen außer auf mündlich weitergetragenen Tratsch. Das war die Situation nach dem Tod Jesu. Überall im östlichen Mittelmeerraum, von Palästina bis nach Rom, gab es vereinzelte Gruppen von Christen unterschiedlicher Spielart. Die Kommunikation zwischen diesen lokalen Gruppen war schlecht und selten. Die Evangelien waren noch nicht geschrieben. Es gab kein Neues Testament, das die Gruppen hätte aneinander binden können. Sie waren sich in vielen Dingen nicht einig, beispielsweise in der Frage, ob die Christen auch Juden (und damit beschnitten) sein mussten oder ob das Christentum eine ganz neue Religion war. Manche Paulusbriefe zeigen, wie eine Führungsgestalt sich darum bemühte, Ordnung in das Durcheinander zu bringen.
Auf einen allgemein anerkannten biblischen »Kanon« – auf eine offizielle Liste der Bücher – einigte man sich erst Jahrhunderte nach Paulus’ Tod. Die Bibel, die (protestantische) Christen heute lesen, ist ein Standardkanon aus siebenundzwanzig Büchern im Neuen Testament und neununddreißig im Alten (für römisch-katholische und orthodoxe Christen gibt es noch eine Reihe weiterer Bücher, die häufig als »Apokryphen« bezeichnet werden).
Matthäus, Markus, Lukas und Johannes sind im offiziellen Kanon die einzigen Evangelien, aber wie wir noch genauer erfahren werden, wurden ungefähr zur gleichen Zeit noch viele weitere Evangelien über Jesus verfasst. Festgelegt wurde der Kanon im Wesentlichen im Jahr 325 n. Chr. beim sogenannten Konzil von Nicäa, einer Versammlung von Kirchenführern, die der römische Kaiser Konstantin einberufen hatte – der Herrscher, dessen Bekehrung dazu führte, dass Europa christlich wurde. Er machte das Christentum zur offiziellen Religion des Römischen Reiches. Hätte es Konstantin nicht gegeben, wärst du vermutlich dazu erzogen worden, Jupiter, Apollo, Minerva und die anderen römischen Götter anzubeten. Viel später verbreitete sich das Christentum in Südamerika durch zwei andere Großreiche, nämlich das portugiesische (in Brasilien) und das spanische (im übrigen Kontinent). Dass der Islam in Nordafrika, dem Nahen Osten und auf dem indischen Subkontinent so weit verbreitet ist, war ebenfalls eine Folge militärischer Eroberungen.
Wie ich bereits erwähnt habe, waren Matthäus, Markus, Lukas und Johannes nur vier von zahlreichen Evangelien, die zur Zeit des Konzils von Nicäa die Runde machten. Auf einige dieser weniger bekannten Evangelien werde ich in Kürze zurückkommen. Man hätte jedes von ihnen ebenfalls in den Kanon aufnehmen können, aber aus verschiedenen Gründen geschah das nicht. Häufig lag es daran, dass man sie für ketzerisch hielt, was einfach nur heißt, dass sie Dinge berichteten, die im Widerspruch zu den »orthodoxen« Überzeugungen der Mitglieder des Konzils standen. Ein anderer Grund war, dass sie geringfügig später entstanden waren als die Evangelien nach Matthäus, Markus, Lukas und Johannes. Wie wir aber erfahren haben, wurde selbst das Markusevangelium nicht so früh aufgeschrieben, als dass es eine potenziell zuverlässige historische Quelle sein könnte.
Zum Teil wurden die vier bevorzugten Evangelien aus seltsamen Gründen ausgewählt, die mehr mit poetischer Fantasie als mit Geschichte zu tun hatten. Hundert Jahre vor dem Konzil von Nicäa lebte Irenäus, eine jener einflussreichen Gestalten aus der Frühgeschichte des Christentums, die als »Kirchenväter« bekannt sind. Er war überzeugt, es müsse genau vier Evangelien geben, nicht mehr und nicht weniger. Zur Begründung wies er darauf hin, es gebe auch vier Ecken der Erde und vier Windrichtungen (als ob das eine Rolle spielte). Und als wäre das noch nicht genug, betonte er auch, im Buch der Offenbarung sei davon die Rede, dass Gottes Thron von vier Lebewesen mit vier Gesichtern getragen werde. Die Anregung dazu stammte offenbar von dem Propheten Hesekiel aus dem Alten Testament: Er träumte davon, dass vier Tiere aus einem Wirbelwind auftauchten, jedes davon mit vier Gesichtern. Vier, vier, vier, vier – man kommt von der Zahl Vier nicht weg, natürlich muss es deshalb im Kanon vier Evangelien geben! Ich bedauere, das sagen zu müssen, aber solche »Folgerungen« gehen in der Theologie als Logik durch.
Das Buch der Offenbarung kam übrigens erst hundert Jahre später zum Kanon hinzu, und es ist schade, dass das überhaupt geschah. Ein Bursche namens Johannes hatte eines Nachts auf einer Insel namens Patmos einen seltsamen Traum und schrieb ihn auf. Wir alle haben Träume, und viele davon sind ganz schön seltsam. Bei mir ist das immer der Fall, aber ich halte sie nicht schriftlich fest, und mit Sicherheit glaube ich nicht, sie seien so interessant, dass ich andere Menschen damit belästigen müsste. Der Traum des Johannes war seltsamer als die meisten anderen (es war fast, als hätte er Drogen genommen). Dass er so gewaltigen Einfluss erlangte, liegt einfach daran, dass er es irgendwie schaffte, in den biblischen Kanon aufgenommen zu werden. Heute gilt das Buch der Offenbarung als prophetisch, und in Amerika wird es häufig von hitzigen Predigern zitiert. Zusammen mit dem ersten Brief des Paulus an die Thessalonicher ist es die wichtigste Anregung für die Vorstellung von einer »Entrückung«. Außerdem ist es die Quelle der gefährlichen Idee, die lang ersehnte zweite Wiederkunft Jesu könne erst nach einer »Schlacht von Harmagedon« stattfinden. Dieser Glaube ist der Grund, warum manche Menschen in Amerika sich nach einem umfassenden Nahostkrieg sehnen, an dem Israel beteiligt ist. Sie glauben, dieser Krieg werde »Harmagedon« sein.
Insbesondere in Amerika sind Tausende von Menschen wegen den erstaunlich beliebten Finale – Die letzten Tage der Erde-Romanen ehrlich der hirnrissigen Überzeugung, die Entrückung werde tatsächlich stattfinden. Und das schon bald. Es gibt sogar Websites mit Werbung für einen bezahlten Service, der sich um die Lieblings-Hauskatze kümmert, falls jemand ohne Vorwarnung körperlich in den Himmel »auffährt«. Es ist eine Schande: Den Menschen ist nicht klar, dass es kaum von etwas anderem als vom Zufall abhing, welche Bücher in den Kanon aufgenommen wurden und welche … eben nicht!
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