Attila - William Napier - E-Book

Attila E-Book

William Napier

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Beschreibung

Kriegerdämmerung – der Angriff des Königs Im Jahre des Herrn 449 n. Chr. steht die Welt in Flammen: Attila ist mit seinem mächtigen Heer bis vor die Tore des Oströmischen Reiches vorgedrungen. Die ersten Orte am Ufer der Donau sind von seinen Männern bereits vernichtet worden. Die Bewohner haben keine Chance, denn die Hunnen gehen nicht nur äußerst erbarmungslos vor, sondern auch unerwartet organisiert und militärisch klug. In Konstantinopel und Rom ahnt niemand das Ausmaß der Gefahr. Bis auf einen Mann: Aëtius, Attilas Jugendfreund. Mittlerweile ist er zum obersten Befehlshaber der römischen Truppen aufgestiegen. Doch seine Warnungen verhallen ungehört. Und während sich der innere Machtkampf im Reich zuspitzt, schlagen Attilas Krieger los. Aëtius muss in die Schlacht ziehen – gegen Attila, seinen Vertrauten aus Kindertagen … «Wenn Sie bisher keine historischen Romane mochten, dann haben Sie William Napier noch nicht gelesen.» (The Times)

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Seitenzahl: 827

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William Napier

Attila - Die Welt in Flammen

Historischer Roman

Aus dem Englischen von Olaf Roth und Ulrike Thiesmeyer

Rowohlt Digitalbuch

Inhaltsübersicht

ERSTER TEIL Der Zorn[Kapitel]1. DAS STADTFEST VON MARGUS2. DER UNTERGANG VON MARGUS3. DIE SIEBTE4. ZEHNTAUSENDE5. GNADE UND SCHRECKEN6. DAS SCHIFF DER MARTERN7. DIE TÜRME8. DER RAMMBOCK9. DIE OFENJUNGS10. DAS LETZTE GEFECHT11. DIE KERKER12. FLUCHTZWEITER TEIL Die Goldene Stadt1. AUFKLÄRUNG2. POLITIK UND ZAUBEREI3. AUFBRUCH ZUR HEILIGEN STADT BYZANZ4. DER SCHWAN, DER HAIFISCH UND DER DRACHE5. YANKHIN6. DIE GEKREUZIGTEN7. ENDLICH FRIEDEN8. DIE GESANDTSCHAFT9. ORESTES10. DIE VIPER11. DER VOGELFÄNGER12. DER PASS13. AZIMUNTIUM14. DIE KAISERIN15. GEFANGENE16. DIE VERLASSENE STADT17. DIE MAUERN18. EIN HEILIGER MANN19. DIE FLÜCHTLINGE20. DIE GROSSE BELAGERUNG21. NACHT UND REGEN22. AM SANKT-BARBARA-TOR23. DIE SEUCHE24. BLUT UND GOLDDRITTER TEIL Die letzte Schlacht1. TOD EINER KAISERIN2. DAS ENDE ALLER ZEITEN3. LUCIUS, DER BRITANNIER4. DIE STRASSE DER ZERSTÖRUNG5. DAS RÄTSEL DES WOLFES6. AMALASUNTHA7. AURELIANA8. DIE KATALAUNISCHEN FELDER9. DAS ABGEERNTETE FELD10. HERRSCHER UNTER MÄNNERN11. DER WAHNSINN DES KÖNIGS12. DER GOTT, DER ZÜRNTE13. DAS TOTENBETT14. TOD EINES VERRÄTERSEPILOGANHANGZeittafelDie wichtigsten OrtsbezeichnungenVerzeichnis der wichtigsten PersonenNACHBEMERKUNG DES AUTORS
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ERSTER TEILDer Zorn

1.DAS STADTFEST VON MARGUS

Am Südufer der Donau, Anno Domini 449

Ein Morgen im Frühsommer. Gemächlich windet sich der breite Strom durch die fruchtbaren Ebenen Moesias nach Osten, auf das Schwarze Meer zu. Ein Flickenteppich aus Acker- und Weideland, alten Wäldern sowie blühenden Obstgärten in der Nähe der Stadt. Aus den Bergen kommend strömt die March, ein kleinerer Fluss, in Richtung Norden und mündet schließlich in die majestätische Donau.

Metallisch grün schillernd sausen dicht über der Wasseroberfläche Libellen dahin, Kolonnen winziger Wassermücken tanzen in der lauen Frühsommerluft auf und ab. Weiden und Erlen säumen das Flussufer. Schwarzpappeln lassen ihre wolligen weißen Samen in Wölkchen auf das Wasser hinabregnen, wo sie sich um sich selbst drehen und weiter flussabwärts getragen werden. Silbrig glänzende Elritzen huschen in den Untiefen dahin, zwischen den braunen Felsen tummeln sich Forellen und hübsch getüpfelte Äschen. Im Wasser spiegeln sich leicht gebeugte Sumpfdotterblumen, die Wiesen ringsum sind übersät mit leuchtend gelben Ringelblumen und Schwertlilien. Es herrscht tiefe Stille. Nur der Wind raschelt im Schilf, und vereinzelt ist das Piepsen eines Entleins zu vernehmen, das aufgeregt mit den kleinen Stummelflügeln schlägt, um übers Wasser zu seiner Mutter zurückzuflitzen.

Ein Morgen Anfang Mai, und hier in den Flussauen ist die Natur so friedlich und heiter, dass man sich in den Garten Eden zurückversetzt fühlen könnte, lange vor dem Sündenfall.

Jetzt fällt der Schatten eines Fischreihers aufs Wasser, lautlos und in geringer Höhe dahingleitend. Mit kalten, gefühllosen gelben Augen hält er in der Tiefe unter sich nach Beute Ausschau.

* * *

Nähert man sich dem Städtchen Margus mit seinen alten Mauern und dem Kirchturm mit der einsamen eisernen Glocke, sind Stimmen und die geschäftigen Geräusche von Menschen zu vernehmen. Nackte Kinder, braun und glänzend wie Kiesel, tummeln sich lachend im flachen Wasser am Ufer, wo sie aus Schabernack die hölzernen Fischreusen öffnen und die schon gefangenen Fische in die Freiheit entkommen lassen. Frohes Gelächter schallt über die Straßen und dann auch über die Wiesen vor den Mauern der Stadt, die mit bunter Farbenpracht geschmückt und von einem Sprachengewirr vieler verschiedener Völker erfüllt sind. Hier wird gerade das große, berühmte Stadtfest von Margus begangen.

Es ist ein riesiges, lärmendes, vielsprachiges Lager, das vor Tatkraft, Unternehmungsgeist und auch Habgier nur so summt und brummt. Weit offen stehende Zelte aus Leinwand, bunte Markisen, Verkaufsstände aus geschnitztem und bemaltem Holz. Menschen, die kaufen und verkaufen, zungeschnalzend und mit einer ganz eigenen Sprache aus Gesten, Augenzwinkern und Handzeichen. Käufer, die bedächtig aus ihren Gewändern abgewetzte Lederbeutel hervorkramen, und Verkäufer, die prüfend in Geldstücke beißen – es sind viele Bronzemünzen in Umlauf, die mit Arsen gespült wurden, damit sie wie Silber aussehen. Pelzhändler aus dem hohen Norden, von jenseits der Grenzen des Römischen Imperiums, die Felle von Bären und Mardern, Bibern und Zobeln feilbieten. Singvögel mit glänzenden Augen, die in ihren weidengeflochtenen Käfigen um die Wette trillern. Mädchen, die Wein in einfachen Holzbechern direkt vom Fass anbieten, daneben regelrechte Garküchen und Schänken unter aufgespannter Leinwand. Überall der Duft von geräuchertem Fisch und schmurgelndem Fleisch. Auch Taschendiebe sind natürlich unterwegs, die es auf Betrunkene und unachtsame Besucher abgesehen haben, und Frauen, die hier Ausschau halten nach einem Ehemann – oder wenigstens nach klingender Münze. Leichtfüßig, hüftenschwingend und mit verführerischem Augenaufschlag stolzieren sie zwischen den Männern umher, die in Grüppchen beisammenstehen.

Weiter abseits der warme, durchdringende Geruch von Vieh in bretterumzäunten Pferchen. Viehhändler, Schafshändler, die sich in ihrer ganz eigenen Sprache und Zahlensymbolik verständigen und ihre Verkäufe mit kaum wahrnehmbarem Kopfnicken und Zwinkern abschließen. Überall ist die Luft erfüllt von Begrüßungen und Flüchen, Scherzen und wüsten Zoten, den hellen Stimmen aufgeregter Kinder, dem Schnattern von Gänsen und dem Gezeter eines einzelnen Affen in einem Käfig. Er stammt aus dem Land der Nubier, wie der Verkäufer wenig überzeugend behauptet. Der Affe streckt immer wieder die Hand durch die Käfiggitter und zieht nichtsahnende Leute frech an den Haaren. Und dieses wimmelnde, lärmende menschliche Chaos spielt sich unter der vermeintlichen Aufsicht und Bewachung einer Handvoll Grenzsoldaten ab, deren Legionsfestung Viminacium zehn Meilen weiter östlich trutzig aufragt.

* * *

Auch ein Mädchen war dort auf dem Fest, ein sanftes, verträumtes Mädchen mit einer Hasenscharte, ein Makel, der nach landläufiger Auffassung darauf zurückzuführen war, dass ein Hase den Weg ihrer Mutter gekreuzt hatte, als sie mit ihr schwanger war. Sie hatte ein Tragejoch mit zwei Holzeimern voll Ziegenmilch auf den Schultern, die sie becherweise als Erfrischung feilbot, doch sie nahm nur wenig Geld ein. Als Verkäuferin war sie zu schüchtern und einfach nicht dreist genug. Zu oft verschenkte sie obendrein Milch an arme Kinder, die sie mit hungrigen Augen um einen Becher anbettelten. Wenn sie am Abend heimkehrte, würde ihre Mutter mit ihr schimpfen, weil sie nicht genug verkauft hatte, und wieder einmal würde sie ihr vorwerfen, dass sie den ganzen Tag nur vor sich hin geträumt hatte. Und noch mehr würde sie lamentieren, weil sie keinen Ehemann gefunden hatte, der ihre arme alte Mutter endlich der Sorge um sie entband.

Weil sie sich im dichten Gewühl und Gedränge unwohl fühlte, zog es sie bald zum weniger belebten Ende des Jahrmarkts. Hinter den bunten Zelten und Ständen erstreckten sich weite, offene Wiesen, die bis hinüber reichten zu der Kette niedriger Hügel im Westen und dem hoch aufragenden Mons Aureus, dem goldenen Berg mit seinen legendären Minen. Die Tresorgewölbe in Viminacium, so wurde gemunkelt, waren voller Gold. Wenn ein Transport eine neue Lieferung über die breite, gepflasterte Fernstraße zum Kaiser nach Konstantinopel brachte, wurde er von einem Geleitschutz von eintausend Mann begleitet. Und der Kaiser … der war, so stellte es sich das Mädchen vor, selbst aus Gold gemacht und saß reglos wie eine Statue auf seinem hohen, über und über mit Blattgold überzogenen Thron. Erhaben und unnahbar. Ein lebender Gott.

Jetzt verharrte sie scheu vor dem schmuddeligen Zelt einer alten Frau, das auf knorrigen Holzpfosten ruhte.

«Immer herein, Mädchen, immer herein. In deinem Alter wirst du dir einen Liebsten wünschen!»

Die alte Frau mit dem schlohweißen, zu einem straffen Knoten gebundenen Haar grinste und winkte sie lebhaft zu sich herein. Während sie mit ihren beringten Fingern wedelte, führte sie dabei inmitten ihrer merkwürdigen Waren fast einen kleinen Tanz auf. Die alte Frau war keine Zauberin oder Hexe, die gegen Bezahlung bösen Zauber trieb, düstere Bann- und Racheflüche verhängte und dergleichen; sie war bloß eine Wahrsagerin. Früher am Morgen war ein Geistlicher aus der Stadt zu ihrem Zelt gekommen, hatte sich davor aufgebaut, um mit lauter Stimme über die Bibelstelle «Die Zauberinnen sollst du nicht am Leben lassen» zu predigen, aber die Leute hatten ihn nur verächtlich angesehen und waren weitergegangen. Niemand ließ sich von dem Pfaffen dazu aufwiegeln, der alten Frau auch nur ein Haar zu krümmen.

Das Mädchen stellte zaghaft seine Eimer ab. Die Alte ergriff ihre Hand und zog sie hinein ins schummrige Halbdunkel ihres Zeltes, in dem ein Sammelsurium von Tierpfoten und -schwänzen zu erkennen war, seltsam geformte, muschelähnliche Steine, lange, bunt eingefärbte Reiher- und Bussardfedern, mit leuchtenden Stoffbändern umwickelte und mit Messingglöckchen besetzte Stöcke, Lederbeutel voller Kräuter oder Fläschchen mit allerlei fragwürdigen Tränken. Dann fiel dem Mädchen etwas anderes ins Auge, etwas sehr Schönes, das sie zunächst für einen Spiegel hielt. Einen kleinen Spiegel von der Sorte, in der sich reiche Damen bewundern, wenn sie in ihrer Sänfte durch die breiten Prachtstraßen großer Städte zu abendlichen Gastmählern getragen werden. Mit Gold und Edelsteinen geschmückte Damen mit weiß gepuderten Gesichtern und Unterarmen und kleinen Spiegeln, die ihnen schmeicheln.

Die alte Wahrsagerin, die sofort erriet, was es sich wünschte, eilte hinüber und holte den Gegenstand. Es war eine eigenartige kleine Schatulle, bestehend aus farbigen, durch feine Silberscharniere zusammengefügten Glasplättchen, ein gewiss sehr kostspieliges Stück. Das Mädchen hatte nur die paar kümmerlichen Kupfermünzen bei sich, die es am Morgen bisher eingenommen hatte, doch die Alte trat mit der bunten Glasschatulle trotzdem ins Sonnenlicht hinaus und reichte sie ihr freundlich.

«Sieh hinein», sagte sie. «Halte sie hoch ans Licht. Manche sehen die Welt darin so, wie sie ist, wenn auch in vielen hübschen Farben. Manche aber, die mit der Gabe gesegnet sind, sehen die Welt, wie sie sein wird.»

Das Mädchen zögerte. Eigentlich glaubte sie nicht an solche Dinge. Nicht so richtig. Außerdem, wer ist schon stark genug, einen Blick in die eigene Zukunft zu wagen? Zumal als arme Ziegenmagd mit einer zänkischen Mutter und einer Hasenscharte?

Die Alte nickte aufmunternd. «Sieh hindurch, mein Kind. Die Zukunft könnte doch noch Schönes bereithalten, und du hast die Gabe.»

Irgendwo aus der Ferne drang die Stimme eines Jungen herüber, der gerade mit seinem Boot ans Flussufer gerudert war. Jetzt rief er irgendetwas aus Leibeskräften, während er auf das Fest zurannte. Vermutlich jauchzte er bloß vor Freude und Aufregung.

Das Mädchen hielt also die kleine Schatulle aus buntem Glas vor sich in die Höhe und klappte eins der Plättchen an seinem zarten Scharnier heraus. Es war das dunkelrote Glas, das sie sich vor die Augen hielt, und beim Blick hindurch überlief sie ein kalter Schauer: Sie sah die Welt gleichsam in Blut getränkt. Der goldene Berg im Westen war ein blutiger Berg. Das Geschrei des Jungen wurde lauter, er kam näher. Sie sah die saftig sprießenden Wiesen längs des Flussufers, sah die Menschen, die an diesem schönen Sommertag beladen mit Körben oder Handkarren vor sich herschiebend in Scharen durch das hohe Gras herbeiströmten, um an dem Jahrmarkt teilzunehmen. Und hinter ihnen die Kette der sanften Hügel, auf denen noch das Licht der Morgensonne leuchtete, aber in Rot, ganz in Rot. Die Zukunft.

Sie merkte, wie die Alte sie am Ärmel zog, hörte, dass sie etwas zu ihr sagte, und wollte schon den Blick von dieser fürchterlichen Vision, dieser blutroten zukünftigen Welt abwenden, als ihr in weiter Ferne eine Bewegung auffiel. Statt die unheilverkündende Schatulle sinken zu lassen, starrte sie weiter durch ihren roten Nebel.

Über den Kamm der niedrigen Hügelkette im Westen sah sie eine Reihe von Reitern auftauchen. Banner flatterten im Wind, Speere ragten gen Himmel.

2. DER UNTERGANG VON MARGUS

Niemals sollten die Menschen – jene wenigen, die überlebten und über die blutgetränkte Erde davonwankten, um ihre Geschichte Fremden zu erzählen, die das blanke Grausen packte –, niemals sollten sie jenen Tag vergessen, und auch nicht den Augenblick, als sie die Reiter aus dem Osten zum ersten Mal zu Gesicht bekamen.

Sie ritten auf kräftigen kleinen Ponys mit großen, unansehnlichen Köpfen, grobschlächtig und monströs wie die Köpfe von Ochsen. Selbst ihre Fesseln waren zottig, und ihre breiten Brustkörbe und Hinterbacken deuteten darauf hin, wie stark und ausdauernd sie waren. Hufe und Mähnen waren rot eingefärbt, mit Hilfe zerdrückter Insekten oder getrockneter Beeren vom vergangenen Herbst, die in Wasser und Fett noch einmal aufgekocht worden waren. Die Reiter hatten lange Arme und stämmige, breite Oberkörper, kurze Beine und schräg stehende Schlitzaugen, in denen Hinterlist und Grausamkeit funkelten. Einige von ihnen, die es verschmähten, Helme zu tragen, während sie zu dem nahezu wehrlosen Jahrmarkt herabgeritten kamen, hatten nach oben hin sonderbar schmal zulaufende Köpfe, als wären ihre Schädel im Säuglingsalter durch irgendeine barbarische Methode verformt worden. Andere trugen spitze skythische Mützen aus Leder, Kalpaks, die mit grauem Wolfsfell gesäumt waren. Wölfe, die über die wehrlosen Stadtbewohner nicht im kargen Winter herfielen, sondern mitten im blühenden Sommer, angetrieben nicht von Hunger und Entbehrung, sondern von der Lust an der Zerstörung um der Zerstörung willen.

Bei manchen war der Kopf an den Seiten flächig von Brandwunden vernarbt, um dort dauerhaft jeden Haarwuchs zu unterbinden, andere waren notdürftig kahlgeschoren, und so gut wie alle hatten an den Wangen und seitlich am Kopf dunkle Tätowierungen, die durch tiefe Schnitte in ihre Haut geritzt worden waren. Die dünnen, spärlichen Bärte an ihrem Kinn waren mit Bändern geschmückt oder zu kleinen Zöpfchen geflochten, und in den Ohren trugen sie schwere Ringe aus Gold. Manche ritten barfuß und manche trugen Ledergamaschen, doch alle umklammerten die Flanken ihrer Reittiere so fest und sicher, dass sie mit ihnen geradezu verwachsen schienen. Sie waren mit barbarischen Kniehosen bekleidet, und die meisten ritten mit nacktem Oberkörper, lediglich angetan mit einem klappernden Brustpanzer aus Knochen, wie um die Schlangen und grotesken Fratzen zur Schau zu stellen, die in die dunkle Haut ihrer Brust und ihres Rückens tätowiert waren. Ihre Handgelenke und sehnigen Unterarme waren mit goldenen Armreifen und Eisenbändern geschmückt und dick mit Stoff- und Lederstreifen umwickelt, und an ihren schmutzigen, muskulösen Hälsen trugen sie offene Halsreife aus Silberperlen sowie Ketten aus den Zähnen von Wölfen und Schakalen. Von ihren Zügeln baumelten die Schädel getöteter Feinde, menschliche Skalps oder auch nur lange Büschel blutverkrusteter Haare.

Jeder Krieger starrte vor spitzen und scharfen Waffen. Kurze Stichspeere, lange Eisenmesser, über gedrungene, kräftige Rücken geschlungene Krummschwerter, Kriegsbeile mit Sichelklingen und tückischen Spitzen, und natürlich der tödliche Bogen der Steppen, von der Rechten zusammen mit einem Bündel von Pfeilen umklammert. Pfeile, die eingelegt und abgeschossen wurden und schier endlos auf den wehrlosen Jahrmarkt hinabregneten.

Die Menschen machten kehrt, rannten inmitten der einstürzenden Zelte und bereits lichterloh brennenden Stände um ihr Leben, doch es gab kein Entkommen. Eine Abordnung der mörderischen Horde war schon in weitem Bogen um das Gelände geritten und hatte die Hügel im Süden besetzt, wodurch den Menschen auch dieser Fluchtweg abgeschnitten war. Im Norden befand sich nur noch der Fluss. Etliche der Fliehenden stürzten sich in die Fluten und versuchten sich schwimmend zu retten, und tatsächlich überlebten von ihnen auch einige wenige, die sich mehrere Meilen den Fluss hinabtreiben ließen und sich schließlich, halb ertrunkenen Tieren gleich, wieder ans Südufer retteten; sie konnten von dem Geschehen berichten.

Innerhalb der schreienden, verängstigten Menge hatten es die Angreifer vor allem auf die halbe Zenturie überrumpelter Soldaten aus Viminacium abgesehen. Die ersten wurden ohne jede Chance auf Gegenwehr an Ort und Stelle niedergemacht, sie brachen blutend zusammen, ohne zu begreifen, wie dieser leichte Wacheinsatz bei einem sommerlichen Jahrmarkt sich auf einmal in ein Gemetzel und dieser schöne, sonnige Tag sich in einen Albtraum hatte verwandeln können.

Der Hauptmann der Garde, ein Zenturio namens Pamphilus, überschlug rasch die Größe der Barbarenhorde und brüllte dann einigen seiner Reiter den Befehl zu, nach Osten zu reiten, direkt nach Viminacium, um dort die gesamte Legion zu den Waffen zu rufen. Als zusätzliche Vorsichtsmaßnahme schickte er noch eine Schwadron, ein aus acht Mann bestehendes contubernium, los, um mit einem Boot Viminacium auf dem Wasserweg anzusteuern, falls die Reiter unterwegs in einen Hinterhalt gerieten. Obwohl er stark bezweifelte, dass Barbaren so weit im Voraus planen würden.

Aber wie waren sie über den Fluss gelangt? Was war mit den Wachposten längs der Donau geschehen? Und mit den Signalstationen, die an der gesamten Reichsgrenze vom Schwarzen Meer bis hoch zur Mündung des Rheins verteilt standen? Wie konnte das ohne Vorwarnung passieren, wieso hatte das Nachrichtenwesen versagt? Warum hatte keiner der exploratores frühzeitig Meldung gemacht? Stoßtrupps wie dieser hier tauchten doch nicht einfach so aus dem Nichts auf.

Das Ganze schien völlig widersinnig. Jetzt blieb ihm nichts anderes übrig, als seine Leute zur Stadtbrücke zurückzuziehen und in Formation gehen zu lassen. Es war keine leichte Entscheidung.

Sein Optio, sein Stellvertreter, starrte ihn an.

Pamphilus schüttelte den Kopf. «Zu einem Massaker wird es nicht kommen. Die meisten dürften gefangen und versklavt werden.»

«Welch beneidenswertes Schicksal.»

«Sieh dich vor, Optio. Wir lassen uns zur Stadt zurückfallen, sofern das möglich ist. Anderenfalls halten wir eben diese verfluchte Brücke, bis die Legion eintrifft.»

Wer auch immer diese Horde sein mochte, wie viele Krieger sie auch zählen mochte, er hatte nach wie vor vollstes Vertrauen in die VII. Legion Claudia Pia Fidelis, deren Wahlspruch lautete: «Sechsmal so tapfer, sechsmal so treu». Seit vier langen Jahrhunderten war sie mittlerweile hier an dieser fernen Grenze im Norden stationiert, mit Blick auf die Donau und die öden Weiten Skythiens, in steter Erwartung der Barbaren. Sie hatten in dieser Zeit das imposante Kastell von Viminacium errichtet, zusammen mit breiten Straßen nach Süden, Osten und Westen und einem erstklassigen Aquädukt von sechs Meilen Länge. Sie waren gute Bauarbeiter, wie alle römischen Soldaten, die weitaus häufiger Schaufeln und Spaten schwangen als Schwerter. Die Siebte war nicht mehr die Streitmacht, die sie einmal gewesen war, zugegeben. Bei den übrigen Legionen aber sah es nicht viel anders aus. Ihre Mannschaftsstärke war geschrumpft, die besten Männer waren mittlerweile in der in Marcianopolis konzentrierten Feldarmee zusammengezogen, während die verbliebenen Soldaten gern als bessere «Bauernmiliz» bespöttelt wurden. Schöne Miliz. Mit der Aufgabe, ein Kastell zu halten.

Trotzdem waren sie immer noch fünfzehnhundert Mann stark, von denen die Hälfte allerdings die meiste Zeit über draußen auf ihren Gehöften oder in ihren Werkstätten war. Wer mochte es ihnen verübeln? Außer Drill und Warten, unter dem gestrengen Blick des Legionslegaten, gab es in der Garnison nicht viel zu tun. Die Männer vertrieben sich die Zeit hauptsächlich mit Trinken und Würfelspiel, als Einsatz der dürftige Sold, der viel zu selten pünktlich ausgezahlt wurde. Doch eine Legion blieb weiter eine Legion, oder zumindest der Rumpf davon, mit den stolzen Erinnerungen an frühere Zeiten. Und der Legat der Siebten, dieser Dickwanst Gallus Sabinus, war kein Dummkopf.

Pamphilus ließ seine Männer in versetzten Reihen quer über die schmale Brücke hinweg Aufstellung nehmen.

«Barbaren aus der Wildnis wie diese hier, die nur auf Raub und Plünderung aus sind, mögen zwar schnell sein, aber es fehlt ihnen an Ausdauer. Und von Belagerungstechnik haben sie keine Ahnung.» Pamphilus redete wieder mit seinem Optio, war sich aber bewusst, dass er sich jetzt vor allem selbst beruhigen wollte.

«Vor einer vier Reihen tiefen, mit Speeren bewehrten Phalanx scheut jedes Pferd zurück. Wir halten sie hier so lange wie möglich auf. Lassen uns in die Stadt zurückfallen, sobald wir können. Auf dieser Brücke kommen sie nicht an uns vorbei. Und wir warten auf die Legion und die Kataphrakten. Wir benötigen so viel schwere Kavallerie wie nur möglich. Wollen doch mal sehen, wie es diesen nackten Teufeln gefällt, von einer Reihe Lanzenreiter in voller Rüstung angegriffen zu werden. Nicht zu vergessen die berittenen Bogenschützen. Und dann noch der gute alte Fleischwolf der Infanterie. Wie viele es genau sein mögen, ist egal, Zahlen besagen gar nichts. Bis dahin halten wir hier die Stellung. Kein wirkliches Problem.»

Nüchtern betrachtet, handelte es sich bei dieser wilden, mörderischen Horde um gemeine Verbrecher, die ein kaum verteidigtes Grenzstädtchen überfielen und ausplünderten, um sich dann wieder über den Fluss und in die Steppen Skythiens zurückzuziehen. So schreckenerregend sie auch auf den ersten Blick wirken mochten – das hier war lediglich ein vereinzelter Überfall. Dabei würde es auch Tote geben, sicher, vor allem aber würden es die Strolche darauf abgesehen haben, Sklaven zu erbeuten. Doch wenn erst die Siebte auf der Landstraße heranmarschiert kam, würden sie schon eilig das Weite suchen.

Pamphilus überlegte kurz, wer diese neueste Horde sein mochte. Gepiden? Sarmaten? Alanen? Diese Steppenhalunken in Kniehosen waren doch im Grunde alle gleich. Ex Scythia semper aliquid novi. Er lächelte grimmig vor sich hin. Irgendeine abgerissene, verlotterte Meute von Räubern und Plünderern, die rohes Fleisch verzehrten, eine prahlerische Bande von Sklavenhändlern, Vergewaltigern und Brandstiftern, die sich für glorreiche Krieger hielten. Mit dieser Sorte Strauchdieben war Rom schon öfter fertig geworden. Ein Haufen, der vermutlich in das von den Hunnen hinterlassene Vakuum vorstieß, die den Rückzug angetreten hatten, nachdem die Siebte auf einen vom Kaiser des Westreiches übersandten Befehl hin eine Strafexpediton auf die andere Seite der Donau unternommen hatte. Die allerdings überhaupt nicht in den Machtbereich Seiner Göttlichen Majestät fiel, aber der Präfekt von Pannonien hatte seinem Ansinnen gleichwohl zugestimmt. Unklugerweise, Pamphilus’ bescheidener Meinung nach; doch stand es einem jungen Zenturio wie ihm, gelobt sei der Herr Jesus Christus, nicht zu, in außenpolitischen Belangen groß mitzureden.

Einige Reiterverbände aus Viminacium waren also von der Donauflotte ans andere Ufer übergesetzt worden und dort über ein entlegenes Hunnenlager hergefallen. Sie hatten Befehl, Gefangene zu nehmen, zwecks späterer öffentlicher Hinrichtung im Rahmen eines so anschaulichen wie lehrreichen Spektakels in der Arena zu Konstantinopel oder Ravenna, bei dem streng blickende Legionäre ohne Gnade und Erbarmen in Ketten gelegte Barbaren niedermetzelten, die demütig und auf Knien ihren Nacken vor den Klingen Roms beugten. Ein Spektakel mit richtigen Toten. Das gefiel den Leuten: Es beruhigte sie in diesen unsicheren Zeiten.

Aber die halbnackten Wilden in dem Lager hatten sich gewehrt, waren aus ihren Zelten gestürmt und hatten sich auf die Kavalleristen gestürzt. Obwohl kaum bewaffnet und noch dazu völlig überrumpelt, hatten sie sich wacker zur Wehr gesetzt. So schlagkräftig wie damals zu den Zeiten des alten Uldin, als sie als Hilfstruppen für den großen Stilicho gekämpft hatten, waren sie zwar nicht mehr, doch auch noch als Überbleibsel eines einst so grimmigen Volkes wussten sie sich zu behaupten, hatten eine ganze Reihe Reitersoldaten von ihren Pferden gezerrt, ihnen mit bloßen Händen das Genick gebrochen und andere wiederum erstochen. Worauf der Reiterkommandeur den Befehl ausgegeben hatte, die Bewohner des Lagers restlos niederzumachen. Und zwei Tage darauf, so wussten kaiserliche Spione zu berichten, brachen die übrigen Hunnen ihr Lager ab, rollten ihre Zelte zusammen, brannten den neu errichteten Palast ihres Königs aus Holz nieder und zogen sich, gebührend gezüchtigt und gedemütigt, wieder nach Norden und Osten in die wüsten Einöden Skythiens zurück.

Gewiss, ein unschönes Gemetzel, aber die Freiheit hatte nun einmal ihren Preis.

* * *

Die beiden Soldaten aus Margus zügelten auf der heißen und staubigen Straße ihre galoppierenden Pferde.

Als der Staub sich langsam senkte, erblickten sie vor sich die Barbaren. In einer Kolonne in Sechserreihen auf ihren gedrungenen Pferdchen sitzend, genauso diszipliniert wie eine Legion. Mit locker in ihre Bogen eingenockten Pfeilen. An ihrer Spitze saß ein rundgesichtiger Mann auf einem schmutzigen kleinen Pony.

«Viminacium?», fragte er. Und schüttelte lächelnd den Kopf, dass seine goldenen Ohrringe schwangen. «Nicht heute. Tut mir leid.»

Die Bogensehnen sirrten.

* * *

Die achtköpfige Schwadron machte das leichteste verfügbare Gefährt ausfindig, ein Ruderboot mit einem zerfetzten Segel. Sie zerrten es zum Ufer hinunter, wateten damit hinaus ins Wasser, kletterten hinein und ruderten dann hektisch mit der Strömung los. Sie hatten kaum eine halbe Meile zurückgelegt, als der Bootsführer auf einmal sein Gebrüll einstellte und verstummte. Die Ruderer hoben den Blick, sahen seinen Gesichtsausdruck und hörten auf zu rudern. Das Boot trieb ein wenig dahin, und sie blickten sich um, wobei sie sich den Schweiß aus den Augen wischten.

Ein kleines Ruderboot bugsierte gerade eines der klobigen Schiffe der Donauflotte im Schlepptau ans jenseitige Ufer. Ein Schiff aus Viminacium. Über die Seiten, dort, wo sie den Tod gefunden hatten, hingen die mit Pfeilen gespickten Leichen der Matrosen.

Dahinter, auf den ersten Blick nahezu unbegreiflich, waren noch mehr Schiffe und floßartige Pferdefähren zu sehen, weiß der Himmel wo erbeutet, die den Fluss in beide Richtungen überquerten und zahllose Männer und Pferde vom Nordufer herüberbeförderten. Ein Stück weiter unten am Südufer rauchten die geschwärzten Überreste eines hölzernen Wachturms, der niedergebrannt worden war.

Die ein- oder zweitausend Mann starke Horde in Margus: Sie war bloß ein Brückenkopf. Das war mehr als ein bloßer vereinzelter Überfall. Viel mehr. Das war eine richtige Invasion.

Von Grausen gepackt versuchten die acht Männer, das Ruderboot zu wenden, das von der starken Strömung der Donau dahingetrieben wurde. In ihrer wilden Panik achteten sie jedoch nicht auf die Kommandos des Bootsführers und vergaßen, ihre Ruderschläge aufeinander abzustimmen. Vor ihnen, mit kräftigen Ruderschlägen stromaufwärts befördert, kam direkt ein Ruderboot auf sie zu, langgezogen und schmal, und undeutlich kam ihnen zu Bewusstsein, dass an dem Ufer zu ihrer Rechten weitere tätowierte Krieger auftauchten, durch das Schilfrohr pirschten und dabei kleine Wasservögel aufschreckten, die flatternd die Flucht ergriffen. Die Soldaten platschten mit ihren Rudern so fieberhaft im sonnenbeschienenen Wasser herum, dass sie das Sirren der Bogensehnen überhaupt nicht wahrnahmen, und ihre Todesfurcht endete erst, als die dünnen Pfeilspitzen aus Eisen ihre Ziele trafen.

* * *

Auf den Wiesen im Westen versank der Jahrmarkt zu Margus in flammendem Chaos, die Menschen wurden unerbittlich von den johlenden, tätowierten Reiterkriegern gehetzt und gejagt. Auf der einzigen in die Stadt führenden Brücke, kaum breiter als ein Heuwagen, stand Pamphilus mit seinen dreißig Männern. Wie einst der legendäre Horatius Cocles, von dem die alte Ballade kündete, die man Knaben seit unzähligen Generationen in der Schule lehrte: Erst waren es drei Mann, dann zwei, dann war nur noch Horatius übrig und verteidigte ganz alleine die Brücke gegen die gesamte Streitmacht des Lars Porsena. Ein schönes Märchen. Kriegsgeschichten für Schulknaben eben.

Hinter ihnen die zitternde Stadt Margus. Die Grenze war bereits neu gezogen worden.

Allmählich fingen die Barbaren an, die Menschen auf die Brücke zuzudrängen. Hin und wieder stießen sie mit ihren Speeren in die Menge hinab, traktierten die eingekesselte und verängstigte Bevölkerung wie Vieh.

Pamphilus beobachtete es mit finsterer Miene.

«Herr», sagte sein Optio.

Er umklammerte fester seinen Speer.

«Herr», wiederholte der Optio, drängender. «Hinter uns, Herr.»

Pamphilus blickte sich um und schrie auf.

Die Barbaren hatten bereits die Tore zerschmettert und befanden sich in der Stadt. Margus stand in Flammen. Hinter den Stadtmauern stieg von den roten Hausdächern Rauch auf, Flammen züngelten am schlanken Turm von St. Peter und Paul empor, in dem die Eisenglocke vermutlich bereits rot in der Glut leuchtete. Pamphilus war, als hörte er Schreie aus der Ferne.

Sie mussten blitzschnell vorgestoßen sein. Wie waren sie über den Fluss gelangt? Der nächste Übergang, abgesehen von der Stadtbrücke, befand sich etliche Meilen stromaufwärts. Konnte es sein, dass diese Horde heulender Barbaren in Wahrheit gut organisiert war? Dass hinter diesem Grauen aus Blut und Chaos ein scharfsinniger, vorausplanender Verstand die Fäden zog?

Dennoch, die Barbaren handelten kurzsichtig. Die aufmerksamen Spähposten auf den Wällen Viminaciums dürften den Rauch bemerkt und bereits Reiter losgeschickt haben, um der Ursache dafür auf den Grund zu gehen. Eine nachlässige Hausfrau in Margus, die ihr Herdfeuer nicht beaufsichtigt hatte, eine Gasse mit Holzhäusern, die in Flammen aufgingen? Oder etwas Schlimmeres? Dann würde einer seiner Reiter oder einer der geflohenen Einwohner das Kastell erreichen, und die Legion würde zu den Waffen gerufen.

Es war tröstlich, zu wissen, dass Verstärkung nicht lange auf sich warten lassen würde. Bis dahin mussten sie versuchen, die Stellung zu halten. Eingekreist von Feinden.

«Die beiden hinteren Reihen – Abteilung kehrt!»

Dann sah er ihn, auf dem fernen Kamm der Hügelkette, gut eine Meile entfernt: den Anführer der Barbaren, dicht umringt von einer Gruppe Männer. Das musste der König sein, kein Zweifel. Er hielt ein Schwert über seinem Kopf in die Höhe, das er in präzisen Bewegungen nach unten, nach links und rechts und geradeaus vor sich führte. Und auf der Ebene unter ihm schwenkten seine Reiterkrieger in die befohlene Richtung, so diszipliniert wie Kolonnen der kaiserlichen Kavallerie. Wenn nicht gar disziplinierter. Beweglicher. Sie schwenkten herum wie ein Starenschwarm am Himmel, ein einziger kompakter Körper.

Jetzt kamen sie langsam näher, trieben die Menschen wie eine Herde Vieh vor sich her, um sie auf die Brücke zu drängen.

Pamphilus fluchte.

Er hätte mit seinen Männern auf dieser Brücke wie Horatius bis zum Letzten gegen diese nichtswürdigen Reiter gekämpft. Sein Blut geriet vor Zorn in Wallung. Zu viele von denen, die er hatte beschützen sollen, waren nun schon zu Tode gekommen. Hilflos hatte er mit seinen Leuten mit ansehen müssen, wie die Wilden auf dem Jahrmarkt wüteten, wie sie wahllos zerstörten und Feuer legten, wie sie mit Peitschen um sich hieben und ihre Lassos auswarfen, immer wieder einzelne Opfer wie zum Spaß mit gezielten Pfeilschüssen niederstreckten, meist Männer in bestem Alter, die so tollkühn waren, sich ihnen mit Mistgabeln oder Pieken entgegenzustellen. Mitunter aber hatten sie auch einfach alles niedergemacht, was ihnen in die Quere geriet, fliehende Mädchen, kleine Kinder und Mütter mit Säuglingen auf dem Arm. Wie ausdruckslos diese breitwangigen Gesichter bei diesem Treiben blieben, wie ungerührt diese gelben Augen!

Doch wie sollten Pamphilus und seine Männer inmitten dieser Flut von Menschen kämpfen? Genau das war natürlich der Plan dieses Kriegsherrn, dieses Königs.

Er blickte wieder zu den Hügeln hinüber. Der Kriegsherr war inzwischen vom Kamm hinabgaloppiert und hatte sich unter seine Krieger gemischt. Schon bald konnten die auf der Brücke eingekeilten Legionäre sehen, wie er mit seinem kleinen Trupp Hauptleute näher kam und schließlich sein Pferd zügelte. Pamphilus musterte ihn aufmerksam, über die Köpfe der zusammengedrängten, verängstigten Menschen hinweg und durch die umherwirbelnden Rauchschwaden. Das schroffe, unbewegte Antlitz des barbarischen Kriegsherrn. Eisengraues, zu einem Knoten auf dem Kopf gebundenes Haar, das Gesicht übersät mit blauen Striemen, der kräftige, rußgeschwärzte Hals geschmückt mit einem goldenen Halsring. Staubige Kniehosen aus Leder, schlichte, schmucklose Hirschlederstiefel. Der nackte Oberkörper bedeckt mit verschnörkelten Tätowierungen, Pfeilköcher, Bogen und Schwertscheide quer über den Rücken geschnallt. Kein großer König also. Einer, der noch immer mit seinen Kriegern zusammen an vorderster Front kämpfte. Neben ihm ein Mann mit hellerer Haut, nahezu kahlem Schädel und blauen Augen. Sehr ruhig, selbstsicher und gelassen.

Die Menschenmenge verstummte.

Glitzernde gelbe Augen fixierten ihn.

«Dein Name?», rief der Kriegsherr.

Er nannte ihn.

«Aus Viminacium?»

Pamphilus nickte.

Der Kriegsherr strich sich über den spärlichen Bart. «Es waren Soldaten aus Viminacium, die meine Leute ermordet haben. Ihr würdet es wohl eine Strafexpedition nennen.» Er sprach ein fehlerfreies, gewähltes Latein ohne jeden Akzent.

Pamphilus warf seinem Optio einen hastigen Seitenblick zu. Das hier waren Hunnen. Nach jenem blutigen Überfall auf ihr Lager waren sie also keineswegs, wie von den Spionen gemeldet, verschwunden, sondern hatten den Rückzug bloß zum Schein angetreten. Ein Täuschungsmanöver. Diese abgefeimten Teufel. Plötzlich schwante Pamphilus, dass sie ganz andere Pläne verfolgten, als hier ein wenig zu plündern, zu brandschatzen und Sklaven zu erbeuten: Sie waren auf Rache aus. Auf grausame Rache. Er unterdrückte seine Furcht und aufsteigende Panik, so gut es ging, umklammerte fester den Speer mit seiner jetzt schweißnassen Hand und war krampfhaft bemüht, nicht an all die grässlichen Gerüchte zu denken, die man sich über barbarische Foltern erzählte. Kreuzigung, Häuten bei lebendigem Leib, Pfählen …

Sein Optio neben ihm schlotterte vor Angst, die Männer drängten sich eng aneinander. Aus der brennenden Stadt hinter ihnen stieg unter der Mittagssonne nun ein dumpfes Tosen auf. Wo blieb nur die Siebte, o Jupiter, o Mithras, o Christus? Inzwischen mussten sie doch die Brände bemerkt haben. Wenn sie nur noch eine Weile länger durchhielten, traf die Kavallerie vielleicht gerade noch rechtzeitig ein. Er betete im Stillen, dass sie bald kämen.

Der Kriegsherr richtete wieder das Wort an ihn, mit leiser und schroffer Stimme, knirschend wie alter Stahl. Da Pamphilus das Gehörte mit einem Kopfschütteln quittierte, wiederholte der Kriegsherr es noch einmal. «Entweder töten wir all diese Leute da vor Euch», sagte er, «oder wir töten Euch.»

Er schrie zurück: «Dann wird Euer Volk dafür einen fürchterlichen Preis zu zahlen haben.»

Der Kriegsherr lächelte, ein grausiges, wölfisches Grinsen, und seine Männer hoben ihre Schwerter.

«Sie werden gute Sklaven abgeben!», stieß sein Optio verzweifelt hervor.

«Und Ihr werdet gute Leichen abgeben.»

Einer der Wilden hieb sein erstes Opfer nieder, einen alten Mann, der vor ihm umhertaumelte, eingepfercht in der Menschenmenge, die Augen in blankem Entsetzen aufgerissen.

«Lasst sie gehen!», brüllte Pamphilus.

Ihre Disziplin war bemerkenswert. Ihr Anführer nickte einmal, und die Krieger ließen ihre Schwerter sinken. Auf ein kurzes Kommando hin wich ein jedes der hässlichen kleinen Ponys ein paar abgezirkelte Schritte zurück.

Die verängstigte Menschenmenge wagte zunächst nicht, sich vom Fleck zu rühren. Erst als der Kriegsherr mit leiser Stimme das Wort an sie richtete, stolperten die Menschen, noch ganz benommen, zurück, machten kehrt und traten eilig die Flucht nach Süden, in die Berge an.

Der Kriegsherr richtete seinen Blick erneut auf Pamphilus.

Der Zenturio klemmte sich seinen Speer unter den rechten Arm, stützte das Ende gegen eine der Holzbohlen der Brücke und stemmte sich mit seinem vollen Gewicht dagegen.

«Nun, Männer», sagte er. «Seht zu, dass ihr eure Haut so teuer wie möglich verkauft.»

* * *

Die Stadt brannte den ganzen langen Sommernachmittag hindurch und bis in den Abend hinein. Hilfe kam keine. Das Gemetzel wütete unvermindert weiter, während blutrot die Sonne unterging. Dies war der Anfang der Rache, der Anfang der Leiden.

Hier reitet ein kutrigurischer Krieger ein weiteres Opfer nieder, verwendet einen Dreizack als Speer, den er einem fliehenden Mädchen in den Rücken rammt.

Sie stolpert und stürzt auf die Knie, lässt endlich das Tragejoch mit den beiden Holzeimern von ihren Schultern gleiten, das sie den ganzen Tag getragen hat, selbst noch inmitten des Gemetzels. Während sie noch mit der Hand nach der Wunde an ihrem Rücken tasten will, sinkt sie vornüber und stirbt. Die Ziegenmilch strömt über den harten Boden und vermischt sich mit ihrem Blut. Der Krieger reißt sein Pferd nahezu im Galopp auf den Hinterhufen herum, versetzt ihm mit der stumpfen Seite seines primitiven, bluttriefenden Dreizacks einen Hieb aufs Hinterteil, grinst breit im orangeroten Feuerschein und reitet johlend weiter.

Auch seine Kriegerfreunde johlen und grinsen, während sie mordlüstern unter ihren letzten Opfern wüten. Männer wie Wölfe – Wölfe freilich, die das Chaos und den Schein des Feuers lieben. Im Winter zieht es Wölfe fort aus den kalten, schneebedeckten Steppen und fort von den Rändern der großen Wälder im Norden, wenn auf den harzigen Nadeln der Tannen dort die Tautropfen zu klarem, glashartem Eis erstarren. Sie ziehen über die von eisigem Wind erstarrten Ebenen, dem warmen Abendschein im Westen entgegen, den Blick ihrer unergründlichen gelben Augen hungrig auf die wohlgenährten Städte und behaglich flackernden Herdfeuer gerichtet. Sie schleichen durch dunkle Straßen, vorbei an hell erleuchteten Tavernen und Häusern, in denen die feisten Kaufleute und Bankiers und gut bezahlten Bürokraten des Imperiums üppig zu Abend speisen, scherzen und schlemmen und ihre feinen Moselweine schlürfen, die auf Schiffen über die Donau in diese östlichen Provinzen Moesia und Thrakien gebracht werden. Keiner von ihnen ahnt, dass die Wölfe kommen – oder vielmehr, schon längst da sind, eine graufellige Flut, lautlos über die Steppen herangeströmt. Mit leuchtenden gelben Augen und weißen Zähnen, bereit zum tödlichen Biss.

Diese Wolfsmenschen sind im Hochsommer gekommen, doch ihre weißen Zähne leuchten auch so in der Dunkelheit. Sie werfen ihre struppigen Köpfe in den Nacken und lachen rau zum Himmel hinauf, reißen die mit Kupferband umwundenen Arme in die Höhe und danken ihren Göttern, den Göttern des Windes und des Sturms und des Himmels: Astur, dem Adler, Sawasch, dem Gott des Krieges, und der Göttin Itugen, ein jeder von ihnen ein anderes Gesicht des Schöpfers, der das Universum erschaffen hat, der den Kampf liebt und mit ihnen reitet und immer bei ihnen bleiben wird. Sie grinsen im Feuerschein, und ihre gelben Augen leuchten vor Freude, während die Stadt in Flammen aufgeht und die hilflosen Menschen vor ihnen fliehen und dahinsinken wie niedergemähtes Federgras in der Steppe, und die geplünderte Beute türmt sich in einer Ecke der verheerten, brennenden Stadt ebenso rasch auf wie die Berge von Toten, die sie hinterlassen. Die Kirchenglocken läuten noch immer in unheiliger Panik, doch es sind die fremden Krieger, die sie jetzt läuten, zum Spaß und zur Feier ihres Sieges. Die Priester sind längst schon gewaltsam ihrer Gewänder entkleidet und erschlagen worden, inmitten wehklagender Menschen und heulender Hunde und den Schreien verlassener Kinder.

So geht Margus unter.

* * *

Hinterher ritten sie davon, trunken von Wein, noch immer in Hochstimmung, vorbei an den schwarz verkohlten Überresten des einst so bunten Jahrmarkts von Margus und zurück auf das freie Weideland. Sie sind keine Stadtmenschen, und in den Trümmern der Verkaufsstände und Häuser gehen bereits die Geister all jener um, die sie erschlagen haben. Also ziehen sie sich zu ihren Zelten und Planwagen auf den Weiden zurück.

Inmitten der vielen Leichen liegen auch eine alte Frau und ein Mädchen. Das Mädchen mit der Hasenscharte, das still zwischen seinen Eimern daliegt. Wahrhaftig, sie hatte die Zukunft gesehen, ganz wie die Alte gesagt hatte. Als hätte sie tatsächlich die Gabe besessen.

3. DIE SIEBTE

Viminacium: am Zusammenfluss von Donau und Mlava gelegen, Hauptquartier der VII. Legion Claudia Pia Fidelis, im Jahre 58 vor Christus aufgestellt von Julius Caesar persönlich, um erst die Gallier das Fürchten zu lehren und diese Übung anschließend bei ihren Vettern in Britannien zu wiederholen. Eine altehrwürdige Legion mit Erinnerungen aus über fünf Jahrhunderten, die seit Trajans Zeiten hier an der Donau in Moesia stationiert ist. Vier lange Jahrhunderte seit der Kreuzigung Christi.

Gallus Sabinus, Legionslegat, langgedienter Veteran etlicher Grenzscharmützel, auch wohlvertraut mit Stumpfsinn und Langeweile, die fest zum Dienst an der Grenze gehören, ein bulliger Kahlkopf mit wulstigem Stiernacken und feistem, stattlich gewölbtem Bauch, doch noch immer mit ausreichend Muskelkraft in den Armen, um einen zentnerschweren Sandsack ohne erkennbare Mühe über seinen Kopf stemmen zu können. Er sitzt an seinem wackligen, tintenfleckigen Schreibtisch aus Holz und geht beim Schein einer flackernden Öllampe die monatliche Ausgabenliste des Quartiermeisters durch. Nur noch drei Mal müsste er sich mit derlei staubtrockener, nervtötender Verwaltungsmaterie herumplagen. Nur noch drei Monate, dann würde er sich auf seinem Weingut in Thrakien zur Ruhe setzen, in seiner hübschen kleinen Villa dort mit Innenhof, Springbrunnen und allem Drum und Dran, sogar ein Fußbodenmosaik gab es, leider reichlich laienhaft ausgeführt von einem Stümper aus der Gegend, die Darstellung eines Delphins erinnerte ihn eher an einen feisten Aal. Seine Domitilla aber war ungeheuer stolz darauf und ließ es sich nicht nehmen, es jeden Morgen in aller Frühe sauberzufegen. Die Frau, die er kaum kannte, seine Gattin Domitilla: scharfzüngig, mit ausladendem Hinterteil und stets frostiger Miene, doch alles in allem eigentlich recht brauchbar.

Er beugte sich vor, und der Schreibtisch kippelte. Eines Tages würden sie es vielleicht noch schaffen, dem Ding zu vier gleich langen Beinen zu verhelfen.

Seine Männer würden ihm fehlen. So übel waren sie nicht, für einen so wahllos zusammengewürfelten Haufen limitanei: Grenzwölfe. Dalmatier, Illyrer, Thraker, Teutonen, wahrlich eine bunte Truppe. Aber Sabinus sorgte gut für seine Leute. Er war kein von oben ernannter Technokrat aus einer vornehmen Senatorenfamilie – freudlose Posten an den äußeren Reichsgrenzen waren in jenen Kreisen ohnehin längst verpönt –, sondern selbst Soldat durch und durch und stolz auf die Tradition der Siebten. Gewiss, die Truppen der mobilen Feldarmee heimsten heutzutage den meisten Lorbeer ein, waren die erklärten Lieblinge der Generale, bildeten sie doch eine Elitestreitmacht, die jederzeit an jeden beliebigen Ort in Marsch gesetzt werden konnte, um drohende Barbareneinfälle abzuwehren. Die Grenzwölfe dagegen waren dauerhaft hier draußen stationiert, unterzogen sich tagein, tagaus beharrlich ihren militärischen Übungen, hielten ihre Waffen instand und waren auf den Tag X gefasst. Sie waren weniger als früher, die Rationen waren dürftiger und die Ausrüstung war deutlich schlechter, aber stolz konnten sie sich nach wie vor eine Legion nennen, mitsamt Adlerfeldzeichen und der Standarte mit dem Stier, die allen Legionen Caesars gemeinsam war. So harrten sie der Barbaren, die da kommen mochten.

Während der letzten Jahre hatte Sabinus getan, was er nur konnte. Auf den Sold der Männer konnte er zwar keinen Einfluss nehmen, doch er hatte sie gedrillt und geschult und Feldübungen eingeführt, an denen sie nach anfänglichem Murren am Ende sogar Gefallen fanden. Die Bewaffnung der Soldaten und auch die Artillerie auf den Wällen waren bestens in Schuss. Was die Mauern selbst betraf, so hoffte er nur, dass sie weiter halten würden. Besonders die Porta Praetoria hatte einen bedenklichen Riss, der sich durch den gesamten linken Turm vom Boden bis hinauf zu den Zinnen zog. Eines Tages würde der Präfekt seinen dicken Hintern in Bewegung setzen und einen vollständigen Neubau veranlassen müssen, oder vielleicht würde man sogar im fernen Konstantinopel erkennen, dass das alte Kastell längst einmal wieder gründlich instand gesetzt werden musste.

Bis dahin, noch drei Monate …

Er blickte auf. «Nun?»

Der Optio stand unsicher vor ihm im Halbdunkel. «Margus brennt noch immer, Herr.»

Sabinus legte seinen Stift aus der Hand, lehnte sich im Stuhl zurück und deutete sich auf die Augen. «Was ist das hier, Optio?»

«Eure Augen, Herr.»

«Richtig. Und mit denen kann ich sehen, dass Margus immer noch brennt, genauso wie ich sehen kann, dass du noch immer ein nichtsnutziger Trottel bist. Mit ‹nun› habe ich gemeint: Was gibt es Neues? Warum brennt es noch immer?»

«Das entzieht sich unserer … will sagen, die Reiter sind noch nicht zurück, Herr.»

«Wann sind sie losgeritten?»

«Um die neunte Stunde herum.»

«Wie viel Verkehr auf der Straße?»

Der Optio spähte nervös zur offenen Tür hinüber.

«Bisher unbestätigten Meldungen nach, Herr, hat es einen feindlichen Einfall gegeben. Über den Fluss. Barbaren zu Pferde. Sagt jedenfalls ein alter Mann, der aus dem Fluss geklettert kam, überall voll von Entengrütze. Er habe sich von Margus bis hierher treiben lassen, an ein Stück Holz geklammert. Redet wirr und hat halb den Verstand verloren.»

Sabinus blickte den unglücklichen Optio weiter ungerührt an. «Also … hast du doch wohl zur Sicherheit angeordnet, dass die gesamte Legion sich bewaffnen soll?»

«Das, äh, mache ich noch, Herr.»

«Lass gut sein. Das übernehme ich.» Sein Stuhl krachte rücklings zu Boden, als er sich erhob. «Und du meldest dich erst mal bis auf Weiteres zum Latrinendienst, verdammt.»

* * *

Die Legionsgarnison von Viminacium wurde vierschrötig und uneinnehmbar geschützt von massiven Steinmauern, zehn Meter hoch und zinnenbewehrt, mit zwei mächtigen Ecktürmen. Auch die vier Tore, nach Norden, Süden, Osten und Westen, wurden flankiert von Türmen. Von den Seiten der Festung zweigte eine viel niedrigere, dafür aber in weitem Rund ausholende Mauer ab, welche die vielen Morgen Grundfläche der stolzen Stadt mit ihren Kirchen und Kapellen, breiten Straßen und prächtigen Villen, der prunkvollen Basilika und den von Kolonnaden eingefassten Marktplätzen umschloss. Jenseits der Stadtmauern gab es außerdem ein Hippodrom, das zehntausend Zuschauer fasste. Aus dem Umland strömten die Menschen meilenweit herbei, um sich die Spektakel dort anzusehen. Aber jetzt, dachte Sabinus mit grimmigem Lächeln, würde eine wesentlich realere Art Spektakel sie vermutlich noch etliche Meilen weiter weg in die Flucht schlagen.

Er stieß auf einen hochgewachsenen jungen Decurio.

«Was geht in der Stadt vor?»

«Die Leute bringen sich bereits in Sicherheit, sie machen sich auf den Weg in die Berge.»

Ganz, wie er vermutet hatte. «Haben auch welche bei uns um Zuflucht ersucht?»

Der Decurio schüttelte den Kopf.

Sie wussten beide, was das zu bedeuten hatte. Das Urteil der Stadtbewohner stand bereits fest. Sie waren erledigt. Wieder lächelte er vor sich hin. Das würde sich ja zeigen.

* * *

Das markerschütternde Gebrüll des Legaten hallte in der einsetzenden Dämmerung vom Turm des Westtors aus durch das Kastell, das prompt zum Leben erwachte. Von überall her war ein Crescendo schlagender Türen zu vernehmen, trappelnde Schritte, das Klatschen von Ledersohlen über blankgewetzte Steintreppen, Waffengeklirr, Stimmen, das Poltern schwerer Lasten, die gemeinschaftlich bewegt wurden, das Ächzen und Knarren von Winden.

Seine Befehle jagten in rascher Folge durch die Festung, einem Hagel von Geschossen gleich.

«Trompeter, zum Sammeln blasen! So lange, bis sich auch der letzte Soldat hier eingefunden hat, der jetzt noch auf seinem Acker ist oder draußen auf seinem Gehöft. Für ihre Angehörigen ist Platz in den Mannschaftsbaracken. Ich will, dass die Musterungsverzeichnisse genau durchgezählt werden. Alle übrigen Zenturien, hoch auf die Mauern! Die schwere Reiterei soll sich in voller Rüstung am Südtor sammeln und bereithalten. Artillerieeinheiten, hoch auf die Türme. Auf jeden Eckturm vier Wurfmaschinen, zwei zum Frontalbeschuss, zwei für flächendeckenden Beschuss, das übliche Programm, muss ich euch das lang und breit erklären? Alle Tore doppelt verrammeln! Und du, Decurio, hast hoffentlich diese Stützstreben am Prätorianertor instand setzen lassen, wie ich es angeordnet hatte!»

«Jawohl, Herr!»

«Rechnen wir mit einem Angriff bei Nacht?»

«Wir rechnen mit dem Teufel selbst, wie es sich für gute Soldaten gehört. Pedites, Bewegung, na los, hopp, hopp! Das ist nicht eure liebe alte Großmama, die heute auf Besuch kommt. Schafft ausreichend Vorräte an Wurfgeschossen aller Art auf die Mauern. Die erste, vierte und siebte Zenturie ans Südtor zur Reiterei. Lasst endlich das Würfeln sein und bewegt euch, ihr nichtsnutzigen Faulpelze! Kein Schlaf bis zum Morgengrauen, wenn überhaupt. Endlich bekommt ihr was zu tun! Schmiede, heizt eure Essen an, falls das noch nicht passiert ist. Sanitäter, ihr prüft die Lazarettbestände und macht mir dann Meldung. Quartiersmeister, schafft ausreichend Trinkwasser und Zwieback für die Männer auf die Mauern. Und sorgt dafür, dass alle Strohdächer gründlich gewässert werden. Alle Wasserfässer bis an den Rand füllen, wobei ich euch zuliebe davon ausgehe, dass das schon geschehen ist. Primus pilus, du erstattest mir Bericht auf dem Westtor. Kein Herumlaufen, kein Schwätzen.»

«Sollen die Truppen auf der Westmauer konzentriert werden, Herr?»

«Falls sie bereits Margus eingenommen haben, werden sie so dumm nicht sein. Die Truppen sollen sich gleichmäßig ringsum auf den Mauern verteilen.»

Alsdann begab sich Sabinus die steinerne Wendeltreppe hinab in die untere Wachstube, wo er zu seiner Genugtuung alle Mann in eindrucksvoller, schweigsamer Geschäftigkeit antraf. Bis auf einen bedauernswerten Grünschnabel von einem Rekruten, der einen Haufen Schleuderbleie so ungeschickt zu einer Pyramide aufgetürmt hatte, dass die Bleie in alle Richtungen davonkullerten, als Sabinus daran vorbeistampfte. Also stauchte er den Jüngling nach Strich und Faden zusammen und befahl ihm, von Neuem anzufangen.

«Sogar die Ägypter bringen es fertig, Pyramiden zu bauen, Bursche!», herrschte er den zitternden Neuling an. «Dabei treiben es diese Strolche mit ihren eigenen Schwestern und beten Katzen als Götter an!»

* * *

Der Legat kehrte wieder an seinen Posten auf dem linken Turm des Westtors zurück, zusammen mit seinem unfähigen Optio, und sie blickten hinaus in den Sonnenuntergang, der eine Spur zu grell war, zu rot. Knapp über dem Horizont, lediglich zwei Stunden Eilmarsch entfernt, brannte Margus noch immer. Die lodernden Flammen vermischten sich mit dem Glühen der versinkenden Sonne.

«Ein ernstzunehmender Einfall, wie es scheint, Herr», sagte sein Optio.

Das Südtor war geöffnet worden, und Angehörige der bäuerlichen Grenzsoldaten strömten herein: Frauen mit Säuglingen auf dem Arm, betagte Eltern, muntere Kinder mit staunend aufgerissenen Augen, die eher aufgeregt als verängstigt wirkten. Sie alle suchten Zuflucht in den starken, verlässlichen Armen des gewaltigen Kastells. Gott schütze sie.

Lautlos tauchte Tatullus auf der Turmplattform auf. Legionär primus pilus – erster Speer –, sein ranghöchster Zenturio. Gott sei Dank, dass er ihn wenigstens hatte. Obwohl schon hoch in den Vierzigern, hatte er kein Gramm Fett am Leib, aber sehnige, muskulöse Beine und einen breiten Brustkorb, vor dem er jetzt die Arme verschränkt hatte. Sein hartes, wettergegerbtes Gesicht mit der knochigen Nase und den tief liegenden, ungerührten Augen wurde schon jetzt kampfbereit umrahmt durch den schlichten, eng anliegenden Helm mit der langen, düster wirkenden Nasenschiene und die am Helm befestigte Kettenbrünne, die schützend seinen Hals umgab. Ein ausgezeichneter Soldat, wahrlich keine Selbstverständlichkeit in diesen schändlichen Zeiten und in einem vernachlässigten Grenzkastell wie diesem.

Hinter Tatullus standen noch zwei Männer, von denen der eine vor Nässe triefte.

«Was bist denn du für ein Vogel?», fuhr Sabinus ihn barsch an.

«Er ist ein Deserteur», sagte Tatullus kalt.

«Dich habe ich nicht gefragt, Zenturio.»

So patschnass der Kerl auch war, er zitterte nicht.

«Ich heiße Anastasius, Herr», sagte der Soldat mit tiefer, heiserer Stimme, die sich anhörte, als würde er regelmäßig mit Kieseln gurgeln. «Aber der Name hat nie so recht zu mir gepasst, das haben mir schon viele bestätigt. Die meisten nennen mich Caestus. Faustriemen.»

Faustriemen. Sabinus trat näher und musterte ihn genauer. Der Name, so viel stand fest, passte allemal besser zu ihm als Anastasius. Um den fleischigen Unterarm trug er auch jetzt noch seinen caestus geschlungen, den dicken, mit Bronzedornen besetzten Lederriemen, der Faustkämpfern zum Schutz ihrer Hände und zur Verstärkung ihrer Schlagkraft diente. Seine Fingerknöchel waren schwarz behaart, und da er sehr lange Arme hatte, fehlte nicht viel, dass sie über den Boden schleiften. Dabei war er ein Hüne, der, wenn er sich voll aufgerichtet hätte, weit über sechs Fuß messen mochte. Zumindest in dieser Hinsicht ein passender Rekrut für die Legio I Italica. Obwohl Sabinus bezweifelte, dass Faustriemen über die erforderlichen familiären Beziehungen verfügte, um Aufnahme in diese überaus exklusive Legion zu finden. Außerdem würde er vermutlich die Kavalleriepferde scheu machen und helle Panik unter ihnen auslösen.

Mit seinen massigen, muskelbepackten Schultern, deren eine etwas tiefer hing als die andere, sah er beinahe aus wie einer mit Buckel, er wirkte dabei aber so kräftig wie ein Ackergaul. Hände, groß wie Schaufeln. Ein menschlicher Maulwurf, dachte Sabinus staunend, mit diesen Pranken könnte er sich wohl selbst einen Tunnel durchs Erdreich wühlen. Riesige Spreizfüße, X-Beine, schlaffer Hängebauch, darüber ein mächtig ausladender Brustkorb, ein muskelstrotzender, baumstumpfähnlicher Hals, kaum weniger breit als der Kopf, eine klobige, vielfach gebrochene Nase und ein ebenso zerschlagener, schiefer Mund, eine wulstige, niedrige Stirn mit buschigen schwarzen Augenbrauen, die Augen selbst aber eigentümlich groß und treuherzig blickend, und dies, obwohl das eine Lid infolge einer alten Wunde, wohl von einem Schwerthieb herrührend, halb herabhing. Struppiges, grobes schwarzes Haar, zu einem unschönen Topfschnitt zurechtgestutzt, und keine einzige Stelle seiner unbedeckten Haut, die nicht mit Narben übersät gewesen wäre.

Sabinus gefiel, was er hier sah. Der Kerl entsprach dem, was er unter einem richtigen Soldaten verstand. Hässlich wie die Nacht, dafür zäh und hart im Nehmen.

«Und du bist also desertiert? In Margus?»

«Nein, Herr, mit allem schuldigen Respekt. Nicht desertiert. Es ist so, eigentlich war ich nämlich in Geschäften unterwegs. Bin dann aber in Margus aufgehalten worden. Eine ungeplante Dienstversetzung, könnte man sagen.»

Sabinus funkelte ihn ungehalten an. «Du verschwendest meine Zeit, Soldat. Komm zur Sache.»

Faustriemen straffte sich merklich. «Herr. Legionär der Vierzehnten in Carnuntum. Flussabwärts unterwegs mit einer Ladung Wein. Eine private Unternehmung.»

«Zollprellerei. Schiebergeschäfte.»

Faustriemen redete hastig weiter. «Das Boot ist in der Nacht gesunken. Bin in Margus an Land gegangen. Der Zenturio dort, Pamphilus, hat mich dann kurzerhand in seine Garde dienstverpflichtet.»

«Und, was ist passiert?»

«Wir sind zwei Tage später aufgerieben worden, das ist passiert. Mit anderen Worten, heute Vormittag. Es sind alle draufgegangen, außer mir. Es waren Hunnen, hat der Zenturio gesagt.»

Sabinus verfiel in finsteres Brüten. Schöne Bescherung. So ein Barbarenstamm lässt sich nun einmal nicht mit einem Nadelstich vertreiben, da muss man schon tüchtig mit dem Schwert dreinschlagen. Sonst kommen sie wieder zurück. Wie eine Schmeißfliege zu einem Pferdehintern. Er stieß laut die Luft aus. Was für eine verfluchte Bescherung.

«Rede weiter, Soldat.»

«Nun, der Zenturio hat Reiter losgeschickt, um hier Verstärkung anzufordern, aber … die sind wohl von den Hunnen abgefangen worden und nie hier angekommen.»

«Offenkundig nicht. Und dann?»

«Ein blutiges, restloses Gemetzel.»

«Wie viele waren es?»

«Könnte ich nicht sagen. Nicht so viele, dem Augenschein nach, aber organisiert.»

«Organisiert?»

«Organisiert», bekräftigte Faustriemen kopfnickend.

Sabinus rieb sich kurz über die stoppelbärtigen Wangen, wandte sich um und brüllte seinen Leuten eine Reihe weiterer Befehle zu. Dann fragte er: «Und du?»

«Nun ja, Herr, wir standen eingekeilt auf der Brücke, in der Falle also, waren drauf und dran, von vorne und hinten niedergemacht zu werden, wenn Ihr versteht, was ich meine. Unsere Formation hatte sich längst aufgelöst, und die Pfeile kamen von allen Seiten geflogen. Ehrlich gesagt, da hab ich mir gedacht, ihr könnt mich mal, und hab beschlossen, mein Glück mit einem Sprung ins Wasser zu versuchen, aber dann kam mir der Gedanke, dass ich dabei ja auch gleich noch einen dieser blauen Dreckskerle mitnehmen könnte.»

«Blau?»

«Tätowierungen. In Blau und Schwarz, am ganzen Leib. Die bringen sie sich mit Ruß und einer Nadel bei, nach allem, was man so hört. Abscheulich. Diesen verfluchten Barbaren, Herr, ist jede Selbstachtung fremd. Jedenfalls habe ich mir überlegt, den einen da könnte ich doch gut ersäufen und vielleicht sogar noch sein Pferd erbeuten, um ans andere Ufer zu gelangen und dann zu verschwinden. Also bin ich hochgesprungen, hab den Kerl in den Schwitzkasten genommen und so lange mit ihm gerangelt und nicht losgelassen, bis wir seitlich von der Brücke gepurzelt und im Fluss gelandet sind, der Wilde immer noch auf seinem Pferd sitzend und ich auf ihm drauf. Und dann bekam ich, mit viel Glück und dem Segen Jupiters, des Herrn der Schöpfung und was nicht noch alles, in dem trüben Wasser seine Zügel zu fassen und fing an, sie ihm um den Hals zu wickeln. Leicht war das nicht, denn er hat sich weiter gewehrt und widersetzt wie verrückt – das war ein richtig Wilder, dabei wahrlich nicht mehr der Jüngste. Aber dann sah ich vor mir im Wasser diesen massiven Brückenpfeiler. Wir waren immer noch unten bei den Fischen, und mir ging langsam die Luft aus, aber die Sache war ja sozusagen noch nicht beendet. Ich war dabei, ihn mit seinen Zügeln zu erdrosseln, hatte seinen Kopf fest im Griff – das Pferd war da schon längst fort, hatte sich befreit und war davongeschwommen, das Vieh. Also wollte ich seinen Kopf nach vorn stoßen. Mittlerweile, das habe ich gemerkt, war auch er schon dem Ersticken nah, seine Kräfte ließen merklich nach, also schwang ich ihn herum, aber … Keine Ahnung, Herr, ob Ihr jemals versucht habt, den Kopf eines Menschen unter Wasser herumzuschwingen?»

Sabinus schüttelte den Kopf.

«Na, da unten geht das nur furchtbar langsam, wegen all dem Wasser. Ich hab ihn mit dem Kopf also immer und immer wieder gegen diesen massigen Eichenpfosten gerammt, wie oft, weiß ich nicht mehr, bis er sich endlich nicht mehr gerührt hat, dann hab ich ihn losgelassen, und er ist ganz sachte in die Tiefe gesunken, bis auf den Grund hinab, nehme ich an, wo sich die Fische über ein feines Abendessen gefreut haben dürften. Das habe ich mir aber nicht mehr angesehen, weil ich inzwischen selber dem Ertrinken nahe war, deshalb bin ich fix hoch ans Licht geschwommen und hab erst mal tüchtig nach Luft geschnappt. Oben auf der Brücke war weiter die reinste Schlächterei im Gange, also hab ich mich den Fluss hinabtreiben lassen, die ganze Strecke bis hierher, und falls das als Fahnenflucht gilt, nun ja …»

«Ja, das gilt als Fahnenflucht», sagte Tatullus.

«Die übrigen Soldaten der Garde sind alle getötet worden?», fragte Sabinus.

«Ja, restlos. Der Kopf des Offiziers, Herr, Pamphilus, steckte am Ende, als ich davongeschwommen bin, auf einem der Brückenpfosten. Und das war kein übler Kerl.»

«Dann bist du flussabwärts gekommen?»

«Ja, Herr, auf einem Pferd.»

«Erzähl mir keine Märchen.»

«Ich meine ja auf einem toten Pferd, Herr. Drei Tage oder länger mag es schon tot gewesen sein, schätze ich, und hat entsetzlich gestunken, obwohl ich, ehrlich gesagt, Herr, auf Feldzügen in einem Achtmannzelt schon weit Schlimmeres ertragen musste. Oder, da fällt mir auch diese Taverne in Carnuntum ein, wo wir immer gebechert haben, Herr, mit dieser Dame im Obergeschoss, die zwar nicht mehr die Jüngste war, aber ansonsten auf ihre Art schon sehr anschmiegsam und gefällig –»

«Weniger Einzelheiten, Soldat, bleib bei der Sache.»

«Ja, gut, ich hab mich also an diesem toten Gaul festgeklammert, die Hinterbeine waren schon so glitschig, dass sich unter meinen Händen immer wieder Fetzen abgelöst haben, und der prall aufgedunsene Leib hat unvorstellbare Faulgase ausgedünstet, wie gesagt, das Vieh muss schon einige Tage tot gewesen sein, war nicht erst bei dem Kampf heute draufgegangen, aber es hat ein ganz gutes Floß abgegeben, ähnlich wie diese Schwimmblasen von der Armee, und so habe ich mich denn auf dem Fluss bis zum Kastell treiben lassen, Herr. Weil ich mich jetzt doch gern hinter ein paar starken Mauern in Sicherheit bringen wollte. Ihr wisst ja, wie diese Hunnen sind.»

Sabinus dachte kurz nach. Dann wies er seinen Optio an, dem Mann einen Becher Wein zu bringen.

Tatullus schien entgeistert. «Herr …»

Der Legat fuhr ihm barsch in die Parade. «Sieh dich vor, Zenturio. Ich bin kein verpäppelter Jungspund aus einer reichen Senatorenfamilie aus Rom oder Ravenna. Und daher verbitte ich mir, dass du meine Befehle in Frage stellst.»

Tatullus presste die schmalen Lippen zu einem dünnen Strich zusammen. Nach kurzem Schweigen sagte er abermals, sehr leise und ruhig diesmal: «Herr.»

Faustriemen hob abwehrend eine seiner Pranken.

«Nein, Herr, verbindlichsten Dank. Kein Wein für mich. Damit ist Schluss seit diesem Vorfall in Carnuntum mit der Tochter des Fischhändlers und meinem unseligen Unfall.»

Sabinus zog die Augenbrauen in die Höhe. «Von diesem Vorfall haben mir meine Grenzspione nie etwas berichtet.»

«Da bin ich aber mächtig erleichtert, Herr. Eine ganz und gar unerfreuliche Geschichte. Aber jetzt habe ich dem Wein für alle Zeiten abgeschworen bis an mein Lebensende.»

«Also schön.» Sabinus wandte den Blick ab und stützte die Hände auf die niedrige Mauerbrüstung. «Mag sein, dass du als Soldat weniger taugst als als Geschichtenerzähler, keine Ahnung. Aber von nun an dienst du in meiner Garde.»

«Wie viel bringt das im Monat ein?»

«Genug für einen, der nur Wasser trinkt.» Dann wandte Sabinus seine Aufmerksamkeit dem anderen Mann zu, der sich still im Hintergrund hielt, und bedeutete ihm vorzutreten.

Ein prächtiger Mensch mit olivenfarbiger Haut, groß und schlank, mit kerzengerader Haltung, die seine Körpergröße noch mehr zur Geltung brachte. Ein Orientale, keine Frage. Am Gürtel ein Langschwert in einer Damaszenerscheide. Er hatte glatte, ebenmäßige Züge und eine kühn vorspringende Adlernase, sein schwarzes Oberlippenbärtchen war penibel gestutzt und eingeölt, kurzum, er gab eine durch und durch aristokratische Erscheinung ab.

«Und du? Wer bist du?»

«Graf Grigorius Khachadour Arapovian», erwiderte der Neuankömmling würdevoll.

Faustriemen hinter ihm prustete abschätzig.

«Ruhe, Soldat», blaffte Sabinus ihn an und fixierte den Mann aufmerksam. «Armenier?»

«Armenien war das Land meiner Geburt und die Heimat von sechzig Generationen meiner Vorfahren seit den Tagen Adams. Jetzt aber habe ich keine Heimat mehr. Sie hat ihre Seele an den Meistbietenden verschachert. Heute streite ich nur noch für Christus, meinen Herrn.»

«Heiland!», entfuhr es Sabinus.

«Für keinen anderen», bestätigte der Armenier ernst.

«Schön», sagte Sabinus, «ihr seid beide rekrutiert. Wir brauchen jeden Mann, den wir kriegen können. Fürs Erste bist du mit ihm zusammen für den Nachschub eingeteilt, auf dem Südwall. Also, an die Arbeit.»

Arapovian würdigte Faustriemen keines Blicks, sondern erklärte schlicht: «Mit diesem rülpsenden Ochsen wünsche ich nichts zu tun zu haben. Er verursacht mir Ekel.»

«Ihr beide kennt euch?» Sabinus musste lachen. «Lass mich raten, ihr habt zusammen Wein geschmuggelt? Ihr wart Geschäftspartner?»

«Kein einziger Sohn aus dem Geschlecht der Arapovians hat sich in sechzig Generationen jemals die Hände mit Handel schmutzig gemacht», stellte der Armenier kühl fest. «Ich habe mich von diesem Vieh bloß ein Stück Wegs mitbefördern lassen. Eine halbe Nacht nur habe ich in seiner Gesellschaft verbracht, bis unsere Wege sich wieder trennten. Aber das hat vollauf gereicht, in mir den Wunsch zu nähren, diesen Kerl niemals wiederzusehen.»

«Was stimmt denn nicht mit ihm?»

Der Armenier schürzte die schmalen Lippen. «Er ist ein Affe.»

Sabinus warf einen raschen Blick auf Faustriemen. «Du schmeichelst ihm.»

Arapovian lächelte nicht. Er sah regelrecht gequält aus.

Sabinus aber grinste inzwischen breit. «Genug davon. Ihr zwei bildet ein Gespann. Und jetzt an die Arbeit.»

Zögernd, sichtlich in seiner Würde gekränkt, drehte Arapovian sich um und ging die Treppe hinab. Faustriemen trottete ihm nach.

«Das war kein Fahnenflüchtiger», bemerkte Sabinus über die Schulter hinweg zu Tatullus. «Du weißt, wie eine tatsächliche Fahnenflucht aussieht. Das war ein Rückzug.»

Der Zenturio blieb unerbittlich. «Ihm war kein Befehl zum Rückzug erteilt worden.»

«Weil es keine Rückzugsmöglichkeit gab. Genau wie jetzt und hier.»

4. ZEHNTAUSENDE

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