Auf beiden Seiten - Lukas Hartmann - E-Book

Auf beiden Seiten E-Book

Lukas Hartmann

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Beschreibung

1989 und 1990: Jahre des Umbruchs. Der Schweizer Journalist Mario, gerade von seiner Frau getrennt, reist kurz vor dem Mauerfall für eine Reportage nach Ostberlin. Was er noch nicht weiß: Der Kalte Krieg reicht auch bis in sein Leben und seine Familie hinein. Ein überraschender, politisch brisanter Roman über eine nahe Vergangenheit, die bis heute nachwirkt.

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Seitenzahl: 371

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Lukas Hartmann

Auf beiden Seiten

Roman

Die Erstausgabe erschien 2015 im Diogenes Verlag

Covermotiv: Illustration von Ben McLaughlin, ›September 071999‹,

(Ausschnitt)

Copyright ©Ben McLaughlin/

Bridgeman Art Library

Alle Rechte vorbehalten

Copyright ©2016

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24360 4 (1. Auflage)

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

Weit zurück, in dem leeren Nichts ist etwas wie Wonne und Entzücken, das gewaltig fassend, fast vernichtend in mein Wesen drang und dem nichts mehr in meinem künftigen Leben glich… Es war ein Glanz, es war Gewühl, es war unten. Dies muss sehr früh gewesen sein, denn mir ist, als liege eine hohe weite Finsternis des Nichts um das Ding herum.

Adalbert Stifter

[7]EINS

Marios Anfänge

[9]Mario, ein erster Anfang, Herbst 2010

Wie genau ist meine Erinnerung, wie verschwommen? Früher Samstagmorgen, ich lag im Bett, dachte halbwach über den Artikel nach, den ich ein weiteres Mal umschreiben sollte, verlor dauernd den Faden. Ein Summen schreckte mich auf. Ich tastete nach dem Handy. Das Display zeigte den Namen, mit dem ich rechnen musste: Bettina. Wir grüßten uns, nicht unfreundlich.

»Kommst du heute mit zu Papa?«, fragte sie nach kurzem Smalltalk.

Ich hörte ihr rasches Ein- und Ausatmen, im Hintergrund Klaviermusik, Bach. Immer noch, mit Mitte fünfzig, nannte sie ihren alten Vater Papa. Ich konnte ihr diese Anrede nie abgewöhnen. Sie hob und dehnte die zweite Silbe und verwandelte sich dabei zurück in das Kind, das den Vater bewundert und fürchtet.

»Kommst du jetzt oder kommst du nicht…?«

Ihre Frage enthielt eine kleine Schärfe, den Vorwurf, dass ich sie bestimmt wieder im Stich lassen würde. Wir sind schon lange geschieden, aber nicht nur unsere beiden Kinder haben uns dazu gebracht, in Verbindung zu bleiben, sondern auch ihr Vater, der im Gymnasium mein Deutschlehrer war. Keiner hat mich stärker beeinflusst als er, von niemandem musste ich mich so entschieden distanzieren [10]wie von ihm. Er lebte nun schon seit sieben Jahren im Altersheim, sein Gedächtnis nahm drastisch ab, er verwechselte Zeiten und Personen auf schwindelerregende Weise, und wenn man ihn zu korrigieren versuchte, bestand er darauf, recht zu haben. Immer wieder warnte er alle, die mit ihm zu tun hatten, vor der roten Gefahr. Es nützte nichts, ihm zu erklären, dass die Sowjetunion nicht mehr existiere, der Kalte Krieg längst zu Ende sei. Bettina weigerte sich, ihn als dement anzusehen. Demenz, belehrte sie mich, sei eine fortschreitende Erkrankung des Gehirns, bei ihrem Papa handle es sich lediglich um altersbedingte Gedächtnisschwäche. Sie war schon immer eine Schönfärberin, um Harmonie bemüht; alles Unangenehme verbannte sie aus ihrem Umkreis, solange es ging. Diese Fähigkeit des Wegschauens zog mich einst an.

Seit Monaten hatte ich Gruber nicht mehr besucht, aber an diesem Samstag gab ich Bettinas Drängen nach, vielleicht auch, um vor dem unfertigen Artikel, einer Porträtserie zu den Jahren 89/90, wegzulaufen.

»Also gut, ich begleite dich.«

»Ach ja?« Sie verbarg ihre Verblüffung schlecht. »Er wird sich freuen. Um zwei in der Eingangshalle?«

»Okay. Was ist mit Fabian und Julia?«

Sie zögerte, lachte nervös »Eine Art Familienausflug? Du weißt ja, am Wochenende haben die beiden immer so viel vor.«

»Ich dachte nur…« Freuen, dachte ich, wird sich Gruber kaum, wenn er mich überhaupt erkennt. Wir haben zu oft miteinander gestritten, so erbittert, als gehe es um den höchstmöglichen Einsatz, die eigene Existenz.

[11]»Nein«, sagte Bettina, »wir gehen zu zweit hin. Du wirst es überleben.«

»Knapp«, witzelte ich. »Soll ich etwas mitbringen? Er mag doch Süßigkeiten.«

»Ich habe schon Champagner-Truffes gekauft. Er wird sagen, das sei unnötiger Luxus, und sie dann, eins nach dem andern, vor unsern Augen aufessen.«

»Und uns«, fügte ich an, »keines anbieten.«

Wir lachten ein bisschen.

[12]Mario und sein Deutschlehrer

Das war der falsche Anfang. Ich muss zuerst erzählen, wie Dr.Armand Gruber, im April 1970, zum ersten Mal unser Klassenzimmer betrat. Ihm ging der Ruf voraus, streng zu sein, unnahbar. Er galt aber als guter Lehrer, der auch den verstocktesten Gehirnen die Grammatik beibrachte. Wir wussten zudem, dass er im Militär Hauptmann war, und das beeindruckte uns. Die Tür flog auf, mit wuchtigen Schritten, ohne uns eines Blickes zu würdigen, eilte Gruber zum Lehrerpult, holte aus seiner ledernen Aktentasche einen grauen Ordner hervor und legte ihn vor sich hin, genauer: er ließ ihn aufs Pult fallen, so dass ein dumpfer Laut zu hören war. All dies machte den Eindruck von einschüchternder Entschlossenheit. Er hatte eine gedrungene Statur und trug einen blauen Anzug, den er mit seinem Brustkasten fast zu sprengen schien, dazu eine silbergraue Krawatte; aber man konnte ihn sich ohne weiteres in der Uniform vorstellen.

Zwanzig Sechzehnjährige waren aufgestanden, um ihn zu begrüßen. Erst jetzt musterte er uns mit forschenden, beinahe abschätzigen Blicken. Dann sagte er in erstaunlich höflichem Tonfall: »Guten Tag, setzen!« Wir gehorchten, er blieb stehen und legte uns ohne weitere Umschweife dar, welchen literaturgeschichtlichen Stoff wir im nächsten [13]Semester behandeln würden und was er von uns erwarte. Selbstdisziplin, Aufmerksamkeit und Fleiß seien unabdingbar – das Wort habe ich nie mehr vergessen–, natürlich auch Formulierungsgeschick, denn wir würden regelmäßig Aufsätze schreiben, und gelegentlich werde er uns zumuten, Gedichte auswendig zu lernen, sogar längere Balladen. Sein Deutsch war geschliffen, er hatte sich die stockende helvetische Satzmelodie abgewöhnt, verwendete die stimmhaften S, die ich bloß von Schauspielern kannte. Er zählte die Pflichtlektüre auf, die wir uns anschaffen sollten, Storm, Keller, den Urfaust, leicht Verdauliches zunächst, später würden die Schwergewichte folgen, Lessing, Goethe, Schiller, auch Stifter, ja, der Österreicher Stifter, einer der großen Namen des 19.Jahrhunderts, zu Unrecht als Langweiler abgestempelt. Von Hesse rate er uns dringend ab, das sei ein sentimentaler Rattenfänger, und was in den letzten Jahrzehnten entstanden sei, das Zeitgenössische, müsse sich erst noch bewähren, bevor es zum Schulstoff werde.

Einige der Namen, die er nannte, hatte ich noch nie gehört. Ich begann aber, wie die meisten anderen, Notizen zu machen, was Gruber mit einem wohlwollenden Lächeln quittierte. Es gehe ihm, fuhr er fort, auch auf allen andern Gebieten stets um die Sprache, um ihren korrekten Gebrauch und darum, sich ihren Reichtum zunutze zu machen und von den großen Vorbildern zu lernen. Danach begann er übergangslos mit der ersten Grammatiklektion. Er dozierte, an der Tafel stehend, über starke und schwache Verben, lobte den vollen Klang der starken Vergangenheitsformen, er forderte uns auf, unregelmäßige Verben zu nennen, und ich traute mich, die Hand zu heben und auf den [14]Bedeutungsunterschied zwischen »erschrocken« und »erschreckt« hinzuweisen. Er fragte mich nach meinem Namen, ich nannte ihn: Sturzenegger, Mario. Er war der einzige Lehrer, der uns von Anfang an siezte. Für mich war sein »Was meinen Sie dazu, Mario?« eine Art Beförderung, die das Kind in den Stand eines wissenden jungen Manns erhob.

Wir beugten uns, ohne zu murren, Grubers unbestreitbarer Autorität. Die Studentenunruhen, die im Mai 68Frankreich aufgeschreckt hatten, waren zwar auch in Schweizer Gymnasien subkutan, in zögerlichen Ansätzen wirksam geworden, und es gab Lehrkräfte, die mit offenem oder heimlichem Widerstand rechnen mussten; aber an Grubers bezwingender Aura prallte alles ab, was auf Rebellion auch nur hindeuten mochte. Die Tagesaktualität schien für ihn keine Rolle zu spielen; einzig über das »menschenverachtende Antlitz des Kommunismus« schob er gelegentlich eine Bemerkung ein, und ich glaubte die Abneigung zu spüren, mit der er all jene strafte, die nicht standfest genug waren, unsere schwer errungene Freiheit gegen Chaoten und Wirrköpfe wie Cohn-Bendit und Dutschke zu verteidigen.

Ich wurde bald sein Lieblingsschüler. Für meine Klassenkameraden war ich der Streber, den sie verspotteten und doch heimlich beneideten. Heute ist mir klar, dass ich Gruber zum Ersatzvater machte, um dessen Anerkennung ich warb. Mein leiblicher Vater war orthopädischer Schuhmacher, ein wortkarger Mensch, der Tag für Tag in seiner Werkstatt saß und von seinen drei Kindern in Ruhe gelassen werden wollte. Er forderte Anstand und Fleiß von uns (letztlich nicht so anders als Gruber); ein Lob ging ihm kaum über die Lippen, und gerade deshalb bedeutete mir [15]Grubers Lob, auch das kargste, so viel. Wenn unter einem Aufsatz in seiner winzigen Schrift – er schrieb immer mit grüner Tinte – stand: »Gut getroffen, reicher Wortschatz!«, fühlte ich mich geadelt. Ich schwebte durch den Tag, hungerte aber schon bald nach dem nächsten Zeichen seines Beifalls. Ein »Sie haben teilweise das Thema verfehlt« raubte mir den Schlaf. Wenn Grubers Blick mich danach in der Deutschstunde streifte, versuchte ich aus seiner beherrschten Mimik zu lesen, ob ich noch in seiner Gunst stand. Ich arbeitete hart an fehlerloser Grammatik und Orthographie, an einem Stil, der sich an Grubers Maßstab einer klassischen Prosa orientierte. Keine Ellipsen, keine unvollständigen Sätze!, hämmerte er uns ein. Ich hielt mich daran wie an ein unumstößliches Gesetz, sogar jetzt noch, dreißig Jahre später, baue ich wieder, Grubers Worte im Ohr, jene komplexen Sätze, die ich mir während meiner Journalistenlaufbahn sukzessive abgewöhnen musste.

Vor allem aber las ich die literarischen Texte, die wir im Unterricht besprachen, mit größter Aufmerksamkeit, damit mir auch nicht das kleinste Detail entging. Gerade danach fragte nämlich Gruber. Was der Erzähler in Immensee auf seinem Waldspaziergang mit der Frau, die er unglücklich liebt, für eine Blume pflückt, wollte er wissen. Ich hatte die Antwort: eine Erika. Ich wusste nicht, wie eine Erika aussah, aber es war das Wort, das zu Grubers Frage passte. Mein Puls ging schneller, wenn ich mich meldete; und ich atmete auf, wenn Gruber zustimmend nickte. In Immensee, in Romeo und Julia auf dem Dorfe ging es um Liebesschmerz, um Entbehrungen und verbotene Leidenschaften. Aber das berührte Gruber in seinen Erläuterungen nur am [16]Rand, er lenkte unser Augenmerk auf die Form, auf den Wortschatz, auf die Genauigkeit der Prosa, und ich untersagte mir, mich von der Handlung mitreißen zu lassen, denn Gruber – das wiederholte er oft genug – missbilligte das Verschlingen eines literarischen Werks. Das sei, spottete er, Dienstmädchenart; um den Wert einer Novelle zu erfassen, brauche man Distanz, Urteilsvermögen. Und so sagte ich mir, dass die Gefühlslandschaften, die Storm und Keller beschrieben, mit meinen eigenen unglücklichen Verliebtheiten nichts zu tun hatten, sondern auf gültige Weise das Allgemein-Menschliche berührten, mit dem sich die Literatur befassen muss.

Grubers Urteil, überhaupt seine ganze Art, hatte für mich etwas Unangreifbares. Oft fragte ich mich, wie er zu seiner inneren Sicherheit gekommen war. Ich wollte wissen, woher er kam, und ich fand zu meiner Überraschung heraus, dass er seine Kindheit im gleichen Genossenschaftsquartier verbracht hatte wie ich. Es war eine Siedlung mit gelblichen Reihenhäusern und langgezogenen, durch Zäune voneinander abgetrennten Vorgärten. Dort blühten im Frühling Narzissen und Tulpen in Rabatten, es gab Birnenspaliere, Apfel- und Zwetschgenbäume. Hier und dort zog man noch Gemüse in akkurat ausgemessenen Beeten, aber von Jahr zu Jahr nahm der kurzgeschnittene Rasen überhand.

Grubers Mutter lebte noch, drei Straßen von uns entfernt, das erfuhr ich bei meinen vorsichtigen Nachforschungen. Ihr Sohn Armand, der verheiratet sei und eine Tochter habe, besuche sie nur selten, das war im Quartier bekannt. Meine eigene Mutter kam darauf, dass es einen verwandtschaftlichen Zusammenhang gab zwischen [17]meinem Deutschlehrer und der früh verwitweten Frau. Grubers Vater, einen Lokomotivführer, hatte ein Unfall das Leben gekostet, und sie hatte ihre zwei Kinder, offenbar an der Grenze der Armut, allein durchgebracht. Sie war eine dünne Achtzigjährige mit schlohweißem, zu einem straffen Knoten gebundenem Haar und trug draußen meist eine lange Schürze. An schönen Nachmittagen arbeitete sie im Garten, und wenn ich zur richtigen Zeit an ihrem Haus vorbeiging, verlangsamte ich meine Schritte und schaute zu, wie sie die Erde harkte und das Unkraut zwischen Salatköpfen und Kressereihen jätete. Das Bücken fiel ihr schwer, ich hörte sie seufzen, sah, wie sie sich aufrichtete und die Hand ins Kreuz stemmte. Es war mir ein Rätsel, dass ein Mann wie Gruber von solch einer durchschnittlichen Person abstammte; sie hatte nichts Auffälliges an sich, sie war einfach eine alte Frau. Gab es zwischen ihr und meiner Mutter eine Ähnlichkeit? Vielleicht. Auch meine Mutter war mager und hochgewachsen, auch ihr Gesicht wirkte oft verschlossen und abweisend. In dreißig Jahren würde sie der alten Frau Gruber noch weit mehr gleichen, und das ließ trotz aller Zweifel die Vermutung zu, auch mir mit meiner vergleichbaren Herkunft könnte es gelingen, in Grubers intellektuelle Höhe aufzusteigen.

Ich versäumte nie, Frau Gruber zu grüßen; sie grüßte, leicht den Kopf hebend, ein wenig erstaunt zurück. Dass ich der Schüler ihres Sohns war, wollte ich ihr nicht sagen.

In meinen Aufsätzen entwickelte ich einen besonderen Spürsinn dafür, Grubers Vorlieben zu entsprechen. Ich schrieb mäandernde Sätze, die sich über eine halbe Seite hinzogen, ich verwendete ostentativ das Semikolon, suchte [18]nach seltenen Adjektiven und achtete gleichzeitig darauf, sie nicht überborden zu lassen. Bei Themen wie Freiheit und Pflicht oder Tradition und Fortschritt wog ich das eine gegen das andere ab und neigte dann deutlich der konservativen Haltung zu, die Gruber vertrat. Dabei fiel es mir überhaupt nicht schwer, die Bilder der rebellierenden Jugend in Paris und Berlin auszublenden, die ich mir doch in der Zeitung mit unbehaglicher Faszination angeschaut hatte.

Georg Berger, ein Mitschüler, begann lange vor mir gegen Grubers Verbohrtheit aufzubegehren. Er stammte aus einer Arztfamilie, er ließ seine Haare bis auf die Schultern wachsen und las regelmäßig den Spiegel. Von ihm hörte ich zum ersten Mal den Spruch »Unter den Talaren der Muff von tausend Jahren«. Das war wie ein kleiner elektrischer Schlag, noch harmlos, aber aufregend. Er stellte kritische Fragen, auf die Gruber mit grimmiger Entschiedenheit antwortete: Nein, das Gesellschaftsmodell, das Fontane vertrete, sei keineswegs veraltet, sondern durchaus zukunftsweisend. Nein, weder Rilke noch Hofmannsthal hätten sich blind gestellt gegenüber den drohenden Katastrophen des zwanzigsten Jahrhunderts.

Berger, einen Kopf größer als ich, mit deutlich sprießendem Bart, stand mir nicht wirklich nahe, er ließ mich, trotz seiner verschwommen linken Neigungen, wohlwollend spüren, dass es zwischen uns einen gesellschaftlichen Abstand gab, und das ertrug ich schlecht. Aber er redete mit mir gerne über seine Lektüren, zeigte mir Gedichte von Brecht, den Gruber, wie ich wusste, vehement ablehnte; Kommunisten, so sagte er, benutzten die Sprache wie Hammer und Sichel, als ideologische Waffe, und das sei kläglich. [19]Ich strengte mich an, Brechts eingängigem Duktus zu widerstehen, und spürte zugleich, dass er wie ein verführerisches Gift in mein Sprachgefühl eindrang.

Am Anfang des dritten Gymnasialjahrs lasen wir zwei klassische Dramen in Blankversen: Goethes Iphigenie und Schillers Don Carlos. Goethe langweilte mich, ohne dass ich es mir eingestehen mochte, doch bei Schiller spürte ich einen heißen Atem, der Strom seiner Gedanken riss mich mit. Gruber bezog das berühmte »Sire, geben Sie Gedankenfreiheit« auf die geknechteten Völker des Ostblocks; ich fragte mich indessen, ob denn an unserem Gymnasium die Gedanken frei seien, wagte aber nicht, die Frage laut zu stellen. Zum ersten Mal hatte ich den Drang, selbst etwas Ähnliches zu schreiben, ein aufrührerisches Drama, und da ich Schillers Biographie kannte, wählte ich als Schauplatz die Karlsschule in Stuttgart, wo der junge Eleve sich Herzog Karl Eugen, seinem despotischen Wohltäter, widersetzt: »Durchlaucht, ich bin ein Mensch und nicht Ihr Knecht!« Und die Antwort des Herzogs: »Er ist mein Untertan. Das ist Gesetz.« Auf solche schneidenden Sätze in fünffüßigen Jamben war ich stolz.

Ich wagte es, den ersten Akt Berger zu zeigen. Wir saßen in seinem Zimmer, das auf einen weitläufigen Garten mit Swimmingpool hinausging, er hatte mich überredet, am heiterhellen Nachmittag mit ihm einen Wodka aus der Bar des Vaters zu trinken.

Berger lachte mich aus: »Was du da schreibst, ist doch völlig antiquiert. Und dazu in Blankversen? Das ist geradezu rührend. Heute haben wir es mit ganz andern Konflikten zu tun. Es geht um die politischen Systeme, um den [20]Kalten Krieg. Um Neokolonialismus. Hast du das noch nicht gemerkt?«

Das Aufbegehren des Individuums gegen die Tyrannei, hielt ich ihm entgegen, sei durch alle Zeiten ein zentraler Konflikt unter Menschen gewesen. Und ohnehin hätte ich einen Widerwillen gegen bloße Schlagworte.

Auf Bergers Stirn vertiefte sich die Denkerfurche, um die ich ihn beneidete. Er schüttelte den Kopf: »Du bist ebenso rückwärtsgewandt wie Gruber. Er hat ja eine Dissertation über Leibniz geschrieben, das sagt schon alles.«

Von Leibniz hatte ich bloß eine schwache Ahnung, ich tat aber, als wüsste ich mehr. Es war mir ein Rätsel, wie Berger zu dieser Information kam. Hatte er im Katalog der Landesbibliothek nachgeforscht? Dort lieh auch ich mir hin und wieder Bücher aus, aber es war mir nie eingefallen, nach dem Namen Armand Gruber zu suchen.

»Leibniz und die beste aller Welten«, sagte Berger wegwerfend und trank einen kräftigen Schluck, der mich ohne Zweifel zum Husten gebracht hätte. »Die Theorie von der universellen Harmonie. Darüber hat sich schon Voltaire lustig gemacht. Und Doktor Gruber nimmt das immer noch ernst.«

Mit seiner Bildungshuberei brachte mich Berger regelmäßig in die Defensive, obwohl ich durchschaute, wie oberflächlich sie war, ein Puzzle angelesener Namen und Begriffe, eigentlich nicht anders als bei mir; aber es gelang ihm weit besser, sich damit einen weltläufigen Anschein zu geben.

Wir stritten eine Weile miteinander, versöhnten uns wieder, und Berger bot mir zum ersten Mal einen Joint an. [21]Ich lehnte ab, man brauche, sagte ich, keine Drogen, um das Denken anzuregen. Doch seine Einwände hatten mich verunsichert, und ich ließ danach mein unfertiges Drama liegen.

Ein paar Wochen darauf fiel mir in der Wühlkiste eines Antiquariats ein Theaterstück des Rumänen Ionesco in die Hände. Der Name sagte mir nichts, die Inhaltsangabe irritierte mich, sie hatte so gar nichts mit den Dramenstoffen zu tun, die ich kannte. Ich kaufte das abgegriffene Taschenbuch und las es in einem Zug, die erste Hälfte gleich auf einer Parkbank im Nieselregen. Ich war von der Lektüre nicht nur verstört, sondern auch hingerissen. Was für eine abwegige Idee, dass die Einwohner einer ganzen Stadt sich allmählich in Nashörner verwandelten und niemand, außer dem Einzelgänger Behringer, das wahrhaben wollte! Und zugleich: Wie stark war dieses Bild für die Blindheit all jener, die verleugnen, wozu sie geworden sind! Wie grausam die Einsicht, dass einer wie der andere sein und zu einer herumtrampelnden Herde gehören will! Was diese Leseerfahrung in mir auslöste, behielt ich für mich. Ich ging davon aus, dass Gruber auch Ionesco ablehnte, falls er ihn überhaupt kannte, und Berger sagte ich nichts von ihm, weil ich befürchtete, dass er dieses virtuose Spiel mit dem Absurden als trivial abtun würde. Aber die Nashörner ließen mich nicht los. Nun kam mir mein Dramenentwurf fad und grau vor. Eines Abends setzte ich mich hin und fing mit etwas ganz anderem an: Der einzige Sohn in einem kleinbürgerlichen Haushalt hört nicht auf zu wachsen, er stößt, zum Schrecken der Eltern, mit dem Kopf schon bald an die Decke. Der Vater beschließt, den Sohn in der Garage [22]einzusperren, und bringt ihn mit Gewalt dorthin. Das Monster ist nun allein, wird aber regelmäßig von der Mutter gefüttert und gewindelt. Die Eltern behaupten, ihnen sei ein Elefant zugelaufen. Die Nachbarn glauben im Geheul des Sohns tatsächlich das Trompeten eines Elefanten zu erkennen. Es kommt der Tag, da der Sohn die Garagentür einschlägt und sich den Nachbarn zeigt. Sie laufen vor ihm davon und schreien: »Ein tollwütiger Elefant! Ein Elefant!« Der Vater droht ihn zu erschießen. Doch der Sohn läuft auf allen vieren zum Zoo und verlangt, im Elefantengehege untergebracht zu werden: »Hier bin ich, hier bin ich! Ich gehöre zu euch!« Und dann stellt er fest, dass ihm tatsächlich ein Rüssel gewachsen ist.

Ich schrieb in jeder freien Minute und entdeckte, wie befreiend es war, von der gebundenen Prosa abzuweichen und den Figuren Alltagssätze in den Mund zu legen.

»Was treibst du dort oben so lange?«, fragte meine Mutter, als ich bloß noch zum Essen aus meiner Mansarde in die Wohnung herunterkam und hauptsächlich schwieg, während die Geschwister sich mit den üblichen Albernheiten unterhielten.

Ich müsse eine Semesterarbeit zu Ende bringen, sagte ich ausweichend.

»Was für eine Arbeit?«, fragte der Vater.

Und weil ich wusste, dass er sich, als passionierter Briefmarkensammler, für Geographie und fremde Länder interessierte, gab ich vor, ich würde mich dem Thema Geschichte und Verbreitung der Baumwolle widmen.

[23]Gruber, Dr.phil., maßlos

Wir müssen wachsam sein. Wachsam bleiben. Man will uns einreden, die Gefahren hätten sich abgeschwächt. Humbug! Subversion ist zunächst unsichtbar. Es gibt Verdachtsmomente, ihnen gilt es nachzugehen. Man braucht seine Vertrauensleute, das ist das Wichtigste, man muss einander an deutlichen Zeichen erkennen können. Das haben wir gelernt in der Festung. Einzelzimmer. Videobotschaften des Generalstabschefs. Wir trugen Masken in den Gängen, damit wir nicht wussten, wer die anderen waren. So etwas lernt man bei MI5. Das sind die Professionellen. Ich war nicht drüben, habe aber die Unterlagen gründlich studiert. Schießübungen, Waffenverstecke für den Notfall. Wir müssen unsere Souveränität bewahren, um jeden Preis. C. hatte recht mit seiner Kartei der Subversiven. Das ist keineswegs Gesinnungsschnüffelei, sondern legitime Verteidigung. Ob die Bedrohung braun oder rot ist, wir haben ihr zu widerstehen.

Wir müssen uns an Vorbildern orientieren. Moralische Leitplanken brauchen die Jungen heutzutage, auch B. braucht sie, aber sie sieht es nicht ein. Man findet die gehörige Ordnung zum Glück in der Philatelie. Klare Verhältnisse, ordentliche Reihen in den Alben, vom Staub geschützt durch transparente Zwischenblätter. Man hantiert mit [24]Pinzette und Lupe, in der Vergrößerung zeigen sich die Abweichungen von der Norm.

B. Die Kleinheit erstaunte mich. 2.November 1956, morgens um fünf, Frauenklinik. Da wog ich die Kleine – rotgesichtig war sie, flaumbedeckt der Schädel – erstmals in meinen Händen: 3450Gramm. Solche Zahlen vergisst man nicht. Am 4.November besetzten die sowjetischen Panzer Budapest. Ich schwor mir, B. vor jeder Invasion zu beschützen, koste es, was es wolle. Ich legte sie zurück auf A.s Bauch. Ich hatte darum gekämpft, bei der Geburt dabei zu sein, war nahe an einer Ohnmacht, als A. schrie und der Arzt den Dammschnitt ansetzte. Diese Formen des Elementaren sind mir fremd. Faust stieg hinunter ins Reich der Mütter, ich tat es einmal, im Kreißsaal. Blutgeruch ertrage ich nicht. A. war für mich nie wirklich Mutter. Sie ist Pflegerin, Haushälterin, Pflanzenzüchterin (unseligerweise), Geliebte war sie nicht lange, es reichte für die Zeugung von B., weitere Kinder wollte ich nicht. GV blieb auf der Strecke, die Abstinenz machte mir keine Mühe. Nur diese Träume hin und wieder mit blocksbergähnlichen Szenen. Ich war dort, auf dem Brocken, und ich war in Oberplan, Böhmen, wo St.geboren wurde, heute Horní Planá, habe mit tausend Schritten seine Kindheitswelt durchmessen, ich war in Linz, wo St.an vielem litt und alles in sich hineinschlang, gut gepolstert gegen alle Zumutungen war er, bis er abzumagern begann, denn J. war tot, er nahm die Schuld auf sich, wie ich sie auf mich nehmen müsste, wenn B. sich etwas zufügen würde, das Töchterchen, der Herzkäfer, so nennt man sie doch, die Kleinen, wenn sie ihre ersten [25]Wörter lallen, wenn sie auf krummen Beinchen herumschwanken und man sie immer wieder auffangen muss. B. sang Lieder nach mit reiner Stimme, da war sie vier; mit sieben setzte sie sich ans Klavier, noch keine Oktave umspannten ihre Fingerchen. Ihr fiel alles leicht, man musste sie fördern und zugleich zügeln, damit sie den Kopf nicht zu hoch trug. Es ist väterliche Pflicht, die Träume von Hochbegabung und Berühmtheit zurechtzustutzen auf realistische Dimensionen. B. verlor das Zeitgefühl am Klavier, das durfte nicht sein. Mich rührte ihr Spiel manchmal zu Tränen, Schubert, die B-Dur-Sonate, zweiter Satz, es hätte meine Autorität geschwächt, wenn sie es gesehen hätte. Und gegen meine Autorität kämpfte sie, im Bündnis mit A., ohnehin an. Ihre kühlen Blicke, die Ängstlichkeit darin, der aufglimmende Zorn. Man muss das Aufbegehren des eigenen Kinds von Anfang an durchschauen, es darf einem nicht entgleiten, sonst geht es die falschen Wege, und B. ging sie, trotz meinem Bemühen, sie ging sie mit M., der von mir abfiel, der die Literatur verriet, der sie zweimal schwängerte. M., willensschwach, Treibgut im Zeitgeist, kein Mann für B., gewiss nicht. Auch der große G. hatte einen schwachen Sohn, er endete als Nichtsnutz in Rom, manchmal fragt man sich, ob es nicht das Beste wäre, wenn Kinder früh sterben würden wie zu G.s Zeit, es würde das Leiden der Eltern vermindern. Das Herz kann einen Vater derart schmerzen, dass er fürchtet, es stehe bald still. Man behält es für sich, selbstverständlich, man wahrt die Fasson, auch als Offizier. Man weiß, dass eine einzige Atombombe das Mittelland in Schutt und Asche legen, für Jahrzehnte verseuchen würde. Hiroshima, da war ich einundzwanzig, in der [26]Offiziersschule, Hitler geschlagen und dann dieses Entsetzen. Man trifft alle Maßnahmen, um das Überleben zu sichern. Luftschutzkeller, Bunker, Notvorrat, Geigerzähler. Man wappnet sich, man muss den Feind so früh wie möglich erkennen und ihn unschädlich machen. Wir leben in einem Scheinfrieden. Der Wohlstand verdirbt uns. Wie traurig, wie wahr.

[27]Mario, vor und nach der Matura

Meinen neuen literarischen Versuch zeigte ich Berger nicht, auch nicht dem kleinen Kollbrunner, der seit kurzem meine Freundschaft suchte und mich, im Gegensatz zum Rest der Klasse, vorbehaltlos zu bewundern schien. Vor Bergers Kritik fürchtete ich mich, Kollbrunners Bewunderung war mir zu billig. Ich beschloss, mich direkt in die Höhle des Löwen zu wagen und mein Drama Gruber vorzulegen. Heute denke ich, dass diese Absicht grundiert war von der uneingestandenen Lust, ihn zu provozieren. Ich musste doch wissen, dass er meine Stoffwahl für abseitig halten würde, und doch bewahrte ich einen Funken Hoffnung, dass er in mir so etwas wie Talent, ja Genie erkennen würde.

Den Stückentwurf schrieb ich, vor allem nachts, auf der alten Schreibmaschine ins Reine, die mir der ältere Bruder überlassen hatte. Einige Typenhebel erforderten starken Druck, damit sie sich überhaupt bewegten, das a hingegen saß so locker, dass es beinahe das Papier aufriss. Immerhin gelang es mir, das Zweifingersystem zum mehrfingerigen zu erweitern, bei dem ich allerdings oft danebentippte. Ich verschmierte mir die Hände mit Tipp-Ex; die bröcklige weiße Schicht, die es auf der Haut hinterließ, konnte ich, oben [28]in der Mansarde, wo es kein warmes Wasser gab, nur mit Mühe abwaschen.

An einem Sonntagabend im März war ich fertig, ich nummerierte die 97Seiten von Hand, rechts unten, wie es sich gehörte, und konnte danach lange nicht einschlafen. Am nächsten Morgen, nach der Deutschstunde – die Klasse war wie üblich hinausgeeilt–, trat ich zu Gruber, der seine Ledermappe packte, und streckte ihm linkisch mein Manuskript entgegen. Ich hatte die Seiten in einen blauen Ordner geheftet, auf dessen Etikette ein rätselhafter Titel stand: »Das Elefantenkind«.

Gruber sah erst mich, dann den Ordner erstaunt an: »Mario? Was wollen Sie denn?«

»Ich möchte Ihnen das hier geben…«, brachte ich hervor und schämte mich über mein Gestotter. »Zum Lesen, meine ich… das heißt, wenn Sie überhaupt…« Ich legte den Ordner zögernd vor ihn hin. Gruber schlug ihn auf und begann darin zu blättern.

»Das ist ein Theaterstück«, konstatierte er nach einer Weile. »Sie schreiben also?«

Ich nickte befangen, mit weichen Knien.

»Sie möchten, dass ich es lese?«

Ich nickte wieder und hätte gern entschlossener gewirkt.

Gruber verzog den Mund zu einem Lächeln. »Dann werde ich es lesen. Sofern Sie ein ehrliches Urteil nicht scheuen.«

Ich schüttelte den Kopf. »Ihre Kritik ist mir wichtig, ich will daraus lernen.« Wenigstens diese Sätze – ich hatte sie eingeübt – kamen wie gestanzt aus meinem Mund.

»Nun ja.« Er lächelte jetzt deutlicher, aber mit spürbarer [29]Skepsis. »Büchner und Schiller waren gleich alt wie Sie, als sie ihre ersten Stücke schrieben.«

Ich errötete. »Mit ihnen will ich mich nicht vergleichen. Ich hab’s jetzt einfach mal versucht.«

Nun lachte Gruber sogar, kurz und auf grimmige Weise amüsiert. Ich stand so nahe bei ihm, dass ich zum ersten Mal seinen Geruch wahrnahm, irgendwie erdig, pflanzenhaft schien er mir, nicht unangenehm, aber fremdartig.

Gruber steckte den Ordner ins Seitenfach seiner Aktentasche, allzu sorglos, wie ich fand, und ließ den Metallverschluss zuschnappen. »Ich werde es Ihnen sagen, wenn ich so weit bin. Adieu.« Damit stand er auf, wandte sich von mir ab und verließ mit raumgreifenden Schritten das Zimmer. Ich folgte ihm nach ein paar Sekunden. Der Gang draußen mit den Kleiderhaken an den Wänden war leer, das Schulgebäude verlassen. Ich kam mir vor wie ein Gestrandeter, der auf Rettung wartet.

Das Warten dauerte zwei Wochen oder länger, es schien mir eine halbe Ewigkeit. Ich war zerstreut in dieser Zeit, kaum ansprechbar. Die Mutter musterte mich besorgt, wenn ich ihre Fragen überhörte oder einsilbig antwortete. Der Vater achtete ohnehin kaum auf mich. In den Deutschstunden zwang ich mich dazu, Grubers Blick zu suchen, ich hungerte nach einem Zeichen von ihm. Er rief mich weniger auf als sonst, obwohl ich mich so häufig meldete wie immer. Ich hatte den niederschmetternden Eindruck, dass er mir auswich, dass ich in seinen Augen als Schriftsteller durchgefallen war.

Endlich kam die Erlösung. Am Ende einer Stunde schob [30]Gruber mir einen Zettel zu; es sollte offenbar wirken, wie wenn ich eine Zusatzaufgabe bekäme. Auf dem Zettel stand: »Wir brauchen Zeit, um Ihrer Arbeit gerecht zu werden – und dies in privatem Rahmen, da es sich um etwas Außerschulisches handelt. Kommen Sie am Mittwoch um 16Uhr zu mir nach Hause.« Es folgte in seiner beinahe mikroskopischen, aber überaus leserlichen Schrift die Adresse und die Angabe der nächstgelegenen Tramhaltestelle.

Es war eher ein Befehl als eine Einladung. Ich gehorchte und war dabei so aufgeregt wie vor einer entscheidenden Prüfung. Das Haus in einem gesichtslosen Außenquartier fand ich nur mit Mühe. Es war ein Häuschen mit Giebeldach, noch aus der Vorkriegszeit, und duckte sich hinter einer übergroßen Rottanne. Eine Glyzinie bedeckte die halbe Vorderfront, der Verputz darunter war verwaschen und stellenweise abgeblättert. Eine Menge Töpfe, aus denen verdorrte Stengel ragten, säumten die Eingangstür; einige waren bedeckt mit Vlies, darunter keimte wohl Neues. Eine Frau mit graumeliertem Haar, die mir schon alt schien, älter als Gruber, öffnete mir die Tür: »Sie sind wohl Mario. Mein Mann erwartet Sie. Sie haben nichts zum Ablegen, wie?« Ich trug anstelle einer Jacke noch meinen dicken Winterpulli, den zog ich nicht aus, und meine Schülertasche nahm ich mit.

Im Haus roch es seltsam, irgendwie moderig, fast faulig, herb auch, und mir wurde klar, dass Grubers Kleider diesen Geruch angenommen hatten. Er musste von all den Pflanzen kommen, großen und kleinen, die in ihren massiven Kübeln den halben Flur besetzten. Erstaunlich, dass hier drin, bei dem einzigen kleinen Fenster, so viel wuchs. [31]Jemand spielte im oberen Stockwerk Klavier, sehr geläufig, ja virtuos. Als ob Frau Gruber die Frage, die mir auf der Zunge lag, erraten hätte, sagte sie: »Unsere Tochter Bettina. Stört es Sie?«

Ich schüttelte den Kopf und versuchte, den Kenner hervorzukehren: »Ich glaube, das ist Schumann.«

»Nein«, erwiderte sie. »Es ist Schubert, ein Impromptu.«

Bei uns zu Hause gab es keine klassische Musik. Mein Vater bevorzugte Blaskapellen, Märsche vor allem, das Trittfeste und Solide; er hatte früher in einem Blasmusikkorps Piccolo gespielt. Und die Mutter hörte sich im Radio Operettenmelodien an, aber nur, wenn Vater in der Werkstatt war. Ich hatte mir von meinem ersten Ferienjob als Aushilfe in einem Gemüseladen einen kleinen Plattenspieler und ein paar Langspielplatten gekauft, New Orleans Jazz und Beethovens Eroica, Schubert war nicht darunter. Meine Musikwahl war ein Protest gegen Militärmärsche und gegen die Pink-Floyd-Besessenheit meines älteren Bruders.

»Er ist im Arbeitszimmer«, sagte Frau Gruber und betonte das ›er‹ auf eine scheue und doch halb ironische Weise. Sie führte mich zu ihm, mit kleinen Seufzern, deren Grund ich nicht verstand.

Gruber kam mir entgegen, aber im ersten Moment war ich abgelenkt. So etwas wie dieses Zimmer hatte ich noch nie gesehen. Natürlich gab es da einen altväterischen schweren Schreibtisch, eine Sitzgruppe mit dunkelgoldenem Stoffüberzug und Unmengen von Büchern auf Wandgestellen. Dominiert wurde der Anblick aber von den Zimmerpflanzen, die jeden freien Fleck besetzten. Ich hatte das Gefühl, in einen Urwald geraten zu sein. Ein beängstigendes [32]Wuchern in diesem grünlich gefleckten und schattierten Raum; Palmenwedel, gezähnte, gefiederte und fleischige Blätter reckten sich überall hin, waren sich im Weg, verflochten sich ineinander, filterten das Tageslicht von den zwei Fenstern, auf deren Simsen zudem Kakteen jeder Größe standen. Ich kannte lediglich die profansten Pflanzengattungen, Gummibäume, Zimmerlinden, alles andere war mir fremd. Bettina erklärte mir später, in der Nacht der Maturaparty, dass Pflanzen die große Leidenschaft ihrer Mutter seien und dass ihr Vater sich seiner Frau zumindest in diesem Punkt fügen müsse, mit gelegentlichen Ausbrüchen von Unwillen, denen dann der eine oder andere Topf zum Opfer falle. Auch die übrigen Zimmer seien voller Grünzeug, die reinste Gärtnerei, man könne nichts dagegen machen.

Gruber war um ein paar Pflanzen herumgekurvt, er streckte mir die Hand entgegen, was er noch nie getan hatte. Über dem offenen Hemd trug er eine schlottrige Wollweste in verblichenem Braunrot, die so gar nicht zu meinem Bild von ihm passen wollte. Sein Griff war hart und entschieden. Er wies mir einen Ledersessel zu und nahm selbst Platz auf der Zweiercouch vis-à-vis. Zwischen uns stand ein gläserner Clubtisch, auf dem ein unordentlich zusammengeschobener Blätterstapel lag, mein Manuskript, Gruber hatte die Seiten aus dem Ordner herausgenommen. Schon die oberste war mit grünen Notizen vollgekritzelt. Frau Gruber hatte sich zurückgezogen, gleich aber erschien sie wieder mit einem Tablett, stellte vor ihren Mann schweigend eine Henkeltasse mit Milchkaffee hin und vor mich, ohne zu fragen, ein Glas mit Himbeersirup, als wäre ich noch ein [33]zehnjähriger Junge, dazu eine Schale mit harten Haselnussstengeln vom Großverteiler, die meine Geschwister und ich Totenbeinchen nannten.

»Greifen Sie ruhig zu«, sagte Gruber und wies aufs Gebäck. »In Ihrem Alter ist man doch immer hungrig.« Mir wurde bewusst, dass er Dialekt mit mir sprach. Sein breites Berndeutsch mit den dunklen Vokalen wirkte schwerfällig im Vergleich zu der geschliffenen Sprache, die ihn heraushob aus der Schar der anderen Lehrer, bei denen Akzent und Sprachmelodie unüberhörbar schweizerisch klangen. Gruber, so schien mir, hatte sich mit Kleidung und Sprache in einen anderen Menschen verwandelt. Oder war dies der wahre Gruber, den er sonst vor uns allen verbarg? Ich nahm aus Höflichkeit einen Haselnussstengel und biss mit viel zu lautem Knacken die Hälfte davon ab. Der starke Geruch nach feuchter Erde und nassen Blättern, der im Zimmer vorherrschte, überlagerte den Haselnussgeschmack auf meiner Zunge; er schien mir plötzlich so penetrant, dass ich am liebsten das Fenster geöffnet hätte.

Gruber strich mit seiner bäurischen Hand über das Manuskript. »Nun«, begann er, ganz auf meine Schreibmaschinenschrift konzentriert, »da haben Sie ja einiges geleistet. Vom Arbeitspensum her, meine ich.« Überraschend schaute er auf; graugrüne Augen hatte er, mit blonden Wimpern, auch das bemerkte ich zum ersten Mal. »Um es gleich vorwegzunehmen: Sie sind zweifellos begabt, Mario. Aber«, er gab seiner Stimme einen bedauernden Ton, »Sie haben sich verrannt, ja, Sie haben sich in Thema und Aussage völlig verrannt. Ich muss dies leider in aller Deutlichkeit feststellen. So verschwenden Sie Ihr Talent.«

[34]Ich hatte Kritik erwartet, aber nicht diese Breitseite, diese totale Zurückweisung. Etwas in mir gefror augenblicklich. Ich wollte zu einer Entgegnung ansetzen, brachte aber nur schwach hervor: »Können Sie denn vielleicht…?« Gruber gebot mir mit einer knappen Handbewegung zu schweigen und legte mir dann Punkt für Punkt dar, was alles an meinem Text falsch und misslungen war: Der Stoff erscheine ihm abstrus, es gäbe andere und schlüssigere Metaphern, um das Fremdsein eines Heranwachsenden in der Welt zu beschreiben. Er denke an den Grünen Heinrich, dessen Lektüre er mir angelegentlich empfehle, vom Werther ganz zu schweigen.

»Das sind aber keine Dramen«, versuchte ich einzuwenden.

Er hörte nicht auf mich, zwinkerte bloß, für einen Moment aus dem Konzept gebracht. Er rate mir dringend, fuhr er fort, meine Beobachtungsgabe zu schärfen, mein Formbewusstsein zu entwickeln. Die Personen seien zu flach gezeichnet, die Dialoge über weite Strecken hölzern. »Versuchen Sie es doch zunächst mit gebundener Sprache. Das zwingt Sie zu Genauigkeit, zu einer Stilisierung, die den platten Realismus meidet.« Und nun las er mir einige Passagen vor, die in der Tat aus seinem Mund läppisch klangen. Ich begann mich zu schämen, und doch meldete sich erneut mein Widerspruchsgeist.

»Ich habe einfach etwas Neues wagen wollen«, sagte ich. »Kennen Sie Ionesco? Den rumänischen Dramatiker? Er ist… er hat…«

»Kommen Sie mir nicht mit neuen Namen!«, herrschte Gruber mich an. »Ich habe nichts von ihm gelesen. Ebenso [35]wenig von Sartre oder Dürrenmatt. Man hat weiß Gott genug damit zu tun, die Alten zu würdigen, die der Zeitgeist an den Rand verbannt.«

»Wenn alle so denken, stirbt die Literatur«, zwang ich mich zu weiterem Widerspruch. »Auch im Sturm und Drang haben die Dichter Neuland betreten, das haben Sie selber so dargestellt.«

»Aber«, fiel mir Gruber in Wort, »nie wäre es ihnen eingefallen, pubertierendes Aufbegehren gegen das Elternhaus mit Elefantenhaftigkeit gleichzusetzen. Das ist doch rundweg lächerlich.«

Ich fühlte mich ertappt. Unterstellte Gruber mir hier autobiographische Bezüge?

Erst jetzt trank er vom lau gewordenen Milchkaffee. Ich hörte leises Schlürfen und Schlucken, das Klavierspiel hatte aufgehört.

Als Gruber die Tasse absetzte, hatten sich seine Züge entspannt. »Sie sind ein Feuergeist, Mario«, sagte er, und mir schien, das sei nicht bloß tadelnd gemeint. »Man darf annehmen, dass Sie diese Phase hinter sich bringen werden. Vielleicht wird aus Ihnen wirklich ein Schriftsteller.« Er schob den Blätterstapel zu mir herüber. »Lesen Sie meine Randbemerkungen. Und grämen Sie sich nicht, wenn Sie Ihnen streng vorkommen. Nur aus einem solchen Echo können Sie lernen.« Er machte eine kleine und wirkungsvolle Pause. »Ich habe übrigens Ihr Stück kopiert und an den Dramaturgen des Stadttheaters geschickt. Er wird es prüfen und Sie mit anderen Aspekten des Stückeschreibens konfrontieren.«

Ich traute meinen Ohren nicht; das hatte ich zuletzt [36]erwartet. »Warum denn?…Haben Sie in meiner Arbeit auch Gutes gefunden? Und…« Ich konnte nicht weitersprechen, nun stiegen die Tränen, die ich so lange zurückgehalten hatte, in meine Augen. Ich wischte sie mit dem Pulloverärmel weg.

Gruber zog wieder die Mundwinkel nach oben. »Gutes? Ich hab’s ja gesagt: Das blitzt bei Ihnen dauernd auf. Man muss Sie fördern. Aber die harte Arbeit steht Ihnen erst noch bevor.«

»Danke«, sagte ich und hielt mit aller Macht ein kindliches Schniefen zurück. Ich nahm mein loses Manuskript an mich und stopfte es in meine Schultasche. Ich stand auf und fühlte dabei einen leichten Schwindel. Gruber rührte sich nicht, und da auch ich verharrte, wo ich war, glich die Szene ein paar Sekunden lang einem biedermeierlichen Diorama. Doch dann erhob er sich mit einem Ruck, so dass die Couchfedern ächzten, und trat, an diversen Töpfen vorbei, zum Schreibtisch, der übersät war von Schriftstücken aller Art, Büchern, aufgeschlitzten Briefumschlägen. Er deutete auf einen imposanten Stapel in der Mitte, ein wahres Konvolut, in dem überall farbige Zettel steckten. »Schauen Sie, Mario, das hier ist mein Kampfplatz, hier ringe ich um die richtige Form, wenn das schulische Tagewerk erledigt ist.«

Ich starrte auf den Papierberg, neben dem ich Schüleraufsätze zu erkennen glaubte.

»Was ist es denn?«, fragte ich.

Er hatte auf die Frage gewartet. »Ich schreibe seit Jahren an einer Biographie über Stifter.« Das klang beinahe wie ein Bekenntnis, das er nur schwer, aber doch mit spürbarem Stolz über die Lippen brachte.

[37]Ich nickte und murmelte den vollständigen Namen, als wäre ich ein ergänzendes Echo: »Adalbert Stifter, ja?«

»Ich will herausarbeiten, wer er wirklich war: ein Mann, der trotz aller Widrigkeiten ein gewaltiges Werk schuf. Ein Mann, der darin die Harmonie suchte, die ihm im Leben versagt blieb. Ein Mann, dem alles Maßlose und Fratzenhafte zuwider war.« Gruber hatte sich mit dieser Aufzählung in eine Rage geredet, die mir unverständlich war. Ich kannte von Stifter nur wenig und wusste noch nicht, was Bettina mir später erzählte: Gruber hatte diese Arbeit ursprünglich als literaturwissenschaftliche Habilitation einreichen wollen, um Professor an der Universität zu werden. Aber Jahr um Jahr hatte er den Einreichungstermin verschleppt und eines Tages beschlossen, die Arbeit zu einer bahnbrechenden Biographie auszuweiten, mit der er beweisen wollte, wie ein Kunstwerk zwar von den Lebensumständen des Dichters beeinflusst wird, sich aber völlig davon löst und überzeitliche Werte widerspiegelt.

Gruber hatte ein gewichtiges Buch – eine Studie zum Nachsommer – vom Schreibtisch gehoben, er schlug es auf und klappte es gleich wieder zu, griff nach einem anderen und hielt mir das Umschlagbild vor Augen. Es zeigte einen behäbigen Mann mit leicht aufgedunsenem Gesicht, das dem von Gruber in unbestimmter Weise ähnelte. »Sehen Sie diese Biographie hier. Unbrauchbar! Die Behauptung, Stifter habe sich mit einem Rasiermesser selbst getötet, ist absurd. Es war ein Unfall, die Hand ist ihm ausgerutscht. So ist es in den Medizinalakten protokolliert. Alles Übrige ist Legende. Der Mann tat keiner Fliege etwas zuleide. Gewalt hat er zeit seines Lebens verabscheut. Stifter ist kein [38]Selbstmörder.« Gruber, dicht vor mir, strich sich mit dem Zeigefinger der freien Hand ostentativ über die Kehle. »Solche Dinge passieren aus Unachtsamkeit, aus Schwäche.«

Seine bedrängende Nähe, sein lautes Atmen, die Intensität, mit der er die Wörter ausstieß, waren kaum zu ertragen; zurückweichen konnte ich aber, der Töpfe wegen, nicht. Was ihn an der These eines Selbstmords derart aufbrachte, war mir ein Rätsel. Auch Kleist hatte sich umgebracht, und diesen Selbstmord hatte Gruber als konsequente Handlung eines am Leben Verzweifelnden gedeutet.

Ich wollte etwas sagen, etwas vage Zustimmendes; da setzte das Klavierspiel wieder ein, lauter jetzt.

Gruber fuhr zusammen, er drängte sich an mir vorbei zur Tür, riss sie auf und schrie: »Hör auf, ich bin in einer Besprechung!« Das Spiel brach sogleich ab, ich hörte Schritte im oberen Stock.

»Mich stört es nicht«, sagte ich. »Wir sind doch sowieso fertig.«

»Nun ja.« Gruber musterte mich zwischen Belustigung und abflauendem Zorn. »Es ist meine Tochter.« Er schien einen Entschluss gefasst zu haben. »Bettina!«, rief er in verändertem Ton. »Komm, zeig dich, wir haben einen Gast!«

Wir standen beide im Flur und warteten am Fuß der Treppe. Oben erschien ein Mädchen in hellem Kleid und kam zu uns herunter, nicht beschwingt, eher gravitätisch, wie eine Prinzessin, schoss es mir durch den Kopf. Es war meine erste Begegnung mit Bettina, und heute denke ich, dass Gruber uns auf seine Weise zu verkuppeln versuchte. Wir gaben uns die Hand. Gruber sagte zu meiner Verlegenheit: »Mario ist einer meiner besten Schüler. Und weißt [39]du was? Er schreibt.« Ich fühlte mich wie ein Zirkusbär, den er der Tochter vorführte. Sie war sehr scheu damals, der blonde Pagenschnitt struppig, ihr schmales Gesicht erinnerte an eine Spitzmaus. Trotz ihrer Mädchenhaftigkeit zeichneten sich ihre Brüste deutlich unter der Bluse ab.

»Das war schön… Wie du gespielt hast«, sagte ich zu ihr.

Sie schaute mich zweifelnd an, und Gruber antwortete an ihrer Stelle: »Sie ist weit fortgeschritten. Aber wir halten es für richtig, dass sie das Kindergärtnerinnenseminar absolviert, bevor wir ans Konservatorium denken.« Er fasste Bettina aufmunternd an der Schulter, und sie sagte sehr leise: »Ich bin im ersten Jahr.« Inzwischen war von irgendwoher auch Frau Gruber wieder aufgetaucht. Es herrschte nun beinahe ein Gedränge im Flur, ich fürchtete, einen Topf umzustoßen. Zum Abschied gab ich allen die Hand. Ich bedankte mich für den Sirup, den ich gar nicht getrunken hatte. »Er ist hausgemacht«, sagte Frau Gruber an der offenen Haustür. Ich sah, dass Bettina, die knapp hinter ihr stand, verstohlen lächelte, und das nahm mich plötzlich für sie ein. Noch draußen am Gartentor empfand ich dieses Lächeln wie eine kleine, sanfte Berührung.

Aber auf dem Nachhauseweg kam die Scham, sie stieg in mir auf, verhärtete sich im Tram zu einem Glutkern von Zorn. Von Haltestelle zu Haltestelle fand ich niederträchtiger, wie Gruber mich zusammengestaucht hatte. Dazu hatte er mich noch vor seiner Tochter blamiert: »Weißt du was? Er schreibt.« Diese spöttische Gönnerhaftigkeit! Und dann sein Gejammer über das falsche Bild von Stifter. Als ob ich Stifters wegen zu ihm gekommen wäre. Ich las einige [40]seiner Randbemerkungen auf den ersten Seiten des Stücks. Sie schürten bloß meine Wut. »Passen Sie auf! Unpräzises Adjektiv.« – »Wählen Sie ein klareres Verb.« – »Achtung, zu flapsig!« – »Umgangssprache!« Verwundert sahen andere Passagiere mir zu, wie ich mehrere Seiten zusammenknüllte und in den Abfallbehälter bei der Tür stopfte.

Zu Hause zog ich mich gleich in meine Mansarde zurück, ich wollte niemandem begegnen. Den Rest des Manuskripts warf ich auf den Boden, legte mich bäuchlings aufs ungemachte Bett und weinte hemmungslos.

Lange blieb ich liegen. Es war schon dunkel, als meine Mutter an die Tür klopfte: »Komm jetzt herunter, ich habe dir das Essen warmgestellt.«