Der Konvoi - Lukas Hartmann - E-Book

Der Konvoi E-Book

Lukas Hartmann

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Beschreibung

November 1918 - Europa befindet sich im Umbruch. Der Zufall führt einen jungen Schweizer Soldaten und eine Russin zusammen. Sie ist Gesandte der Sowjetunion in Bern, er im zivilen Leben Dorflehrer. Ihre politischen Überzeugungen könnten nicht weiter auseinanderliegen, und doch kommen sie einander sehr nahe. Ein packender Roman über das Aufflackern der Liebe, wankende Gewissheiten, zerstörte Ideale und über ein kaum bekanntes Kapitel der Zeitgeschichte.

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Seitenzahl: 214

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Lukas Hartmann

Der Konvoi

Roman

Die Erstausgabe erschien 1997

im Verlag Nagel & Kimche, Zürich

Der Text wurde für die vorliegende Ausgabe

vom Autor durchgesehen

Umschlagillustration: Moise Kisling,

›Bildnis einer jungen Frau‹, 1941

Copyright © 2013 ProLitteris, Zürich

Foto: © Christie’s Images Ltd – ARTOTHEK

Alle Rechte vorbehalten

Copyright © 2013

Diogenes Verlag AG Zürich

www.diogenes.ch

ISBN Buchausgabe 978 3 257 24194 5 (1.Auflage)

ISBN E-Book 978 3 257 60224 1

Die grauen Zahlen im Text entsprechen den Seitenzahlen der im Impressum genannten Buchausgabe.

[5] Kein Unterschlupf

Nicht sich verstecken

vor den Dingen

der Zeit

in die Liebe

Aber auch nicht

vor der Liebe

in die Dinge

der Zeit

[7] Prolog

Juni 1915

Die beiden Lazarettzüge sollten sich, von Genf und vom Bodensee kommend, auf freiburgischem Boden, in der Nähe von Düdingen, kreuzen. Die Behörden hatten die großen Bahnhöfe meiden wollen und einen Halt auf offenem Feld angeordnet. Dennoch sprach sich rasch herum, wo der vorgesehene Kreuzungsort lag. Sie kamen aus den umliegenden Dörfern, alte Männer im Sonntagsgewand, Frauen mit Strohhut, ihre Kinder an der Hand; sie wollten mit eigenen Augen sehen, was dieser Krieg bedeutete, sie wollten dabei sein, wenn sich Franzosen und Deutsche, die einander zu Krüppeln geschossen hatten, auf neutralem Boden begegneten.

Als der erste Zug, der deutsche mit den französischen Kriegsgefangenen, langsam heranfuhr, hielten Soldaten auf beiden Seiten des Bahndamms die Zuschauer von den Wagen fern. Und doch drängten sie sich, Körper an Körper, hinzu, so nahe, wie sie konnten, schauten hinauf zu den Zugfenstern, an denen sich Menschen zeigten wie aus schlimmen Träumen, Gesichter, die nur noch Klumpen waren, blutige Augenbinden, einbandagierte Köpfe, Hälse im Gips. Hier und dort wurden die Scheiben heruntergeschoben, manche versuchten [8] zu lächeln, zu lachen; einer rief überlaut: Bonjour, les Suisses! Das brach den Bann; Stimmengesumm antwortete ihm, man warf den Invaliden durch die offenen Zugfenster kleine Geschenke zu, Zigarettenpäckchen, Zigarren, Schokoladentafeln, sogar Körbchen mit Himbeeren. Vieles verfehlte das Ziel, blieb zu Füßen der Soldaten liegen.

Ein Korporal befahl Samuel Brülhart und zwei anderen Rekruten, die Geschenke aufzusammeln und sie in den Lazarettwagen zu verteilen. Widerwillig, mit vollgestopften Taschen stieg Samuel die Tritte hoch; eine Rotkreuzschwester ließ ihn vorbei ins Abteil mit den Pritschenbetten. Samuel schlug ein Gestank entgegen, den er nie vergessen würde, es roch nach Schweiß, nach Eiter, Desinfektionsmitteln und nach etwas noch Ekelerregenderem, das Samuel an Aas erinnerte, an den toten, schon halb verwesten Fuchs, den er einmal im Wald gefunden hatte: So also roch zerschossenes und zerfetztes Menschenfleisch.

Einer auf einer oberen Pritsche sagte mit hellem ›A‹, er habe schon sechzig Tafeln Schokolade gehortet.

Zigarren seien ihm lieber, lachte sein Nachbar, zeigte zwanzig, dreißig Schweizer Stumpen, die er mit heilen Händen umfasst hielt. Er hasse dieses gestrickte Zeug, diese Socken und Schals, die man ihnen aufnötigen wolle; im Winter, im Schützengraben, da hätte er sie gebrauchen können.

Samuel bezwang seinen Schwindel, er wich dem Unrat, den zerquetschten Himbeeren aus, die im Mittelgang lagen, er verteilte, was er bei sich hatte.

Der Korporal rief die Rekruten zurück. Draußen, wo es [9] nach Ruß und Schmieröl roch, war Samuel dankbar für alles Unversehrte.

Eine Viertelstunde später traf der andere Zug ein und hielt auf der Höhe des ersten an, so dass die Wagen mit den Deutschen und Franzosen einander gegenüberstanden. Zu beiden Seiten des Bahndamms, wo die Zuschauer standen, wurde es still. Was zwischen den Zügen passierte, sah niemand genau; man hörte nur die Grußworte, die hin und her gingen.

Warum sollen wir uns hassen?, sagte einer mit leerem Ärmel, der aus dem Fenster schaute, zu Samuel.

[10] 12.November 1918, Mittag

Noch am Vorabend war es ruhig gewesen im Dorfschulhaus, und Samuel hatte sich zur Nacht aufs Stroh gelegt wie schon oft; aber er wusste, dass es bald losgehen würde gegen die Roten. Im Morgengrauen kamen die Befehle. Samuels Kompagnie marschierte nach Bern, am Rücken den Tornister, dessen Fell sich vollsog im Nieselregen; mit jedem Schritt verstärkte sich das Ziehen in den Oberschenkeln. Es nützte nichts, an Martha zu denken; ihr Bild war schon wieder verblasst. Ein schwacher Nebel trübte die Vorstadtfassaden. Auch die abgeernteten Schrebergärten boten den Blicken keinen Halt.

Samuel erinnerte sich an seine erste Fahrt in die Hauptstadt. Er hatte sich an der Hand des Vaters festgehalten, um nicht in den vielen Menschen zu ertrinken. Das zweite Mal war er siebzehn gewesen, ein Seminarist, der mit seiner Klasse das Bundeshaus besichtigte. Die grüne Kuppel kam ihm fremdartig vor, orientalisch, und das Gerede im Parlament verstand er nicht. Später träumte er von den Bären im Bärengraben, er war einer von ihnen und doch keiner, denn er hatte sich nur mit einem Bärenpelz verkleidet.

Die Kolonne zog sich in die Länge. Leutnant de Weck trieb zur Eile an, die Letzten sollten im Laufschritt aufschließen. Sie erreichten das Brunnmattviertel, folgten den [11] Tramschienen zur Innenstadt. Immer mehr Leute standen mit Schirmen am Straßenrand. Die meisten klatschten Beifall; von vereinzelten Arbeitergruppen wurden die Soldaten ausgepfiffen und verspottet.

Was für ein Gewimmel auf dem Bahnhofplatz! Man setzt den Stahlhelm auf, lädt den Karabiner; man marschiert ins Gejohle hinein und darf sich nicht vor den Pferden der Dragoner fürchten. In einer Reihe mit den anderen drängt Samuel die Demonstranten zurück. Zwischen Köpfen und Schirmen sieht er sie näher kommen, zwei Frauen im Mantel und einen bärtigen Mann, der alle überragt. Das müssen sie sein, die Bolschewiken. Die ältere der beiden Frauen ist wohl die Balabanoff, die berüchtigte Revolutionärin, die überall den Umsturz predigt. Harmlos sieht sie aus; das Rot des Nelkenstraußes, den sie trägt, ist das Unverschämteste an ihr. Ein paar Füsiliere bahnen den Russen eine Gasse. In kleinem Abstand, gerade so, dass sie noch die Lücke ausnützen können, folgen zwei Hoteldiener mit Gepäckkarren; auch sie werden beschimpft, verschwinden hinter anderen Körpern. Alles ist Bewegung, Verwirrung, Geschrei, und plötzlich fliegt ein kleiner, runder Toilettenkoffer, den jemand vom Karren gerissen hat, in die Luft, öffnet sich beim Fallen. Es regnet Kämme und Döschen, ein Briefbogen segelt langsam zu Boden.

Hier haben sich staatstreue Bürger versammelt, keine streikenden Arbeiter. Sie sind trotz der Spanischen Grippe gekommen, mit der man sich so leicht anstecken kann, sie sind gekommen, um dabei zu sein, wenn man die Russen endlich aus dem Land jagt. Zu lange haben die Behörden [12] gezögert, schwach und willfährig sind sie geworden in vier Jahren europäischem Krieg. Der Krieg hat die Schweiz zwar verschont, aber am Ende dennoch in einen Strudel von Hunger und Aufruhr gerissen. Und nun muss man ausgerechnet die Russen vor Bürgern beschützen, deren Wut man teilt.

Samuel hört aus dem wachsenden Lärm seinen Namen heraus. Er fährt herum, schlägt die Absätze zusammen, konzentriert sich auf den Mund des Leutnants, der sich unter dem dünnen Schnurrbart bewegt.

Füsilier Brülhart! Was stehen Sie herum wie ein Ölgötze? Los, helfen Sie den anderen, holen Sie die verdammten Russen hier heraus und bringen Sie sie zum Treffpunkt!

Zu Befehl, Herr Leutnant!

Samuel kämpft sich, den Gewehrkolben gebrauchend, ein Dutzend Schritte weit bis zu den Russen vor, die von den Demonstranten immer wieder zur Kirche abgedrängt werden. Jemand hat der Balabanoff die Nelken entrissen, sie schimpft und gestikuliert, drei, vier Damen in Pelzstolen schreien auf sie ein. Beim umgestürzten Gepäckkarren, im Zentrum des Gewühls, steht der Bärtige. Er hat mit beiden Armen einen verschnürten Karton umklammert, an dem mehrere zugleich zerren, und ruft auf Deutsch, mit hartem Akzent: Das ist Diplomatengepäck, bitte sehr! Ohne auf ihre Buhrufe zu achten, zwingt Samuel die Demonstranten, die Schachtel loszulassen. Neben ihm sammelt die junge Russin, um die sich ein freier Raum gebildet hat, die verstreuten Toilettensachen zusammen und verstaut sie in den Fächern des Koffers. Samuel sieht die gebogene Linie ihres Rückens, er sieht, dass sie einen nassen Brief in der Hand hält. Plötzlich hat er das Bedürfnis, ihren Mantel, der sich [13] glockenförmig um sie gebreitet hat, vor Nässe und Schuhspuren zu bewahren. Er geht auf sie zu, um sie zur Eile zu mahnen; gleichzeitig lenkt ein Dragoner-Korporal sein Pferd durchs Gewühl hindurch gegen die Russin. Sie erschrickt, lässt, sich aufrichtend, den halbvollen Koffer wieder fallen. Es sieht aus, als wolle der Korporal sie niederreiten. Empört greift der Bärtige dem Pferd in die Zügel. Die Russin läuft in der anderen Richtung davon. Samuel setzt ihr nach. Sie scheint von kleinen Gruppen, auf die sie zurennt, aufgesogen und wieder weggestoßen zu werden. Sie verschwindet hinter einem Tramwagen, und Samuel glaubt schon, sie sei ihm entkommen, da sieht er ihren schwarzen Mantel mit dem schwingenden Saum vor dem Schaufenster eines Schuhgeschäfts. Sie blickt sich um, flüchtet in die Sackgasse zwischen zwei Häusern. Die Gasse ist menschenleer; Samuel hält an, unterdrückt sein Keuchen, hört nichts als fernes Stimmengewirr und plötzlich einen Schuss. Auf gut Glück reißt er die nächste Haustür auf, späht hinein in einen leeren Flur; dann erst getraut er sich zum Eingang des Hotels Jura. Er überwindet sich, die Glastür aufzustoßen, geht am Portier, am Empfangschef vorbei, und dort, in der überheizten Eingangshalle, zwischen Kübelpalmen, findet er die Russin. Sie sitzt in einem Sessel, als wäre sie ein Hotelgast, sie hat sich den Pelzhut aus der Stirn geschoben, den Mantel geöffnet, und sie schaut Samuel angstvoll an.

Die Dame, sagt der Empfangschef von seinem Pult aus, ist unberechtigterweise bei uns eingedrungen.

Kommen Sie mit!, befiehlt Samuel der Russin.

Verzeihen Sie, sagt sie in akzentfreiem Deutsch, Ihr Helm wirkt so kriegerisch. Wohin bringen Sie mich?

[14] Verblüfft fasst Samuel an den Helmrand. Das wissen Sie doch. Sie müssen zurück nach Russland.

Die Züge fahren gar nicht, heute beginnt ja der Generalstreik. Sie neigt beim Sprechen den Kopf, zwinkert stark; ihre Wimperntusche hat sich aufgelöst und die Haut unter den Augen verschmiert.

Samuel senkt das Gewehr. Kommen Sie jetzt. Wie Sie zur Grenze gebracht werden, weiß ich nicht.

Sie steht mit einer fließenden Bewegung auf, knöpft sich den Mantel zu, dessen Pelzbesatz, von nahem gesehen, ebenso abgeschabt ist wie ihr Hut; sie hebt die Arme und schüttelt sie leicht, damit die Ärmel nach vorne fallen. Die Leute auf der Straße hassen uns, sagt sie. Aber Sie werden mich beschützen, nicht wahr? Der bittende Ausdruck in ihren Augen verstärkt sich, doch zugleich bekommt sie um die Mundwinkel einen spöttischen Zug.

Sie sollten sich nicht wundern über die Stimmung auf der Straße, sagt Samuel. Wir wissen, dass Sie zu den Drahtziehern des Streiks gehören.

Ach was! An dem, was die bürgerliche Presse über uns schreibt, ist kein wahres Wort. Man hat uns verleumdet, von Anfang an.

Er weist mit dem Gewehr zum Ausgang. Sie gehorcht widerspruchslos, geht ihm durch die Halle voran; der Portier öffnet ihnen die Glastür.

Nach ein paar Schritten in der feuchten Kälte wendet sie sich halb zu Samuel um und sagt mit einem kleinen Lächeln, halb spöttisch, halb kokett: Ich heiße Hélène, Hélène Gogobaridse, wenn Sie das interessiert.

[15] Sie spricht den Vornamen französisch aus, mit schwebender dritter Silbe, doch Samuel germanisiert ihn sogleich für sich, tauft sie um in Helene, mit offenem Schluss-e; das klingt vertrauter, ihren zungenbrecherischen Nachnamen kann er sich ohnehin nicht merken.

Ich bin Übersetzerin, Übersetzerin und Lehrerin. Sie bleibt stehen, wohl um den Moment hinauszuzögern, da sie auf den offenen Platz hinaustreten muss. Ich habe Dokumente übersetzt und die Kinder an der Botschaft unterrichtet.

Beinahe entfährt es Samuel, dass er im Zivilleben auch Lehrer sei, Dorfschullehrer, doch wie weit weg ist das schon. Verschwommen tauchen Schülergesichter vor ihm auf, die schwarze Ordenstracht seiner Kolleginnen. Dämmerlicht und Stallgeruch an einem Wintermorgen. Aber er sagt nichts, tritt dicht neben sie; unbehelligt von den Demonstranten überqueren sie den Platz, und die Russin strengt sich an, auf Samuels Höhe zu bleiben.

Als sie das Bahnhofportal erreichen, fährt eben eine Limousine vor; um sie ist ein freier Raum, den Soldaten gegen die Demonstranten abschirmen. Zwei Männer in schwarzen Mänteln steigen aus. Samuel verlangsamt seine Schritte.

Ich werde mein Bestes tun, Herr Legationsrat, hört er den einen sagen. Aber wäre es nicht klüger gewesen, diesen de Diesbach von diplomatischen Aufgaben fernzuhalten?

Generalsbefehl, antwortet der andere mit einem Schulterzucken, wir haben uns dem Primat der militärischen Dummheit zu fügen. Verlieren Sie nicht den Kopf, Herr Doktor, viel Glück.

[16] Die beiden Männer schütteln sich die Hände; der erste streift Helene, die, wie Samuel, ein paar Sekunden stehen geblieben ist, mit einem forschenden Blick.

Wer war das?, fragt die Russin, als sie die Halle betreten.

Ich weiß es nicht, sagt Samuel.

Wachtposten weisen ihnen den Weg zum Treffpunkt. Ja, sagt einer von ihnen, es sei geschossen worden, aber nur in die Luft.

Vor der Schwingtür zum Wartesaal Erster Klasse stapelt sich das Gepäck der Russen. Helene bleibt plötzlich stehen, so abrupt, dass Samuel beinahe mit ihr zusammenstößt, und mustert das Gepäck.

Mein Toilettenkoffer ist nicht dabei, sagt sie, man hat ihn gestohlen.

Sie haben ja noch gar nicht richtig gesucht.

Sie beugt sich zu ihm; ihre lichtgrauen Augen verengen sich vor Empörung. Lassen Sie mich gehen, ich will nicht zurück zu diesen Barbaren!

Auf einmal erscheint sie ihm schön, schöner als Martha, die er gebeten hat, seine Frau zu werden. Einem Mädchen, mit dem man aufgewachsen ist, macht man eines Sonntags, bevor man wieder einrücken muss, einen Heiratsantrag, so läuft es im Leben.

Nehmen Sie Vernunft an, sagt er halblaut. Wohin wollen Sie denn? Meine Kameraden werden Sie mit Respekt behandeln.

Ihr Parfum riecht fremd; es ist nicht Kölnischwasser, das er von Martha kennt, es ist etwas ganz anderes, streng und süß, von einer niederziehenden Schwere; er nimmt den Duft in sich auf und hängt ihm sekundenlang nach.

[17] Mach vorwärts, Brülhart, nörgelt einer der Soldaten, die das Gepäck bewachen, die Dame wird erwartet.

Samuel starrt auf die Milchglasscheibe, hinter der Silhouetten ineinanderfließen wie Tintenflecken. Dann packt er die Russin am Handgelenk und stößt die Tür auf.

Die Luft im Wartesaal war zum Schneiden dick, der Stimmenlärm betäubend. Dreißig Russen oder mehr, in Schach gehalten von Soldaten aus Samuels Einheit, drängten sich in der hinteren Hälfte des Raums zusammen. Ein paar Frauen saßen in roten Samtsesseln an der Seitenwand. Helene kauerte sich, als wolle sie sich kleiner machen, neben eine von ihnen, fasste nach der Hand des Mädchens, das zu ihr gehörte. Die Balabanoff dagegen stand, ihr Taschentuch ums Handgelenk gewickelt, in der Mitte des Raums und versuchte, sich beim Leutnant Gehör zu verschaffen. De Weck beachtete sie nicht; er hatte eine Liste in der Hand und las stockend Namen davon ab, auf die jeweils mehrere Stimmen zugleich antworteten. Erst als sich Samuel, der bei der Tür stehen geblieben war, zum dritten Mal meldete, unterbrach er seinen Appell und drehte sich mit fragender Miene um: Füsilier Brülhart? Was wollen Sie?

Samuel deutete auf Helene. Ein scheuendes Pferd hat sie erschreckt, deshalb ist sie weggelaufen. Ich habe sie zurückgeholt.

Gut gemacht, Brülhart, endlich zeigen Sie einmal Initiative. De Weck ließ sich Helenes Namen nennen, fuhr mit dem Zeigefinger der Liste entlang, forderte sie auf, lauter zu reden, noch lauter, bitte schön.

Sie wollen uns einschüchtern, Herr Offizier, unterbrach [18] ihn die Balabanoff auf Französisch. Warum tun Sie das? Sie und Ihre Soldaten haben den Auftrag, uns zu beschützen. Mich haben Sie nicht beschützt, sehen Sie nur! Sie wies die Unterseite des Handgelenks vor, über die sich eine blutige Schramme zog, presste wieder ihr Taschentuch darauf. Das war die Spitze eines Schirms. Ich brauche einen Verband.

Bei uns geht es um Leben und Tod, Madame, sagte der Leutnant mit einer ärgerlichen Geste, und Sie beklagen sich über einen Kratzer. Seien Sie froh, dass wir Sie lebendig hierher gebracht haben.

Die Toten, Monsieur, entgegnete die Balabanoff, gehen aufs Konto der Bourgeoisie. In Ihrem Land sterben die Arbeiter nicht auf dem Schlachtfeld, sie hungern, und darum gehen sie wie Fliegen an der Grippe ein.

Wollen Sie uns auch noch die Schuld an der Grippe zuschieben?, fragte der Leutnant ungehalten.

Nicht an der Grippe, aber am Hunger. Die Balabanoff schlug sich mit der flachen Hand auf den Bauch. Man muss blind sein, wenn man die Zusammenhänge nicht sieht. Die Kriegsgewinnler haben bei Ihnen die Preise derart in die Höhe getrieben, dass sich die Armen nicht einmal mehr das tägliche Brot leisten können.

Der Leutnant drehte sich von ihr weg, glättete die Liste, die er im Zorn zusammengeknüllt hatte. Helene flüsterte der Balabanoff etwas zu, und diese zwang den Leutnant mit einem lauten Monsieur!, sich ihr noch einmal zuzuwenden: Die Genossin Gogobaridse vermisst einen Teil ihres Gepäcks; sorgen Sie dafür, dass es wieder zum Vorschein kommt.

Noch während de Weck nach einer Antwort suchte, flog [19] die Tür auf, und Oberst de Diesbach in Reitstiefeln trat energisch herein. Ihm auf dem Fuß und gleichsam in seinem Schatten folgte der Mann in schwarzem Mantel und mit schwarzem Hut, der Samuel draußen schon aufgefallen war.

Der Knall der zusammengeschlagenen Absätze brachte die Russen zum Verstummen; Leutnant de Weck meldete dem Oberst das vollzählige Détachement der sowjetischen Gesandtschaft, zur Abfahrt bereit. Der Oberst musterte die Soldaten sekundenlang mit seinem durchdringenden Blick, dem keine Reglementswidrigkeit entging, kein offener Kragenknopf, kein schief aufgesetztes Käppi. Dutzendfach war Samuel an Inspektionen diesem Blick ausgeliefert gewesen oder auf endlosen Märschen, bei denen der Oberst zu Pferd irgendwo gewartet und von den erschöpften Männern mehr Haltung gefordert hatte, durchgestreckte Rücken, hochgeworfene Beine. Doch diesmal waren es die Russen, vor denen der Oberst sich aufpflanzte. In forschem Ton gab er bekannt, er habe den Auftrag, die Ausgewiesenen so schnell wie möglich zur deutschen Grenze zu bringen; seine Männer würden diesen Auftrag erfüllen, koste es, was es wolle. Doktor Jacob vom Politischen Departement – der Zivilist, der unauffällig neben den Oberst getreten war, deutete eine Verbeugung an – werde für die reglementarische Abwicklung des Transportes sorgen, Leutnant de Weck sei verantwortlich für dessen Sicherheit.

Wie reisen wir denn?, fragte einer der Russen. Wollen Sie uns etwa einen Fußmarsch zumuten?

Ein kurzes Gelächter durchquerte wie ein Windstoß den Wartesaal; doch der Oberst hielt sich im Zaum. Ich kann Sie beruhigen, meine Damen und Herren, wir haben alles [20] Nötige vorgekehrt. Da, wie Sie wissen, der Eisenbahnverkehr lahmgelegt ist – nicht zuletzt dank Ihrer gütigen Mithilfe –, hat sich die Armee gezwungen gesehen, ein paar Automobile von Privaten zu requirieren. Sie stehen draußen für Sie bereit, zusammen mit zwei Camions, die Ihr Gepäck aufnehmen werden.

Eine Spritzfahrt ins Grüne, sehr schön! Der Bärtige hatte sich dem Oberst auf Armlänge genähert.

De Diesbach wich einen halben Schritt zurück. Sie haben keine Vergnügungsreise vor sich. Unser Land befindet sich am Rand des Bürgerkriegs, es besteht Gefahr, dass Sie zu Schaden kommen.

Oder dass man uns befreit! Davor haben Sie doch am meisten Angst. Die Balabanoff sprach mit schneidender Stimme; sie war neben Helene getreten, die nun auf der Sessellehne saß und dem Mädchen übers Haar strich.

Um Zwischenfällen vorzubeugen, sagte de Diesbach zur Balabanoff, habe ich eine Route befohlen, auf der man die größeren Städte umfährt. So gehen wir dem umstürzlerischen Gesindel, mit dem Sie leider sympathisieren, am besten aus dem Weg.

Der Bärtige setzte zu einem Protest an; doch der Oberst ließ sich nicht mehr unterbrechen, er merkte auch nicht, dass Doktor Jacob ihn warnend am Ärmel berührte. Ich habe, fuhr er fort, zu Ihrem Schutz folgende Maßnahmen befohlen: Erstens, Sie werden während der Fahrt die Ihnen zugewiesenen Fahrzeuge unter keinen Umständen verlassen. Zweitens, die Waffen sind scharf geladen, die Begleitmannschaft wird bei der geringsten Provokation das Feuer eröffnen.

[21] Seine Worte gingen unter in Zwischenrufen, erbostem Gelächter. Samuel sah sich gleichsam selber zu, wie er, de Wecks Befehlen gehorchend, die Russen zurückstieß und mit anderen vor dem Oberst einen Kordon bildete. Der wahre Samuel hätte viel lieber Helene beschützt und sie aus dem Wartesaal geführt, zurück zum Hotel Jura mit seinen Samtvorhängen, oder vielleicht doch nicht? Sie war eine Bolschewikin.

Gedämpft miteinander redend, standen die Russen wieder an der hinteren Wand. Der Dünne mit dem kränklichen Gesicht meldete sich zu Wort: Er lege bei der Schweizer Regierung Protest ein gegen diese völkerrechtswidrigen Zwangsmaßnahmen, er verlange Papier und Feder, um den Protest schriftlich festzuhalten. Helene versuchte, das weinende Mädchen zu beruhigen, summte zum Trost ein paar Töne eines Liedes, und gleichzeitig hörte Samuel, dass Doktor Jacob, unmittelbar in seinem Rücken, dem Oberst halblaut Vorhaltungen machte. Man dürfe, verstand er, die sowjetischen Diplomaten nicht wie Spitzbuben und Verbrecher behandeln, sonst gehe es im Gegenzug den Schweizern in Russland an den Kragen. De Diesbach widersprach; Doktor Jacob insistierte. Der Oberst stieß hervor: So haben Sie Ihren Willen, Herr Doktor!, dann salutierte er und marschierte hinaus.

Doktor Jacob gab den Soldaten ein Zeichen, die Gewehre zu senken, und wandte sich in beinahe freundschaftlichem Ton an die Russen. Es werde, sagt er, nichts so heiß gegessen wie gekocht. Herr Oberst de Diesbach sei ein tüchtiger Offizier, aber etwas heißblütig. Geschossen werde allenfalls aus Notwehr, und man werde während der Fahrt [22] selbstverständlich in regelmäßigen Abständen einen Halt einschalten.

Das wollen wir hoffen, erwiderte der Bärtige, auch er um ein paar Grade milder gestimmt; sonst müssten wir euch am Ende eure Automobile vollpissen. Er lachte dröhnend, die anderen stimmten ein, sogar die Balabanoff verzog ihren Mund.

Der Dünne, auf den die Russen offensichtlich hörten, war dicht neben Doktor Jacob getreten. Ich verstehe Ihre Regierung nicht, sagte er in makellosem Französisch, sie benimmt sich, als ob die Arbeiterschaft Tod und Mordschlag propagieren würde. Dabei will sie nichts anderes als kürzere Arbeitszeiten und eine angemessene Vertretung im Parlament. Ist es nicht unvernünftig, so berechtigte Forderungen zu diffamieren?

Doktor Jacob verzog das Gesicht, als wolle er einen lästigen Schmerz unterdrücken. Es geht nicht um die Ziele, Herr Botschafter, sagte er, es geht um die Methoden. Wir lassen uns nicht durch einen Streik erpressen.

Der Dünne schüttelte bedauernd den Kopf. Sie bauschen einen sozialen Konflikt zur Machtprobe auf. Das wäre nicht nötig.

In diesem Augenblick schnitt der Leutnant, der ein paar Sätze lang seine Ungeduld gezügelt hatte, dem Botschafter das Wort ab und sagte zu Doktor Jacob, dass sie schleunigst aufbrechen müssten, es sei schon bald zwei Uhr.

Jacob nickte. Der Leutnant forderte die Russen auf, sich geordnet hinauszubegeben. Samuel hielt ihnen die Tür offen, aber eigentlich wartete er nur auf Helene, die als eine der Letzten, hinter der Balabanoff, den Wartesaal verließ. [23] Als sie schon draußen war, drehte sie sich zu Samuel um und sagte schmeichlerisch: Sie kümmern sich doch um meinen Toilettenkoffer, nicht wahr? Samuel versagte sich ein Nicken; doch als sie weiterging, durchmusterte er hastig den Gepäckhaufen neben der Tür. Koffer und Schachteln aller Größen gehörten dazu, verschnürte und versiegelte Bündel, aufeinandergetürmt, ineinander verkeilt. Man müsste sie öffnen, den Inhalt ausbreiten, da lägen alle ihre Geheimnisse vor ihm. Samuels Hand fuhr über Schweinsleder, abgewetzte Kofferecken, Kartondeckel; fremd roch das Gepäck, nach Tee und Gewürzen, und doch auch vertraut, nach dem Speicher zu Hause. Könnte das hier, ein handliches Ding mit zerbeultem Deckel, ihr Toilettenkoffer sein? Samuel ruckte am Griff. Die darüber liegenden Gepäckstücke gerieten ins Rutschen; er schob sie zurück, um den Gepäckberg am Einstürzen zu hindern.

Was tust du da?, fragte ihn der wachhabende Füsilier. Das Gepäck wird erst nachher aufgeladen.

Er müsse etwas Bestimmtes suchen, sagte Samuel. Ein Korporal, der kleine Riedo, kam zurückgestiefelt und drohte ihm Arrest an, wenn er sich jetzt nicht spute. Samuel hastete den andern hinterher, durch den Seitenausgang ins Milchgässchen, wo die requirierten Automobile standen, hochrädrige Limousinen und Coupés, dazu zwei Militär-Camions mit verdreckten Scheinwerfern, umgeben von Soldaten und Zivilisten. Der Leutnant wies den Russen grüppchenweise ihre Fahrzeuge zu, doch dauernd änderte er die Aufteilung. Kaum waren sie eingestiegen, mussten sie wieder aus dem Auto klettern und in der feuchten Kälte warten, bis er sich neu entschieden hatte. Bei jedem neuen [24] Aufteilungsversuch blieben zwei, drei Russen übrig, für die er keinen angemessenen Platz gefunden hatte. Zudem beklagten sich einige über den Zustand der Fahrzeuge, forderten, einer Erkältung oder ihrer schwachen Konstitution wegen, Seitenscheiben, ein regendichtes Verdeck; und weil de Weck sich weigerte, auf Sonderwünsche einzugehen, wurde das Durcheinander immer schlimmer.

Samuel tut, als habe er, von Wagen zu Wagen gehend, den Auftrag, die Insassen zu zählen. In einem geschlossenen Coupé entdeckt er endlich Helene, allein, den Mantel aufgeknöpft und um sich gebreitet. Der Stoff ist gar nicht wirklich schwarz, er ist schimmernd grau, mit einem zarten Fischgrätmuster, und der Pelzkragen scheint sich eigens für ihn aufzufächern in seiner strähnigen Fülle. Helene lächelt flüchtig, als sie Samuel hinter der Scheibe erkennt; doch jetzt steigt, von der anderen Seite her, jemand zu, ein Mann mit langen Beinen, die er anzieht und querstellt, bis seine Knie Helenes Mantel berühren. Samuel geht weiter mit leerem Kopf, läuft in Korporal Riedo hinein, der ihn anschnauzt: Für dich Wagen zwei, Brülhart! Hast du’s nicht gehört? In jeden Wagen kommt einer von uns als Bewachung. Mach vorwärts, der Leutnant dreht sonst durch. Er schiebt Samuel vor sich her; verzerrt spiegeln sich Uniformen im nassen Lack der Schutzbleche. Dann sitzt er plötzlich, er weiß nicht wie, auf dem Vordersitz eines Automobils, dessen Motor schon läuft, er sitzt neben einem Fahrer, der ihn angrinst und seinen Namen nennt: Zosso, Paul Zosso. Samuel nimmt das Gewehr zwischen die Knie. Hinter ihm sitzen der Botschafter und eine Frau mit dunklem [25] Oberlippenflaum, zwischen ihnen das Mädchen, das Helene getröstet hat.

Füsilier Brülhart, sagt der Leutnant durchs halboffene Fenster, Sie lassen bei jedem außerplanmäßigen Vorkommnis sofort anhalten und verständigen mich an der Spitze des Konvois. Wiederholen Sie!

Vor ihm, unangenehm nahe, dieses glatte Gesicht mit dem dünnen Schnurrbart, diese Maske, die man aufkratzen und herunterreißen möchte; doch Samuel wiederholt, wie man’s ihnen eingedrillt hat, den Befehl auf Hochdeutsch und schämt sich vor dem russischen Paar für seinen bäurischen Akzent.