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Weite See, belebte Küsten: Thomas Käsbohrers unvergleichliche Erlebnisse auf Europas Meeren
Umgeben von Wellen, Wind und der Weite des Meeres: Hier fühlt sich Thomas Käsbohrer zuhause, hier ist er angekommen. Jedes Jahr ist er für mehrere Monate auf seinem Boot »Levje« auf dem Meer unterwegs. Dabei trotzt er der Unberechenbarkeit des Wetters, genießt die Ruhe und die Einsamkeit und lässt sich faszinieren von den Geschichten der Länder, die er ansteuert. Thomas Käsbohrer nimmt uns mit auf seine Reise entlang der europäischen Küsten und weckt die Sehnsucht nach dem großen Abenteuer Meer. Er erzählt von seinen außergewöhnlichen Erlebnissen auf See, inspirierenden Begegnungen mit den Menschen an Land und der Ankunft bei sich selbst.
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Seitenzahl: 606
Thomas Käsbohrer war viele Jahre als Verleger tätig, ehe er nach dem Ende seiner beruflichen Karriere beschloss, auszusteigen und seinen Traum zu verwirklichen. Seither segelt er auf seinem Schiff »Levje« kreuz und quer über die Meere. Er schreibt für verschiedene Zeitschriften, unter anderem für die YACHT, und sein Blog Mare Piu gehört zu den meistgelesenen in der Segelszene. Wenn er nicht auf seinem Boot unterwegs ist, lebt er mit seiner Frau in Iffeldorf südlich des Starnberger Sees.
Außerdem von Thomas Käsbohrer lieferbar:
Die vergessenen Inseln. Eine Reise durch die Geschichte der Welt und zu mir selbst
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Thomas Käsbohrer
Auf dem Meer zu Hause
Was mir mein Segeltörn entlang Europas Küsten über das Leben erzählte
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in der Verlagsgruppe Random House GmbH,
Neumarkter Straße 28, 81673 München
Umschlag: Favoritbüro, München
Umschlagmotiv: Thomas Käsbohrer (Boot); Käsbohrer/Millemari (Autorenporträt);
Ruben Earth / Getty Images
Redaktion: Regina Carstensen
Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling
ISBN 978-3-641-24397-5V001
www.penguin-verlag.de
Ich träume eigentlich nie. Doch in dieser Nacht, Monate nach dem Ende meiner Reise entlang der Küste Europas, träume ich. Ich rudere in einem vollgepackten gelben Schlauchboot weit vor der Küste auf dem Meer. Die See ist spiegelglatt, der Himmel über mir klar und blau. Nur weit im Westen ist er von unguter Farbe, blaubleigrau ist der Horizont eingefärbt. Es sieht aus, als könnte es Regen geben. Ich erkenne die Bretagne, ihre wilde Küste, die Côte Sauvage.
Doch plötzlich rollt von dort, wo der Himmel jenes düstere Blaubleigrau zeigt, eine große Welle auf mich zu. Sie scheint zu leben, wie sie da langsam auf dem unbewegten Meer wie eine Hügelkette auf mich zukommt. Wo sie läuft, ist das Meer aufgewühlt. Gischt weht ab vom Gipfel der Hügelkette, sie sieht bedrohlich aus vor dem dunklen Himmel, wie sie auf mich zuwalzt. Sie kommt näher. Ich weiß plötzlich, ich kann ihr nicht ausweichen. Nichts und niemand wird sie aufhalten. Näher kommt sie, und näher. Als die Welle über mir bricht, wache ich auf mit einem Schrei.
Sizilien.
Mallorca.
Menorca.
Ibiza.
Eine Nacht auf dem Meer. Erster Teil
Es ist ein ganz normaler Montag, weit nach Mitternacht, irgendwo auf dem Meer auf halbem Weg zwischen den Inseln Sardinien und Menorca. Die Navigation auf dem Tablet im Cockpit vor mir sagt, nach Mallorca sind es noch 107 Seemeilen. 200 Kilometer. Oder ein voller Tag und neun Stunden.
Es ist windstill. Vor mehr als drei Tagen bin ich aufgebrochen in Sciacca im Südwesten Siziliens. Ich bin etwa zehn Stunden vom nächsten Land entfernt, von Menorca, die Insel müsste irgendwo in der Finsternis nordwestlich vor mir liegen. Über mir ist nur Himmel. Um mich nur Schwärze und das monotone Brummen von Levjes Motor. Unter mir nichts weiter als Wasser. Wie tief es ist, kann ich nicht sagen. Der Tiefenmesser, der bis hundert Meter zuverlässig misst, zeigt unverändert 183 Meter an. Dabei ist der Meeresboden unter mir eine abwechslungsreiche Landschaft aus Hügeln und Klüften, sanft abfallenden Hängen und steilen Felsen. Doch bei 183 Meter erahnte der Tiefenmesser vor drei Tagen zum letzten Mal Grund. Seitdem schickt der sinnreiche kleine Apparat immer noch mehrmals sekündlich einen akustischen Strahl in die Tiefe, der eigentlich vom Meeresgrund zum Sensor zurückgeworfen werden sollte. Doch er versickert seit drei Tagen grundlos unter mir. Das Meer ist hier über 2000 Meter tief. Nichts mehr, was mein Tiefenmesser erfassen könnte. Aber auch nichts, was mich erschauern lassen könnte.
Hinter einer Wolkenbank im Westen erleuchtet der Mond seit einer Viertelstunde wie eine Fackel den Himmel darüber. Das ist erstaunlich. Denn jetzt, Mitte Mai, ist der Mond, wo ich ihn hinter seinem Versteck weit im Westen erahnen kann, nichts mehr als eine hauchdünne liegende Schale am Firmament. Neumond.
Ich blicke kurz nach vorn. In der Dunkelheit voraus, etwas rechts hinter der Kimm ein schwindender roter Schein. Offensichtlich so ein kleines Schiff wie meines. Freude erfasst mich, noch jemanden zu treffen hier draußen, der es nicht aushält daheim, den es hinauszieht wie mich. Das Schiff muss klein sein. So klein, dass selbst mein Radar, das zur Sicherheit nachts immer mitläuft und von meinem Mast aus wie ein Matrose Ausguck hält in der Dunkelheit nach Dingen, mit denen ich in der tiefen Schwärze kollidieren könnte, es bislang nicht erfasst hat. Einen Moment lang sehe ich den roten Schemen. Was tut der Skipper um diese Tageszeit hier? Wohin fährt er? Was bewegt ihn? Hat er um diese Nachtzeit ähnliche Gedanken wie ich? Dann wird das Licht dünner und dünner, bis die Schwärze es verschluckt und mich wieder allein zurücklässt.
Müdigkeit überfällt mich, plötzlich wie aus einem Eimer über mich gekippt. Meine Lider brennen. Meinen Arm zu heben oder die Pupillen so scharf zu stellen, dass sie in der Finsternis auch nur das Wasser um uns sehen können, kostet Kraft und Überwindung. Ich muss wach bleiben. Auch wenn Levje sich selbst auf dem eingegebenen Kurs hält, kann ich es mir hier so wenig wie am Steuer eines Autos leisten, dem Wunsch nach Schlaf nachzugeben, einfach einzunicken. Der Wunsch, mit dem Brummen des Motors nach unten zu gehen, das zugige Cockpit gegen die Wärme meines Bettes einzutauschen und meinen Platz vor den grün leuchtenden Instrumenten zu verlassen, ist übermächtig.
Ich denke an mein früheres Leben zurück. Vor ein paar Jahren noch wäre ich wenige Stunden später an einem Montag wie diesem ins Büro gegangen. Ganz normal. Hätte mit Mitarbeitern im Verlag über neue Buchprojekte, Lieferschwierigkeiten, Umsätze gesprochen. Ich war Geschäftsführer eines Computerbuch-Verlags, zweiundzwanzig Jahre. Ich liebte, was ich tat, mit verrückten Techies und Programmierern zu arbeiten, die Dinge am Horizont sahen, von denen ich noch nicht die leiseste Ahnung hatte. Es war wie ein Rausch und ging bis zum Tag meines Rauswurfs. Er kam nicht überraschend. Kein Gewitter taucht aus heiterem Himmel auf, man sieht es kommen. Ich hatte es zweiundzwanzig Jahre kommen sehen. Dann ein Sieben-Minuten-Gespräch, am Ende eines Montags wie diesem stand ich abends im Hausflur, mit zwei Plastiktüten in der Hand, in die ich gestopft hatte, was aus zwei Jahrzehnten Büro geblieben war. »Was wirst du tun?«, fragte Katrin, meine Frau. Sie wusste, was ich antworten würde, sie hat mich immer stark gemacht.
»Vielleicht ist es eine Chance. Vielleicht ist es Zeit, jetzt das zu tun, wovon ich achtzehn Jahre lang geträumt habe. Einfach auf einem Boot hinauszufahren. Aufs Meer.«
Zwei Monate später fuhr ich los. Dem einen Sommer auf dem Wasser folgten fünf weitere. Wenn man zwei Jahrzehnte denselben Traum hat, dann trügt er einen nicht. Ich segle, weil ich die Welt, die ich auf dem Meer finde, immer wieder von Neuem so anders, so faszinierend finde. Eine Welt, die unbekannt und vollkommen fremd neben unserer realen Welt existiert. Und nicht das Geringste mit ihr zu tun hat.
Ein Windhauch holt mich zurück, aus meinem früheren Leben an Deck meines Schiffs. Ein Uhr. Es ist Zeit, meine Position zu bestimmen. Mit einem raschen Blick auf die Instrumente prüfe ich, ob Levje noch den eingegebenen Kurs steuert. Dann gehe ich kurz unter Deck, meinen Logbucheintrag zu machen. Ein Logbuch ist das Tagebuch meines Schiffs, in dem ich die Routine meines Lebens an Bord festhalte. Jede Stunde gehe ich nach unten zum Kartentisch und trage mit Bleistift meinen Standort in Zahlen ein. Und dann markiere ich diesen Ort auf der Seekarte, die auf meinem Kartentisch liegt, mit einem X. Auf längeren Überfahrten ist das immer ein kleines Highlight, wenn auch manchmal ein zäh errungenes. Auf langen Strecken ergeben die Bleistiftkreuze eine Linie, die von irgendeiner Küste in den unbeschriebenen leeren Teil der elektronischen Seekarte vordringen, wo nur noch die Zahlen mit den Tiefenangaben stehen. Ich bin irgendwo, wo ich noch nie zuvor war. Das Malen dieses X aufs Papier nährt die Illusion, ich wäre ein Entdecker, was ich in gewisser Weise, nämlich in meinen eigenen Dingen, ja auch bin.
Dann ein kurzer Blick auf die Instrumente vor mir. Und auf den schwarzen Bildschirm des Radars, der meine ganze Existenz auf einen kleinen gelben Punkt in der Bildschirmmitte reduziert. Der gelbe Punkt darauf bin ich. Und rund um den kleinen gelben Punkt nichts anderes als 20 Kilometer gähnende Schwärze. Nichts und niemand. Kein Mensch, kein Schiff. Wie weit, wohin müsste ich gehen in dem Land, das ich meine Heimat nenne, um das zu finden: in einem Kreis von 20 Kilometern Durchmesser keine Menschenseele, niemand anderes, nur mich?
Alleinreisen ist beschwerlich. Die Mühsal und die Schönheit des Alleinreisens füllt Bände, nicht nur an Segelliteratur. Es ist weniger die Sorge, sich zu verletzen oder krank zu werden, die quält. Wenn Alleinreisende ehrlich sind, schreiben sie darüber, wie schmerzhaft es ist, das Alleinreisen überhaupt zu erlernen, zu lernen, mit sich allein zurechtzukommen an guten wie an schlechten Tagen. Doch der gelegentlichen Trübsal, es mit sich selbst aushalten zu müssen, steht ein enormer Gewinn gegenüber. In meinem früheren Leben fühlte ich mich oft als wuselnde Ameise unter Millionen anderer Ameisen. Hier draußen fühle ich mich mittendrin und als Teil des Ganzen, fühle mich eingebettet und geborgen in der ungeheuren Weite. Das klingt merkwürdig, doch es ist so. Nirgendwo bin ich einsamer als im quirligen Leben des Münchner Marienplatzes, unter Tausenden Menschen in der Stadt, in der ich geboren bin. Und nirgendwo begreife ich meinen Platz in der Welt besser als eben in diesem Moment hier draußen, nachts allein auf dem Meer unter den Sternen, so wie jetzt, neun Stunden südöstlich von Menorca.
Um meine Müdigkeit zu vertreiben, erhebe ich mich kurz von meinem harten Holzsitz und werfe einen Blick nach vorne über das Stoffdach in die Schwärze. Kalter Fahrtwind streicht mir über die Wangen. Obwohl es auf Juni zugeht, ist es nicht warm im Mittelmeer. Der Nordwind bringt kalte, trockene Luft; es gibt keine Hauswand, die die Kühle von mir abhalten könnte. Ich sehe vor mir das grüne Licht der Positionslaterne am Bug, die anderen Schiffen anzeigt, welchen Kurs wir steuern. Wo der schwache grüne Lichtschein in den Wellen zehn Meter weiter voraus verglimmt, endet meine Welt. Jedenfalls die, die ich wahrnehmen, erkennen kann.
Aus tiefer Schwärze kommend, gleitet Levje hinein in die Schwärze, die mich umfängt. Anders als in einem Auto ist meine Welt scheinwerferlos, ich sehe gar nichts. Nicht mal die 25 Meter voraus, durch die wir in diesem Augenblick gleiten. Ich muss darauf vertrauen, dass uns nichts in die Quere kommt. Kein Schiff, das plötzlich auf Kollisionskurs ist, weil keiner Wache hält. Kein treibender Baumstamm wie in manchen Dezembernächten, in denen ich auf der nördlichen Adria Richtung Venedig unterwegs war. Kein driftender Stahlcontainer, der scharfkantig unter der Meeresoberfläche lauert, der Albtraum jedes Seglers bei Nacht. Ich schaue eine Weile in die Dunkelheit, doch als der kalte Fahrtwind meinen Nacken auskühlt, ziehe ich mich wieder unter das schützende Stoffdach zurück. Ich muss vertrauen, nicht nur meinem Schiff. Auch das lehrt das Reisen auf einem Boot.
Während die Schläfrigkeit mich immer mehr übermannt, denke ich zurück an die Tage vor meiner Abreise. An Franco, an Baldo und die anderen. Ich denke zurück an meine Erlebnisse auf Sizilien, das ich vermissen werde.
Sciacca, Sizilien. Spaghetti Frutti di Mare. Vereinsabend auf Sizilianisch.
Ein paar Wochen vor meiner Abreise nach Mallorca. Es war Franco, der vorgeschlagen hatte, doch am Abend zu Maurizio ins Arcobaleno zu gehen. Franco, den alle nur »Preeeeesidente« rufen, weil er der Klubpräsident ist. Weil doch eigentlich Freitagabend ist, Klubabend im Circolo Nautico, einem der beiden Segelklubs in Sciacca, einem 40 000-Einwohner-Städtchen an der Südküste Siziliens.
Es ist Anfang Mai. Wir fahren ein paar Kilometer hinauf in die Hügel oberhalb Sciaccas, wo zwischen staubigen Feldern die Trattoria von Maurizio einsam liegt und wohin sich weder TripAdvisor noch Reisende je verirren. Sciacca für Einheimische. Sciacca, das die Einheimischen liebevoll nur »Schack:h« aussprechen, mit einem stimmlos hallenden h am Ende.
Auf der Terrasse wird Hochzeit gefeiert, fünfzig Kehlen skandieren »Viva, Viva i sposi – Hoch die Brautleute« in die laue Nacht. Bei den Segelleuten geht es zunächst bescheiden und beschaulich zu. Zwei Flaschen Bier auf dem Tisch, den acht Kerle sich in ihre schnapsglasgroßen Weingläser füllen, als wäre es der letzte Schrei, Bier aus Portweingläsern zu nippen. Nur mir, dem Gast aus dem fernen Deutschland, gestehen sie Weißwein zu. Ein Viertel bestelle ich, worauf die Kellnerin, ich weiß gar nicht, wie, einen Liter vor mir auf den Tisch knallt. »Lass mich nur machen«, tätschelt mir Baldo verständnisinnig den Arm, der als Capo Tavolo am Tischende den Vorsitz führt, während er mir randvoll einschenkt.
Es konnte nicht anders kommen. Wo das Schicksal mich doch an diesem Abend am Tisch neben Baldo setzt. Baldo ist einundsiebzig. Er hat sein Hemd fast bis zum Bauchnabel geöffnet. Dafür setzt er seine Sonnenbrille nicht ab. Wenn er spricht, verstehe ich ihn nicht. Tiefster kehliger Sciacca-Dialekt, von dem bei mir nur gelegentlich ein uzutlù, ein ullulu, ein che minché ankommt. Baldo spricht Worte nicht, sie kullern, sie kollern, sie gurgeln. Als ich ihn gestern kennenlernte und nach seinem Namen fragte, streifte er bloß wortlos den Ärmel seines Hemdes nach oben bis zum Tattoo. Ein Anker, verziert mit dem Wort »Baldo«. Mein rasches Verstehen belohnte er dann auch gleich mit einem Kuss aus fast zahnlosem Mund. Das lernt »Mann« auf Sizilien: Wer als Mann eines sizilianischen Mannes Freund ist, muss geküsst werden. Nein, nicht auf den Mund, sondern den doppelten Wangenkuss unter Männern. Er ist Ehre und Auszeichnung. Zumal für mich, den crucco, das deutsche Greenhorn, das sie so bereitwillig vor einem Jahr bei sich im Circolo Nautico aufnahmen. Crucco: Das italienische Schimpfwort für alles und jeden, was vom Standort des Betrachters aus gesehen von Norden kommt. Crucco kann ein Norditaliener sein oder ein Toskaner, aber auch ein Österreicher und Deutscher. Wie bin ich nur hierhergeraten?
Baldo ist der Zeremonienmeister des Abends. Als Starter hat er einige Teller patatine bestellt, einfache Pommes, die sich die Männer zum Bier wie Kartoffelchips in den Mund schieben. Ich habe Hunger, doch nicht auf Pommes. Dafür kenne ich die sizilianische Küche zu gut, ich weiß, zu welchen Höhenflügen sie fähig ist. Ich warte. Meine Geduld wird belohnt, als die Kellnerin die ersten Teller mit Antipasti vor uns scheppernd auf den Tisch knallt. Eingelegte rohe Scampi aus der Gegend, in Limetten und unter Öl. Berge von Heuschreckenkrebsen, die auf dem Grill lagen, bis ihr Fleisch zu einem Gedicht von Brühe wurde, die man aus dem weichen Gehäuse schlürft.
Baldo tätschelt meinen Arm. Irgendein Ullullu-Laut, zu dem er die andere Hand im Halbkreis um den an die Wange gelegten Zeigefinger dreht. Die Geste unter Italienern für »hervorragendes Essen«. Aber so genau weiß man das nie. Es kann in ein und demselben Moment auch ein bewunderndes »Was für eine Frau!« bedeuten. Baldo lässt mich im Unklaren, weil seine Hände sich mit den Heuschreckenkrebsen und seine Augen mit der jungen Kellnerin beschäftigen, während ich mit allen zehn Fingern mit dem Schlürfen der feinen Heuschreckenkrebs-Brühe beschäftigt bin.
Aber das ist nur der Anfang. Baldos Anfang, wie er ihn fürs Abendessen geplant hatte. Die Kellnerin knallt weitere Teller auf den Tisch. Voll mit Sarde a beccafico, halbierten Sardinen, knusprig paniert und gerollt, mit eingelegten Sardinen in süßen Zwiebeln und feinem Essig. Stundenlang in Tomatensud geschmorten und von ihm vollgesogenen Auberginen. Platten mit in Weinsud gekochten Vongole. Weitere Teller mit gegrillten Heuschreckenkrebsen.
Wieder einmal denke ich, dass Italiener eine grundsätzlich andere Einstellung zu den Dingen des täglichen Lebens haben. Zum Auto. Zum Essen. Aber vor allem zum Lärm. Lärm ist für sie Leben. Lärm ist Daseinsbekundung, Zeugnis von erfülltem Leben und Ausdruck von Wohlgefühl, das man im Arcobaleno gefälligst auch zu äußern hat. Und so umwabert Maurizios Trattoria ganz ungeniert ein akustisches Gesamtkunstwerk aus Kindern, die lustvoll schreiend um die Tafeln Fangen spielen, einer sechzigköpfigen Hochzeitsgesellschaft, die zum siebzehnten Mal »Viva i sposi« über die Tische brüllt, einer Kellnerin, die Teller mit weiteren Antipasti auf die Tische knallt, während Baldo seinen Nebenmann, den Klub-Vizepräsidenten Carmelo, wortreich darüber aufklärt, dass er für mich, den Gast aus Deutschland, extra noch einen Fisch bestellt hätte. Ein Dorädchen. Schön von beiden Seiten gegrillt. Wobei er genießerisch seine rechte Hand hin und her wendet, als ginge es gerade nicht um das beidseitige Grillen eines Fisches, sondern um das, wovon Frauen denken, es sei das Einzige, was Männer mit ihnen im Sinn hätten.
Doch weil es noch nicht genug ist mit Lärm und Gelage, kommen aus der Hand der Kellnerin drei Minuten später weitere Teller auf den Tisch angescheppert: Couscous mit Fisch und Rosinen. Teller mit Fritto misto, gebackene Sardinen und Rotbarben. »Ullullu«, sagt Baldo, und deutet auf das Fritto misto. »Die schwammen heute Nachmittag noch im Meer. Ich hab gesehen, dass Maurizios Boot erst nachmittags um vier reinkam in den Hafen.« Und weil ich ihn nach dem vierten Glas Wein wortlos verstehe, weiß ich, dass ich ihm jetzt den Teller mit den Vongole reichen soll. Die sind schlicht und ergreifend göttlich. Nein, es sind nicht die kleinen verschrumpelten Dinger, die mageren Sommer-Vongole des heißen Augusts. Sondern: Einfach. Fette. Muscheln. Wie im Winter. Der Himmel weiß, wo Maurizio die jetzt im Frühsommer herbekommt. Wie so oft bin ich erstaunt über die Qualität des Essens. Andächtig essen die Männer, kleine Schlucke Bier aus Weingläsern trinkend, während Angelo zu meiner Rechten mich mit mahlenden Kiefern aufklärt, dass die im Circolo Nautico untergekommenen Angler gleich mit drei Sparten vertreten seien:
Den Anglern, die den Fischen vom Strand aus nachstellen.
Denen, die vom Boot aus angeln.
Und denen, die ihre Angel von der Mole aus werfen.
»Uzutlù«, meint Bardo zu meiner Linken, eine Muschel schlürfend, was Angelo mir übersetzt mit »… und wieder anders macht es Baldo: Der fischt mit Langleinen von seinem Boot aus meist allein draußen auf dem Meer«.
Die geschmorten Auberginen habe ich unterschätzt, wie häufig. Geschmacksexplosion im Mund, der ich mich hingebe, während Baldo der Kellnerin etwas hinterherruft. Es war nichts, was dem Pfarrer gefiele, selbst Carmelo, der Vizepräsident, schüttelt streng den Kopf. »Sag doch bitte nicht ›Amore‹ zur Kellnerin, Baldo. Sondern ›Signora‹. Wie sich das gehört.« Was Baldo veranlasst, weiter etwas hinter der Kellnerin herzurufen, die vor ihm nun einen zweiten Teller mit Muscheln auf den Tisch knallt. Was diesen wiederum zu einem Kommentar über das unerschöpfliche Thema »Muscheln und Manneskraft« hinreißt, der die Kellnerin erröten lässt. Und die Diskussion über den weiteren kulinarischen Verlauf des Klubabends erst so richtig in Schwung bringt. Auch da ist Baldo in seinem Element: »Also: Es gibt zwei Sorten Primi: erstens Pasta mit Auberginen und Schwertfisch. Zweitens Muschelspaghetti. Und für Thomas hab ich noch einen Fisch bestellt. Ein Dorädchen. Schön von beiden Seiten gegrillt.« Wieder wedelt Baldos Rechte schwelgend hin und her, als wäre sie nicht hier, sondern woanders.
Zustimmung am Tisch. Zu den Primi jedenfalls. Doch die währt nicht lang. Denn auf dem Tisch landen mit vernehmbaren Rums nacheinander vier große Platten. Zwei mit roter Pasta. Zwei mit weißer Pasta und mit unzähligen Muscheln obendrauf. Acht Männer stieren ungläubig auf die riesigen Platten. Gebrüll. »Baldo, sei scomposto«, sagt Angelo und starrt auf die vier Platten. Das Wort habe ich noch nicht in meinem Wortschatz, beschließe aber, gelegentlich nachzusehen, was es wohl heißen mag. »Er ist verrückt.« – »Wer soll denn das essen?« – »Viel zu viel.« – »Baldo, du hast einen Knall.« Nur Franco, der gewichtige Presidente, ist stumm, er kennt schließlich seinen Freund Baldo besser als jeder andere.
Während er dick geriebenen Parmesan über der roten Pasta verstreut, ullullut Baldo voller Unschuld: »Ich weiß gar nicht, wo die Pasta mit dem Schwertfisch bleibt. Die hatte ich doch auch bestellt …« Er blickt sinnend der Kellnerin hinterher, was ihm aber noch nicht ausreichend scheint, er röhrt noch ein »Amore« hinterher, was den schönen Carmelo erneut zu einer vorwurfsvollen Äußerung veranlasst.
Die Männer machen sich an die Arbeit. Was so aussieht, dass sie Schultern und Köpfe über ihre Teller beugen, während die Gabeln tief in ihren Pranken verschwinden, bis sie nicht mehr Werkzeug, sondern fester Körperteil sind.
»Weißt du eigentlich, dass Baldo reich geworden ist, weil er Särge gebaut hat, mit seinen Brüdern?«, erzählt Carmelo, während er zum vierten Mal die Gabel mit den hausgemachten Spaghetti in den Mund schiebt. Nein, wusste ich nicht. Aber neben mir könnte gerade Antonio Vivaldi sitzen, und es wäre mir schnuppe, weil die Pasta mit Melanzane und dem Schwertfisch so großartig ist.
»Wo bloß die Pasta mit dem Schwertfisch bleibt?«, murmelt Baldo, während Angelo aufsteht, ihm mit vollen Backen seinen Teller vorsetzt und mit der Gabel vorwurfsvoll unter seine Pasta deutet: »Und was ist das hier, Baldo? Was? Schwertfisch! Der Schwertfisch ist unter den Auberginen! Siehst du? Siehst du das, Baldo?«
So richtig überzeugt das Baldo aber immer noch nicht, während er mit vollem Mund kaut und mir stattdessen mit der Hand den Arm tätschelt. »Du musst unbedingt mit deiner Frau kommen. Dann gehen wir hier zu viert essen, meine Frau und deine Frau, ja?« Ich kaue angestrengt, während mir Angelo von den Muschelspaghetti auflädt. »Und vergiss nicht«, sagt Baldo, »du kriegst noch einen Fisch. Schön gegrillt, von beiden Seiten …«
»Un sorbetto. Un sorbetto al limone«, schlägt Angelo vor, während die anderen ächzend ihre Gabeln beiseitelegen. »Ein Sorbet aus Limonen, das wäre jetzt das Richtige!« Ich verdrehe die Augen. Wie komme ich aus dieser Nummer bloß raus? Wo ich doch ahne, dass mich die zwei Kugeln Limetteneis heute Nacht mit Magenschmerzen senkrecht in Levjes Koje stehen lassen. Ich lehne ab. Und winde mich geschickt raus mit dem Hinweis auf den Fisch, von dem ich hoffe, dass er nie kommen möge und alles nur ein schlechter Witz von Baldo sei.
Um das Limettensorbet komme ich herum. Um den Fisch natürlich nicht. Die Dorade ist klein. Sie ist frisch. Sie ist formidabel.
Und während sich der Abend langsam seinem unvermeidlichen Ende entgegenneigt, während auch ich ächzend Messer und Gabel beiseitelege und Baldo mit Maurizio darüber streitet, ob wir nun zu acht oder neunt um den Tisch saßen, und Baldo mindestens drei Zählversuche unternimmt, bis als Ergebnis die Zahl Acht zweifelsfrei feststeht. Während Maurizio auf einem Zettel »8 x 17 Euro« malt und Baldo kollernd und gurgelnd von jedem 17 Euro einsammelt, während ich all dies wahrnehme, kann ich nicht anders als einfach nur staunen. Über die Männergesellschaft Siziliens. Über den ungeheuren Reichtum der Insel. Auf der alles, was man in die Erde steckt, wächst. Ich kann nur staunen über dieses Sizilien, von dem wir einzig hören, dass es pausenlos in wirtschaftlichen und politischen Krisen und Korruption und Mafia steckt, und nicht anders denken können, als dass es niemals, niemals auf die Füße zu kommen scheint. Wo keiner in diesem Städtchen an der Südküste Siziliens kaum mehr als sein verbeultes Auto und ein kleines Haus sein Eigen nennt und doch jeder reich ist wie ein König, weil er jeden Tag mit dem Boot hinausfahren kann, wann immer es ihm gefällt.
Ich beginne zu verstehen, warum Italiener ihr Land lieben und kaum ein Sizilianer seine Insel, die ihn gelegentlich zur Verzweiflung treibt, eintauschen möchte gegen irgendetwas anderes. Und die, die es tun und ihr Glück in der Ferne suchen, nie ganz weg sind und ihre Insel niemals vergessen.
Sciacca, Sizilien. Der Mann mit den 3000 Gesichtern.
Wieder einmal verzögert sich meine Abfahrt von Sizilien nach Mallorca. Ich komme und komme nicht los. Eigentlich hatte ich längst fort sein wollen aus Sizilien. Ich hatte geplant, Anfang April von Sizilien nach Westen loszufahren, auf direktem Weg Richtung Sardinien und Balearen. Doch es war wie häufig in den letzten Jahren: Was Stürme angeht, ist der Winter auf Sizilien fast eine freundliche Jahreszeit. Kaum hat der März begonnen und mit ihm die Zeit des Übergangs, fegen die Frühjahrsstürme los. Äquinoktialstürme nannte man sie früher einmal, doch das Wort ist nicht mehr en vogue. Stürme, die aufkommen, wenn im Kalender Tage und Nächte gleich lang sind. Entweder ist es der Mistral, dieser derbe Gruß aus dem Atlantik, dessen Kaltluftmassen ein Tief durch den engen Spalt zwischen Alpen und Pyrenäen presst. Erst im Rhônetal gewinnen sie an Kraft und entladen sich als Sturm anfangs hinaus in den Löwengolf, dann von Südfrankreich über die Balearen, Korsika, Sardinien, und am Ende pfeifen sie entlang der Südküste Siziliens. Oder es weht der Scirocco vom Süden, der einmal die Woche roten Regen voller Saharastaub stürmisch über Sciacca auskippt. Oder sein gewalttätiger Bruder, der Libeccio, der selten, doch wenn, dann hart weht und hohe Wellen aus Südwest in den ungeschützt daliegenden Hafen von Sciacca jagt.
Sosehr ich auch jeden Tag die Wetterkarten studiere, um beständigeres Wetter für die Überfahrt von Sizilien nach Mallorca zu finden: So instabil ist das Wetter, es ändert sich alle zwei Tage, die Tage sind so strahlend, wie der Wind übellaunig ist.
Ich warte auf Levje, sie liegt im alten Bahnhof von Sciacca oben auf dem Hügel über dem Meer, wo der jugendliche Haudegen Egidio sich zwei alte Kräne gekauft und einen Werftbetrieb eingerichtet hat, um Schiffen ein Lager für den Winter anzubieten. Genau da, wo die Gleise der alten Schmalspurbahn enden. Manchmal kommt Franco zu mir am Nachmittag auf den Hügel herauf. Wie viele der männlichen Einwohner Sciaccas ist auch er ein uomo di mare, einer, der vom und mit dem Meer lebt, 150 Kilo Körpergewicht hin oder her. Er fährt auf seinem winzigen knallroten Boot aufs Meer hinaus, dessen Motoren den Rumpf weit überragen und das er nicht ohne Hintersinn The Queen getauft hatte. Auf diesem Boot stellt er den Thunfischen nach zusammen mit Baldo, der ihn gelegentlich begleitet, oder dem Schwertfisch oder den Goldmakrelen.
»Fahr nicht raus«, sagt mir Franco, wenn ich wie so oft seit Anfang April wieder einmal missmutig die Schlechtwetterfronten im Internet verfolge, die alle drei Tage abwechselnd von Osten oder Westen über Siziliens Südküste ziehen. »Fahr nicht raus jetzt. Du weißt nicht, wie es draußen aussieht. Frag Carlo. Der ist Fischer und war im Frühjahr oft draußen. Nein. Mir wäre wohler, wenn du nicht losführest. Warte noch vier Wochen, bis der Mai fast vorbei ist.«
Oft wache ich am Morgen auf, weil das Boot in seinem Stahlgestell, in dem es ruht, vom Wind vibriert. Ein Tak-Tak-Tak von an den Mast schlagenden Leinen, rhythmisch wie ein Maschinengewehr, das Unruhe in meinen Halbschlaf jagt und sich nicht damit begnügt, nur mein Trommelfell zum Schwingen zu bringen, sondern gleich das ganze Schiff. Während ich die Augen im Halbdunkel öffne, denke ich darüber nach, was mein siebeneinhalb Tonnen schweres Schiff in seinem zwei Meter hohen Stahlgerüst derart in Schwingung versetzt. Ein schlagendes Fall kann es nicht sein. Die Antwort kennt nur der Wind.
Als ich aufstehe, ist es warm, 18 Grad zeigt das Thermometer am Morgen, wo es noch vor vierundzwanzig Stunden kaum acht Grad waren. Angenehm, zumindest das. Ich schaue hinaus. Keine hundert Meter weiter vorne, den Hügel am alten Bahnhof hinunter, sehe ich das Meer. Statt spiegelglatt kommen Roller auf Roller auf die Küste zu. Lange Reihen. Sie verraten, dass es jetzt mit mehr als sechs Windstärken weht. Libeccio. Wind aus Südwesten, Wind aus der Sahara. Das erklärt die 18 Grad beim Aufstehen. Ich höre das gewaltige Rauschen der Brecher bis in Levjes Kombüse, der Küche, aus der ich hinunterschaue. Während ich mir Tee koche, gerät das Boot mit jeder Böe erneut in Schwingung. Es sind Böen, die vom Meer heranrollen wie Brecher und Levje breitseits treffen. Vermutlich sind sie so stark, dass der Mast für sie ein Hindernis ist, ihn in Schwingung versetzen, als wäre er ein zwischen die Finger gespannter Grashalm, den man kraftvoll anpustet. Nur dass er seine Schwingung über die Wanten auf die Seitenwände des aufgebockten Boots überträgt. Levje, meine Landbehausung in diesen Wochen, sie ist jetzt im Libeccio an Land ein großer Resonanzkasten, der in der Teetasse auf meinem Salontisch kleine Wellen erzeugt.
Am Nachmittag klettere ich vom Hügel hinunter, um mir aus der Nähe anzusehen, was der Sturm mit dem Meer vor der Hafeneinfahrt macht. Ich beobachte die brechenden Grundseen. Für eine Segelyacht wäre es ein gefährliches Unterfangen, bei diesen Bedingungen einzulaufen, wenn nicht gar unmöglich. Ein Boot, das in die brechenden Seen vor dem Hafen geriete, könnte darin querschlagen, die Wellen würden es einfach mit sich reißen. Es würde den Mast verlieren. Ich versuche mir diesen Anblick für alle Zeit einzubläuen, für den Fall der Fälle. Ich stelle mir vor, wie groß die Not auf einem Boot sein muss, das Tage draußen war und sich nichts sehnlicher wünscht, als endlich in den Hafen zu kommen. Stelle mir das verzweifelte Verlangen des Skippers und der Crew vor, endlich, endlich in einen sicheren Hafen zu kommen. Wie hart es einen Skipper unter solchen Umständen träfe, nicht in den Hafen zu können, weil es klüger wäre, draußen zu bleiben, als mit dem Boot in eine dieser brechenden Seen in der Hafeneinfahrt zu geraten.
Einen Moment sehe ich fasziniert den Vögeln zu, die im Starkwind segeln, einfach mit ausgebreiteten Flügeln vor sich hin schweben. Wo Sturm ist, kreist meist ein Vogelschwarm. Wo unsereins bei solchen Bedingungen die feste, schützende Hülle sucht, tun Seevögel das Gegenteil, sie suchen Sicherheit im unsicheren Element, stürzen sich in die Lüfte. Gerade dort, im scheinbar Unwirtlichen, finden sie mehr Schutz als in jeder Mauernische, die für sie zur Falle werden kann.
Die Wellen rollen weiterhin ungehindert vom Südwesten an, sie schwappen in den Hafen, wo gleich hinter der Hafeneinfahrt die Schwimmstege der beiden Segelklubs liegen. Ich treffe Carlo, der jetzt im Circolo Nautico den Winter über als Marinero arbeitet. Er schaut sorgenvoll. »Sieh dir bloß an, wie sich der hundert Meter lange Schwimmsteg wie eine Seeschlange in der einlaufenden Dünung windet.« Ich beobachte einen Augenblick, wie seine Schlangenbewegung die daran vertäuten Boote mitreißt wie Nussschalen in der glucksenden Dünung. »Siehst du vorne den zweiten Steg? Die Verbindung ist heute Nacht gebrochen, wenn das so weitergeht, wird der Steg auseinanderbrechen. Die beiden Yachten am Außensteg sind zu schwer.« Carlo hat alle Hände voll zu tun. Er wacht über die vertäuten Boote, die im unentwegten Ziehen und Zerren des Schwimmstegs drohen vom um sich hauenden Steg zerschlagen zu werden. Immer wieder spurtet er über den schwankenden Steg nach vorn, springt in eins der Boote und vertäut es neu, sobald es droht den scharfen Kanten des stählernen Stegs zu nah zu kommen.
»Am schlimmsten sind die Stürme hier, wenn die Jahreszeiten wechseln«, sagt Carlo in einer Pause. »Das war nicht immer so. Als ich ein Kind war, waren es eher die Winterstürme, die uns beeindruckten. Seit ein paar Jahren ist das anders. Das Wetter wird dann schlecht, wenn es sich nach dem Winter eigentlich bessern müsste – wenn das Frühjahr kommt, im April.« Carlo fuhr früher raus als Fischer, bevor er sich, um seiner Frau und seinen beiden Jungs näher zu sein, für das ruhigere Leben an Land als Marinero entschied.
Vom Klub wandere ich hinaus vor die Stadt, zum Sandstrand vor der alten Tonnara, der einstigen Thunfisch-Konservenfabrik. Franco erzählte mir, wie er in seiner Kindheit hier in Mengen die Leiber der erbeuteten Thunfische liegen sah, Tierkörper an Tierkörper. Ich mag es hier. Ein weiter Sandstrand zu Füßen eines einsamen Kaminschlots, den man als letzte Erinnerung an die einstige Fabrik stehen ließ. Der Schlot, über den der Qualm der großen Feuer und der Dampf abzogen, wenn das Fleisch der zerstückelten Thunfische in Kupferkesseln zum Sieden kam. Vor zwei Tagen bin ich zwischen den beiden großen Steinmolen noch nach draußen geschwommen. Jetzt ist daran kein Denken mehr, derart aufgewühlt toben die Elemente. So wird es für zwei weitere Tage bleiben. Mindestens. Es ist verflixt. Ich komme einfach nicht los, das Land hält mich fest.
Statt loszufahren, unternehme ich Wanderungen. Auf den Monte Kronio, das Felsmassiv, das Sciacca überragt, wo neben dem Kloster Schwefeldämpfe aus unterirdischen Grotten wabern. Hinüber zu der alten Tafel, die einen Reisenden namens Goethe erwähnt, der durchgekommen war durch Sciacca, auf seiner italienischen Reise, die als Flucht begonnen hatte vor einem Leben im Job, das ihn zu ersticken drohte. Streife hinaus vor die Stadt, in den Osten, ins Castello Incantato, das »verzauberte Schloss«, das nichts weniger als ein Schloss war, doch ein verzauberter Garten allemal. Einer der zahllosen Auswanderer aus Sizilien war nach langer Bettlägerigkeit aufgrund einer Kopfverletzung 1919 aus Amerika in seine Heimat Sciacca zurückgekehrt. Nach einem Schlag war er nicht mehr ganz richtig im Kopf. Zur Verwunderung aller hatte er sich vor der Stadt auf einem wertlosen Feld voll kohlgroßer Steinbrocken über dem Meer niedergelassen, um dort zu leben.
Man erzählte sich, dass Filippo Bentivegna, der unglückliche Heimkehrer, in seinem Garten über dem Meer Gesichter in die Steine meißle. Erst einzelne Gesichter, frontal und überlebensgroß. Dann andere im Profil. Er wurde nicht müde, Tag für Tag Gesichter in den scharfkantigen Kalkstein zu schlagen, als wollte er all die Menschen abbilden, die ihm auf seiner Reise jenseits des Atlantiks begegnet waren.
Irgendwann waren es zehn Köpfe. Dann dreißig. Als es hundert waren, hörte Filippo immer noch nicht auf, Köpfe aus den Steinen zu meißeln. Antlitze zu befreien, die in den grobschlächtigen Steinen verborgen schlummerten. Jetzt ging’s erst richtig los. Weil ihm in seinem kargen Olivenhain die Steine ausgingen, hackte er sich in den Fels etwas oberhalb. Grub mannshohe Kammern, Höhlen und Schächte ins Gestein. Die Nachbarn schüttelten die Köpfe. Tuschelten. Den Verrückten von Sciacca nannten sie ihn nun. Doch selbst wenn er es hörte, er nahm es nicht wahr. Nur die Gesichter zählten. Er ließ sich gelegentlich mit Eccellenza anreden von den Dörflern, ein König war er. König in einem verzauberten Schloss, auch wenn er nur in dem einen Raum seiner steinernen Hütte lebte. Manchmal tauschte er einen der Köpfe ein gegen etwas Essen, Werkzeug.
Ich wandere im Garten den Hang hinauf. Ob Filippo die Köpfe zählte? Ob er sich ein Glas Rotwein gönnte, wenn wieder fünf oder zehn fertiggestellt waren? Ob er mit seinem Hund redete? Ich weiß es nicht. Filippo meißelte jedenfalls weiter. Unentwegt, besessen. Ich sehe in ihm einen, den das Leben aus der Bahn geworfen hat. Doch statt klein beizugeben, meißelt er fußballgroße Köpfe aus dem harten Kalkgestein. Gesichter, wie sie nur die Romanik kennt, einfach und voller Kraft. Andere nur flüchtig geritzt, wie skizziert. Wieder andere wie Dämonen, geschaffen, um das Böse abzuhalten wie Sphinxe oder Medusen. Filippos riesiger Garten unter den Oliven, durch den ich wandere, ist voll mit Gesichtern.
Ein zweiter schrecklicher Weltkrieg war übers Land hereingebrochen, ich weiß nicht, ob Filippo davon überhaupt Notiz nahm. Er war nun einundfünfzig. Ein paar Jahre später kam ein schwedischer Maler in seinen Garten, redete mit ihm, staunend ob der schieren Menge an Gesichtern, die der Sizilianer in seinem Olivengarten erschaffen hatte. Er sei auf der Suche nach der großen Mutter, antwortete Filippo bloß, als mehr und mehr kamen, Künstler, Journalisten, Professoren, Schriftsteller, um ihn bei seiner täglichen Arbeit zu beobachten. Er nahm sie wahr, sprach freundlich mit ihnen, geduldig, wie man mit Kindern spricht. Waren sie fort, meißelte er weiter Gesichter in den gnadenlos harten Kalkstein.
Neunundsiebzig Jahre, nachdem er als Sohn eines einfachen Fischers geboren worden war, fast fünfzig Jahre nach jenem verhängnisvollen Schlag auf seinen Kopf in Amerika, starb Don Filippo Bentivegna, »Filippo mit den Gesichtern«. Sein Garten lag verwaist, niemand kümmerte sich um die Köpfe, die achtlos herumlagen, Witterung und Verfall preisgegeben. Es war ein französischer Art-brut-Künstler, ein Künstler der »rohen Kunst«, der Außenseiter und psychisch Erkrankten, der in Don Filippos Garten rettete, was noch zu retten war.
Es waren über 3000 Gesichter.
Nicht nur einmal besuche ich Filippos Castello Incantato und wandere zwischen den Gesichtern herum, schaue hinaus aufs Meer, das nicht zur Ruhe kommen will. Kein Zweifel, Filippo Bentivegna war ein Getriebener. Doch mir gefällt der Gedanke, dass er, in dem die Dörfler anfangs nur den Dorftrottel sahen, versuchte, etwas zu bewahren. Nämlich um auszuloten und festzuhalten, in wie viele Gesichter ein Mensch im Laufe seines Lebens blickt. In wie viele Augen er sieht, und sei es nur für die Flüchtigkeit eines Augenblicks. Mir scheint, als würde er jedem Gesicht, in das er geblickt hatte, ein steinernes Abbild schenken, um die Myriaden von Spuren festzuhalten, die Myriaden flüchtiger Begegnungen in seiner Seele hinterlassen hatten. Ein Chronist der Gesichter, die ihm auf seiner großen Reise von der Alten in die Neue Welt begegnet waren.
Ich komme und komme nicht los von Sizilien, sosehr mich auch die fernen Inseln im Westen, die Balearen, locken. Nicht ich, kein ominöser Chef, sondern das Meer gibt den Takt vor, wann es Zeit ist, etwas Neues zu beginnen. Das ist gut so. Dinge, die nicht nach dem eigenen Kopf laufen, sind stets eine Chance. Hier auf Sizilien ist es die Chance, nicht nur ein Durchreisender zu sein, sondern mich an einem Ort wirklich daheim zu fühlen, selbst wenn ich immer ein Fremder bleiben werde.
Sizilien. Der Schneider von Sciacca.
Die einen sagen, Heimat sei ein Ort. Wieder andere meinen, Heimat sei kein Ort, sondern ein Gefühl. Mir geht es so, dass Heimat etwas ist, was mit den Menschen an einem Ort zu tun hat. Heimat entsteht, wo es mir gelingt, positive Beziehungen zu Menschen aufzubauen. Oft reichen schon kleine Gesten oder ein Wort.
Ob es ein Ort ist oder ein Gefühl, Heimat kommt aus etwas, was in der Vergangenheit erwachsen ist. Heimat mag in der Gegenwart entstehen, doch es hängt immer mit etwas Vergangenem zusammen. »Dort ist meine Heimat«, sagen wir. Doch niemals: »Dort wird meine Heimat sein.« Heimat entzieht sich der Zukunft, neue Heimat ist uns suspekt. Heimat ist zerbrechlich wie Vertrauen, wie Liebe. Entweder es gehört zu meiner Gegenwart oder nicht.
Als ich eines Abends von meinen Wanderungen um Sciacca zu Levje zurückkehre, hat der wütende Südwest die Persenning, die ich über das Deck gespannt habe, zerfetzt. Ich betrachte missmutig die Reste. Der Stoff ist mürbe – nichts mehr zu retten. Ich mache mich auf die Suche nach einem Segelmacher. Wo es zwei Marinas gibt, sollte auch einer sein, der Segelstoff und Persenning nähen kann. Aber in Sciacca ist das nicht unbedingt so. Ratloses Achselzucken bei den Mitgliedern im Circolo Nautico. Ein hilfloses »Mi dispiace« (»Tut mir leid«) in den Eisenwarenläden rund um den alten, winkeligen Fischereihafen. Bis im dritten Laden jemand den Namen Pietro Tulone erwähnt, oben in der Via Tommaso Campanella gleich neben der Bäckerei La Spiga d’Oro. Ich werde neugierig. Nicht auf den Schneider. Sondern zunächst auf den Bäcker. Was für ein verheißungsvoller Name für eine Bäckerei. Was für ein Land, in dem selbst eine einfache Wegbeschreibung um Essen kreist.
Sciacca ist steil. Die Stadt steigt von der Häuserzeile um den Fischerhafen stetig an, verwinkelte Stiegen und verstopfte Straßen führen nach oben ins Stadtzentrum. Da ist die »Ähre aus Gold«, eine kleine, bescheidene Bäckerei. Und rechts daneben nicht mehr als eine zur Front verglaste Garage. Zwei Männer sitzen darin vor dem Fenster, einer im grauen Arbeitskittel hinter einer Nähmaschine mit einem ehrlichen Gesicht, das mich anrührt. Und einer davor, der ihm schweigend bei der Arbeit zusieht.
Beim Eintreten nehme ich Dinge wahr: das verstaubte Moped, das seit Jahren an der Rückwand lehnt. Gewebe und Stoffe, die sich im Hintergrund zu einem Berg aus Schaum türmen, ein Materiallager, das ich insgeheim »Monte Schiuma« taufe, den Berg aus Schaum. Die abgegriffene Arbeitslampe, übrig geblieben von einem Hausaufgabenschreibtisch der Siebziger, deren Metallschirm über der Nähmaschine an einfachem Klingeldraht baumelt. Zwei Garne, rot und weiß. Der Mann im grauen Kittel erhebt sich. Ja, er sei Pietro Tulone. Ich zeige ihm die alte Persenning, er schüttelt traurig den Kopf. Nein, das würde nichts mehr. Zu mürbe der Stoff. Aber wenn ich unten am Hafen nach Tancredi frage, der habe Persenningstoff in seinem Laden. Ich solle dort welchen kaufen. Den Rest würde er, Pietro Tulone, erledigen.
Ich mache mich wieder auf den Weg den Hügel hinunter. Nicht ohne an den bescheidenen Mann mit dem ehrlichen Gesicht zu denken. Bei Tancredi unten am Hafen finde ich, wonach ich suche, eine leuchtend weiße Persenningbahn, 18 Quadratmeter. Tancredi grinst zustimmend, als ich sage, ich würde den Stoff zu Pietro Tulone bringen.
Am Tag darauf stapfe ich mit meinem schweren Packen wieder hügelan. Der Schneider sitzt hinter seiner Nähmaschine, umgeben diesmal von drei älteren Männern, die ihm schweigend bei der Arbeit zusehen. Lächelnd nicken, weiter schweigen, nur hin und wieder fällt ein kurzes Wort. Pietro sieht von seiner Arbeit unter dem Lampenschirm auf. Befühlt meinen Stoff. Nickt. Besieht sich die Skizze und meint, ich solle doch am Ostersamstag wiederkommen. Da wäre alles fertig. Wo er denn die sperrige Lkw-Persenning auslegen und schneiden wolle, frage ich neugierig. Die Männer grinsen. »Draußen, hier vor der Tür, auf der Straße. Da ist genug Platz.« Ich schaue etwas ratlos auf die zugeparkte Straße, klappe meinen offen stehenden Mund zu und überlasse Pietro den Bergen auseinanderfallender Persennings, die seinen Nähtisch mitsamt der zerbeulten Nähmaschine unter sich begraben.
Ich ertappe mich dabei, dass ich, wieder zurück auf Levje, an den Schneider denke. Er strahlt etwas aus, was heute selten geworden ist. Milde. Güte. Angestaubte, aus der Welt gefallene Worte, so wie auch die Werkstatt des Alten aus der Welt gefallen war. Wie er im sauber geplätteten Arbeitskittel an seiner einfachen Nähmaschine hantierte, bei dieser Vorstellung breitet sich in mir ein wohliges Gefühl aus. Doch Pietro Tulones Besucher, deren stilles, schweigend entspanntes Zuhausesein in der Gegenwart des Schneiders, die verstehe ich noch nicht.
Karsamstag. Sciacca brummt, Sciacca summt in vorösterlicher Betriebsamkeit, während ich am Vormittag wieder hügelan steige. Wie üblich arbeitet Pietro hinter seiner Nähmaschine, während im Laden drei Männer sitzen, die ich noch nicht kenne und die ihm bei der Arbeit zusehen. Drei weitere stehen schweigend vor dem Laden. Einer von ihnen öffnet mir schwungvoll die Tür. Da liegt meine 18 Quadratmeter große neue Persenning neben Pietro Tulone auf einem Hocker. Einen Tisch gibt es nicht bei ihm, doch die Persenning, deren Fläche die der Werkstatt deutlich übersteigt, ist makellos gefaltet, vernäht, mit Ösen beschlagen. Die Männer sehen mich grinsend an.
Pietro erhebt sich, wendet sich dem Packen zu und überreicht ihn mir. Ein Mann tritt ein, nähert sich dem Schneider, drückt ihm kurz und respektvoll die Hand mit den Worten »Buona Pasqua. Augurone – Frohe Ostern. Alles Gute«. Und verschwindet, wie er gekommen war. »Ja, also«, sagte Pietro, »50 Euro, wie ausgemacht.« Als ich ihm etwas mehr geben will, sträubt er sich. Erst als ich ihm erkläre, die zehn Euro seien nicht für ihn, sondern für seine Enkel, denen er an Ostern ein Eis kaufen solle, strahlt er und erzählt, er hätte fünf. Die Männer nicken anerkennend, als ich meinen Packen nehme. Und vom Hügel wieder zu Levje hinuntersteige.
Die Persenning passt. Ich ertappe mich abends dabei, während ich auf dem Boot meine Pasta zubereite, wie ich meinen Blick durch Levjes Inneres schweifen lasse, was es denn noch zu nähen gäbe, nur damit ich einen Grund hätte, mich wieder bei Pietro Tulone einzufinden. Ja, richtig. Die gestreiften Kissen aus der Türkei hatten keinen Reißverschluss, um die Bezüge waschen zu können. Und die Vorhänge bräuchten neue Druckknöpfe, die alten waren korrodiert.
Dienstag, am späten Nachmittag, mache ich mich wieder auf den Weg, den Hügel hinauf. Pietro sitzt an seiner Nähmaschine. Zwei Männer, wieder mir fremd, sitzen davor und schauen ihm bei der Arbeit zu. Ja, das könne er erledigen, meint er. Doch nicht heute. Er deutet auf die Wand mit den verblichenen Fotos und dem vergilbten schwarz-roten Wimpel. Heute Abend würden die Rossoneri, die Rot-Schwarzen spielen. AC Mailand, das wäre sein Klub, das dürfe er nicht verpassen im Fernsehen, ich solle nur nicht böse sein.
Die Männer um Pietro lächeln wissend. Und in stiller Kumpanei. So wäre er nun mal, da könne man nichts machen, ein Sizilianer, der einen Club aus dem fernen Norden verehrt.
Als ich wieder auf meinem Boot bin, fallen mir weitere Dinge ein, die ich noch zu Pietro Tulone bringen könnte. Die frisch gereinigten Teppiche vorne aus Katrins Koje, ihrem »Cinema Paradiso«, das wir so nennen, weil sie dort noch besser träumt als zu Hause. Der alte Bettbezug, der könnte doch auch einen neuen Reißverschluss verkraften?
Ich denke über Pietro Tulone nach. Was hat der einfache Schneider, dass sich die Männer seines Viertels immer wieder bei ihm einfinden? Nicht Geld. Er hat kein Vermögen. Er ist nur ein Schneider. Und doch bringen ihm die Männer des Viertels Achtung entgegen wie einem Rabbiner. Er ist jemand, zu dem die Männer gehen. Bei dem sie sich treffen. Und immer neue. Ich frage Carlo, den Marinero, er kennt jeden in Sciacca. Carlo lächelt nur. »Hab schon gehört, dass du bei Pietro warst.« Ja, Pietro Tulone kennen viele. Und in seinem Viertel ist der Schneider ein überaus geachteter Mann.
Vielleicht werde ich sein Rätsel nie ganz verstehen. Was mich bewegt, ist, dass ich hier etwas erhalten habe, was früher einmal da und dann aus meinem Leben verschwunden war. Nicht was sich einer an Geld, Wohlstand oder Besitz erworben hat, erst recht nicht Image zeichnet einen Menschen vor anderen aus. Sondern wie er sich an seinem Platz, an den das Leben ihn stellte, geschlagen hat.
Als ich mir nach meiner Kündigung meinen Traum verwirklichte und zum ersten Mal lossegelte, wusste ich nicht, wo mich meine Reise hinbringen würde. Doch ein Gedanke begleitete mich segelnd in all den Jahren: ob es irgendwo einen Ort in Europa geben könnte, auf einer der vielen Inseln im Mittelmeer oder anderswo, der mir mehr sein könnte als eine Station auf der Reise.
Ein Fremder bleibt man immer, selbst in seiner Heimat. Aber wenn es für mich irgendwo in der Fremde eine Heimat gäbe, könnte dies in Sciacca sein. Und wenn dem so wäre: Dann hat es auf alle Fälle mit den Menschen dort zu tun. Und der Art, wie sie leben.
Es ist ein regnerischer Abend, der Himmel wolkenschwer, als ich endlich alle Dinge beieinander, alle Einkäufe erledigt und auf Levje verstaut habe für die vier Tage dauernde Überfahrt nach Westen, Richtung Mallorca. Ich habe nichts mehr auf Levje, was ich noch zu Pietro Tulone bringen könnte, und nichts mehr, was ich zu Franco, zu Carlo, zu Baldo und den anderen noch sagen könnte außer »Habt Dank, dass ihr mich aufgenommen habt. Und aufgepasst habt auf Levje über den Winter«. Es gibt Menschen, denen schuldet man mehr, als man mit Geld begleichen könnte.
Der Wetterbericht hat für fünf Tage leichten Wind aus nördlichen bis nordöstlichen Richtungen vorhergesagt. Er wird Regen bringen. Aber mir wird der Nordost zum ersten Mal seit Wochen ein Wetterfenster öffnen, um die rund tausend Kilometer lange Strecke zu den Balearen zurückzulegen. Es ist Zeit aufzubrechen.
Eine Nacht auf dem Meer. Zweiter Teil
Der Abschied von Sizilien fiel mir nicht leicht, doch nun bin ich hier, unterwegs von Sizilien nach Mallorca, nachts draußen auf dem Meer und klappernd vor Müdigkeit. Ich gehe nach unten, setze Wasser für einen Kaffee auf und krame mir im Küchenschapp ein Stück Schokolade heraus.
Immer wieder erstaunt es mich, wie weit die Wegstrecken in diesem Europa sind. Tausend Kilometer wenigstens liegen zwischen Sizilien und Spanien. Und doch war Sizilien, das hinter mir liegt, für ein halbes Jahrtausend spanischer Boden unter spanischen Herren. Das Rezept für die Rohrzuckerschokolade, die ich mir im sizilischen Modica gekauft hatte, war irgendwann vor ein paar Hundert Jahren auf genau dem tausend Kilometer langen Weg übers Meer von Spanien nach Sizilien gereist, den ich nun auf Levje in entgegengesetzter Richtung nehme. Rohrzucker kam erst nach Europa, als ein Italiener in spanischen Diensten mit Namen Cristoforo Colombo gedacht hatte, er habe nun den Seeweg nach Indien gefunden. Als Beweis hatte er Kaffee und Kartoffeln, Tabak und auch zum ersten Mal Kakao und Zucker mit nach Europa gebracht. Für die Menschen seiner Zeit waren das so fremdartige Dinge, als würde uns heute jemand geröstete Regenwürmer anbieten. Doch die Dinge, die er mitgebracht hatte, bewiesen, was seine Theorie mit Indien anging, tatsächlich gar nichts – außer dass er eben neben anderem die Grundsubstanzen für die Schokolade erstmals mit nach Europa gebracht hatte. Und dass wir es seiner Reise verdanken, wenn wir morgens eine Tasse Kaffee trinken und eine Zigarette dazu rauchen.
Ich denke an Sciacca und die, die ich dort kennengelernt habe, von denen ich mich an dem regnerischen Spätnachmittag vor vier Tagen verabschiedet habe. An Franco, an Baldo. Baldo, der jeden Winter in die tiefsten Abgründe einer Depression versinkt, auf nichts reagiert, nicht auf seine Frau, nicht auf seinen besten Freund Franco. Der sein Bett für Monate nicht mehr verlässt und erst daraus hervorkriecht, wenn die Frühlingssonne es schafft, ihre ersten Strahlen in das selbst gewählte Verlies seines verdunkelten Zimmers zu schicken. Ich denke an Pietro Tulone. Ich bin ein Einhandsegler. Einer der allein unterwegs ist. Einer, der weiß, dass er die Menschen mehr braucht, viel mehr als jeder andere. Vielleicht, weil Menschen mir Antworten geben, selbst wenn ich sie nicht frage. Weil ich endlich Zeit habe, die Antworten zu hören, und nicht etwas anderem nachjage.
Wieder kommt die schmale Sichel des Mondes hinter einer Wolkenbank hervor. Sie steht nun weit im Westen, dort, wo ich hinwill. Der Mond oder die Venus am Morgen, nirgendwo erlebe ich den Himmel so intensiv wie in einer Nacht auf dem Meer. Sinn für derlei Schönheit hatte ich auch in meinem früheren Leben. Da hatte alles seinen Platz, ich war im Auto oder im Haus, der Mond war draußen. Ich steckte in irgendeiner dieser vermeintlich sicheren Hüllen, durch deren Scheiben ich den aufgehenden Vollmond einer Februarnacht sah. Ich war im Kokon. Er war dort. Hier draußen lerne ich nicht nur, die Natur zu beobachten, auf das zu achten, was sie von sich preisgibt. Jetzt bin ich mittendrin und Teil des Ganzen, fühle mich eingebettet und geborgen in der ungeheuren Weite. Ich bin ein Teil des Ganzen, so allein ich in dieser Nacht hier draußen auch immer bin.
Vielleicht kommt es daher, weil sich mein Leben auf dem Boot auf das reduziert, was die Menschen die meiste Zeit in ihrer Entwicklung taten: die Natur nicht durch Scheiben zu betrachten, nicht durch Fenster oder über Bildschirme, sondern direkt. Weil ich sie ganz unmittelbar rings um mich habe. So wie gestern, als ich lang am Vorstag stand und den regenschweren Himmel voraus betrachtete und die gestreckte, oben bösartig gezackte Wolke entdeckte, die sich wie eine liegende Zigarre über den Horizont zog. Es gibt Wolken, die sind auffälliger als andere, ich prägte sie mir ein, während Levje an den Meeresschildkröten vorbeipflügte, die sich hier fernab jeder Zivilisation an der Meeresoberfläche tummelten. Es war die Spitze einer Front, die Regen und guten Wind mit sich brachte. Jetzt ist der Mond hinter seiner Wolkenbank, der mich in tiefer Schwärze zurücklässt. Alles, was ich gerade wissen muss, erfahre ich in diesem Augenblick aus der Weite, die mich umfängt.
Plötzlich unterbricht ein durchdringender Piepton das monotone Brummen des Motors und das gleichmäßige Rauschen entlang der Bordwand. Ein nerviges Piep-Piep-Piep, das durch die Nacht schrillt und nicht enden will. Eine Warnung, dass der Motor gleich aussetzt? Nein. Es scheint alles in Ordnung. Eine Warnung vom Radar? Tatsächlich. Von Nordwesten hat sich ein winziger Lichtpunkt angeschlichen, der unvermindert auf den gelben Punkt in der Mitte des Bildschirms zustrebt, der mich und Levje darstellt. Ich lösche den nervigen Piepton. Danach spähe ich in die Dunkelheit. Tatsächlich. Halb links erkenne ich ein schwaches rotes Licht. Und darüber ein weißes. Offensichtlich ein Segler auf Gegenkurs. Er ist noch ein Stück entfernt. Auf dem Radar habe ich einen Kreis von sechs Seemeilen Durchmesser, also elf Kilometer, gezogen. Wenn irgendetwas in diesen Kreis eindringt, das sich auch nur ein klein wenig über die Wasseroberfläche erhebt, und sei es auch nur eine Möwe 500 Meter voraus, ertönt jener nervige Piepton. Das ist eine sinnvolle Einrichtung. Die Route, auf der ich unterwegs bin, ist zwar kein viel befahrener Dampfertrack. Aber jeder Segler, jede Motoryacht, die von Menorca nach Sizilien will, wird mehr oder weniger auf dieser schmalen Kurslinie unterwegs sein, auf der auch ich unterwegs bin. Ich beobachte den näher kommenden Segler. Es muss ein kleines Segelschiff sein, eifrig nickt sein Mastlicht in der Welle. Ich sehe darunter nur das schwach beschienene Boot, als es uns in etwa 50 Metern Abstand passiert.
Während der Segler vorbeigleitet, entdecke ich, dass die Wolkendecke aufreißt und die Sterne sich zeigen. Mag sein, dass ich hier unten unterwegs Richtung Mallorca bin, doch richte ich meinen Blick für Minuten nach oben, dort durchquere ich gerade auch die Milchstraße mit ihren unzähligen Sternen. Wenn wir uns von A nach B bewegen, denken wir nur daran, eben von A nach B zu kommen. Und vergessen, dass jede Fahrt, selbst fünf Minuten Fußweg zu einem Bäcker, zugleich eine Reise durch ein anderes, ungeahntes Universum sein könnte. Wir könnten es sehen, hätten wir nur Augen, genau das zu erkennen. Auch ich hatte früher keine Augen dafür. Erledigte noch schnell dies, Termindruck hier, Meeting da, Verpflichtung dort. Doch jetzt, wo ich draußen bin nicht nur auf dem Meer, sondern draußen aus dem, was mein früheres Leben war, ist meine Wahrnehmung für das, was ich gerade tue, eine andere geworden.
Eineinhalb Stunden später. Die Zeiger meiner Armbanduhr stehen auf halb vier. Plötzlich ist es vorbei mit der Windstille, eine kühle Brise kommt genau von vorn, und sie nimmt zu. Leichter Regen setzt ein. Mein übermüdetes Gehirn mahlt Gedanken: Du kannst nicht gegen den Wind von vorn segeln. Soll ich weiter unter Motor gegen den Wind und die Wellen, die er aufwirft, anboxen? Noch geht das. Noch weht der Wind leicht, etwa zehn Knoten, aber er nimmt zu. Ich spüre, wie wir Fahrt verlieren, nicht viel, doch merklich. Was wäre die Alternative: Segel setzen? In mühsamem Zickzack gegen den Wind Richtung Menorca aufzukreuzen, um an das entferntere Mallorca heranzukommen? Das alles in erschöpftem Zustand. Nein. Nur jetzt nicht bewegen.
Nordwestlich ist für einen kurzen Augenblick ein heller Schein am Horizont zu sehen. Ob das der Leuchtturm auf der Illa de l’Aire ist, der Insel, die Menorca vorgelagert ist? Alle fünf Sekunden ein heller Blitz. Das muss er sein. Ich stelle mir den markanten Turm in seinem schwarz-weißen Ringelkleid auf der unbewohnten flachen Felsinsel vor. Leuchttürme haben für einen, der in einer Nacht wie dieser draußen ist, etwas Tröstliches. Sie sind wie ein Schulterklopfen, die Wärme eines aufmunternden Wortes, das einem Vertrauen gibt. Das Gefühl, dass da noch jemand ist, der aus freien Stücken die Einsamkeit erwählt und Schönheit und Zweifel des Alleinseins in diesem Moment mit mir teilt, dieses Gefühl besteht fort, auch wenn in den meisten Leuchttürmen und vermutlich auch auf der Illa de l’Aire schon lang keiner mehr ist, der nachts ein Feuer entzündet.
Plötzlich wird der Regen stärker und verschluckt das blinkende Licht am Horizont. Was nicht weiter schlimm ist. Sicht nach vorn ins Dunkel hatte ich ohnehin keine. Doch das Stoffdach, unter dem ich sitze, die Sprayhood, ist nicht dicht. Regen prasselt drauf, tropft von dort aufs Radargerät, tropft mir langsam in den nassen Kragen, sosehr ich mich auch anstrenge, mich zentimetergenau zwischen die fallenden Tropfen zu kauern. Der Wind nimmt weiter zu, in Spitzen über 15 Knoten, die See wird hackiger, die Geschwindigkeit sinkt.
Ich muss was tun. Segel setzen? Aufkreuzen? Noch zögere ich. Wenn der Wind in den nächsten zehn Minuten zunimmt, habe ich keine andere Wahl. Also warte ich. Plötzlich erlischt der Bildschirm im Cockpit. Bis auf die sinnlos blinkende Tiefenanzeige, bis auf Windmesser und die Geschwindigkeitsanzeige ist es jetzt völlig dunkel um mich. Die elektronische Seekarte ist weg. Was ist los? Muss das jetzt auch noch sein? Es wird eine Entscheidung von mir verlangt, weil ich sonst auf der Stelle trete.
Stell dich nicht so an, ermahne ich mich. Mit nasskalten Fingern greife ich in meine Jackentasche und hole mein Smartphone heraus. Sicherheitshalber habe ich dort die Seekarte samt meinem Kurs gespeichert. Kein Problem also. Und zur Not wären ja auch noch Kompass und Papierkarte da. Nur am prasselnden Regen und am ungemütlichen Anbolzen gegen Wind und Welle ändert das gerade nichts.
Nach einer Weile lässt jedoch das Geprassel nach. Der Wind beruhigt sich. Levje schnürt wieder dahin, als wäre nichts gewesen. Als es dämmert, sehe ich vor mir das lange Band winzig kleiner Wolkenbänke, wie ein feines blaugraues Wollgewebe ziehen sie sich über die ganze Länge des Horizonts. Und darunter, als schartiger Strich mit schwarzem Marker, die Südostküste Mallorcas. Noch sechs Stunden und ich habe Cap Formentor vor mir. Und mit ihm den gleichnamigen Leuchtturm 200 Meter oben auf dem letzten Ausläufer der Serra de Tramuntana. Dann bin ich in Mallorca. Und dann: erst mal schlafen.
Mallorca. Am Leuchtturm von Formentor.
Zwei Tage nach meiner Ankunft in Port de Pollença stehe ich am Leuchtturm vom Cap Formentor, den ich vom Meer aus gesehen hatte. Nicht zum ersten Mal. Bei meinen Reisen kehre ich oft an dieselben Orte zurück. Ich kenne Pollença und den gleichnamigen Hafen von einer Segelreise und mochte den Ort von Anfang an. Drei Jahre zuvor hatte ich den Auftrag einer Segelzeitschrift angenommen und war, um mir etwas Geld zu verdienen, für eine Reportage nach Mallorca gereist. Ich war die Küste der Insel abgefahren, nur um festzustellen, dass mir jener Teil, der mir längst vertraut war, jene Ecke um Pollença, am besten gefällt. Ganz im Osten, wo die flachen Brackwassermarschen von S’Albufera, Meer und Gebirge aufeinandertreffen, abseits vom Trubel.
Ich mag die Einwohner Pollenças, die Alten, die Handwerker mit ihren Frauen, die sich abends im Club Social de Pollença auf der Plaça Major treffen, um auf der Terrasse ein Glas Wein zu trinken. Die alten Männer, die sich schon am Nachmittag schweigend um den runden Tisch vor der Theke der Bar versammeln, um sich wortlos durch Stapel von Zeitungen zu lesen. Die alte Lehrerin, deren Alter ich nicht schätzen kann, die jeden Nachmittag in der Steppjacke an der Hauswand sitzt und sich mit jungen Reisenden unterhält. Wo jeden Donnerstag Kinofilme gezeigt werden, vorher Tapas-Abend ist und der Club brechend voll ist mit jungen Familien mit Kindern und alten Paaren, die sich in langer Schlange palavernd zum Tresen anstellen, um sich danach in kleinen Grüppchen über eine Tortilla, ein Schälchen eingelegte Sardinen oder ein Boccadillo, ein Sandwich mit Thunfisch und Tomate, zu beugen. Wo jeden Sonntag Marktsonntag ist und Jung und Alt mit Körben unterwegs sind, um sich mit Obst und Gemüse einzudecken.
Ich schätze den Club auch, weil er mit dürren Worten daran erinnert, dass es nicht immer so war, und das Grauen wachruft, als genau diese mallorquinische Gesellschaft ab 1930 in den Strudel eines furchtbaren Bürgerkriegs geschlittert war. Es ist dieser eine Satz, der alles sagt, wenn ich die abgegriffene Speisekarte des Clubrestaurants in die Hand nehme: »Der Club Pollença entstand im Jahr 1910 als Radfahrer-Club von Pollença, durch Antoni Cabanellas von Can Vich. Von allen Vereinen, die in unserem Dorf vor dem Bürgerkrieg existierten, ist dieser Club der einzig überlebende.«
Nicht nur der Club, vielleicht ist auch Pollença in seinem Zusammenhalt etwas, das übrig geblieben ist vom alten Spanien vor dem Bürgerkrieg und vor dem großen Tourismusboom.
In Port de Pollença leihe ich mir ein Fahrrad und radle hinauf in die Berge, die Serpentinen bergauf und bergab, vorbei am Hotel Formentor, das ein argentinischer Geschäftsmann in den Dreißigerjahren für Künstler erbauen ließ und dessen Erlöse Künstler finanzieren sollten. Doch der mondäne Treffpunkt war zu abgelegen, so lobenswert die Absicht war, so abgelegen und unerreichbar lag das Hotel vor dem Sandstrand. Es dauerte keine drei Jahre, dann war der Erbauer pleite.
Formentor ist eigentlich ein Ort in der Wildnis, auch wenn dort heute – quer durchs Gebirge, über Macchie, durch Kiefernwälder und Schafweiden – eine gut ausgebaute Straße hinführt, auf der sich Tag für Tag Leihwagen und Rennräder drängeln. Der Leuchtturm liegt da, wo die Welt endet: auf einer Klippe vor anderen Klippen, dem letzten Felsen vor der Unendlichkeit. Ich sehe noch ein Ziegeldach über einem weißen Gemäuer – und dann kommt nichts mehr, aber auch gar nichts mehr als nur noch Blau und duftige Wolken. Am Leuchtturm von Formentor zu sein, ist, wie die Nase auf dem Bug meines Schiffs in voller Fahrt in den Wind zu halten. Vielleicht bin ich deshalb so gerne hier oben.