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»Ihre Gedanken glitten zurück zu dem Schuss. Die Vorstellung, an den Ort des Geschehens zurückzukehren, nahm ihr die Luft zum Atmen.« Das Kunstmuseum Luzern hat ein Werk des weltbekannten Künstlers William Turner erworben und präsentiert es erstmals den Besuchern. Doch während der Ausstellung kommt es zum Überfall: Zwei bewaffnete Männer stürmen ins Gebäude und reißen das Bild von der Wand. Weil die Flucht misslingt, nehmen sie eine Geisel. Als Chris Palmer nach einer Konzertprobe das Museum verlassen will, entdeckt sie die Männer. Sie setzt ihnen nach und bekommt die Geisel zu fassen. Doch dann fällt ein Schuss …
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Seitenzahl: 342
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Bruno Heini
Auf die Knie!
Thriller
Blutkunst Ein Schrei hallt durch den Saal. Erbarmungslos reißen zwei Männer ein millionenteures Gemälde von der Wand des Kunstmuseums Luzern. Als ihre Flucht zu scheitern droht, nehmen sie eine junge Frau als Geisel. In diesem Moment macht Chris Palmer einen entscheidenden Fehler. Ohne zu zögern, eilt sie der Frau zu Hilfe und kämpft sie frei. Doch dann fällt ein Schuss. Palmer geht in Deckung, aber die Geisel sinkt getroffen zu Boden. Voller Schuldgefühle hetzt Palmer den Kunstdieben nach. Dabei wird sie Augenzeugin eines grauenvollen Mordes. Der Killer entdeckt sie und schwört, sie zu jagen. Hilfesuchend meldet Palmer ihre Beobachtungen der Polizei, erhält jedoch keinen Schutz. Da sie nicht in ständiger Angst leben will, ermittelt Palmer auf eigene Faust. Noch ahnt sie nicht, wie groß die Gefahr wirklich ist. Doch schon bald gerät sie in die Fänge skrupelloser Männer, denen ein Menschenleben nichts mehr bedeutet.
Bruno Heini lebt mit seiner Frau Judith und den beiden Katern Jimmy und James über den Dächern von Luzern, wo er dereinst auch sterben wird. Er arbeitete erfolgreich als Unternehmer, bevor er sich auf das Schreiben von Thrillern verlegte. Auf seinen Luzern-Thriller „Teufelssaat“ folgten „Engelsknochen“, „Höllenwut“ und„Deine Zeit läuft ab“. Nun legt er nach mit „Auf die Knie!“. Heinis Bücher erreichen regelmäßig Spitzenplätze in der Schweizer Taschenbuch-Hitparade.
Bisherige Veröffentlichungen im Gmeiner-Verlag:
Auf die Knie! (2022)
Deine Zeit läuft ab (2021)
Höllenwut (2020)
Engelsknochen (2018)
Teufelssaat (2016)
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © gnoparus / shutterstock
ISBN 978-3-8392-7270-1
Nie hätte sie sich in dieses Gespräch verwickeln lassen dürfen. Mit ihrem Gitarrenkoffer hatte Palmer das Konzerthaus betreten und verwundert den Saal gähnend leer vorgefunden. Auch waren auf der Bühne keine Vorbereitungen im Gange für das abendliche Konzert. Der Techniker, den sie endlich hinter der Bühne aufstöberte, erklärte ihr, sie habe sich um einige Tage im Datum geirrt. Die Gitarre könne sie leider nicht hier für später einlagern, sie solle sie doch bitte am Konzerttag wieder herbringen. Klar hatte sie sich geschmeichelt gefühlt, als er sie als ehemals erfolgreiche Musikerin erkannte. Als er darauf bestand zu erfahren, weshalb sie sich vor Jahren aus der Szene zurückgezogen hatte, ließ sie sich dazu hinreißen, ihm die Gründe lang und breit zu erklären. Jetzt bekam sie die Quittung.
Sie war zu spät.
Palmer hetzte von der Bühne des Konzertsaals durch den endlos langen Gang nach hinten Richtung Eingangshalle des Kultur- und Kongresszentrums Luzern, kurz KKL, wo sie mit Julia schon vor Minuten verabredet gewesen war. Leider konnte sie sich jetzt kein weiteres Gespräch mit ihrer Freundin mehr leisten, da Alex sie ebenfalls erwartete. Ihre Hand umklammerte den Griff des Gitarrenkoffers, als Palmer hinauseilte, während die Umhängetasche im Takt an ihre Seite klatschte. Die Gummisohlen ihrer abgewetzten Converse quietschten auf dem polierten Parkett, als sie noch schneller voranpreschte. Nicht nur wegen Julia, die sich von Palmer bloß ein Ladegerät für ihr altes iPad borgen wollte. Nein, wegen Alex, dem sie hoch und heilig versprochen hatte, sich nicht zu verspäten und rechtzeitig bereitzustehen, um ihn zur Beerdigung seines Jugendfreunds zu begleiten, der nach einer langen Zeit des Bangens und Hoffens den Kampf gegen den Krebs verloren hatte. Sie hatten sich an der Zentralstraße verabredet, wo Alex seit bereits sieben Minuten in seinem Wagen auf sie wartete. Umziehen wollte sich Palmer während der Fahrt, der Trauerfeier angemessene Kleider hatte sie in der Tasche mitgebracht.
Mit dem Handrücken wischte sie sich den Schweiß von der Oberlippe.
Alex war ihre Unpünktlichkeit zuwider. Dass sie ihn jetzt enttäuschte, hatte er nicht verdient, er, der so viel Gutes für sie getan hatte.
Als wäre das noch nicht genug, ärgerte sich Palmer über sich selbst und ihre Nachlässigkeit, denn der ganze Stress war vom ersten Moment an völlig unnötig gewesen. Sie hatte nicht richtig hingehört, als der Dirigent des 21st Century Orchestra telefonisch nach einer ganz bestimmten Gitarre gefragt hatte, von der er wusste, dass Palmer ein Exemplar wie ihren Augapfel hütete. In einigen Tagen dirigiere er sein Symphonieorchester live zu Carlos Santana, hatte er ihr erklärt. Ganz aus dem Häuschen, weil Santana den Wunsch geäußert hatte, höchstpersönlich seine Finger über deren Saiten tanzen zu lassen, wollte sie heute ihr Prachtstück ins KKL liefern, ohne zu wissen, dass das Konzert erst in einigen Tagen über die Bühne gehen würde. Wohl oder übel hatte sie ihre Gitarre wieder unter den Arm geklemmt, um sie in einigen Tagen wieder herzubringen. Noch immer fühlte sich Palmer geschmeichelt, dass Santana sie nicht vergessen hatte, war es doch schon mehrere Jahre her, dass sie ihn anlässlich einer Tournee in Los Angeles getroffen hatte. Mit ihrer eigenen Band hatte sie am gleichen Tag auf derselben Festivalbühne gespielt wie er und anschließend mit ihm in der Musikerbar hinter der Bühne abgehängt und gejammt.
Mit der Schulter stieß Palmer die Tür auf, flitzte in den Vorraum hinaus und genoss die klimatisierte Luft, die ihre Haut kühlte, während ihre Augen die Eingangshalle absuchten. Einzig entfernte Männerstimmen drangen an Palmers Ohren. Aber sie entdeckte keinen Menschen im Foyer, das trotz Beleuchtung mit seinen dunklen Böden und Decken düster blieb. Allerdings brach durch die riesige Glasfront gleißend helles Licht in die Halle, sodass Palmer die Augen zusammenkniff, als sie den Platz vor dem See und der Skyline von Luzern nach ihrer Freundin absuchte, sie aber nirgendwo entdeckte. Das freischwebende Dach überdeckte die grandiose Aussicht wie eine schützende Hand, so groß, dass ein ganzes Fußballfeld darunter Platz gefunden hätte. Es reichte hinaus bis über den See, der mit Wasserkanälen scheinbar ins Gebäude hineingriff.
Shit. Ich bin eh schon spät dran. Und jetzt soll ich Julia auch noch mein Ladekabel übergeben. Sie müsste längst hier sein. Immerhin hat sie selber vorgeschlagen herzukommen. Wenn sie nicht sofort auftaucht, lass ich die Übergabe platzen.
Palmer hätte sich ohrfeigen können. Das Bild von Alex, der im Auto saß und genervt auf die Uhr schaute, kam in ihr hoch. Frustriert ließ sie den Atem entweichen.
Ich werde Julia eine Nachricht senden. Dann wird das eben nichts mit dem Ladekabel heute.
Sie nagte an der Unterlippe, während sie mit einer Hand in ihrer Umhängetasche nach dem Handy wühlte. An dem grünen Chatsymbol leuchtete eine rote »1«. Palmer öffnete den Chat.
Ich warte beim Seitenausgang zum Bahnhof.
Na toll. Nichts wie los jetzt.
Sie machte auf dem Absatz kehrt und jagte Richtung Seitentür, als hinter ihr eine kräftige Stimme erschallte:
»Na, das ist aber eine Überraschung, Frau Palmer. Dass ich Sie hier antreffe.«
Wie erstarrt blieb sie stehen. Diese Stimme war unverwechselbar. Langsam wandte sie sich zu ihm, während er mit fragend hochgezogenen Brauen und einem Begleiter auf sie zukam. Ein Berg von einem Mann in dunklem Maßanzug, gestärktem weißem Hemd und weinroter Seidenkrawatte. Trotz seines Lächelns ließ sein dunkler, durchdringender Blick keine Spur von Humor erkennen. Breitbeinig baute er sich vor ihr auf, und Palmer hatte direkt das Gefühl, einige Zentimeter zu schrumpfen.
»Peter, darf ich vorstellen: Frau Palmer. Sie hat vorgestern ihr Sicherheitskonzept vorgestellt. Du warst ja nicht dabei, aber Frau Palmer war sehr überzeugend. Mit ihren Maßnahmen verspricht sie uns bis zu 60 Prozent geringere Diebstahlquoten in den Bereichen unserer Kunden, Lieferanten und Mitarbeiter.« Dann drehte er sich zu Palmer. »Und dies ist Herr Weber, Mitglied unseres Verwaltungsrats.«
Weber, spindeldürr und mit akkuratem Bürstenschnitt, nickte Palmer zu, um dann ihr T-Shirt und die verwaschenen Jeans zu scannen, bis sein Blick auffallend lange an ihren abgelatschten Sportschuhen hängen blieb.
Palmer bemühte sich um ein Lächeln und gab sich locker, auch wenn sie eine Ader an ihrer Schläfe pulsieren fühlte. Sie musste das hier abkürzen und zwar sofort.
»Herr Oberholzer, hat mich gefr…«
»Wie praktisch. Könnten Sie nicht kurz Ihre Ideen für Herrn Weber zusammenfassen?«, fragte der Firmeninhaber mit einem fordernden Lächeln. »Herr Weber wird letztlich mitentscheiden, ob wir uns für die Zusammenarbeit mit Ihnen entschließen oder einen Ihrer Mitbewerber zum Zuge kommen lassen.«
Palmer lächelte gequält.
»Grundsätzlich würde ich das gern, Herr …«
»Gut, gut. Natürlich gibt es da noch das eine oder andere Detail zu besprechen.« Er verschränkte die Arme vor der Brust und gab damit zu erkennen, dass er sich auf ein längeres Gespräch einstellte.
Palmer richtete sich gerade auf und schielte diskret auf die Uhr des Handy-Displays. Ihr Lächeln verschwand.
»Ich würde mich gerne länger mit Ihnen unterhalten, Herr Oberholzer. Aber leider muss ich dringend zu einer Beerdigung«, sagte sie. »Bitte entschuldigen Sie mich.« Sie nickte, hob ihren Gitarrenkoffer vor ihre Brust, umschlang ihn mit beiden Armen und wandte sich dem Ausgang zu. Sie reagierte nicht, als die tiefe Stimme in ihrem Rücken noch mal ihren Namen rief.
Der Schrei drang durch die Räume des Kunstmuseums Luzern und scheuchte die Besucher auf. Einige sahen sich hektisch um, andere zogen ihre Kinder an sich.
»Jemand muss Hilfe holen! Warum hilft denn niemand?«, rief eine gut 40-Jährige und presste sich die Hand auf den Mund. Dann zeigte ihr ausgestreckter Arm auf das eben angekaufte Gemälde des weltbekannten englischen Kunstmalers William Turner, an welchem sich zwei Männer zu schaffen machten, die beide einen weißen bis zu den Knien reichenden Malerkittel trugen. Über den Kopf hatten sie sich eine Sturmhaube aus neonblauem Stoff gestreift und über die Pranken Handschuhe in derselben knalligen Farbe. Der eine der beiden, ein leicht untersetzter Mann, nicht dick, aber keineswegs schlank, hantierte mit einem speziellen Schlüssel in der Spalte hinter dem Bilderrahmen und hob nach einigen Versuchen das millionenteure Bild von der Wand. Seelenruhig stopfte er dieses in die mitgebrachte XL-Tasche, während sein Kumpel, ein Zweimeterhüne mit breiter Brust und beeindruckenden Muskelpaketen an den Oberarmen, stoisch davor stand und die flache Hand in Richtung der Besucher streckte. Damit machte er klar, niemand solle sich nähern oder sonst wie in diese Aktion einmischen.
Die erste Verunsicherung bei den Besuchern war inzwischen der Erkenntnis gewichen, dass sie einer Kunstperformance beiwohnten. Offensichtlich hatten die Schauspieler ihnen die Rolle der Beobachter eines Kunstraubs zugedacht. Belustigt genossen sie nun diese gelungene Überraschung, welche offenbar noch nicht zu Ende war. Denn aus der angrenzenden Halle eilte ein Mann mittleren Alters heran, gekleidet im einheitlichen Stil der Kunstmuseumsmitarbeiter.
»Was tun Sie da?«, schrie er, stellte sich vor die beiden hin, breitete die Arme aus und schüttelte ungläubig den Kopf.
Jetzt wurde auch der letzte Besucher auf die Szene aufmerksam und beobachtete gespannt das Schauspiel.
»Das Bild von Turner geht zurück in die Restauration«, sagte der Kleinere und setzte sich in Bewegung.
»Davon weiß ich nichts«, entgegnete der Museumswärter.
»Dann passen Sie mal besser auf, wenn Sie das nächste Mal Instruktionen erhalten.« Gefolgt vom Hünen machte er sich auf, den Saal zu verlassen.
»Nein. Halt. Bleiben Sie hier. So geht das nicht. Ich muss das erst überprüfen.« Der Aufpasser klaubte ein kleines Gerät aus seiner Hosentasche, das ein Funkgerät hätte sein können.
Aber schon war der Hüne zu ihm hin marschiert und verpasste ihm mit der flachen Hand eine Ohrfeige, sodass das Gerät einige Meter weit über den Boden hüpfte und der Wärter zu Boden kippte. Sogleich versuchte er, sich aufzurichten, schaffte es jedoch nur bis auf die Knie, also verharrte er benommen auf allen vieren.
»Voll krass«, entfuhr es einem jugendlichen Besucher im Museumsflüsterton, der mit breitem Lächeln die Kunstperformance verfolgte.
»Quatsch, das ist echt«, entgegnete sein Kollege, der mit leicht abgewandtem Kopf das Schauspiel beobachtete. »Meinst du nicht?«
»Nee, wir sind doch hier im Kunstmuseum. Reines Theater. Schau dir die Verkleidung an. Solche Malerkittel tragen zwar Restauratoren von Bildern. Aber dazu diese grelle Maskerade. Nee, nee, diese Show ziehen die extra für uns ab.« Er klatschte in die Hände. »Was für ein Spektakel.«
Eiligen Schrittes hatten die zwei Vermummten in der Zwischenzeit auf ihrem Weg aus der Halle einige Meter zurückgelegt.
Der Wärter drückte sich in den Stand hoch, schüttelte die Benommenheit aus seinem Kopf und jagte den beiden nach. Auf einen Kampf mit den Räubern wollte er sich nicht einlassen. Also griff er lediglich beherzt nach dem Schulterband der Tasche, in welchem der Kleinere das Gemälde mit sich trug.
»Der Turner bleibt hier.« Der Wärter riss die Tasche an sich, drehte sich weg, bog den Oberkörper vornüber und legte seine Arme schützend um das Kunstwerk.
Die mächtige Faust des Hünen holte aus und flog in einer blitzschnellen Geraden an den Nasenansatz des Wärters. Nicht nur sein Kopf, sondern sein ganzer Körper zuckte nach hinten, als wäre er eine Marionette und der Puppenspieler hätte geniest. Das Gesicht des Wärters klatschte auf dem Boden auf. Reglos blieb er liegen, während sich allmählich die Lichter der Saaldecke in der Blutlache spiegelten, die sich von seiner Nase her unter seinem Kopf auszubreiten begann.
Jetzt starrten alle Besucher schockiert auf den bewusstlosen Wärter, dann den beiden fliehenden Räubern hinterher. Mit markerschütternder Stimme schrie sich eine Besucherin die Seele aus dem Leib. Einer der Jugendlichen hielt seine Kehle umklammert und rang mit einem pfeifenden Geräusch nach Atem. Andere schlugen die Hände vors Gesicht und weinten, während die Räuber das Museum durch dieselbe Seitentür verließen, durch die sie sich Zutritt zur Ausstellungshalle verschafft hatten.
Die Räuber eilten zu ihrem Fluchtwagen einige Meter neben dem Haupteingang, da entfuhr der Kehle des Großen ein Stöhnen. Als Auswärtiger hatte er nicht mitbekommen, dass auf der Seeseite des KKL Fußballanhänger auf der Großleinwand die Spiele der Europameisterschaft verfolgten. Allerdings hätten sie auch dann nicht damit rechnen müssen, dass die Schweizer im Startspiel die Deutschen besiegten. Als sie das KKL betreten hatten, war das Spiel noch in vollem Gange gewesen, jetzt aber wuselte hier eine riesige Menschenmenge durcheinander. Hunderte feiernder Fußballfans hatten die ganze Straße zwischen KKL und Bahnhof eingenommen.
Als die Räuber zu ihrem halb auf dem Gehsteig abgestellten Fluchtfahrzeug hetzten, stellten sie erschreckt fest, dass wild Feiernde mit nacktem Oberkörper es nicht nur umzingelt hatten, sondern dass einige auf dessen Kühlerhaube und Dach gestiegen waren und dort laut johlend ihre Fahnen schwenkten. Unbeirrt bahnten sich die Räuber einen Weg durch die Feiernden zu ihrem Wagen. Zwei gezielte Schwinger genügten dem Großen, um die Kühlerhaube freizukriegen. Aber die fünf Mutigen auf dem Dach wussten sich mit Fußtritten gegen die Hiebe von unten zu wehren. Als schließlich der Große einen der Fans am Hosenbein zu fassen kriegte, zerrte er ihn mit einem gewaltigen Ruck auf den harten Boden, drosch ihm seine Hammerfaust ins Gesicht und schlug ihm zwei Zähne aus. Sogleich begannen drei seiner Kollegen, ihn zu umzingeln.
Der Schock durchfuhr den Kleinen wie eine Messerklinge, weil er sich fragte, ob ihnen die Flucht gelingen würde, denn aus den Augen der Schlachtenbummler war jegliche Freude über den fußballerischen Sieg gewichen. Sie waren bereit zum Kampf. Als ihm die aussichtslose Lage bewusst wurde, schrie der Kleinere: »Wir fliehen zu Fuß. Los!« Mit ausgestrecktem Arm gab er dem Großen die Richtung vor. Die Räuber arbeiteten sich, Boxhiebe nach allen Seiten austeilend, vom Fahrzeug weg, um das Weite zu suchen.
Allerdings hatten sie mit ihrem streitlustigen Auftritt den Jagdtrieb eines guten Dutzends Schlachtenbummler geweckt, die sich jetzt freudig bereit zeigten, den Gegnern die Fresse zu polieren.
Noch während beide die Feiernden links und rechts zur Seite rempelten, um sich einen Fluchtweg zu bahnen, schloss sich der Kreis um sie. Der Große spürte, wie ihm jemand von hinten die Hand auf den Kopf legte. Aber bevor er mit seiner enormen Reichweite den Arm nach hinten schwingen konnte, hatte ihm bereits jemand die Maske vom Kopf gerissen und seine kurz geschorenen blonden Haare, seine schiefe Boxernase und das Tattoo am Hals freigelegt. Seine ausweglose Situation wurde ihm schlagartig bewusst. Breitbeinig, mit leicht gewinkelten Knien und vor dem Kinn platzierten Fäusten brachte er sich dennoch in Stellung. Kampfentschlossen verfluchte er in einem gepfefferten Wortschwall jeden in seinem Blickfeld und die ganze Welt.
Ruckartig schoss sein Kopf hoch, als es ohrenbetäubend knallte.
Schlagartig verstummte das Gegröle.
Blut pochte ihm ohrenbetäubend auf das Trommelfell. Der Geruch nach Schießpulver brannte in der Nase. Schockiert starrte er zu seinem Kumpel.
Kerzengerade reckte dieser noch den Arm zum Himmel, während in seiner Hand eine Pistole qualmte.
»Platz da!«, röhrte der Kleinere. Rücksichtslos schmetterte er die freie Hand seitwärts, um sich Luft zu verschaffen.
Die Leute schienen zu Stein erstarrt, ließen sich jedoch nicht ohne Weiteres wegschubsen. Also krallte sich der Kleine aus der Masse eine barfüßige 20-Jährige mit gepiercter Nase und riss sie zu sich her. Als sie herumwirbelte, schlang er seinen Arm von hinten um deren Hals. Sogleich drückte er den heißen Lauf seiner Pistole an ihre Schläfe. Die junge Frau schnappte nach Luft. Eine Bierflasche zersplitterte klirrend, als sie ihr aus der Hand rutschte und auf dem Asphalt zerbarst. Mit ihren schwarz lackierten Fingernägeln versuchte sie erfolglos, die Umklammerung von ihrem Hals zu lösen. Als dies nicht gelang, stand sie bewegungslos, aber verkrampft da.
Augenblicklich war der Spaß aus allen Partygesichtern verflogen.
»So, und jetzt alle fünf Schritte zurück«, presste der Kleine zwischen den Zähnen hindurch. Um seiner Forderung Nachdruck zu verleihen, trat er dem Erstbesten mit seinem Stiefel ans Knie. »Zurück mit allen! Na, wird’s bald? Oder wollt ihr, dass die Kleine stirbt?«
Palmer blinzelte, als sie aus dem dunklen KKL ins gleißende Sonnenlicht trat und die flirrende Sommerhitze ihre gekühlte Haut angenehm wärmte. Neben dem gewohnten moosigen Geruch des Sees drängte ihr augenblicklich der Duft nach gebratenen Würsten in die Nase. Sie wunderte sich kurz über die riesige Menschenmenge und die ausgelassene Stimmung auf der Straße, als sie sich einen Weg vorwärts bahnte, aber sofort schwante ihr der Zusammenhang mit der Fußball-Europameisterschaft.
Ein gut Zweijähriger in kurzen Hosen, buntem Shirt und Sandalen stellte sich Palmer stelzfüßig in den Weg, zog Grimassen und versteckte beide Hände hinter dem Rücken.
»Na, Kleiner, was führst du im Schilde?«, fragte Palmer und zwinkerte mit einem Auge. Da riss der Knirps seine Hände hervor und zielte mit seiner Wasserpistole mitten auf Palmers Gesicht. »Untersteh’ dich«, rief Palmer und drohte mit dem Zeigefinger. Der Kleine quiekte vor Freude und suchte zwischen den Beinen der Feiernden Deckung. Palmer zwängte sich vorwärts, aber da legte bereits ein halb nackter Mann in Feierlaune seinen Arm mit einem Becher Bier in der Hand kumpelhaft über ihre Schultern und drückte sie eng an sich. Palmer wand sich so heftig aus der Umklammerung, dass das Getränk auf ihr enges Shirt schwappte. Gegen Party hatte sie nichts einzuwenden, aber sie ekelte sich vor grölenden Männern, die stanken wie die Pest und sie ungefragt an ihren schweißgebadeten Körper drückten. Und Bier mochte sie nicht über ihr Shirt geschüttet. Zum Glück war die nasse und deshalb durchsichtige Stelle nur am Rücken.
Ihr war nicht nach Feiern zumute. Alex wartete, und zur Beerdigung seines Jugendfreunds durfte sie nicht zu spät eintrudeln.
Palmer zuckte zurück. Nässe auf ihrem Gesicht? Und jetzt an ihrem Hals. Sie blickte sich um und fand den Kleinen, der ihr freudestrahlend aus sicherer Deckung das Shirt pitschnass spritzte. Und zwar vorne. Männer, die ihre roten Baseball-Caps verkehrt herum aufhatten, lachten dreckig. Einer frage:
»He, Kleiner, kann man dich mieten?«
Was soll’s, dachte Palmer, ich ziehe mich eh um. Sie musste weiter. Um den kleinen Scheißer zu entwaffnen, fehlte ihr die Zeit.
Obwohl Leute von allen Seiten schoben und drückten, spürte sie ihr Handy vibrieren und zog es mühsam aus der Hosentasche. Alex. Sie hielt das Ding ans Ohr, verstand jedoch kein Wort, viel zu laut grölte die Meute.
»Ich bin in einer Minute bei dir«, schrie Palmer ins Gerät, verstaute das Ding, umklammerte ihren Gitarrenkoffer und bahnte sich mit kräftigen Bewegungen einen Weg durch die Menge.
Auf einen Schlag wurde es hektisch.
Leute flohen ihr entgegen, Panik strahlte aus deren Augen.
Andere standen erstarrt und wie Puppen herum, als Palmer sich zwischen ihnen hindurchdrängte. Ihre Augen folgten der Blickrichtung der verdatterten Leute und entdeckten einen riesenhaften Kraftprotz, der scheinbar wahllos um sich schlug. Als er sich umblickte, stach Palmer dessen Boxernase sofort ins Auge, welche die Geschichte eines früheren Bruchs des Nasenbeins erzählte. Ein kleinerer Mann, wie der andere ebenfalls in weißem Malerkittel, aber mit neoblauer Maske, folgte dem Riesen und presste seine Pistole an die Schläfe einer jungen Frau. Seine freie Pranke umkrallte deren Genick, drückte den Kopf nieder und stieß sie grob vor sich her.
Mit einem Blick erfasste Palmer die Situation. Die Menschen wichen zurück, einige waren in Panik geraten und stolperten in der dichten Menge übereinander. Einzelne Angstschreie erklangen, und die Unentschlossenheit starrte ihr aus den Augen der Umstehenden entgegen. Manche schienen auch nur zu gaffen, einige hatten ihre Smartphones gezückt und filmten die Szene. Das konnte – das durfte nicht wahr sein! Alex! Er wartete, und sie hatte ihm und wer weiß wie vielen anderen Leuten geschworen, dass sie sich aus solchen Dingen heraushalten würde. Der Bullige bewegte sich weiter durch die Menge, und Palmers Hand tastete wie von selbst nach ihrem Telefon. Die Polizei rufen, warum tat das niemand? Dort hinten standen Leute, die sich auch ihr Handy ans Ohr drückten, vielleicht aus genau diesem Grund. Es war auch verdammt unwahrscheinlich, dass sich hier nicht einer rührte, während am helllichten Tag eine Frau entführt wurde.
Ja, es war unvernünftig, wahnsinnig und gegen die Absprache, wenn sie jetzt …
Palmer bewegte sich wie von selbst in die Richtung, in welche die Entführer sich vorwärtsschoben.
Die Polizei kommt sicher gleich. Halt dich um Himmels willen raus!
Warum konnte sie das nicht? Warum schaffte sie es nicht ein gottverdammtes Mal, den Dingen ihren Lauf zu lassen? Ihre Füße bewegten sich weiter, als gehörten sie nicht zu ihr.
Wenn die Polizei zu lange brauchte, musste sie doch wenigstens herausfinden, wo die Kerle die Frau hinbrachten. Anschließend würde sie aus sicherer Distanz die Polizei informieren. Das konnte sie tun, es war kein Risiko. Es war ihre Pflicht. Dafür musste sogar Alex Verständnis haben. Sie konnte eine zweite Beerdigung verhindern, wenn sie …
Palmer setzte ihren Gitarrenkoffer auf der Straße ab, fasste den Jugendlichen zu ihrer Linken am Arm.»Pass auf diesen Koffer auf, verstanden? Ich bin gleich zurück.«
»Okay.« Es kam zögerlich, aber Palmer konnte nicht länger warten oder mit dem Jungen diskutieren.
Leichtfüßig und schnell setzte sie den Kerlen nach.
Die Kidnapper hatten ihre Geisel bereits bis zur Rampe des Universitäts-Parkhauses geschafft. Obwohl diese nur 50 Meter entfernt lag, präsentierte sie sich menschenleer.
Palmer holte auf, und das Beste war, dass die Kerle sie bisher nicht bemerkt hatten.
Der kräftige Große war einige Meter vorausgeeilt, der Kleinere blieb ihm mit der Geisel im Schlepptau dicht auf den Fersen. Dann wandte der Große plötzlich den Kopf. Sein Blick blieb an Palmer hängen, und sie nutzte die Sekunde, die er brauchte, um seinen Kollegen zu warnen.
Palmer schoss nach vorne. Von hinten kickte sie ihre Fußspitze dem Kleinen in die Niere. Ein Schmerzensschrei signalisierte ihr, dass sie die richtige Stelle erwischt hatte. Sofort setzte sie noch einmal nach, aber der Mann hatte den Griff um den Hals der Frau schon gelockert.
Mit einem weiteren Tritt gegen das Knie brachte Palmer ihn zu Fall. Sie trat die Waffe aus seiner Hand, die einige Meter davonschlitterte. Zu weit für ihn, um schnell an sie heranzukommen.
Sie packte den Arm der Frau, die heftig atmete und schluchzte.
»Weg von hier. Schnell.«
Sie riss die Geisel mit sich, kam aber nicht weit, bis die Frau wieder aufschrie. Der Große hatte sie eingeholt und die Frau ebenfalls am Arm gepackt.
Sie hatte nur eine Chance, sie musste schneller sein. Sie griff ihn an, allerdings wich er ihrem Fußtritt aus.
Palmer bog sich im Schmerz vornüber, als er seine Faust mit voller Wucht schwang und ihre Rippen streifte.
Hastig bückte er sich, fasste zu und machte Anstalten, sich die Frau über seine Schulter werfen.
Kopf voran stürzte sich Palmer in seine Beine. Mit beiden Armen versuchte sie, diese zu umklammern. Das funktionierte zwar nicht wie geplant, aber immerhin konnte die Frau sich losreißen.
Im Augenwinkel sah Palmer, wie der Kleinere es bis zu seiner Pistole geschafft hatte, sie packte und zu ihr herumriss. Er drückte ab, aber sie hatte sich blitzartig weggedreht.
Ein Geräusch drang an Palmers Ohren, das sie keinesfalls hatte hören wollen. Ein erstickter Ton, den sie leider kannte. Sie wagte es kaum, den Blick auf die junge Frau zu richten, die jetzt lautlos in sich zusammensank. Auf ihrem weißen Shirt breitete sich ein Fleck aus in der Form einer blutroten Blüte.
Zusammengekrümmt lag die Frau auf der Fahrbahn. Palmer kniete sich neben sie und warf zugleich einen hektischen Blick zum Schützen und seinem Kumpel. Sie machte sich bereit, die Frau am Arm über den Boden in Deckung zu zerren. Aber sie hörte deutlich, wie der Große seinem Kumpel zuschrie:
»Weg hier! Ins Parkhaus.«
»Ist ’ne Sackgasse.«
»Nein, zu Fuß hinten raus. Oder ich schließe uns einen Wagen kurz.«
Palmer beobachtete, wie beide die Rampe hoch stürmten, an der geschlossenen Einfahrtsschranke vorbei spurteten und im kühlen Halbdunkel des Parkhauses verschwanden.
Während es noch immer in Palmers Ohren pfiff, kam es ihr vor, als zöge sich die ganze Welt zu einem winzigen Raum zusammen. Ein heftiges Schwindelgefühl erfasste sie, als ihr klar wurde, was sich eben ereignet hatte. Während sie ihre Hand auf die blutende Wunde der Frau presste, gab sie sich die ganze Schuld. Wieso hatte sie sich eingemischt? Vielleicht hätten die beiden Kidnapper die Frau einfach laufen lassen. Sie trug die Verantwortung.
»Ist sie tot?«, fragte ein Mädchen mit weinerlicher Stimme.
Palmer legte dem Opfer die Fingerspitzen an die Seite des Halses. Ein riesiger Stein fiel ihr vom Herzen, denn sie fühlte einen schwachen, aber regelmäßigen Puls. Bevor Palmer etwas sagen konnte, schluckte sie leer und suchte sich mit der Zunge Speichel zusammen, um ihren trockenen Mund zu befeuchten.
»Ruft den Notarzt«, schrie sie in die Menge, die sich immer enger um sie drängte. Auf Palmers Aufforderung zückten einige ihr Handy und wählten.
Eine leicht übergewichtige Frau in engem rotem Fan-Shirt ging neben Palmer in die Knie, drehte den Kopf des Mädchens zur Seite, legte ihn auf ihre abgelegte Umhängetasche und gab Palmer Bescheid: »Ich leiste Erste Hilfe. Bin vom Fach.«
In den Knien knackte es laut, als Palmer sich erhob und erst einmal tief durchatmete.
Sogleich aber spürte sie ein Kribbeln, das kräftiger wurde, bis es ganz von ihr Besitz ergriff. Palmers Jagdtrieb war geweckt.
Aber statt wie ein Wolf den Räubern hinterher zu hetzen, gelang es ihr diesmal, sich zu beherrschen. Wenigstens hatte sie ein bisschen aus ihrer Vergangenheit gelernt. Keinesfalls wollte sie die beiden im Alleingang zur Strecke bringen. Nein. Mit Abstand würde sie der Spur der Täter folgen, um dann aus sicherer Distanz der Polizei deren Aufenthaltsort zu melden. Anschließend würde sie sich vollständig zurückziehen. Gleichzeitig wollte sie achtgeben, möglicherweise entdeckte sie bei den Tätern Hinweise zur Identifikation, zusätzliche Merkmale zum Schlangen-Tattoo, zur narbigen Augenbraue und der schiefen Nase, hinter welcher Palmer einen ehemaligen Boxer vermutete, oder jemanden, der anderweitig viel Pech gehabt hatte.
Mit einem Blick vergewisserte sie sich, dass die Frau im roten Shirt sich jetzt um die Verwundete kümmerte, dann ließ sie los.
Mit wachen Sinnen und in geduckter Haltung schlich Palmer die Rampe hoch und drang über die Ausfahrtspur ins Parkhaus ein.
Bis auf den letzten Platz mit Fahrzeugen belegt. Aber menschenleer.
Entfernt drangen Schlachtengesänge von Fußballanhängern an ihre Ohren.
Im spärlichen Licht entdeckte sie weder die beiden Täter noch Autofahrer auf dem Weg zu ihren Wagen. Einzig Fahrzeuge, geparkt in Reih und Glied, soweit das Auge reichte.
Trotzdem kauerte sie sich gleich bei den Damenparkplätzen tief hinter den ersten Wagen, einen knallroten Ferrari, flach wie eine Flunder. Nur Palmers Augen lugten über die Kühlerhaube, während sie überlegte, wie weit sie vorrücken durfte.
Ihr Kopf schreckte mit gerümpfter Nase zurück. Gleichzeitig verspürte sie das Bedürfnis, sich zu übergeben, als dieser ekelerregende Geruch in ihre Nase stach. Dann erst entdeckte sie die Lache von Pisse, in der sie kauerte. Glücklicherweise waren in die Gummisohlen ihrer Converse noch keine Löcher gelatscht.
Was tat sie hier eigentlich? Sah es so aus, wenn man aus früheren Fehlern gelernt hatte? Sie hatte schon wieder rein instinktiv reagiert. Alex – sie wagte sich kaum vorzustellen, was er sagen würde. Sie musste umdrehen, das hier war Wahnsinn, sie hatte nur dieser Frau helfen wollen, alles andere war Sache der Polizei …
Doch jetzt drangen von weit her zwei unverständliche Stimmen an Palmers Ohren. Eindeutig fochten da Männer einen Streit aus.
Ein kaltes Kribbeln zog in ihren Nacken, als ihr bewusst wurde, wie leichtsinnig sie gehandelt hatte. Nicht einen einzigen Gedanken hatte sie daran verloren, ob irgendwelche Komplizen die beiden Täter unterstützten, sie womöglich von hinten anfielen? Ihr Kopf schnellte herum, dann auf die andere Seite. Endlich atmete sie hörbar aus. Ihr Jagdtrieb war ein einziges Ärgernis. Warum hatte sie sich nicht zusammenreißen können? Sie hatte wirklich das Talent, alles noch schlimmer zu machen. Ob sie die Zeit hatte, Alex wenigstens Bescheid zu geben? Nein, jetzt gerade nicht …
Auf Fußspitzen und im Schutz von Autos rückte Palmer langsam vor, denn zumindest wollte sie sichergehen, dass sich die Verbrecher tatsächlich im Parkhaus aufhielten.
Jetzt stritten sich die beiden Räuber kaum 15 Meter vor ihr lauthals. Palmer verharrte in ihrem Versteck und hoffte, diese ganze Katastrophe würde sich noch ein ganz kleines bisschen zum Guten wenden, indem sie erfuhr, wohin die beiden von hier verschwinden wollten. Die Neonröhre über ihr flackerte und surrte, während sie vorsichtig um die Ecke schaute. Ja, dort standen sie. Andere Leute waren nicht zu sehen.
»Wir müssen weg hier. Keine Diskussion«, sagte der Kleine und machte Anstalten, sich abzuwenden, aber der Große riss ihn an der Schulter zurück.
»Das war anders abgemacht. Mit Waffen und Mordversuch will ich nichts zu tun haben. Verdammt.«
»Ist das mein Problem, wenn du zu naiv bist? Wenn du zu blöd bist für so einen Job?«
Als der Große etwas einwenden wollte, brachte ihn der Kleine mit einer harschen Geste zum Schweigen. »Du lässt dir die Maske von Gesicht reißen. Dann verkrallt sich die Tusse in deiner Hose.« Nun baute er sich direkt vor seinem Kumpel auf. »Den Wagen da abzustellen, war eine Scheißidee. So viel Munition hätte ich gar nicht gehabt, um uns den Weg durch die Reihen der Fußballfans freizuschießen.« Er schüttelte den Kopf. »Deine Aufgabe war, mir die Leute vom Hals zu halten und den Wagen zu fahren. Beides hast du verkackt.« Jedes einzelne Wort knallte er ihm wie Explosionen an den Kopf. »Es gibt genau zwei Arten von Raub. Jenen, bei dem die Täter davonkommen, und jenen, wo sie Zeugen hinterlassen. Verstehst du? Du bist eine totale Niete. Unbrauchbar.« Blitzschnell fasste der Große an die Maske des Kleinen und zerrte sie vom Hals hoch. Aber der Kleine wand seinen Kopf nach hinten und riss sofort seine Maske wieder ganz nach unten. »Spinnst du?«
»Pass bloß auf, oder ich falte dich zusammen«, warnte der Große zwischen fest aufeinandergebissenen Zähnen hindurch.
Aber der Kleine verstummte nicht. »Jetzt weißt du auch, weshalb du weder meinen Namen noch meine Adresse oder Telefonnummer kennst. Du Superhirni. Damit von dir nicht die geringste Spur zu mir führt.«
Nun ging der Große ganz dicht an den Kleineren heran, neigte seinen Kopf zu ihm hinunter, sodass er mit seiner Nase seinem Kumpel so nah wie möglich kam.
»Stirbt das Mädchen, schmore ich für Jahrzehnte hinter Gittern bei meinen Vorstrafen. Nee, nicht mit mir. So war das nicht vereinbart. Du zahlst mich jetzt aus, auf der Stelle. Und ich verdufte.«
»Oder was?«
»Oder ich verpfeif’ dich. Mit Mord hab’ ich nichts am Hut.«
»Bist du irre? Wir haben soeben das Bild geraubt. Dazu nehme ich doch dein Geld nicht mit.« Der Kleinere bog den Arm in seinen Rücken. Aber statt den Geldbeutel hervorzuziehen, umklammerte seine Hand plötzlich ein grob gezacktes Jagdmesser. »Pistolen nützen auf Distanz, sind aber laut. Stehst du nahe beim Gegner und willst leise sein, dann tut’s ein Messer viel besser.«
Verwirrt zog der Große die Augenbrauen zusammen, als er auf die gezackte Klinge blickte.
Mit wildem Schwung riss der Kleine das Messer hoch. Seitlich rammte er dieses seinem Kumpel hinter dem linken Auge in die Schläfe.
Palmer starrte wie gelähmt aus ihrem Versteck auf die Szene. Sie spürte, wie etwas ihre Eingeweide wie mit eisernem Griff zusammenquetschte. Da kurvte ein Wagen laut quietschend um die Ecke. Scheinwerfer kamen aus dem Dunkeln geschossen und tauchten sie in helles Licht.
Im selben Moment warf der Killer seinen Kopf herum. Er entdeckte Palmers angestrahlten Kopf.
Ihre Blicke trafen sich.
Der Mörder wusste, sie war die Zeugin. Er griff in seine Tasche und riss die Pistole hoch.
Palmer duckte sich.
Das Geschoss peitschte über ihren Kopf hinweg. Glas klirrte, als die Kugel mehrere Fahrzeugfenster durchbrach. Leise rieselte im fahlen Licht Putz zu Boden, nachdem sie in einer Wand eingeschlagen hatte.
Palmers Herz hämmerte wie wild.
Geduckt jagte sie zurück zur Einfahrt.
Nichts wie weg.
Der Mörder ihr dicht auf den Fersen.
Auf ihrer Flucht zwischen geparkten Wagen hindurch kickte sie einem Porsche gegen die Tür. Grell schrillte dessen Diebstahlsicherung.
Der einparkende Autofahrer entdeckte Palmers bewaffneten Verfolger. Als auch dieser auf ihn zu stürmte, öffnete er im richtigen Moment die Tür, sodass der Killer dagegen prallte.
Er taumelte.
Die Tasche mit dem geraubten Bild schlug ans Heck eines Wagens. Sogleich fand der Mörder sicheren Stand. Wutentbrannt, weil er die Zeugin entkommen sah, feuerte er auf den Fahrer. Zwei Kugeln bohrten sich in dessen Schulter und ließen ihn nach links kippen. Da die Tür offen stand, prallte sein Kopf beinah gegen den Boden. Sogleich versuchte der Kleine, den Fahrer aus dem Wagen zu zerren, aber dessen Beine hatten sich unter den Pedalen verkeilt.
Zu Fuß preschte er zur Ausfahrt.
Mit eingezogenem Kopf sprintete Palmer die Rampe hinunter. Unmittelbar, bevor sie im Riesenschwarm Fußballfans untertauchte und er sich in Gegenrichtung aus dem Staub machte, schrie der Mörder ihr nach:
»Dich werd’ ich finden. Ich mach’ dich kalt.«
Nichts wie weg von hier!
Palmer stieß und schob, als sie sich ihren Weg durch die Feiernden bahnte. Trotz sengender Sommerhitze breitete sich Gänsehaut über ihren Körper aus. Der Gedanke raste durch ihren Kopf, es wäre das Beste, sich mitten in der Masse auf den Boden zu hocken und zu hoffen, der Kerl fände sie nicht. Wobei er doch wohl nicht so blöd sein konnte, inmitten all dieser Menschen nach ihr zu suchen und sich der Gefahr auszusetzen, dass man ihn überwältigte.
Also entschied sie sich anders. Ohne sich umzusehen, kämpfte sie sich zum Seiteneingang des Bahnhofs vor, eilte Richtung gegenüberliegendem Ausgang, die vollverglaste rechte Seite entlang mit freiem Ausblick zu den Dampfschiffstegen. Es gab für Palmer nur einen Ort, an den sie jetzt dringend hinmusste. Zu Alex, der in seinem Wagen auf dem Reisebus-Anhaltplatz zwischen den Hotels Waldstätterhof und Monopol auf sie wartete.
Bei der Zentralstraße sprang Palmer, ohne zu stoppen, auf die Fahrbahn, wurde jedoch vom wütenden Hupen eines Lastwagenfahrers wieder auf den Gehsteig zurückgejagt. Sie warf dem Fahrer eine entschuldigende Geste zu, wartete einen Moment und versuchte es dann noch einmal. Diesmal bahnte sie sich den Weg etwas vorsichtiger zwischen den fahrenden Fahrzeugen hindurch.
Beim McDonald’s bog sie um die Ecke in die Frankenstraße ein – und blieb abrupt stehen.
Ihr zog sich der Magen zusammen.
Alex war weg.
Hastig zog sie das Handy aus ihrer Tasche.
»Keine Ahnung, wo du wieder steckst«, las sie auf dem Display. »Ich warte noch zwei Minuten, dann muss ich fahren.«
Shit, das Vibrieren der eingehenden Nachricht hatte sie nicht gespürt. Sie biss sich auf die Unterlippe. Er musste es geahnt haben. Hoch und heilig hatte sie Alex versprochen, sich nicht zu verspäten.
Palmer wählte seine Nummer, aber sogleich sprang die Sprachbox an, und sie erkannte, er hatte das Gerät ausgeschaltet, damit niemand die Begräbnisfeierlichkeiten durch einen Anruf störte.
Palmer überlegte, mit welchen Worten sie sich bei ihm entschuldigen sollte. Dann aber glitten ihre Gedanken zurück zum Schuss auf sie, der stattdessen eine unbeteiligte junge Frau getroffen hatte. Dann lief wie ein Film vor ihren Augen der Messermord des einen Ganoven an seinem Komplizen ab. Nun war es ihre Pflicht, ihre Beobachtungen der Polizei zu melden. Aber der Gedanke, an den Ort des Geschehens zurückzukehren, nahm ihr die Luft zum Atmen. Der Verstand sagte ihr zwar, der Mörder wäre bereits über alle Berge, und es wäre deshalb sicher, zum Parkhaus zurückzugehen. Der Mörder würde doch wohl nicht mit dem Bild unter dem Arm in der Menschenmenge nach ihr suchen. Oder doch? Als der Große versucht hatte, ihm die Maske vom Gesicht zu reißen, war dennoch fast das ganze Gesicht verhüllt geblieben. Somit würde Palmer ihn nicht identifizieren können. Aber wusste dies der Mörder? In Wirklichkeit konnte Palmer einzig darüber Auskunft geben, dass er einen weißen Malerkittel und eine neonblaue Maske getragen hatte, von mittlerer Statur und kräftig gebaut war. Solche Beobachtungen brachten niemanden hinter Gitter. Trotzdem konnte Palmer nicht ausschließen, dass er auf sicher gehen und sie beseitigen wollte, denn schließlich war sie die einzige Augenzeugin seiner Tat im Parkhaus gewesen. Schließlich siegte ihr Gefühl, und sie würde nicht an den Schauplatz der Tat zurückkehren, sondern einen anderen Ort aufsuchen.
Von der Frankenstraße her bog sie in die Hirschmattstraße ein, wobei sie regelmäßig einen Blick über die Schulter warf. Dann marschierte sie links weiter bis über den Pilatusplatz hinaus, bevor sie rechts in die Zähringerstraße einbog, wo sie einem Rollstuhlfahrer begegnete, der soeben von einem Junkie angepumpt wurde. Nach Überqueren der Kasimir-Pfyffer-Straße nahm sie mehrere Stufen auf einmal zum Haupteingang der Luzerner Polizei, wo auch die Kripo ihren Sitz hatte.
Hinter einer Glasscheibe thronend, tat ein freundlicher Polizist seinen Dienst. Er war mittleren Alters und leicht übergewichtig. Aus seinem rundlichen Gesicht guckten Augen, die gerne lachten. Er strahlte jede Menge Ruhe aus, als er wortlos die Augenbrauen hochzog und Palmer klarmachte, sie genieße seine volle Aufmerksamkeit.
»Mein Name ist Palmer. Ich bin Zeugin eines Mordes geworden. Heute Nachmittag.«
Augenblicklich knipste er sein Lächeln aus. »Heute Nachmittag? Beim Parkhaus auf Seite der Uni?«, fragte er mit einer jener dröhnenden Stimmen, bei der man sein Handy automatisch ein Stück vom Ohr weghielt.
Palmer schürzte die Lippen und nickte.
Er griff zum Hörer und wählte zwei Nummern, dann wies er mit seiner Hand zur gegenüberliegenden Wand und bat Palmer, sich in den Wartebereich zu setzen, es werde jemand kommen und sie abholen. Während sie zu den Sesseln schlurfte, vernahm sie, wie er nochmals mit seinem Finger auf die Tasten hackte und dann zackige Worte sprach.
Als sie Alex noch einmal anrief und wieder der Beantworter ansprang, sprach sie drauf:
»Alex, entschuldige bitte, dass ich dich verpasst habe. Du kannst dir gar nicht vorstellen, was alles passiert ist. Ich bin jetzt bei der Luzerner Polizei. Ich melde mich wieder.«
Palmer wippte unruhig mit den Füßen. Sie hatte bereits 20 Minuten gewartet, als zwei Jugendliche durch die Tür zum Empfang traten, eine junge Frau im beigefarbene Faltenrock, der Junge in Bundfaltenhose und mit peniblem Scheitel. Obwohl die Frau näher beim Schalter stand, drängte er sich an ihr vorbei zur Glasscheibe und gab sich als der Anrufer zu erkennen, der den Raub des Bilds telefonisch gemeldet und die Polizei alarmiert habe. Noch während er sprach, tippte die Frau ihn mit dem Zeigefinger an den Arm und gab ihm Zeichen in Gebärdensprache.
»Danke, dass Sie vorbeigekommen sind«, sagte der Polizist. »Ich werde jemanden rufen, der Ihre Aussage aufnimmt. Nehmen Sie bitte dort drüben Platz.«
Der Junge blieb jedoch an Ort und Stelle, stemmte seine Hand in die Hosentasche, zog seine Bankkarte heraus und las dem Mann am Schalter die Kontonummer vor.
»Äh, was soll ich damit?«, fragte der Uniformierte.
»Sie zahlen doch sicher eine Prämie aus, weil ich den Raub auf Video aufgezeichnet habe.«
»Auf Ihrem Handy?« Mit dem Kinn nickte er in Richtung des Geräts, das der Junge in der Hand hielt. »Dann legen Sie das Gerät doch bitte hier in die Durchgabemulde.«
Der Junge tat, wie ihm geheißen. »Wie läuft das jetzt mit der Belohnung?«
Der Mann hinter dem Schalter nahm das Handy an sich, legte den Kopf schräg und bedachte den Jungen mit einem mitleidigen Blick. »Wie lautet der Code?«
»Moment.« Der Junge stieß ein kurzes höhnisches Schnauben aus. »Code gegen Belohnung. Ganz einfach.« Er hob seine Nase.
»Sicherheitshalber bleibt das Gerät hier«, antwortete der Mann hinter der Glasscheibe. »Wahrscheinlich hat die Überwachungsanlage den Raub lückenlos aufgezeichnet. Aber wir gehen da kein Risiko ein.«
»Freund und Helfer? So ’ne Scheiße. Die Medien hätten mir was bezahlt dafür. Was soll ich jetzt ohne Handy?«
»Bevor wir das Video der Tat nicht in unser System überspielt haben, erhalten Sie Ihr Gerät nicht zurück. Setzen Sie sich dort drüben hin. Es wird sich jemand um Sie kümmern. Den Code teilen Sie dann meinem Kollegen mit.«