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Chris Palmer ahnt nichts Böses, als sie die Tür ihres Hauses am See offenstehen lässt. Doch als die siebzehnjährige Lucie verstört in ihr Leben stürzt, beginnt für die Detektivin ein Albtraum. Lucie gesteht ihr panisch, auf der Flucht vor einem Mann zu sein, den sie in Notwehr niedergestochen habe. Palmer will dem Verletzten helfen. Aber als die Polizei am Tatort eintrifft, ist Lucie verschwunden - samt Palmers Ersparnissen - und die Detektivin steht unter Mordverdacht …
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Seitenzahl: 392
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Bruno Heini
Jetzt bist du fällig!
Thriller
Flucht ins Verderben Chris Palmer kehrt erschöpft von der Arbeit heim und trifft dort auf die verstörte Lucie, die die Detektivin mit blutverschmierten Händen um Hilfe anfleht. Die Siebzehnjährige erklärt, sie habe in Notwehr auf einen Mann eingestochen. Trotz Bedenken eilt Palmer zum Verletzten, doch er ist bereits tot. Als die Polizei eintrifft, ist Lucie spurlos verschwunden. Da die Ermittler Blut an Palmers Händen und das Tatmesser in ihrer Wohnung finden, gerät sie unter Mordverdacht und wird verhaftet. Obwohl Palmer kurz darauf freikommt, bleibt der Verdacht bestehen. Entschlossen, ihre Unschuld zu beweisen, begibt sich Palmer auf die Suche nach Lucie und findet sich bald in einem Netz aus Lügen und kriminellen Machenschaften wieder. Je näher die Detektivin der Wahrheit kommt, desto tiefer wird sie in einen verhängnisvollen Strudel gezogen. Die Situation eskaliert, als ein zweiter Mann tot aufgefunden wird. Im finalen Showdown kämpft Palmer nicht nur um Lucies, sondern auch um ihr eigenes Leben.
Bruno Heini lebt mit seiner Frau Judith und den beiden Katern Jimmy und James über den Dächern von Luzern. Nach seinem packenden Thriller „Teufelssaat“ folgten die spannungsgeladenen Bestseller „Engelsknochen“, „Höllenwut“, „Deine Zeit läuft ab“ und „Auf die Knie!“. Nun sorgt er mit seinem neuesten Werk „Jetzt bist du fällig!“ für weitere atemlose Spannung. Heinis Bücher erreichen regelmäßig Spitzenplätze in der Schweizer Taschenbuch-Hitparade und fesseln Leserinnen und Leser mit ihren unerwarteten Wendungen und nervenaufreibenden Handlungen.
Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Satz/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © sanniely / iStock.com
ISBN 978-3-7349-3238-0
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
Was für eine blöde Idee. Mitten durch die Stadt mit dem Wagen, um diese Tageszeit! Doch das Gespräch mit dem Kunden hatte erheblich länger gedauert, sodass die Geschäfte längst geschlossen waren, als sie sich endlich von CEO Nussbaumer verabschieden konnte. Stoßstange an Stoßstange schoben sich die Autos schwerfällig voran. Auf der vierspurigen Seebrücke blieb ihr nichts anderes übrig, als sich sogar in die linke Spur zu stellen, auf der sich der Verkehr nicht einmal mehr im Schneckentempo vorwärtsquälte. Die Öffnungszeiten der Läden im Bahnhof-Shopping kannte sie nicht, hoffte jedoch, sie würde dort zumindest das Nötigste finden: Tiefkühlpizza, Dosenbier, Wein und Katzenfutter. Erst ein Blick auf die Uhr, dann wischte sie sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Stirn. Hinter dem Steuer fühlte es sich an, als wäre sie in einer Sauna gefangen, denn ihr Datsun Pickup, Baujahr 1973, verfügte nicht über den Luxus einer Klimaanlage. Selbst jetzt, zum Tagesfinale, zog bei herabgedrehten Fenstern nicht das leiseste Lüftchen durch den Wagen, sodass ihr die Bluse unangenehm auf dem Rücken klebte. Die Schönheit der mittelalterlichen Wahrzeichen wie der Wasserturm und die Kapellbrücke sowie der Pilatus, der majestätisch über Luzern thronte, vermochten für heute nicht ihre Laune zu verbessern. Stattdessen schaute sie sehnsuchtsvoll zum dunklen See, welcher in glitzernden Reflexionen den lavendelfarbenen Himmel widerspiegelte. Im Zwielicht der hereinbrechenden Dunkelheit machte sie die Silhouette der Alpen in der Ferne gerade noch aus, insbesondere jene Bergspitzen, die sogar zum Sommerende noch von gefrorenem Weiß bedeckt waren. Ach, wie sehr Palmer jetzt danach dürstete, ihr Gesicht in erfrischenden Schnee zu tauchen.
Erst als sie endlich an der Kasse stand, begriff sie, dass sie zu wenig Geld dabeihatte. Ihre Karte hatte sie schon übermäßig belastet und war jetzt für weitere Einkäufe gesperrt. Das Handy hatte sie blöderweise im Auto liegen lassen, so konnte sie auch keine Bezahl-App nutzen. Wohl oder übel nahm sie die Pizzaschachteln vom Laufband, um wenigstens das Bier, den Wein und das Katzenfutter zu bezahlen. Für den nächsten Tag plante sie auszuschlafen und nicht noch einmal zum Einkaufen die Wohnung zu verlassen, bevor die ersten Gäste gegen Mittag eintreffen würden. Zum Glück hielt sie Pelatikonserven und Spaghetti auf Vorrat. Und in einem ihrer Blumentöpfe auf dem Balkon wuchs Basilikum. Statt Fertigpizza war heute noch Kochen angesagt.
Palmers Gedanken wanderten unruhig zurück zum Gespräch mit CEO Nussbaumer, denn seinen Auftrag benötigte sie dringend. Dass die Bestätigung dafür noch ausstand, ließ ihr keine Ruhe. Erwartungsvoll hatte sie sich bei ihm beworben, war dann aber über sein Interesse und die Einladung zum Gespräch dennoch überrascht. Und als sie dem CEO gegenübertrat, spürte sie seine Skepsis. Sein argwöhnischer Blick verriet sofort, dass er aufgrund ihres jugendlichen Aussehens wohl ihre Erfahrung und ihr Fachwissen anzweifelte. Doch Palmer ließ sich davon nicht beirren. Ruhig erklärte sie ihm, dass sie mit ihren knapp 30 Jahren wohl in etwa gleich alt war wie er und bereits mehrere Projekte erfolgreich zum Abschluss geführt hatte, wenn auch nicht mit eigener Firma. Als Nussbaumer mit ihrer Antwort zufrieden schien, begann sich die Anspannung in Palmers Körper zu lösen. Es war ein kleiner erster Sieg, und sie wusste, dass sie diesen Moment nutzen musste. Sie spürte den Druck, der auf ihren Schultern lastete. Dieser Auftrag, falls sie ihn denn erhielte, würde ihre persönliche berufliche Karriere auf ein neues Level heben. Doch es war mehr als das. Sie wollte sich selbst und der Welt beweisen, dass sie es alleine schaffte. Dennoch schlichen sich Zweifel in ihren Kopf. Insgeheim gab sie zu, dass sie sich ohne Alex an ihrer Seite ein kleines bisschen unsicher fühlte. Obwohl sie es war, die den Schlussstrich in der Beziehung gezogen hatte, musste sie sich eingestehen, dann und wann seine ruhige Art und auch die klugen Ratschläge zu vermissen. Palmer wusste, dass sie ohne ihn nicht da wäre, wo sie heute stand. Er war es gewesen, der sie ermutigt hatte, in die Selbstständigkeit zu wechseln. Als sie jetzt an Alex dachte, überkam sie ein Gefühl der Wehmut. Sie fragte sich, ob er stolz auf sie wäre, denn sie war überzeugt, sie würde diesen Auftrag an Land ziehen. Ohne weitere Hilfe von Alex.
Endlich dirigierte Palmer ihren Wagen über den Inseliquai um die Universität herum, wo der Verkehr nicht staute. Als sie etwas mehr Gas gab, knirschte der Motor eindeutig zu laut. Nun gut, der Kilometerzähler zeigte eine sechsstellige Ziffer und war bereits vor Jahren stehen geblieben. Mit einigen matten Flecken auf der Karosserie konnte sie leben, denn ihr Auto fuhr, und das war es, was zählte. Solange die Reifen genügend Profil aufwiesen und die Scheibenwischer tadellos funktionierten, musste ihr der Datsun genügen, denn ihr Budget ließ den Kauf eines Gebrauchtwagens nicht zu, obwohl die Kosten für die Reparaturen allmählich den möglichen Kaufpreis überstiegen.
Kaum war die Werftestraße in den Alpenquai übergegangen, entdeckte sie einen freien Parkplatz und erwischte die Kurve gerade noch, ohne zurückzusetzen. Zwar erwartete sie von hier aus ein knapp 300 Meter langer Fußmarsch bis nach Hause, aber wie sie aus Erfahrung wusste, würde sie an einem sonnigen Abend hier bei der Ufschötti-Wiese keinen freien Parkplatz finden, wenn Hunderte in diesem Park am See den Feierabend genossen. Als sie die Wagentür aufstieß, protestierten die Angeln mit lautem Quietschen. Dann knirschte Split unter ihren Schuhen, als sie über den Gehweg Richtung Wohnung schritt. Den Karton mit den Einkäufen trug sie beidhändig vor ihrer Brust, während auf dem Weg nach Hause übermütiges Vogelgezwitscher aus nahen Büschen und Partylärm von der Wiese an ihre Ohren drangen. Als sie hinüberblickte, sah sie eine junge Frau, die sich unter starker Verrenkung mit Creme einrieb, während ein älterer Mann auf demselben Badetuch lag und in einem Magazin blätterte, ohne ihr zur Hand zu gehen.
Auf halber Strecke näherte sie sich einer fremden schwarz-weiß gefleckten Katze, die bewegungslos in eine Hecke starrte. Palmer blieb stehen, weil sie wusste, was die Katze im Schilde führte.
»Na, du kleiner Streuner«, sagte sie, ging neben der Katze in die Knie und stellte den Karton mit den Einkäufen auf den heißen Boden. Palmer hatte schon immer ein weiches Herz für Tiere gehabt und konnte jetzt nicht anders, als ihr mit der Hand übers Fell zu fahren. Dann griff sie in den Karton, öffnete den Beutel mit Trockenfutter und bot ihr eine Portion an. Da die Katze begann, mit Appetit die Körner zu fressen, lächelte Palmer zufrieden und streute eine zusätzliche Handvoll auf den Asphalt.
»Dafür bläst du deine Jagd jetzt ab«, sagte sie streng. Die Katze sah kurz hoch, legte den Kopf schräg, und es schien Palmer, als habe sie verstanden. Als sich Palmer in den Stand erhob und weitermarschierte, breitete sich in ihr das gute Gefühl aus, ein unschuldiges Vogelleben gerettet zu haben.
Kurz darauf erreichte sie das Bootshaus des Ruderklubs, in welchem sie alleine das Obergeschoss bewohnte, zusammen mit ihrem schwarzen Kater Sandman. Während sie den Briefkastenschlüssel hervorkramte, erkannte Palmer, dass direkt vor dem Bootshaus ein Parkplatz frei gewesen wäre. Palmer drückte die Klinke der Gartentür herunter und schob sie hinter sich ins Schloss. Sie war müde und wollte einfach nur noch etwas essen, trinken, die Füße hochlagern und über ihren Tag nachdenken. Aus dem Briefkasten zog sie einen Brief, den sie sofort öffnete. Eine Mahnung. Ein lauter Seufzer entfuhr ihr, während sie den Umschlag in den Karton mit den Einkäufen steckte. Es war höchste Zeit, ihre Finanzen in den Griff zu bekommen. Andererseits – würde sie alle Rechnungen stets pünktlich bezahlen, würde sie wohl gar keine Post mehr erhalten. Erst gestern hatte sie wohl oder übel ein lieb gewonnenes Erinnerungsstück aus ihrer früheren Musikkarriere verkauft, damit sie wenigstens die überfällige Miete würde begleichen können.
Als sie die Wohnungstür öffnete, schlug ihr ein Schwall backofenheißer Luft entgegen und begrüßte sie wie ein unerträglicher alter Feind. Den ganzen Tag über hatte die Sonne ihre Wohnung unbarmherzig aufgeheizt.
Sie ließ die Tür offenstehen und stapfte müde die Holzstufen hoch, während der auffällige Geruch nach Harz in ihre Nase drang. In der Küche stellte sie den Karton ab, dann begann sie, alle Fenster aufzureißen, obwohl sie wusste, dass die Hitze sich in der Wohnung festgekrallt hatte und sich nicht so schnell wieder verziehen würde. Zurück in der Küche griff sie sich eine eiskalte Dose Bier aus dem Kühlschrank. Damit schritt sie schnurstracks durchs Wohnzimmer und stellte sich auf den Balkon zum See. Hier rollte sie zuerst die Dose über die Stirn. Danach ploppte es laut, als sie die Lasche aufknipste und sich sogleich mit geschlossenen Augen einige herzhafte Schlucke gönnte. Sofort spürte sie, wie sich die Kühle in ihrem Körper ausbreitete und sie entspannte.
Palmer blickte hinunter zum Bootssteg. Wider Erwarten fanden sich heute dort, wo sie normalerweise ihre Rennboote aus dem Wasser hievten, keine Ruderer des Klubs, um auch abends noch über ihre Trainingsfortschritte zu plaudern. Aber sogleich erinnerte sie sich, dass zurzeit auf einem weit entfernten Kontinent Weltmeisterschaften stattfanden, bei denen zwei der Boote dieses Ruderklubs zu den Medaillenfavoriten zählten. Vor ihrem geistigen Auge sah sie die Klubmitglieder, wie sie jetzt vor dem TV hockten und bei den Rennen mitfieberten.
Zurück im Wohnzimmer zog sie Handy und Portemonnaie aus der Businesshose und legte beides auf den Sofatisch. Zu dumm, dass sie nicht einen Teil des Geldes vom Verkauf der Gitarre heute dabeigehabt hatte, dann wäre doch noch eine Pizza drin gewesen. Palmer ging zum Regal und zog zwischen zwei Büchern den Umschlag mit der Kaufsumme heraus. Sie nahm das Geldbündel, wog es kurz in der Hand. So schade, dass sie sich davon umgehend wieder verabschieden musste. Mit etwas Mühe stopfte sie das Geld in ihre Börse. Gleich morgen würde sie die Miete zahlen und so auch nicht in Versuchung kommen, das Geld für etwas anderes auszugeben. Es tat weh zu wissen, dass dieses Bündel bis gestern ihre geliebte Gitarre gewesen war. Um sich von diesem Gedanken abzulenken, widmete sie sich ihrer Plattensammlung. Sie wusste, dass es Musik jetzt schaffen würde, sie zu entspannen, denn eine erfrischende Dusche wollte sie sich erst nach den anstehenden Arbeiten für die Party gönnen. Ohne lange zu überlegen, entschied sie sich für »Whole Lotta Love« und zog die LP von Led Zeppelin aus der Reihe. Sie ließ die Platte herausgleiten und legte die abgegriffene Hülle auf dem Couchtisch ab. Mit geschickten Fingern stülpte sie das Loch der Platte über den Stift des Plattentellers, setzte den Tonarm an die richtige Stelle und drehte den Verstärker voll auf, denn sie wollte die Vibrationen der Musik am Körper spüren. Aus den Lautsprechern ertönte erst ein lautes Knacken, bevor der Sound über sie hereinbrach. Der stampfende Beat und die verzerrten Gitarrenriffs füllten nicht nur den Raum, sondern ergossen sich aus den offenstehenden Fenstern bis hinaus ins Freie. Erst ließ sie sich von der Musik einige Momente lang mitreißen, dann ergriff sie vom Sofatisch ihre ausgedruckte Einladung, von der sie zahlreiche Duplikate an ihre Freunde verteilt hatte. Ihr Blick flog nochmals über die Zeilen:
Da ich den Überblick verloren habe, wer von euch sich der veganen oder vegetarischen Lebensweise hingibt, von Zöliakie geplagt wird, sich entschieden hat, Gluten oder Laktose nicht zu vertragen, oder Schweinefleisch ablehnt, ist es jedem selbst überlassen, sein eigenes Mahl mitzubringen. Ich kümmere mich gebührend um Bier, Wein und reines Wasser, angenehm kühl aus dem Hahn.
Die ersten Freunde würden bereits gegen Mittag eintreffen, andere nach und nach aufkreuzen.
Palmer graute vor den anstehenden Arbeiten, denn es blieb viel zu tun, damit sich die Gästeschar amüsieren konnte, um dann am Abend gemütlich von ihrem Balkon aus das Feuerwerk, das die Luzerner Hotels für ihre Gäste veranstalteten, zu verfolgen. Aber da Palmer morgen unbedingt ausschlafen wollte, bedeutete dies, dass sie die Vorbereitungen wohl oder übel bereits heute zu treffen hatte. Auf dem Weg in die Küche warf sie einen kurzen Blick auf den Boxsack, der schwer neben dem Sofa von der Decke hing. Im Vorbeigehen drehte sie sich blitzschnell und versetzte ihm einen mächtigen Kniestich. Das Patschen klang, als ob eine Melone auf dem Boden zerplatzte. Kickboxen machte ihr schon seit Jahren Spaß, doch für eine Trainingsrunde war es ihr heute zu heiß.
Ihre Arbeiten wollte sie damit beginnen, die Girlande vor die Tür zu hängen, die sie vom vergangenen Jahr aufbewahrt und gestern auf der Kommode im Flur bereitgelegt hatte.
»Herzlich Willkommen«, flüsterte sie, während sie danach griff. Die Holztreppe quietschte, als sie zum Eingang hinunterstieg.
Bei der offenen Haustür atmete sie mit geschlossenen Augen tief durch und genoss den zarten Luftzug, der leicht kühlend über ihre feuchte Gesichtshaut strich. Als sie die Augen öffnete, erschrak sie, denn die schwarz-weiße Katze, die sie kurz zuvor gefüttert hatte, hockte direkt vor ihren Füßen und blickte zu ihr hoch. Palmer kauerte sich nieder und kraulte sie zwischen den Ohren. Als dann die Katze versuchte, an ihr vorbei in die Wohnung einzudringen, musste Palmer eingreifen.
»Das gäbe ein schönes Gemetzel«, sagte Palmer mitleidig. »Gegen meinen kampferprobten Kater hättest du keine Chance.« Erneut verschob Palmer ihr Knie, um die Katze am Einmarsch zu hindern. Aber diese gab nicht auf, sondern versuchte, sich daran vorbei in die Wohnung zu schlängeln. Als Palmer sie mit der offenen Hand zurückschob, kam ein unwilliges Geräusch aus dem kleinen pelzigen Körper, und das Nächste war ein schmerzerfülltes Zischen aus Palmers Mund, während die Katze in großen Sprüngen durch den Garten davonsetzte und in den Büschen verschwand.
»Verdammt.« Ein dünnes Blutrinnsal floss über Palmers Hand. Das Vieh hatte sie tatsächlich zwischen Daumen und Zeigefinger gebissen und das nicht zu knapp. Waren Katzenbisse nicht verdammt gefährlich? Sie musste das gleich desinfizieren.
Palmer stand auf und wedelte mit der verletzten Hand, um den stechenden Schmerz abzuschütteln – natürlich völlig erfolglos. Dafür rann etwas Dunkles über den Zeigefinger, löste sich vom Nagel und fiel als Tropfen auf die Türschwelle. Frustriert stieß Palmer den Atem aus.
Da tust du mal eine gute Tat und wirst sogleich dafür bestraft.
Mit schmerzvoll verzerrtem Gesicht montierte sie die Girlande an die alten Nägel über dem Eingang, direkt unter die strahlend helle Leuchte über der Tür. Um die zarte Luftbewegung vom Garten her auch weiterhin in die Wohnung strömen zu lassen, ließ sie die Tür offenstehen. Erst als sie in die Wohnung hochstieg, erkannte sie, dass sie sich einige Tropfen Blut aus ihrer pochenden Wunde auch auf ihre weiße Businessbluse geschüttelt hatte.
Die Panik drohte sie zu überwältigen, als er erneut nach ihr griff. Sie hatte einen Fehler gemacht, einen schweren Fehler – oder sogar mehrere, aber jetzt musste sie nur noch eines tun: lebend von hier wegkommen, so schnell wie möglich. Mit all ihrer Kraft stieß sie ihn von sich und wollte schreien, irgendwen auf sich aufmerksam machen, aber seine raue Hand traf ihr Gesicht, ihr Kopf flog nach hinten, und sie verlor kurz die Orientierung. Ein harter Griff an ihrem Handgelenk. Warum hatte er noch immer solche Kraft? Sie kämpfte verbissen, hörte auch sein schmerzerfülltes Keuchen und schlug wild um sich, denn sie wusste, dass sie sterben würde, wenn es ihr nicht gelang, ihn abzuschütteln. Mit einem kräftigen Ruck befreite sie ihren Arm, und ihr Ellbogen traf sein Gesicht, dann entwand sie die andere Hand seinem Griff. Ein Atemzug lang Hoffnung – sie konnte es schaffen! Ein Schlag gegen ihren Kopf, gefolgt von einem dumpfen Schmerz, dann packte er sie erneut, und sie bäumte sich auf, seine Finger glitten hart über ihr Gesicht. Sie fühlte ein Brennen an ihrem Mundwinkel. Er hatte ihr mit dem Fingernagel die Lippe aufgerissen!
Weg, sie musste weg hier! Seine Finger krallten sich jetzt in ihr Shirt. Für zwei Sekunden tat sie so, als wäre sie erschlafft, als hätte sie aufgegeben. Er zog sie zu sich heran, sie fühlte die Hitze seines Körpers auf ihrer Haut. Ein Schrei kam über ihre Lippen, und sie schmetterte mit aller Kraft, Wut und Angst, die in ihr steckten, ihre Faust in sein Gesicht. Er stöhnte auf und ließ tatsächlich kurz von ihr ab. Sofort rollte sie sich zur Seite, ihr Körper ein einziger Schmerz. Sie stemmte sich hoch, versetzte ihm einen Tritt in die Seite und dann rannte sie. Sie rannte um ihr Leben.
Vorwärts, so schnell sie konnte, immer weiter weg von diesem Wahnsinnigen. Die Flip-Flops klatschten an ihre Fußsohlen, und ihr Herz pochte wie wild, als sie über den weichen Rasen hetzte. Der Schmerz in ihrem Auge wurde unerträglich, aber sie ignorierte ihn und stürmte weiter. Sie wimmerte, wagte es nicht, sich umzudrehen, denn es kam ihr vor, als spürte sie seine bedrohliche Gegenwart im Nacken. Auch noch ihre letzten Kräfte mobilisierte sie, obwohl sie kaum noch Luft bekam. Sie hätte auf der Wiese zu anderen Leuten hinrennen können, aber schon bei ihrer Ankunft hier war ihr der harzige Geruch von Cannabis in die Nase gestiegen. Sich auf bekiffte, angetrunkene Fremde zu verlassen, wenn es um ihr Leben ging – unmöglich! Nein, sie musste weg von dieser Wiese. Ein metallischer Geschmack im Mund machte ihr bewusst, dass sie Blut schmeckte. Als der Schmerz erneut durch ihre Lippe schoss, erinnerte sie sich, dass er ihr die Wunde zugefügt hatte, als sie sich, wild um sich schlagend, von ihm losgerissen hatte. Allerdings spürte sie auch etwas Nasses auf ihren Händen. Dies musste sein Blut sein.
Noch während sie rannte, redete sie sich ein, dass es nicht falsch war, was sie getan hatte. Jeder in dieser Situation hätte genauso gehandelt.
Sie musste an einen Ort, an dem sie sich verstecken, wo er sie nicht erreichen konnte.
Sie war ihm in die Falle gegangen, hatte sich wahrscheinlich selbst überschätzt. Warum hatte sie das getan? Was war los mit ihr? Irgendwo in einem entfernten Teil ihres Bewusstseins verbarg sich die Antwort, aber das konnte sie gerade nicht ertragen. Nicht jetzt! Jetzt musste sie weg, weg von der Wiese, hin zu den Häusern. Sie übersprang die niedere Hecke zum Gehsteig. War sie hier sicher? Oder lief sie in eine Falle? Verfolgte der Kerl sie noch immer? Statt anzuhalten und ihre Gedanken zu ordnen lief sie nach links und rannte die Straße entlang. Als sie sich dem ersten Haus näherte, vernahm sie Musik und verlangsamte ihr Tempo.
Palmer kauerte im Bad und wühlte entnervt im Schränkchen unter dem Lavabo, da sie hier das Notfallset vermutete. Sie musste die blutende Bisswunde desinfizieren, bevor sich eine schlimme Infektion ausbreitete. Während sie die fremde Katze zum Kuckuck wünschte, dachte sie an ihre Einladung zur Party und war erleichtert, dass sie mit dieser Wunde zumindest morgen nicht kochen musste, da jeder seine eigenen Speisen mitbringen würde. Nun hockte sie im Bad auf den Fersen und überlegte, ob sie etwas von ihrem Whiskey opfern und über die Verletzung gießen sollte. Sie zögerte, denn sie wusste aus Erfahrung, dass dies zwar tierisch brennen, jedoch die Blutung nicht stoppen würde. Außerdem bestand die Gefahr, dass der Whiskey die Wunde reizte und die Heilung verzögerte. Nein, sie musste das Desinfektionsmittel finden. Eine Blutvergiftung war das Letzte, was sie jetzt gebrauchen konnte. Sie hob den Arm und wischte sich mit dem Ärmel den Schweiß von der Stirn. Gerade als sie sich einen Platzregen oder gar einen Sturm mit eisigem Wind und peitschendem Regen wünschte, erschütterte ein heftiger Knall ihr Haus.
Palmer schoss hoch.
Dann machte sie die Musik aus und horchte.
Da sie Geräusche beim Eingang vernahm, eilte sie über die Dielen, machte bei der Treppe das Licht an und sah nach unten. Dort erblickte sie eine junge Frau, die hektisch am Schlüssel der zugeknallten Tür herumfummelte, bis sie ihn endlich drehte. Während Palmer hinuntereilte, drückte und zerrte die Frau an der Klinke, um zu prüfen, ob die Tür auch tatsächlich verriegelt war. Dann ließ sich die etwa 17-Jährige laut keuchend mit dem Rücken gegen die Tür fallen und sank zu Boden. Aus ihrem Mund kamen erbärmliche, wimmernde Laute.
Palmer stieg die Treppe hinunter.
Trotz des schummrigen Lichts erkannte sie nacktes Entsetzen im Gesicht des Mädchens, das die Arme fest um sich geschlungen hatte.
»Wer bist du?«, fragte Palmer. »Was ist passiert?«
Das Mädchen antwortete nicht, saß jetzt nach vorn gebeugt da und zitterte am ganzen Leib.
Palmer kniete sich neben sie.
»Helfen Sie mir«, stieß das Mädchen panisch hervor. »Der will mich töten!«
»Wer will dich töten?« Palmer versuchte, Ruhe auszustrahlen, aber das Mädchen antwortete nicht, sondern schnappte unkontrolliert nach Luft, als stünde es kurz vor einer Panikattacke.
»Komm, wir gehen nach oben«, sagte Palmer und reichte dem Mädchen die Hand, das aber nicht reagierte. »Die Tür ist verriegelt, hier bist du in Sicherheit.«
Es dauerte einen Moment, bis das Mädchen sich aufrichtete. Nach wie vor hatte es die Arme fest um sich geschlungen. Gemeinsam stiegen sie die Treppe hoch, während die junge Frau hörbar atmete. Was war ihr zugestoßen? Palmer musterte sie unauffällig von der Seite, um ihr Erscheinungsbild einzuordnen. Sie trug ein Designer-Top zu Shorts, die aufhörten, bevor sie richtig anfingen. In ihrem Nasenflügel steckte ein Piercing, und an ihrem Arm glaubte Palmer mehrere goldene Armreifen zu erkennen mit dem geschnörkelten Logo einer kostspieligen Marke.
Oben angekommen blieb das Mädchen abrupt stehen und wandte sich Palmer zu. In ihren Augen lag ein flehender Ausdruck.
»Der ist auf mich losgegangen. Einfach so.« Ihre Lippe zitterte. »Ich musste mich doch wehren. Das musste ich doch. Oder?«
Palmer kniff die Augen zusammen.
»Okay. Erst mal ganz ruhig. Was genau ist passiert? Wer hat dich angegriffen und warum?«
Sie sah Palmer hilflos an und irgendwie durch sie hindurch, die Arme immer noch an ihren Leib gepresst, sodass man ihre Hände nicht sehen konnte. »Er hatte ein Messer. Er wollte mich umbringen. Verstehen Sie? Ich wäre jetzt tot, wenn ich nicht …« Ihr Blick verirrte sich wieder, sie konnte Palmer nicht mehr in die Augen sehen. Das Mädchen taumelte nach vorne, Palmer fing sie auf, bevor sie fallen konnte, und stellte sie wieder auf die Füße.
»Entschuldigen Sie«, flüsterte das Mädchen. Sie stand vollkommen neben sich.
»Komm erst mal mit.« Palmer schob sie vorsichtig ins Wohnzimmer bis zum Sofa.
»Setz dich«, sagte Palmer und schritt in die Küche. Sie musste davon ausgehen, dass das Mädchen einen Schock hatte und man nicht alles, was sie sagte, für bare Münze nehmen durfte. In einem solchen Zustand konnten sich manche Menschen nicht mal an ihre Adresse oder gar den eigenen Namen erinnern. Sie holte ein großes Glas aus dem Schrank, füllte es mit kaltem Wasser aus der Leitung und ging zurück ins Wohnzimmer. Sie hatte damit gerechnet, dem Mädchen das Wasser vielleicht sogar einflößen zu müssen, aber die junge Frau griff mit beiden Händen nach dem Glas, das Palmer ihr reichte. Dabei verschüttete sie einen Teil des Wassers auf den abgenutzten Orientteppich, bevor sie gierig zwei Schlucke nahm. Palmer starrte sie an. Blut. Da war jede Menge Blut auf den Händen und dem Shirt des Mädchens.
»Bist du verletzt?« Vielleicht hatte sie sich deshalb die ganze Zeit die Arme an den Leib gepresst.
»Das … das ist nicht von mir.« Sie sah zu Palmer hoch. »Ich hab doch gesagt, ich musste mich wehren … ich …«
»Okay, ganz ruhig, wir rufen erst mal die Polizei«, erklärte Palmer und setzte sich vorsichtig neben die Unbekannte auf das Sofa. »Dann erzählst du mir, wer dich angegriffen hat.« Doch bevor Palmer nach ihrem Handy greifen konnte, legte das Mädchen ihre Hand hastig auf Palmers Arm.
»Nein, nicht die Polizei. Ich weiß nicht mal sicher, ob er tot ist.« Eine Träne lief über ihre Wange. Dann noch eine.
Palmer runzelte die Stirn.
»Was heißt tot?« Aber bevor sie eine Antwort erhielt, ließ das Mädchen ihr Glas unkontrolliert sinken. Palmer kriegte es gerade noch zu fassen, bevor es aus den Händen der geschockten jungen Frau glitt.
Argwöhnisch verengte Palmer die Augen zu Schlitzen. Was hatte das Mädchen getan? Sie erhob sich, schritt zu einem der Fenster, lehnte sich hinaus und blickte hinunter zum Eingang. Aber dort schien alles normal zu sein. Sie ging zurück zu ihrem ungewöhnlichen Gast und setzte sich neben sie. Mit einfachen Fragen versuchte sie, das Mädchen zum Sprechen zu bewegen.
»Wie heißt du denn?«, fragte Palmer.
»Lucie. Lucie Brupbacher.«
»Ok, du kannst mich einfach Palmer nennen. Also Lucie, du erzählst mir jetzt, was passiert ist. Der Reihe nach.«
»Heute Morgen habe ich Rafi angerufen und mit ihm Schluss gemacht. Mit meinem Freund, verstehen Sie?« Lucie unterbrach sich und schluchzte. Nachdem sie sich gesammelt hatte, fuhr sie fort: »Ich habe herausgefunden, dass er eine andere hat.« Sie biss sich auf die Lippen und zuckte zusammen. Dann suchte sie sichtlich nach den richtigen Worten. »Rafi hat zuerst ins Telefon geschrien und mich verflucht. Er hat gesagt, ich wäre nicht mehr wert als eine platt getretene Kakerlake.« Lucie schniefte. »Aber dann hat Rafi auf einmal gefragt, ob ich mich heute Abend hier auf der Ufschötti-Wiese mit ihm treffe. Er war richtig lieb am Telefon. Ich konnte hören, dass es ihm wirklich leidtut. Er wollte noch eine Chance, mit mir zu reden und einmal über alles zu sprechen. Erst wollte ich nicht, aber er hörte nicht auf, und ich hatte das Gefühl, es geht ihm richtig schlecht.« Sie senkte den Kopf. Als sie ihn wieder hob glänzten ihre Wangen vor Tränen, und dicke Tropfen zitterten an ihrem Kinn. »Einfach nur reden, hat er gesagt. Und wenn mir danach wäre, könnten wir baden gehen. Ich sollte meinen Bikini mitbringen. Ich weiß nicht, am Ende hab ich Ja gesagt, obwohl ich wirklich nicht wollte. Rafi kann echt nett sein. Solange ich ihm keinen Grund gebe, wütend zu werden.«
Palmer hob fragend die Augenbrauen.
Lucie rieb sich die Augen und schniefte.
»Ich bin also auf die Wiese gekommen. Aber dann ist nicht Rafi aufgetaucht, sondern sein Kumpel Terry. Und da habe ich gleich gewusst, ich bin als Nächste dran.« Nun brachen alle Dämme, und Lucie heulte hemmungslos. Palmer drückte vorsichtig ihre Schulter.
»Jetzt bist du in Sicherheit.«
»Ich hatte voll die Panik«, sprach Lucie weiter. »Weil vor ein paar Tagen ist Manu, die Freundin von Terry, im Zürichsee ertrunken. Terry ist mit ihr bei der Landiwiese zum Baden gegangen. Manu und ich haben vorher gechattet, also wusste ich davon. Einige Stunden zuvor hat sie mit Terry Schluss gemacht.« Wieder schluchzte sie herzergreifend. »Verstehen Sie? Manu hat Schluss gemacht mit Terry, und dann ist sie am selben Tag ertrunken, nachdem er sie zu einer Aussprache überredet hat. Und heute hat Rafi mich am See treffen wollen, aber plötzlich taucht Terry auf. Für mich war klar, der ist gekommen, um mich umzubringen.«
Palmer schüttelte den Kopf. Obwohl sie wusste, dass viel Dunkles in den Herzen der Menschen lauerte, hatte Lucies Geschichte für Palmer einen Haken. Zwar wirkte Lucie tatsächlich verängstigt, und ihre Erzählung war zutiefst beunruhigend, trotzdem.
»Weißt du, ich kann mir nicht vorstellen, dass er dich hierher bestellt, wenn er dich töten will. Hier gäbe es viel zu viele Zeugen.«
Lucie zögerte.
»Aber jetzt am Abend sind weniger Leute da. Die machen Party, trinken viel und haben Spaß. Im Wasser hätte mich Terry ganz einfach hinunterdrücken können. Ganz leise, und keiner hätte etwas gemerkt in der Dunkelheit.« Lucie nickte mit dem Kopf.
Palmer seufzte. Es war nicht leicht, das Mädchen richtig einzuschätzen. Das seltsame Gefühl wollte jedenfalls nicht verschwinden, und Palmer überlegte, ob sie jetzt einfach die Polizei rufen sollte, ob Lucie wollte oder nicht.
»Erst mal habe ich total abgelehnt«, fuhr Lucie fort. »Ich habe Rafi gesagt, dass ich nicht komme. Aber dann hat er genau dasselbe gesagt wie Sie. Wir treffen uns in der Öffentlichkeit, jeder kann uns sehen, es gibt keinen Grund, ihn abzuweisen. Und ich wäre es ihm schuldig, weil er so viel für mich getan hätte.« Sie verstummte und starrte mit leerem Blick auf den Wasserfleck auf dem Teppich.
Palmer wartete einen Moment, dann forderte sie Lucie auf, mit ihren Erklärungen fortzufahren.
»Als ich angekommen bin, habe ich nach Rafi Ausschau gehalten, ihn aber nirgendwo entdeckt. Aber dann habe ich gesehen, wie Terry bei anderen Leuten aufgestanden und auf mich zugekommen ist. Er hat gemeint, Rafi ist grad verhindert. Wir sollten einfach mal mit dem Picknick beginnen und dann schwimmen gehen, er kommt später.«
Palmer spürte, wie die Spannung in der Luft anstieg.
»Aber mir war nicht nach Schwimmen. Ich hatte meinen Bikini nicht mal dabei. Außerdem fand ich es sehr seltsam, dass er schwimmen gehen wollte, nachdem Manu ja gerade ertrunken war. Ich meine, wenn er ihr nichts angetan hat, würde er ja nicht direkt schwimmen gehen wollen, oder? Kein normaler Mensch würde das.« Sie wischte sich über das Gesicht. »Ich wollte das klären, so schnell wie möglich, und dann wieder gehen. Terry hat auf mich eingeredet, dass Rafi auch gleich kommen würde und dass ich mich nicht so anstellen soll. Er hätte sogar schon die Sachen mitgebracht, die Rafi für mich vorbereitet hat. Tatsächlich hatte er einen Korb dabei und ist damit ein Stück entfernt zu einem Gebüsch gegangen, hinter dem uns die anderen nicht sehen konnten, schon gar nicht im Dunkeln. ›Komm jetzt her‹, hat er gesagt. ›Wir machen es uns bequem,dann kann ich dir endlich erzählen, welchen Vorschlag Rafi dir machen will. Ein Angebot, das dir gefallen wird.‹«
Palmer stutzte.
»Du bist also dann doch mit ihm mitgegangen.«
»Ja. Schon. Wollte hören, was er sagt. Hab irgendwie gehofft, er hat eine Erklärung für mich, warum Rafi das alles gemacht hat. Vielleicht wusste er etwas, das ich nicht wusste, ein Missverständnis, irgendwas halt.« Lucies Augen wirkten auf einmal dunkler und irgendwie starr. Sie wagte es nicht, Palmer anzusehen, und Palmers Instinkt meldete wieder, dass hier etwas nicht stimmte. Warum sollte sie mit jemandem mitgehen, der mutmaßlich ihre Freundin auf dem Gewissen hatte? Palmer wusste, dass es keine gute Idee war, an dieser Stelle intensiv nachzuhaken. Sie musste Lucie erst einmal reden lassen, ohne dass sie merkte, dass Palmer Verdacht geschöpft hatte.
»Was ist dann geschehen?«, fragte Palmer möglichst ruhig.
»Terry hat angefangen, eine Art Picknick aufzubauen. Er hat alle möglichen Sachen dabeigehabt, Brötchen, Käse, Wein und so was. Er hat uns Wein eingeschenkt und sogar selbst davon getrunken. Aber dann hat er den Käse in die Hand genommen. Plötzlich hat er in der anderen Hand ein Springmesser gehalten. Daraus ist eine Klinge hervorgeschossen.«
Palmer sah geradezu, wie Entsetzen Lucies Körper durchzuckte und ihr Atem wieder unruhiger wurde.
»Als ich diese Klinge gesehen habe … ich weiß nicht. Es war, als bin das gar nicht ich, die das alles tut. Ich habe ihm das Ding aus der Hand gerissen und ihm voll in den Bauch gestoßen. Er hat mich gepackt, wir haben gekämpft. Dann bin ich geflohen.« Ihre Stimme drohte zu versagen. Sie räusperte sich. »Keine Ahnung, wie heftig ich ihn erwischt hab.« Lucie schlang sich wieder schützend die Arme um den Körper und zitterte. »Bestimmt ist jetzt nicht nur Terry, sondern auch Rafi hinter mir her.«
Verblüfft sog Palmer die Luft ein. Was für eine Geschichte. Sogleich wurde ihr klar, weshalb Lucie ausgerechnet in ihre Wohnung gestürmt war – die offenstehende Haustür und das Schild mit »Herzlich Willkommen«. Zudem hätte dieser Typ sein Klappmesser ganz einfach deshalb gezogen haben können, um sich ein Stück vom Käse abzuschneiden. Aber jetzt war keine Zeit, das alles in Ruhe zu durchdenken. Das hier war eine heftige Sache. Wahrscheinlich ein Verbrechen. Oder mehrere. Sie bedachte Lucie mit einem langen Blick.
»Also, Lucie, pass auf, es ist so: Bis vor Kurzem habe ich als Warenhausdetektivin gearbeitet. Mir sind Räubergeschichten nicht fremd. Aber wenn ich dir helfen soll, muss ich zuerst alle Details kennen. Denn du erzählst mir nicht alles, was du weißt.« Sie blickte Lucie über den Nasenrücken hinweg an. »Deine Geschichte kommt mir sonderbar vor. Und ich bin mir nicht sicher, ob ich damit etwas zu tun haben will. Andererseits fällt es mir schwer, dir meine Hilfe auszuschlagen, falls du die überhaupt haben willst.«
Als sie Lucie tief in die Augen blickte und diese zustimmend nickte, sprach Palmer weiter.
»Weshalb sollte Rafi dich umbringen, wenn du mit ihm Schluss machst?«
Lucies Antwort war herausfordernd:
»Rafi muss mächtig aufpassen, dass ich nichts ausplaudere.«
Auf der Couch sitzend blickte Palmer der verzweifelten Lucie tief in die Augen, während sie versuchte, einen klaren Kopf zu bewahren.
»Ich verstehe, du brauchst Hilfe. Aber wir müssen die Polizei einschalten. Diese kann dir am besten helfen.«
Lucie zögerte und senkte den Blick.
»Auf keinen Fall die Polizei. Wenn Rafi erfährt, dass ich die Bullen gerufen habe, kann ich nie wieder zu ihm zurück«, sagte Lucie besorgt.
»Umso wichtiger ist die Polizei«, sagte Palmer entschieden. Sie spürte das Feuer in sich, das sie dazu trieb zu helfen. Aber sie wusste auch, dass sie sich nicht in Gefahr begeben durfte.
»Und lass uns auch deine Eltern informieren«, schlug Palmer vor.
»Ich wohne nicht mehr bei meiner Ma.«
Palmer starrte Lucie einige Sekunden an. Lucie hatte etwas Hilfloses an sich, etwas Kindliches.
»Wie alt bist du denn?«, fragte Palmer.
»20.« Lucie hob das Kinn.
Palmer blickte ihr tief in die Augen.
»19«, korrigierte Lucie schnell. Nach einem Wimpernschlag senkte sie den Blick. »18. In vier Monaten.«
Palmer schüttelte den Kopf.
»Wie kommst du darauf zu denken, dass dieser Rafi dich liebt, wenn er jemanden auf dich hetzt?«
Lucie klimperte mit ihren Armreifen und zeigte Palmer die Ringe an ihrer Hand.
»Die habe ich von ihm.«
Leicht verwirrt über diese eigenartige Antwort fragte Palmer: »Was sonst noch?«
Lucie überlegte, nahm Palmers Hand und führte deren Fingerspitzen auf ihre Kopfhaut unter den Haaren. »Hier habe ich fünf Stiche, und da haben sie zwölfmal genäht«, sagte sie mit tränenerstickter Stimme. »Aber er kann auch total süß sein. Er ist der Erste, der mich wirklich versteht.«
»Du bist vor Rafis Kumpel auf der Flucht und fürchtest seine Rache, weil du dich von Rafi getrennt hast.« Palmer erhob sich. »Als Erstes rufe ich jetzt die Ambulanz. Wir wollen beide nicht, dass da einer stirbt.« Während sie die Notfallnummer wählte, sagte sie: »Dann gehe ich zur Wiese. Nachsehen. Wenn Terry tatsächlich lebensgefährlich verletzt dort liegt, kann ich ihm vielleicht helfen. Ich muss Gewissheit haben.«
Palmer sprach in ruhigen Worten ihre Anweisungen ins Handy. Nachdem sie den Anruf beendet hatte, schickte sie sich zum Gehen an.
Lucie schluchzte.
»Sie können mich hier nicht alleine lassen«, flehte sie.
Palmer stand vor einem Dilemma. Sie wollte sichergehen, das Richtige zu tun. Sie musste sich vergewissern, wie es um den Mann stand, der womöglich da draußen im Sterben lag. Andererseits konnte sie nicht ausschließen, dass Lucie tatsächlich in Lebensgefahr schwebte, sodass es Palmer nicht wohl dabei war, Lucie hier allein zurückzulassen. Dabei konnte sich Palmer nicht sicher sein, ob Lucies Geschichte der Wahrheit entsprach. Auch wollte sie sich bei der Polizei nicht lächerlich machen, sollte sich herausstellen, dass alles ganz anders war, als von Lucie dargestellt. Während sie überlegte, sah sie in Lucies von Angst und Schmerzen gezeichnetes Gesicht. Palmer traf eine Entscheidung.
Sie versetzte dem Boxsack einen saftigen Kniestich und trat auf den Balkon. Dort beugte sie sich über das raue Holzgeländer und spähte erst auf den Trainingsplatz und den Garten hinaus, dann zur seitlich gelegenen Liegewiese. Doch nirgendwo entdeckte sie eine lauernde Gefahr.
»Du bleibst hier. Falls du jemanden hörst, sperr dich in der Toilette ein und ruf über das Handy die Polizei. Die Tür wird mindestens solange halten, bis ich zurück bin.«
»Nein, bitte bleiben Sie hier. Bei mir«, flehte Lucie. Ihre Unterlippe zitterte, und Tränen schossen ihr erneut in die Augen.
Wenn Palmer jetzt ihre Wohnung verließ, wollte sie einem Kriminellen keinesfalls wehrlos gegenüberstehen. Sie überlegte, ob sie ein Messer mitnehmen sollte, entschied sich aber dagegen. Denn sie wusste, dass der Einsatz einer Waffe sie vor Gericht bringen würde, da sie deren Gebrauch, wenn auch nur im Notfall, erwogen hatte. »Wer eine Waffe mitbringt will diese auch einsetzen«, würde der Richter sagen. Eventualvorsatz. Noch während sie im Wohnzimmer den 60 Zentimeter langen metallenen Schwenkarm vom Mikrofonständer schraubte, der neben der Fender-Gitarre bei der Plattensammlung stand, schwante ihr, dass auch dieser improvisierte Schlegel ihr nachteilig ausgelegt werden könnte. Deshalb holte Palmer ihre schwere Taschenlampe aus der Kommode. Diese hatte einen langen Griff und war unverdächtig, wenn sie in der Nacht nach einem Verletzten suchte, sich damit jedoch gegen einen Angreifer wehren musste. Dann ließ sie sich von Lucie erklären, an welcher Stelle auf der Wiese sie mit Terry gepicknickt hatte.
Lucie sah Palmer ernst an.
»Passen Sie auf sich auf. Und kommen Sie sicher zurück.«
Palmer nickte, stieg die Treppe hinunter und sah sich vorsichtig um, während sie zögernd vor die Tür trat. Dann schloss sie diese hinter sich. Sie war bereit für was auch immer auf sie zukommen mochte.
Nach einem letzten Blick in den Garten, um sicherzustellen, dass niemand dort lauerte, begab sich Palmer zügig Richtung Strandbereich am entfernteren Ende der Liegewiese. Die Fläche beim Wasser zwischen dem Barcontainer und dem Fußweg war ihr Ziel. Ihre Sinne waren geschärft, und ihr Herz pochte laut in ihren Ohren. Palmer wusste, dass sie auf dem äußerst spärlich beleuchteten Weg auf der Hut sein musste. Plötzlich vernahm sie eilige Schritte hinter sich und drehte sich reflexartig um, ihre Hand fest um den Griff der Taschenlampe geklammert. Sogleich entspannte sie sich, als sie die Gruppe Jugendlicher wahrnahm, die in lautes Lachen ausbrach, als sie Palmers Schrecken erkannte und daraufhin unbeschwert weiterzog.
Tiefe Dunkelheit hatte sich über die Wiese gelegt, einzig da und dort durchbrochen von kleinen Lagerfeuerchen, an denen Partystimmung herrschte. Auf ihrem Weg Richtung See trat Palmer mehr als einmal in liegen gelassenen Abfall. Stampfende Beats drangen aus mitgebrachten Lautsprechern an ihre Ohren. Der Duft nach gegrilltem Fleisch, Bier und Cannabis stieg in ihre Nase. Als sie an der von Lucie beschriebenen Stelle eintraf, zuckte der Lichtstrahl ihrer Taschenlampe nicht weiter über den Rasen. Er verharrte auf dem Rücken eines schlafenden Mannes, der regungslos auf einem Badetuch lag. Vorsichtig trat sie näher und bemerkte Blut an dessen Händen und am Shirt. Mit der Fußspitze stieß sie ihn an, doch er reagierte nicht. Sie warf sich auf die Knie und tastete am Hals nach dem Puls, doch spürte sie kein Lebenszeichen. Sie hatte das Gefühl, nur noch schwer Luft zu bekommen, als ihr bewusst wurde, dass der Mann tatsächlich tot war. Auf einen Schlag riss eine Stimme aus dem Dunkeln sie aus ihren Gedanken.
»Was ist mit ihm? Verträgt er nicht mal sein eigenes Bier?«, lachte der Unbekannte, und seine Kumpels grölten. Palmer fuhr hoch und erkannte im Strahl ihrer Lampe, dass der Kommentar von einer benachbarten Gruppe junger Leute stammte, die es sich einige Meter entfernt um einige Kästen Bier gemütlich gemacht hatte.
Als sie das Licht auf den Toten zurück schwenkte, erkannte sie mit Schrecken, dass sie eigenes Blut aus ihrer Bisswunde an der Hand mit ihren Fingern am Hals des Toten verschmiert hatte. Ein eiskalter Schauer lief ihr über den Rücken. Hastig wischte sie das Blut mit einem Büschel Gras weg und hoffte, dass die Polizei das Blut bei der Untersuchung der Leiche übersehen würde.
Jetzt musste Palmer rasch handeln. Mit flinken Fingern holte sie ihr Handy aus ihrer Hosentasche und wählte den Notruf. Entschlossen erklärte sie den Grund ihres Anrufs, dass man die Polizei hier dringend benötige und dass sie bereits die Ambulanz verständigt habe, wenngleich sie inzwischen vermute, dass der Mann tot sei. Nachdem der Beamte Hilfe bestätigt hatte, rannte sie los, mit klarem Ziel vor Augen. Da sie nicht ausschließen konnte, dass Rafi bereits von jemand anderem über den Tod seines Kumpels informiert worden war, musste sie schnell handeln. Wer weiß, vielleicht war Rafi bereits auf dem Weg, um sich an Lucie zu rächen.
Als Palmer gehetzt die Wohnungstür aufschloss und nach Lucie rief, erhielt sie keine Antwort. Sofort spürte sie, wie sich ihre Nackenhaare aufstellten. Vorsichtig stieg sie hoch und horchte auf jedes noch so kleine Geräusch. War jemand hier eingedrungen? Hielt sich Lucie versteckt? Auf der obersten Treppenstufe blieb Palmer stehen und blickte sich um. Ihr Blick fiel auf die verschlossene Toilettentür, aber zeitgleich vernahm sie ein leises Rascheln aus der Küche. Deren Tür stand jedoch nur einen Spalt breit offen und gewährte keinen Blick ins Innere. Andererseits erkannte sie keine Anzeichen für einen Einbruch oder einen Kampf. Trotzdem hielt Palmer den Atem an, während sie sich leise der Toilettentür näherte, bereit für den Fall, dass jemand sie anfiel. Vorsichtig drückte sie die Klinke. Abgeschlossen. Sachte legte sie das Ohr an die Tür, vernahm jedoch keinen Laut.
»Lucie, hier ist Palmer«, flüsterte sie gepresst und blickte angestrengt Richtung Küche. »Wenn du hier drin bist, dann antworte mir.«
Kratzend drehte sich der Schlüssel, und Lucie erschien mit Tränen in den Augen.
»Warum flüstern Sie? Was ist passiert?«
»Hast du etwas Verdächtiges bemerkt?«, fragte Palmer besorgt.
Lucie schüttelte den Kopf. Doch Palmer blieb misstrauisch und bat sie, sich nicht von der Stelle zu rühren. Mit der Taschenlampe über dem Kopf schlich sie zur Küchentür und schob diese langsam in den Raum. Dann ließ sie ihren Arm sinken, ihre Körperhaltung entspannte sich, und sie betrat die Küche.
Neben ihrem Kater, der sich auf dem Boden streckte, ging sie in die Knie, kraulte ihn zärtlich hinter den ausgefransten Ohren und war froh, dass in dieser Wohnung keine Gefahr lauerte. Hinter sich hörte sie die Schritte von Lucie, die ihr in die Küche gefolgt war.
»Wie heißt die Katze?«, fragte Lucie.
»Sandman.«
»Wir hatten auch mal eine. Sie hieß Lucky.«
»Naja, dieser Name würde nicht zu Sandman passen. Ob er glücklich ist, weiß ich nicht. Er ist kastriert.«
Lucie reagierte nicht auf den Scherz. Palmer reckte sich hoch in den Stand, holte sich ein Bier aus dem Kühlschrank und füllte für Lucie ein Glas mit Leitungswasser. Im Hintergrund brummte der Kühlschrank, und dumpfes Gelächter von der Partywiese drang durch die offenstehenden Fenster herein.
»Wir setzen uns ins Wohnzimmer und warten dort.«
»Warten? Worauf?«
»Ich habe die Polizei gerufen. Als Erstes werden sie die Ufschötti-Wiese prüfen.«
Als Lucie schnaubte, blickte Palmer sie streng an.
»Jetzt hör aber auf. Dein Freund schlägt dich, ein anderer Kerl will dich töten. Hier gehört die Polizei auf den Platz. Wir warten. Ich werde nicht zulassen, dass dir etwas geschieht.«
»Ist er tot?«, fragte Lucie sichtlich verängstigt.
Palmer nickte.
»Sucht die Polizei mich jetzt als Mörderin?« Lucie schluckte leer.
Palmer zuckte mit den Schultern und atmete tief durch. »Was für eine üble Geschichte. Und dieser Rafi. In was für einen üblen Schlägertypen hast du dich bloß verliebt?«
Lucie sah zu Boden. »Er hat mich nicht nur verstanden, er hat mich auch zum Lachen gebracht.«
»Aber jetzt lachst du nicht mehr«, antwortete Palmer.
Lucie seufzte. »Als ich ihn kennengelernt habe, hat Rafi mich mit Komplimenten überhäuft. ›Deine Augen – der Wahnsinn‹, hat er gesagt. Und er hat mich echt gut verstanden. Da habe ich mich sofort in ihn verliebt. War echt süß, wie er mir am Anfang Kleider geschenkt hat. Und ständig hat er angerufen und total liebe Nachrichten geschickt. Aber irgendwann … ist er anders geworden.« Sie suchte nach einem passenden Wort.
»Erstickend?«, schlug Palmer vor und beobachtete Lucie, wie sie nickte.
»Er hat ein Problem mit meinen Freundinnen gehabt. Am Anfang dachte ich noch, er findet meine beste Freundin cool. Aber dann hat er kein gutes Haar mehr an ihr gelassen. Er hat sogar meine Chats kontrolliert. Und dann hat er erfundene Storys über sie herumerzählt, wie zum Beispiel, dass man sie festgenommen hat, wegen Diebstahls.«
Palmer ahnte, was jetzt folgen würde. Ihr war klar, auf was für einen Typen sich Lucie eingelassen hatte. Auf einen Loverboy. Vorsichtig fragte sie: »Hat er dann deine Freundinnen blockiert, damit sie dich nicht mehr anrufen konnten?«
Lucie riss die Augen auf und formte ein weiches »O« mit dem Mund.
Palmer nickte wissend und fuhr fort: »Er hat gesagt, er muss dich vor deinen Freundinnen und der ganzen Familie beschützen? Dafür hat er versprochen, dir all das zu geben, was dir deine Mutter nicht gegeben hat? Und er hat dir eine gemeinsame, rosige Zukunft in Aussicht gestellt? Überdies würde er dich in die Welt seiner Freunde einführen und dich wie eine Frau behandeln? Ihr würdet eine erwachsene Beziehung führen?« Sie blickte zu Lucie. Aber Lucie schwieg. »Typisch Loverboy.«
Lucie sah auf ihre Hände.
»Als Rafi wieder mal nach Deutschland gefahren ist, hat er darauf bestanden, dass ich nachts Skype offenlasse, damit er mich beim Schlafen über die Kamera überwachen kann«, erzählte Lucie mit einem Hauch von Abscheu in ihrer Stimme.
»Es würde mich nicht wundern, wenn du dir seinen Namen auf die Haut hast tätowieren müssen«, bemerkte Palmer sarkastisch.
Ruckartig setzte sich Lucie im Sofa auf.
»Wieso weißt du das alles?« Lucie zog ihr Shirt so weit vom Hals herunter, bis auf ihrer Brust der dekorativ umrankte Name »Rafi« erschien. »In dem Moment hat es sich richtig angefühlt. Besonders. Ich war mir sicher, das ist für immer. Das hat er versprochen, und ich wollte es ihm auch beweisen. Dass ich es wirklich glaube.«
»Er hat dich als sein Eigentum markiert«, sagte Palmer mit einer Handbewegung, die ihre Ablehnung unterstrich. »Was denkt ihr jungen Mädchen euch nur dabei, wenn ihr euer ganzes Leben auf Social-Media vor wildfremden Leuten ausbreitet? Hast du doch, oder?« Palmer fixierte Lucie mit einem durchdringenden Blick und nahm es als Ja, da Lucie nicht protestierte. »Auf einen Blick hat Rafi dort all deine Schwächen und Sehnsüchte kennengelernt. Da brauchte er dich nur mit Komplimenten zu überhäufen, dir das Blaue vom Himmel zu versprechen und die große Liebe vorzulügen, um dich um den Finger zu wickeln.«