Auf immer gejagt und Auf immer gefangen – Band 1 und 2 der fesselnden High-Fantasy-Serie im Sammelband! (Königreich der Wälder) - Erin Summerill - E-Book

Auf immer gejagt und Auf immer gefangen – Band 1 und 2 der fesselnden High-Fantasy-Serie im Sammelband! (Königreich der Wälder) E-Book

Erin Summerill

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Beschreibung

Atemlose Spannung und wilde Romantik – beide Bände der Fantasy-Serie »Königreich der Wälder« in einer E-Box! Im Wald kennt Tessa sich aus, er ist ihr Zuhause. Im Dorf jedoch wird sie nur geduldet, obwohl ihr Vater Saul der Kopfgeldjäger des Königs ist. Denn ihre Mutter beherrschte Magie, und die ist in Malam verboten. Als Saul getötet wird, hat die junge Fährtenleserin nur eine Chance auf ein sicheres Leben: Sie muss im Auftrag des Königs den angeblichen Mörder jagen – Cohen, der Gehilfe ihres Vaters. Der Junge, den sie heimlich liebt! Tessas besondere Gabe sagt ihr, dass Cohen schuldig ist. Aber ihr Herz spricht eine andere Sprache. Eine Geschichte voller faszinierende Magie, gefahrvoller Intrigen und mit ganz viel Gefühl! Diese E-Box enthält beide Bände der Serie: Auf immer gejagt Auf immer gefangen

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Erin Summerill: Königreich der WälderAtemlose Spannung und wilde Romantik - beide Bände der Fantasy-Serie in einer E-Box! Im Wald kennt Tessa sich aus, er ist ihr Zuhause. Im Dorf jedoch wird sie nur geduldet, obwohl ihr Vater Saul der Kopfgeldjäger des Königs ist. Denn ihre Mutter beherrschte Magie, und die ist in Malam verboten. Als Saul getötet wird, hat die junge Fährtenleserin nur eine Chance auf ein sicheres Leben: Sie muss im Auftrag des Königs den angeblichen Mörder jagen - Cohen, der Gehilfe ihres Vaters. Der Junge, den sie heimlich liebt! Tessas besondere Gabe sagt ihr, dass Cohen schuldig ist. Aber ihr Herz spricht eine andere Sprache. Eine Geschichte voller faszinierende Magie, gefahrvoller Intrigen und mit ganz viel Gefühl! Diese E-Box enthält beide Bände der Serie »Königreich der Wälder«: Auf immer gejagt Auf immer gefangen

Für meinen Vater,der meine Niere annahmund mich dafür lehrte,was Aufopferungund Liebe und Heilung bedeuten.

Eins

Wer im Wald überleben will, muss stark sein wie die Bäume, hat Papa immer gesagt. Die Erinnerung ist ein Flüstern im Vergleich zu dem Aufruhr, den mein knurrender Magen verursacht.

Ich versuche, nicht an meinen Vater oder meine zitternden Beine zu denken, während ich mit einem abgebrochenen Zweig meine Stiefelabdrücke in der staubigen Erde verwische. Jede Faser meines ausgehungerten Körpers schreit danach, anzuhalten und gleich hier am Pfad, der durch den Endlosen Wald führt, zu jagen. Nur die Aussicht, dabei erwischt zu werden, treibt mich vorwärts – über Steine und durch Matsch, stolpernd, mit schweren Stiefeln.

Schwach, wie ich bin, schaffe ich es nie und nimmer durchs schroffe Malam-Gebirge bis zu der Tiefebene, an der König Aodrens Jagdgrund endet. Das ist ein Fußmarsch von zwei Tagen. Zwei lange, zermürbende Tage. Vor meinen Augen flimmert es. Bei allen Senfkörnern, ich brauche etwas zu essen. Papas alter Übungsplatz muss reichen. Dort wird mich die Königsgarde, die über die Residenzstadt Brentyn wacht, sicher nicht aufspüren. Die abgelegene, nur über eine schmale Felsenklamm zugängliche Lichtung kennt niemand außer Cohen, Papas einstigem Lehrling, und mir. Mein Magen krampft sich schmerzhaft zusammen, und damit ist die Sache entschieden. Auf zum Übungsgelände.

Die Sonne steht schon fast im Zenit, als ich auf die Lichtung taumle. Herbsüßer Kiefernduft belebt die Luft. Vor dem Hintergrund der dunklen Nadelbäume leuchtet das Laub der Pappeln am nahen See golden und rotbraun, wie Glut. Der Anblick ist mir wohlig vertraut.

Obwohl ich vor Hunger fast ohnmächtig werde und zum Jagen hier bin, kann ich nicht anders, als zu unserem Baum zu gehen und die eingeschnitzten Namen mit dem Finger nachzufahren: Tessa & Cohen.

In meinem Hals bildet sich ein dicker Kloß.

Cohen ist letztes Jahr weggezogen, um für den König zu arbeiten, und Papa ist vor zwei Monaten getötet worden. Seither habe ich die erdrückende Einsamkeit so gut es ging von mir ferngehalten und den Gedanken daran immer nur kurz zugelassen. Doch heute springt mich das Gefühl von Isolation geradezu an; es ist wie ein Schlag ins Gesicht.

Ich wische mir eine verstohlene Träne ab und lege einen Pfeil in meinen Bogen ein.

Mein Körper ist kaum mehr als ein Gerippe, so dünn bin ich geworden. Gegen meine Blässe kann ich nicht viel ausrichten, aber ein Eichhörnchen oder ein Auerhuhn wird meinen Hunger stillen. Und mir etwas Kraft zurückgeben. Später erlege ich dann ein größeres Tier. Der Winter steht vor der Tür, und ich brauche unbedingt eine ordentliche Beute, die ich gegen ein Dach über dem Kopf eintauschen kann. Jetzt, da die Trauerzeit vorüber ist, wird die Königsgarde mein Land – nein, Papas Land – schon bald beschlagnahmen.

In ein paar Tagen werden knüppelschwingende Mistkerle an die Tür hämmern und sich mein Häuschen unter den Nagel reißen. Ich ziehe an der Bogensehne, um den Druck zu prüfen. Ich muss etwas erwischen. Egal was. Auch wenn ich damit gegen das Gesetz verstoße. In Malam gebietet es die Tradition, dass sich Trauernde zwei Monate lang zu Hause einschließen, und ich habe mich daran gehalten, obwohl ich fast verhungert wäre. Denn niemand hat mir nach Papas Tod etwas zu essen gebracht. Nie auch nur eine freundliche Geste für mich, Tessa Flannery, Tochter einer Shaerdanerin und somit eine Geächtete.

Ein Jahr vor meiner Geburt ließ der Prinzregent die Grenze zwischen Malam und Shaerdan schließen. Seither scheint ganz Malam unter Gedächtnisverlust zu leiden; niemand erinnert sich, was das Nachbarland uns Gutes gebracht hat. Einst florierten wir durch den Handel mit Shaerdan und verließen uns auf die Heilsalben der Animisten. Heute scheuen wir ihre sonderbare Magie. Wir fürchten uns vor ihren rätselhaften Fähigkeiten.

Schnaubend verdränge ich meine Wut und konzentriere mich auf die Jagd.

In diesem Moment entdecke ich den Hufabdruck eines Elchs, zwei spitz zulaufende Halbkreise. Die Feuchtigkeit, die sich im Tritt angesammelt hat, verrät mir, dass er erst kürzlich hier durchgekommen ist. Die Aussicht auf eine so reiche Beute lässt meinen Puls schneller schlagen. Starr wie ein Baum stehe ich da und horche auf die Bewegung des Elchs. Vögel zwitschern, Blätter rauschen. Alles ganz gewöhnliche Geräusche im Endlosen Wald. Doch irgendetwas stimmt nicht. Was es auch ist, es zerrt an mir und jagt mit unsichtbarem Finger einen Schauer über meinen Nacken.

Ich bin nicht allein.

Mein Blick zuckt von den Ästen zu den Büschen und hoch zum Himmel. Nichts. Ich wirble herum, überzeugt, der Königsgarde in ihren roten Umhängen gegenüberzustehen, doch ich sehe nur Kiefern. Ich beiße mir auf die Lippe. Streife mir blassblonde Haarsträhnen aus dem Gesicht.

Wer könnte es sonst sein? Niemand würde es wagen, im Revier des Königs auf die Jagd zu gehen. Jagen ist nur dort erlaubt, wo der Endlose Wald an das Lehnsgebiet von Lord Devlin angrenzt. Das sind zwei Tage in westlicher Richtung bis zu den Tannen der Blutroten Haine oder dreieinhalb Tage in Richtung Süden. Wenn man Glück hat, wird Wilderei mit der Peitsche oder der Folterbank bestraft. Meistens steht darauf der Tod.

Ich umklammere meinen Bogen und zwinge mich, nach Spuren eines Eindringlings zu suchen: abgebrochene Zweige, Abdrücke in der Erde. Es ist frustrierend, von dem Elch abzulassen, aber Sicherheit geht immer vor – Papas erste Lektion.

Eine Stunde lang durchforste ich das Unterholz, bis das sonderbare Gefühl verschwindet. Was fast unheimlicher ist, denn meine Instinkte haben mich noch nie getäuscht. Vielleicht bin ich übernervös, weil ich ohne Papa jage. Vielleicht macht mich die Einsamkeit –

Einige Längen voraus regt sich ein Schatten.

Mit einem Satz ducke ich mich hinter einen verfaulten Baumstamm. Meine Finger krümmen sich um den abgenutzten Griff des Bogens und lockern sich wieder. Strecken. Loslassen. Papa würde mich ohrfeigen, wenn er sähe, wie schreckhaft ich bin. Nicht die Kontrolle verlieren, würde er sagen. Fokus ist ebenso eine Waffe wie dein Bogen.

Ich atme einmal tief durch und gebe mir einen Ruck. Dann löse ich mich von dem modrigen Holz und spähe dahinter hervor.

Was auch immer ich erwartet habe, ein Zwölfender-Elchbulle war es jedenfalls nicht. Langsam schreitet er auf die Lichtung hinaus, ein König des Waldes. Stolze Schultern, kräftige Lenden. Ich brauche einen Moment, bis ich mich erinnere, dass dieser Elch mein Überleben bedeutet. Von meiner Position aus ist der Schusswinkel ungünstig. Einen Fingerbreit zu hoch oder zu niedrig und ich treffe Knochen oder Knorpel und verwunde das Tier schwer, aber nicht tödlich. Wenn ich verschieße, ist es Quälerei.

Ich schieße. Der Pfeil bohrt sich tief in die Brust des Elchs und durchstößt die lebenswichtigen Organe in einem einzigen tödlichen Treffer. Der Elch zuckt, will losgaloppieren und taumelt ein paar Schritte weit, bevor sich seine Augen ins Weiße verdrehen. Dumpf kracht er auf die mit Kiefernnadeln bedeckte Erde.

Ich starre das Tier blind an. Lasse den Bogenarm sinken. Ein Anflug von Traurigkeit, eine Ahnung von Unwürdigkeit durchfährt mich, während Vögel aus dem Geäst aufflattern. Absurd für eine Jägerin, ich weiß. Das heisere, abgehackte Keuchen des Elchs hallt von den Bäumen wider, und ich flüstere tonlose, beruhigende Worte, bis er sich in den Tod fügt. Das bisschen Leben, das noch in ihm pulsiert, hält sich tapfer wie ein verwundeter Soldat, der sich mit letzter Kraft vom Schlachtfeld kämpft, ohne jede Hoffnung auf Rettung.

Mein Jägerinstinkt sagt mir jedes Mal genau, wann der letzte Funke erlischt. Dieses Feingespür, über das du verfügst, ist eine Gabe, die nur die allerbesten Jäger entwickeln, hat Papa oft gesagt. Nur: Wie kann es eine Gabe sein, wenn ich es immer bloß als Fluch empfunden habe? Ich gebe dem Elch mit einem Kehlschnitt einen schnellen Tod.

Meine Hand schließt sich so fest um die verschlungene Gravierung auf Papas Dolch, dass meine Knöchel so bleich werden wie der Griff aus Elfenbein. Ich stoße die Klinge in den Bauch des Tiers, um mit dem Aufbrechen und Zerlegen zu beginnen. Tu, was zu tun ist. Fell durchschneiden. Haut aufschlitzen. Eingeweide rausholen.

Wenig später hängt ein Teil des Elchfleischs zum Trocknen in den Bäumen, während andere Stücke über einem kleinen Feuer braten. So hat Papa vor zehn Jahren mein erstes selbst erlegtes Wild zubereitet. Er lachte, als ich einen Bissen probierte und das Gesicht verzog, weil das Fleisch so streng schmeckte. Es gibt nichts Besseres als dieses Mahl, sagte er. Weil du es geschossen hast. Jetzt weiß ich, dass du es wieder tun kannst. Mit Lob war er sparsamer als mit Lektionen. Wenn er eines aussprach, hütete ich jedes Wort wie einen Schatz.

Ich kaue den letzten sehnigen Bissen und hole eine verschlissene Decke aus meiner Tasche. Der Mantel der Nacht legt sich um den Wald. Kalte Luft stiehlt sich durch das Gewebe der Decke und zwickt mich in die Arme. Trotzdem ist das mein schönster Abend seit Papas Tod. Satt und zufrieden bereite ich mir ein Lager aus Kiefernnadeln. Wenn er doch nur sehen könnte, wie ich allein für mich sorge.

Wenige Augenblicke später bin ich eingeschlafen.

Ich stehe im Freien. Hinter mir hat die Nacht die groben Mauersteine und das strohgedeckte Dach unseres Häuschens blauschwarz verfärbt. Ein Kribbeln durchläuft mich.

Sterne sprenkeln den Himmel wie verschüttetes Salz auf einem gut geölten Tisch. Mein Haar, das ich gewöhnlich zu einem Zopf flechte, fällt mir offen über die Schultern, ein weißblonder Schleier, der im Mondlicht silbern schimmert.

Dort, wo unsere Weide in den Endlosen Wald übergeht, bewegt sich etwas. Die Gestalt eines jungen Mannes.

Ich kneife die Augen zusammen und dann lächle ich. Seit dem Unglück war er nicht mehr hier – doch jetzt ist er die halbe Wegstunde aus Brentyn gekommen, um uns zu besuchen. Mein Herz rast, als ich allen Mut zusammennehme und meine Schritte in das Dunkel lenke, in dem er wartet, bis mich die Schatten verschlingen. Dort durchbricht sein flüsternder Atem die Stille.

Haar wie regensatte Erde nach einem Sturm. Glühende braune Augen. Ein Gesicht, das zu schön ist für die grimmige Narbe, die seine Wange verunstaltet. Schuldgefühle überwältigen mich, während es mir in den Fingern juckt, das glänzende rote Mal nachzufahren. Ich will ihn berühren, ihm sagen, was ich für ihn empfinde. Dass mein Herz ihm gehört.

Doch alles, was mir über die Lippen kommt, ist: »Cohen, es tut mir leid.«

Das Heulen des Windes weckt mich auf. Cohen verblasst hinter den grau umschatteten Baumstämmen und den Kiefernzweigen, die wie Gespenster über mir wogen. Ich schlinge die Arme um meine Knie und ziehe mir die schäbige Wolldecke noch enger um die Schultern. Die geträumte Erinnerung hat mich in tiefe Verwirrung gestürzt, und ich muss zweimal tief ein- und ausatmen, um zu mir zu kommen und meinen Puls zu beruhigen.

Als ich zwölf war, nahm mich Papa nicht mehr mit, wenn er für König Aodren auf Kopfgeldjagd ging. Ich blieb allein zu Hause, wo die Stille an mir nagte. Ich malte mir aus, die knarzenden Dielen oder meine eigenen Atemzüge seien Stimmen, die mir in der Nacht Gesellschaft leisteten. Lächerlich, aber es half mir beim Einschlafen.

Diese alten Tricks werden mir heute nichts bringen. Nicht wenn Cohens Gesicht noch in der Dunkelheit schwebt. Seine Narbe sehe ich immer zuerst – eine Verletzung, die er sich vor seinem Weggang zugezogen hat. Sie beginnt knapp unter dem Auge und reicht bis zu seinem kräftigen Kiefer, auf dem ein spärlicher brauner Flaum wächst. Als wir uns zuletzt sahen, war er achtzehn und noch zu jungenhaft für einen richtigen Bart. Mittlerweile ist er zwanzig, etwas über zwei Jahre älter als ich, da ist das vielleicht anders.

Die Vorstellung von einem älteren, raueren Cohen gefällt mir. Mehr, als ich zugeben sollte.

Ein Jahr und drei Monate sind vergangen, seit Cohen seine Lehre abgeschlossen hat und am Königshof aufgenommen wurde, wo man ihm den Titel übertrug, den auch mein Vater, mein Großvater und alle männlichen Flannerys vor ihnen innehatten. Als einer der zwei Kopfgeldjäger des Königs ist er berechtigt, Malams Lehnsgebiete zu passieren und die Grenzen zu überschreiten. Davon kann ich nicht einmal träumen. Ich werde nie die Gelegenheit bekommen, Malam zu verlassen.

Als Cohen ohne ein Wort des Abschieds fortging, hoffte ich, dass er uns später besuchen würde. Doch er kam nicht wieder, nicht einmal zu Papas Totenwache.

Ich drücke mir die Handballen in die Stirn, um die Gedanken an ihn zu verscheuchen. Vergeblich. Cohen hat in den letzten fünf Jahren zu viel Platz in meinem Herzen und meinem Denken eingenommen, als dass ich ihn so leicht loswerden könnte. Wie immer beschäftigt mich seine lange Abwesenheit. Vielleicht ist er deswegen nie zurückgekommen, weil ihm klar war, dass es für uns keine Zukunft geben kann.

Als Kopfgeldjäger des Königs steht Cohen über den einfachen Bürgern Malams. Himmelweit über mir. Wie Papa wird er für seine Stellung bei Hofe großes Ansehen genießen. Er wird dem Adel gleichgestellt sein und ein Stück Land bekommen. Und er wird sich die Tochter eines Lords zur Frau wählen können, wenn er das will.

Was mich angeht, so ist die Ehe mit einem Adeligen, oder überhaupt eine Heirat, ungefähr so wahrscheinlich, als würde der König höchstpersönlich um meine Hand anhalten. Bei dem Gedanken schnaube ich laut.

Alles, was mit Papas Ehrentitel einherging, sein Haus und sein Land, fallen zurück an den König, da Papa abgesehen von mir keine lebenden Verwandten hat. Und ich bin keine rechtmäßige Erbin. Meine Eltern waren zwar verheiratet, aber sie hatten den Bund in Shaerdan geschlossen, und das Gesetz erkennt nur Ehen an, die von einem malamischen Priester vollzogen wurden. Bevor sie das nachholen konnten, beschuldigte man meine Mutter, Geheimnisse an Shaerdan verraten zu haben, und tötete sie. In den Augen des Gesetzes bin ich ein uneheliches Kind. Für die meisten Leute in Malam bin ich eine Shaerdanerin. Und für manche, für die Klatschmäuler von Brentyn, bin ich die Tochter einer Verräterin.

Doch nichts davon macht mir etwas aus, denn ich bin und bleibe eine Flannery, wie mein Vater, und ich komme sehr gut allein zurecht.

Bei Sonnenaufgang gehe ich zu dem glasklaren See und wasche mir das Gesicht. Kühle Morgenluft füllt meine Lungen und kribbelt auf meiner Haut. Erst als ich mich mit meiner Tunika abgetrocknet habe, bemerke ich etwas Auffälliges im Uferschlamm. Frische Stiefelabdrücke. Der Größe nach zu urteilen von einem Mann.

Ich fahre hoch und spähe fieberhaft in alle Richtungen. Wie am Vortag liegt die Lichtung völlig unberührt da. Nichts als Nadelbäume und das blau schimmernde Wasser unter dem wolkenlosen Himmel. Und doch gibt es jetzt keinen Zweifel mehr.

Ich bin nicht allein.

Zwei

In Windeseile raffe ich meine Sachen zusammen, packe in Stofffetzen gewickelte Fleischstücke zu meinem Bogen und dem Dolch. Einen ganzen Berg von Elchteilen muss ich zurücklassen, weil in meiner Tasche kein Platz mehr ist. Ich fluche in mich hinein. Aber ich kann einfach nicht alles tragen. Und noch einmal zurückzukommen wäre auch zu gefährlich.

Ich werfe einen Blick zum See. Zu den Stiefelabdrücken.

Ein Pfeil der Angst durchbohrt mich.

Sollen die Überreste eben die Waldtiere fressen, die Glücklichen. Rasch ziehe ich einen grauen Wollrock über meine Hose, zupfe meine Tunika zurecht und gürte sie in der Taille, wie es die meisten Städterinnen tun. Dann hänge ich mir die schwere Tasche um und verlasse mit einem letzten prüfenden Blick auf das Geäst und Unterholz ringsum die Lichtung.

Herbstkühle liegt in der Luft, als ich die Gebirgshänge hinabeile.

Wie ein steinerner Wächter erhebt sich die königliche Kathedrale von Brentyn vor mir. Die Spitzen ihrer efeuumrankten Türme ragen in den Himmel. Durch die bunten Glasfenster dringen schwermütige Gambenklänge. Ein seltsamer Kontrast zu den Geräuschen, die mir vom Markt entgegenschlagen: Stimmengewirr, die Rufe der Händler, quietschende Karren, gurrende Tauben. Ich halte mich im Schatten der Kathedrale versteckt und glätte meinen Zopf. Wie immer, wenn ich in die Stadt komme, bin ich unruhig und angespannt. Heute jedoch, mit der Erinnerung an die Stiefelabdrücke und mit dem gewilderten Fleisch in der Tasche, fühlt sich meine übliche Nervosität an wie ein Anfall von Schüttelfrost.

Am anderen Ende des Platzes hat etwas die Aufmerksamkeit der Marktbesucher erregt. Von überall her laufen die Leute herbei und drängeln wie Schweine im Stall, wenn ihnen das Futter hingeworfen wird. Ich stelle mich auf die Zehenspitzen und recke den Hals. Als ich sehe, was den Aufruhr verursacht, dreht sich mir der Magen um.

Eine Frau steht am Pranger, Handgelenke und Hals eingeklemmt zwischen den Holzbrettern. An ihren aufgeplatzten Lippen klebt getrocknetes Blut. Ihr tränenüberströmtes, schlammverschmiertes Gesicht ist qualvoll verzerrt, während sie ihr Gewicht von einem schmutzigen, geschwollenen Fuß auf den anderen verlagert. Um sie herum ist ein Ring aus Erde aufgeschüttet – ein Ritual, das, so glaubt man, einem Animisten die Macht raubt.

Eine Farce, mehr nicht. Wenn eine Frau Wasser aus einem Brunnen holt, den alle für trocken hielten, ist sie gleich eine Animistin. Wenn sie von einem Gewitter überrascht wird und sich dabei keinen Schnupfen einfängt, ist es schwarze Magie. Alle echten Animisten sind schon vor zwanzig Jahren während der Großen Säuberung nach Shaerdan geflohen, wo ihre Magie ihren Ursprung hat.

Animistische Magie ist heimtückisches Teufelswerk, eine Geißel, die Shaerdan über uns gebracht hat … Alle, die davon befallen sind, müssen unschädlich gemacht und ihre schwarzen Kräfte ausgelöscht werden. Ich habe das Säuberungsedikt gelesen, es steckte in Papas Büchern. Das Edikt war zwar nicht der Auslöser für Malams und Shaerdans gegenseitigen Hass, doch es besiegelte ihn endgültig. In Shaerdan werden Animisten geachtet.

Für die Frau kann man nichts tun. Die Garde wird über ihr Schicksal entscheiden. Dennoch fällt es mir schwer, den Blick abzuwenden und nicht der eigennützigen Sorge nachzugeben, dass nun, nach Papas Tod, auch ich beschuldigt werden könnte.

Ich umklammere den Riemen der Tasche, die Fingernägel tief in die Handflächen gebohrt, und nehme zum wiederholten Mal die Menge in Augenschein. Mäntel aus Leder, erdfarbene Tuniken, schwarze Hosensäume, raschelnde Röcke. Niemand trägt das königliche Rot. Die Wachhunde von der Garde sind weder beim Pranger noch irgendwo auf dem Markt unterwegs. Einstweilen überlassen sie es den Bewohnern der Stadt, die Frau zu quälen und zu erniedrigen.

Während ich den Markt umrunde, baumelt mir die Tasche von der Schulter, als wäre sie mit Federn statt mit Elchfleisch gefüllt. Fragen sind das Letzte, was ich jetzt gebrauchen kann. Ich habe jedes Recht, auf dem Markt Geschäfte zu machen, doch niemand will mit der kleinen Shaerdanerin gesehen werden. Es gibt für mich nur eine Möglichkeit, meine Ware zu verkaufen: Händler Tulach. Nur er hat sich je darauf eingelassen, mit mir zu handeln, wenn Papa nicht dabei war.

Eine Kinderschar springt wild um einen Holzklotz herum. Die Kleinen quietschen vor Lachen und singen eins der Lieder, die beim Sonnwendfest den Tanz um den Maibaum begleiten. Als ich ihrem Spiel ausweiche, frage ich mich, wie es wohl gewesen wäre, so viele Freunde zu haben. Ihr wollt nicht mit Tessa handeln? Dann verkaufe ich unser Wild anderswo, sagte Cohen einmal zu einem Händler und ließ sich nie wieder mit dem Mann ein. Cohen war mein Freund. Mehr brauchte ich nicht.

Tulachs Zelt ist voller Kunden, die Winterdecken und Wollzeug bewundern.

»Abschaum.«

Das Wort ist kaum vernehmbar, aber der giftige Ton, in dem es ausgesprochen wird, lässt mich trotzdem aufhorchen. Ich schaue hoch und entdecke zwei Städterinnen in bodenlangen braunen Wollkleidern. Sie tragen Körbe voller Wurzelknollen und Mohrrüben am Arm. Eine der beiden ist alt, mit einem Gesicht wie verknittertes Pergament, die andere jung und wohlgenährt, fast zu wohlgenährt. Ich muss an meine zwei Monate lange einsame Trauer denken und schon bei der Erinnerung knurrt mir der Magen. Unter den Blicken der Frauen fahre ich mit der freien Hand verlegen über meinen schäbigen Rock.

Die Ältere rümpft die Nase. »Drecksstück. Wie ihre Mutter.«

Ich versteife mich. Papa hat immer gesagt, ich solle ihre Worte nicht an mich heranlassen. Worte können nicht verletzen.

Außerdem könnte man von der Frau dasselbe sagen, bei dieser zerwühlten Mähne, die aussieht, als würde ein ganzer Spatzenschwarm darin nisten. Ich darf nicht reagieren. Tu, als wären sie Luft. Ich beiße mir auf die Innenseite der Wange und zwinge mich, in die Ecke des Zelts zu gehen, wo die Lederbahnen mich vor dem Markt und den beiden Giftschlangen verbergen. Hören kann ich sie leider trotzdem.

»So was wie die sollte nicht hier rumlaufen dürfen.«

»Die Grenze ist ein Segen der Götter.«

Gemurmelte Zustimmung, dann: »Hast du gewusst, dass ihre Mutter sich dem Erzverräter anschließen wollte?«

Ich verdrehe die Augen bei diesem haarsträubenden Gerücht und den Schauermärchen, die unweigerlich folgen – über die Mordgier des Erzverräters, die wilden Horden, die er um sich schart, über seinen Plan, Malam zu erobern. Immer der gleiche Tratsch.

Malam lebt vom Tratsch; in jeder Stadt blökende Schafe. Am liebsten würde ich den Frauen Papas abfälligen Spruch an den Kopf werfen. Denn niemand weiß wirklich, wo Millner Barret, der Erzverräter, sich aufhält oder was er inzwischen tut. Früher war er Hauptmann der Königsgarde. Dann widersetzte er sich der Säuberung und der Grenzschließung, bis er schließlich seine eigenen Männer niedermetzelte und floh. Diese Schande wird niemals vergessen werden. Zumindest nicht, solange er nicht gefasst ist.

Als sie weg sind, löse ich meine Finger von der Kante, die ich umklammert hielt, und breite die Lederstücke und Wollstoffe vor mir wieder ordentlich auf dem Tisch aus. Tulach stellt sich in meine Nähe, aber seine Aufmerksamkeit bleibt bei den vorbeispazierenden Kunden. Er will nicht, dass uns andere beim Handeln sehen.

»Du warst länger nicht hier.« Tulach deutet ein Nicken an, indem er leicht das Kinn senkt.

Er weiß, dass ich in Trauer war, also sage ich nichts weiter dazu. »Ich muss ein Geschäft abschließen. Ich habe Elchbullenfleisch für Euch. Einen Zwölfender. Ganz frisch …«

»Wo hast du ihn erlegt?« Er fährt zu mir herum, seine rabenschwarzen Zöpfe peitschen über den breiten Rücken. »Ach lass, ich will es gar nicht wissen.« Sein Blick springt zurück zu den Passanten. »Was verlangst du?« Er starrt weiter nach draußen, während er auf meine Antwort wartet.

»Bekannte von Euch haben eine Herberge in Fennit«, sage ich und bemühe mich verzweifelt, mit fester Stimme zu sprechen. »Ich brauche eine Unterkunft für den Winter.«

Tulach wirft mir einen fragenden Blick zu.

Die königlichen Erbvorschriften muss er doch kennen. Ich sehe ihn stumm an, aber als er nichts sagt, erkläre ich hastig: »Der König wird mein Haus bald beschlagnahmen.«

Tulach wendet sich ab und verschränkt seine braunen Arme. »Das kann ich nicht riskieren. Nicht jetzt, wo Krieg droht. Der Garde entgeht nichts. Blutrünstige Wölfe sind das, alle miteinander.« Er senkt die Stimme. »Das Gesetz war dir all die Jahre bekannt. Du hast doch sicher noch andere Möglichkeiten.«

Panik schnürt mir die Brust ab, ich bekomme kaum Luft.

Papa sagte, ich hätte ein Talent dafür, zu erkennen, ob jemand ehrlich ist oder nicht. So etwas wie eine körperliche Intuition. Wenn jemand die Wahrheit sagt, spüre ich eine Wärme, die vom Bauch bis in den Brustkorb aufsteigt. Sehr nützlich, zumal es auch für Lügen funktioniert, nur dass sich Unehrlichkeit eisig anfühlt und mir die Kälte in alle Glieder fährt. Bei Tulachs Worten wird mir ganz warm. Sein Nein ist ernst gemeint.

Die Tischkante bohrt sich in meine Hüfte, als ich mich vorbeuge. »Bitte«, sage ich und schlucke meinen Stolz hinunter. »Die anderen Händler machen keine Geschäfte mit mir. Und dass mein Vater ermordet wird, konnte ich ja nicht kommen sehen.« Die Worte schmecken wie Asche.

Er stellt sich stur. »Wenn ich mit deinem gewilderten Fleisch erwischt werde, lande ich im Kerker. Oder Schlimmeres. Für den Kampf gegen Shaerdan rekrutieren sie inzwischen Jungen, die sind gerade mal vierzehn. Ich darf meine Familie nicht in Gefahr bringen. Nimm deine Ware und geh.«

Tulachs verschlossener Blick und die Wärme der Wahrheit, die in mir aufsteigt, machen meine letzte Hoffnung zunichte. Ich beiße die Zähne zusammen, schultere meine Tasche und stürze aus dem Zelt. Wie soll ich jetzt eine Unterkunft finden?

Die anderen Händler wollen nichts mit mir zu tun haben. Sie schauen weg, sobald ich in ihre Nähe komme. Kehren mir den Rücken zu. Genau wie an jenem Tag, als ich zum ersten Mal ohne Papa zum Markt ging.

Seht Ihr denn nicht, dass wir hier sind, um Euch einen Handel anzubieten? Cohens Worte damals waren hart wie Stahl.

Ich handle nicht mit Shaerdanern, giftete der Mann.

Cohen stellte sich vor mich. Wenn sie eine Shaerdanerin ist, dann seid Ihr ein Hornochse.

Es dauerte einen Moment, bis der Händler die Beleidigung registrierte. Da waren wir schon weggerannt. Die Bemerkung des Mannes tat weh, doch Cohens Beistand linderte den Schmerz.

Wäre er doch jetzt bei mir.

Ich will den Markt gerade verlassen, als der alte Lyman, der in schmutzigen Lumpen auf der Kirchentreppe kauert, seine Bettelschale hebt und aus rissigen Lippen eine Bitte in meine Richtung krächzt. Ich weiß nicht, warum ich stehen bleibe.

Wenn Cohen mich in die Stadt begleitete, gab er den Armen immer ein paar Münzen. Wenn ich in ihrer Lage wäre, würde ich auch hoffen, dass jemand mir Freundlichkeit erweist, sagte er im Brustton der Überzeugung, obwohl ein Mann wie er – der auserwählte Lehrling des königlichen Kopfgeldjägers – niemals ein solches Schicksal erleiden würde. Doch so war Cohen – immer großzügig. Sogar denen gegenüber, die als wertlos galten.

Ich habe nichts, was ich dem alten Lyman geben könnte, und komme mir töricht vor, stehen geblieben zu sein. Ich schüttle den Kopf, leicht verlegen, dass ich mich dazu habe hinreißen lassen.

»Is nett vonnir. ’n Lächln is auch was wert«, nuschelt er aus zahnlosem Mund.

Bevor ich es mir anders überlegen kann, lasse ich meine Tasche von der Schulter gleiten und hole nach einem prüfenden Blick auf das Markttreiben ein Stück Elchfleisch heraus. Es ist klein. Mehr kann ich nicht erübrigen. Ich drücke ihm das Fleisch in die schmutzige Hand und murmle eine Entschuldigung, dass es so wenig ist.

Seine andere Hand legt sich auf meine und hält sie mit zitternden, schlammverkrusteten Fingern behutsam fest. »Die sin hinner dir her, Kleine. Die Garde is schon unnerwegs. Mach schnell.«

Es dauert einen Moment, bis die Warnung bei mir ankommt. Ich reiße meine Hand los, murmle einen Dank und haste nach Hause.

Ich bin fast bei meinem Häuschen etwas außerhalb der Stadt angekommen, als hinter mir ein Schnauben und Wiehern ertönt. In der Ferne donnern Hufe über den kiesbedeckten Weg.

Hektisch halte ich nach einem Versteck für meine Tasche Ausschau. Das am Wegrand angehäufte Laub ist nicht ideal, aber ich habe keine andere Wahl. Verzweiflung kriecht in mir hoch, während ich mein Bündel unter den Blättern vergrabe und mir die Stelle gut einpräge, bevor ich zurück auf die Straße hechte.

Wo soll ich wohnen, wenn sie mein Heim beschlagnahmen?

Staub wirbelt auf, als die Reiter sich nähern. Da erst fällt mir ein, dass ich Papas Dolch in der Tasche mit dem Fleisch gelassen habe. Ich werfe einen Blick in Richtung Blätterhaufen und überlege, ob ich es wagen kann, mir die Waffe zu holen, doch es ist schon zu spät. Sechs Männer in roten Mänteln mit grauen Streifen und dem Wappen des Königs – ein Kreis mit einem Hirschkopf in der Mitte – kommen in Sicht.

Ich schiebe meinen Rock tiefer in die Taille und zupfe mir abgebrochene Zweige aus den Haaren. Als der Trupp mich fast erreicht hat, teilt er sich auf und umstellt mich, drei Reiter zu meiner linken, drei zu meiner rechten Seite. Ich mache einen kleinen Knicks, wie es bei der Begrüßung von Adeligen und den Wachen der Königsgarde üblich ist.

Ein Mann mit grimmigem, wettergegerbtem Gesicht zügelt seine Stute so dicht vor mir, dass mir ihr heißer, nach Heu riechender Atem ins Gesicht schlägt. Ich unterdrücke ein Husten, straffe die Schultern und halte mich gerade wie ein Baum. Der Mann muss der Anführer sein, denn er hat die meisten Streifen auf der Schulter. Fünf an der Zahl.

»Tessa Flannery.« Eine Feststellung, keine Frage. »Wo warst du?«

»Spazieren.« Ich sehe stur geradeaus, obwohl mein Blick am liebsten zu dem Laub am Wegrand wandern würde.

»Ach ja?«

Bei seiner Skepsis wird mir unbehaglich. Ich bin ohnehin oft um Worte verlegen, und diesmal fühlt es sich an wie ein Todesurteil, während ich krampfhaft nach einer glaubwürdigen Antwort suche.

»Vielleicht könntest du uns erklären, was das ist.« Er weist mit dem Kinn zum Wegrand, wo einer der Männer vom Pferd gestiegen ist und meine Tasche aus dem Versteck holt. Nein! Angst durchfährt mich.

Ich bezwinge den Impuls, ihm das Bündel zu entreißen und loszurennen. Stattdessen gebe ich mich ahnungslos. »Ich … ich weiß es nicht.«

»Die Tasche trägt das Zeichen deines Vaters.« Der Anführer kneift die Lippen zusammen, so dass sie fast unter dem sorgfältig gestutzten, grau durchzogenen Bart verschwinden.

Wenn sie das Fleisch sehen, werden sie mir vorwerfen, dass ich gewildert habe. »Seid Ihr wegen meines Vaters Land hier?«, frage ich, um sie abzulenken. Lieber verliere ich mein Heim als mein Leben.

»Nicht frech werden, Kleine«, sagt eine der Wachen böse grinsend, »das ist der Hauptmann, mit dem du da redest.«

Der Hauptmann der Garde? Das erklärt den verächtlichen Ton und die finstere Miene. Er untersteht direkt dem König. Warum haben sie keine einfachen Gardewachen geschickt?

Auf ein Zeichen des Hauptmanns hin leert der Mann mit meiner Tasche deren Inhalt auf die Straße, und die Fleischstücke, mein Bogen und mein Dolch purzeln heraus. Ich werde blass und starre verzweifelt auf die getrockneten Elchstreifen.

»Wir sind wegen der Besitztümer deines Vaters gekommen. Aber offenbar hast du im Jagdgrund des Königs gewildert.« Die Stimme des Hauptmanns ist kühl und erschreckend ruhig. Seine Finger trommeln einen schier endlosen Moment lang auf den Schwertgriff, bevor er weiterspricht. »Nehmt sie in Gewahrsam.«

Grobe Hände greifen nach mir, erwischen aber nur den Ärmel meines Hemds, als ich mich wegducke. Der Stoff reißt, und dann fliegen Fäuste und Ellbogen, ihre, meine – ich denke nicht darüber nach. Alles, was zählt, ist Papas Dolch, ich muss ihn unbedingt zu fassen kriegen. Irgendwie schaffe ich es, mich von den Wachen loszureißen. Ich erreiche die Stelle, wo das Fleisch und meine Waffen liegen. Fege die eingewickelten Portionen zur Seite. Ertaste die vertraute Rundung aus Elfenbein und –

Ich werde hart zu Boden gestoßen. Erde und Kies knirschen mir zwischen den Zähnen. Jemand zerrt mir die Arme auf den Rücken, dann bekomme ich einen so heftigen Tritt, dass mir die Luft wegbleibt. Hustend und keuchend spucke ich Blut und Speichel und Staub. Der Hauptmann hebt meinen Dolch vom Boden auf.

»Nein!«

Er packt mich am Zopf und reißt meinen Kopf herum. »Hör auf, sonst mache ich gleich hier kurzen Prozess mit dir. Es ist meine Pflicht, dafür zu sorgen, dass Gesetzesbrecher ihrer gerechten Strafe zugeführt werden. Und auf Wilderei steht der Galgen.«

An der elenden Hitze in meinem Bauch erkenne ich, dass er es ernst meint.

Wie eine schlaffe Puppe lasse ich mir von einem bärenstarken jungen Kerl, der nicht viel älter sein kann als ich, Handschellen anlegen und mich auf ein Pferd hieven. Dann schwingt er sich hinter mir in den Sattel und umschlingt mich mit eisernem Griff. Jetzt, da die Garde tatsächlich gekommen ist und die Wilderei meine Lage unendlich viel schlimmer gemacht hat, fühle ich mich wie gelähmt vor Mutlosigkeit, während der Trupp zurück zur königlichen Burg galoppiert. Sie haben mir alles entrissen, was mir geblieben ist. Meine Waffen, meine Beute und mein Land. Mir bleibt nur noch das nackte Leben. Und mein Verbrechen wiegt so schwer, dass die Königsgarde mir zweifellos auch das schon bald nehmen wird.

Drei

Eine Stunde nachdem die Garde mich erwischt hat, taucht Schloss Neart vor uns auf. Die Burg krallt sich wie ein riesenhaftes Ungetüm in die Gebirgshänge, die hinter Brentyn aufragen. Sechs Arme – Spitztürme und ziegelrot gedeckte Wehranlagen – wachsen zum Himmel empor. Säulengänge verstecken sich wie eine Vielzahl von Beinen unter einem zehn Mann hohen, von Zinnen gesäumten Steinrock. Obwohl ich Schloss Neart schon ein paarmal gesehen habe, als ich mit Papa unterwegs war, schüchtert mich der eindrucksvolle Anblick ein. Ich bin eine Ameise, die zerquetscht werden wird.

Die Brücke am Eingang der Burg wölbt sich über eine tiefe, zerklüftete Schlucht. Ein Dutzend Steinsäulen tragen die hölzernen Planken, die beim Überqueren bedrohlich ächzen, eine Erinnerung an den tödlichen Abgrund, der unter uns klafft. Würde uns vom anderen Ende nicht der fürchterliche Gestank von Exkrementen entgegenschlagen, es wäre eine Erleichterung, wieder festen Boden zu erreichen. Der Geruch der Gülle, die dort in den Burggraben gekippt wird, verfolgt uns noch bis zum Wachhaus und in den Innenhof hinein.

Sobald wir uns auf dem Burggelände befinden, wird der Griff meines Wächters noch fester und er presst mich an seinen Körper, der Mistkerl. Als könnte ich in Handschellen und ohne Waffen fliehen. Im Hof angelangt zügelt er sein Pferd, das daraufhin neben den anderen stehen bleibt. Um die Hufe wirbelt Staub auf. Erst jetzt lässt mir der Grobian ein wenig Raum zum Atmen.

In den Ställen herrscht rege Betriebsamkeit. Knechte kümmern sich um schwere Zugpferde und kräftige Schlachtrösser. Mein Bewacher sitzt ab und zieht mich so ruckartig mit hinunter, dass ich auf die Knie falle. Schmerz zuckt mir durch die Beine. Der Mann packt mich mit seinen Pranken in den Achselhöhlen, wuchtet mich hoch und brummt etwas, das sich wie ’tschuldigung anhört. Doch das kann nicht sein. Ein Mitglied der Königsgarde würde sich niemals entschuldigen. Besonders nicht bei mir.

Der Hauptmann bellt einen Befehl und ein Stallknecht erscheint, um die Pferde zu versorgen. Ich werde von Gardewachen in die Mitte genommen. Einer schubst mich vorwärts und ich stolpere durch Schlamm und Pferdemist, weg vom Eingangstor, weg von der Freiheit.

Aus der Schmiedewerkstatt wabert Hitze und schlägt uns ins Gesicht, während wir auf eine weitere hohe Mauer und ein anderes Tor zumarschieren. Es besteht aus zwei gewaltigen Holzflügeln unter einem steinernen Bogen. Weiter bin ich noch nie gekommen. Nur wenige dürfen den inneren Mauerring passieren. Dass ich ihn einmal von Wachen begleitet durchschreiten würde, hätte ich mir nie träumen lassen.

Die Hitze aus der Schmiede dörrt meine Kehle aus. Laufe ich gerade meinem Tod entgegen? Bei den erdrückenden Beweisen, die sie haben, werden sie mich bestimmt hängen. Meine Füße sind so schwer, als steckten sie in eisernen Stiefeln.

Das Bogentor führt geradewegs auf den zentralen Innenhof der königlichen Residenz. Dort hat sich eine Menschenmenge versammelt, Lords und Ladys aller Adelshäuser. Verwirrt blicke ich mich um. So viele Leute, und alle in feinem Pelz und schillernder Seide, in Schnabelschuhen, die Männer mit steifen Hüten, die Frauen mit spitzenbesetzten Schleiern. So ganz anders als ich mit meinen schmutzigen Fetzen. Warum bringt mich der Hauptmann ausgerechnet hierher? Die Wachen stoßen mich an der Rückseite des Hofs entlang zu einem kunstvoll verzierten Bogengang. Während wir im Schatten der Säulen dahinmarschieren, kann ich die feine Gesellschaft immer noch sehen.

Obwohl Papa den Rang eines Adeligen genoss, hatte er kein Lehnsgut und somit auch keine Einkünfte durch die Abgaben von Vasallen. Den Prunk, den diese Menschen hier zur Schau stellen, hätte er sich nie leisten können. Doch selbst ihr teurer Putz verblasst neben den mit Juwelen besetzten Kleidern und der goldenen Krone des jungen Mannes, der auf der Steintreppe am anderen Ende des Hofes steht. Ich erschrecke, als mir klar wird, dass diese glänzende Erscheinung König Aodren ist, der Herrscher von Malam. Ich habe ihn noch nie zu Gesicht bekommen, da er die Burg nur selten verlässt. Seine Jugend, sein goldenes Haar und sein gewinnendes Aussehen sind beliebtes Stadtgespräch. Jetzt sehe ich, dass der Tratsch der Marktweiber nicht ganz aus der Luft gegriffen ist.

Als die Wachen mit mir in einen anderen Gang einbiegen, werfe ich einen letzten neugierigen Blick auf König Aodren – und auf den Mann neben ihm. Lord Jamis, der engste Berater des Königs, war Prinzregent, bis Aodren mit achtzehn die Führung des Landes übernahm. Er hält eine Rede, aus der Wortfetzen wie zu den Waffen gerufen, Grenze und Shaerdan zu mir dringen. Strenge Züge, nachtschwarzes, von Silberfäden durchzogenes Haar und glühende, tiefdunkle Augen zeichnen den Obersten Lord aus. Der König hingegen ist groß und schmal, mit blasser Haut und verhangenem, gleichgültigem Blick.

Bei allen Senfkörnern, einen beeindruckenden Herrscher haben wir da. Ärger und Frust wallen in mir auf. Diesem Bürschchen, das nur wenige Jahre älter ist als ich, hat es in seinem Leben noch nie an irgendetwas gefehlt. Er wurde nie geächtet. War nie allein. Musste nie Hunger leiden. Und offenbar hat er es auch nicht nötig, zu seinem Volk zu sprechen. Warum war Papa diesem verwöhnten Kerl so treu ergeben?

Ich verweile nicht lange bei diesem Gedanken, denn meine Eskorte ist nun vor einer massiven, mit Riegeln und Schlössern bewehrten Holztür angekommen. Entsetzen fährt mir in alle Glieder, als ich begreife, dass diese Pforte in das Innerste Verlies führt, das berüchtigte Gefängnis des Königreichs. Die Beine werden mir so weich, dass der Hauptmann mich vorwärtszerren muss, während ein Wächter die Tür entriegelt und aufschiebt. Ein Koloss von einem Mann, ebenso breit wie hoch, kommt zum Vorschein. An dem Ledergürtel um seinen mächtigen Leib klirrt ein Schlüsselbund.

»Ah, bringt ihr mir Frischfleisch?« Der plumpe Scherz und das freudlose Feixen des Riesen rauben mir das letzte Restchen Fassung. Ich merke gar nicht, dass ich zurückweiche, bis sich die Hand des Hauptmanns in meinen Arm gräbt.

Er stößt mich über die Schwelle. »Sie gehört dir, bis das Urteil gesprochen wird.«

Die Tür fällt ins Schloss, der Riegel wird vorgeschoben und ich bin mit dem Kerkermeister im Halbdunkel gefangen.

Ein Tag ist vergangen, vielleicht auch zwei. Der Gestank hier unten im Innersten Verlies würde selbst hartgesottenen Männern die Sinne vernebeln. Meine Zelle ist winzig, nicht größer als ein Pferdeverschlag, und Generationen von Gefangenen haben die Rückwand als Abort benutzt. Wenn ich zu tief einatme, muss ich gegen den Würgereiz ankämpfen.

Ich kneife die Augen zu, weil das Stöhnen der anderen Gefangenen an meinen Nerven zerrt. Es ist zu dunkel, um irgendetwas zu sehen, dadurch wirkt das unaufhörliche Rascheln und Winseln noch lauter. Eine Frau in meiner Nähe murmelt etwas von Feuer und davon, dass ihre Berührung nutzlos sei, doch dann bekommt sie einen Hustenanfall. Nach einer Weile geht ihr Husten in röchelndes Atmen über.

Sie hat nur noch wenige Tage zu leben. Ich wünschte, ich könnte das nicht mit solcher Gewissheit sagen, aber ich kenne den Tod von klein auf und weiß, dass ihre Kräfte schwinden. Ich massiere meine schmerzenden Handgelenke.

Da flackert in der verhüllenden Finsternis eine Laterne auf wie ein glühendes Katzenauge und beleuchtet den Arm ihres Trägers, der sich mir nähert.

»Er ist bereit, dich zu empfangen.« Die Stimme des Kerkermeisters ist kratzig, als hätte er seit Monaten kein Wasser mehr getrunken oder kein Tageslicht mehr gesehen – sie passt zu dem zerzausten Bart, der wie wildes Gestrüpp an seinem Kinn sprießt.

Ich straffe die Schultern und bemühe mich, trotz meiner geschundenen Erscheinung stolz und furchtlos zu wirken. Schwächen haben dich in der Hand, hat Papa immer gesagt. »Der König?« In Gedanken sehe ich den schlanken jungen Mann über mein Schicksal entscheiden.

»Heiliger Schweinskopf, nein! Der Oberste Lord.« Sein Akzent erinnert mich an die Händler aus Fennit, einem Ort nahe der Grenze. In Shaerdan und in den Städten der Grenzregion verwenden die Leute zwar überwiegend dieselben Wörter wie wir, aber die Aussprache ist anders.

Der Kerkermeister hält die Laterne hoch und schließt mit einer Hand die Zelle auf. »Hast ordentlich Mumm, hab ich gehört, obwohl du nur so ’n Hänfling bist. Tu, was man dir sagt, dann verrottest du nich wie die andern hier.«

Ich nicke und versuche, einen Blick auf die todkranke Frau zu erhaschen. »Warum ist sie hier?«

Er legt den Kopf schräg, als begreife er nicht ganz, wieso mich das interessiert. »Das Weibsstück da? Is aus Shaerdan rübergekommen. Eine von diesen Hexen.«

Mir fällt ihr Gemurmel wieder ein. Meine Neugier ist geweckt.

»Sie liegt im Sterben«, sage ich leise, mehr zu mir als zu ihm.

»Ja. Is auch besser so. Von der Sorte wollen wir hier keine haben.« Er legt mir Handschellen an und schiebt mich vorwärts. Ich weiß sehr wohl, was mit den Leuten passiert ist, die Papa aufgespürt hat. Verräter und Spitzel wurden gefoltert, bis sie ihr Wissen preisgaben, und dann hingerichtet. Animisten wurden gehängt. Ich wünsche der Frau, dass ihr Leiden schnell zu Ende geht.

»Was hast du denn angestellt?«, fragt er, als wir die Treppe hinaufsteigen.

»Gewildert.«

Er nickt ernst. »Ein Kapitalverbrechen.«

Ich schlucke und folge ihm durch eine zweite Tür bis zum Ausgang des Verlieses. Geblendet vom Tageslicht, das den Innenhof durchflutet und sich in den Bogengang ergießt, bekomme ich kaum mit, wie eine andere Wache mich durch eine Tür und dann eine Wendeltreppe hinaufschiebt. Wir gehen an weiteren Wachen vorbei durch einen langen Gang. Der Prunk, der im Inneren der Burg herrscht, raubt mir den Atem. Anstelle von geflochtenen Binsen auf Steinboden liegen hier farbige Wollteppiche auf poliertem Granit wie Blutlachen.

Vor einer lackierten Eichentür mit Eisenbeschlägen bleiben wir stehen. Ich blinzle mein schemenhaftes Spiegelbild auf der glänzenden Oberfläche an, als plötzlich zwei Wachen herauskommen und einen Gefangenen mitschleifen. Der Mann ist nichts als Haut und Knochen. »Bitte … tötet mich nicht … m-meine Familie …«

Entsetzt sehe ich zu, wie sie ihn abführen. Sein verzweifeltes Flehen hallt von den Wänden wider.

Die Wache stößt mich in den Raum. »Sprich nur, wenn man es dir befiehlt«, schnauzt der Mann.

Ich mache ein finsteres Gesicht und trete von ihm weg, während ich das Bild des Gefangenen aus meinem Kopf verdränge.

Mit einem einzigen Möbelstück aus der kostbaren Einrichtung dieses Zimmers könnte ich mein Land auf einen Schlag zurückkaufen. Kaum auszudenken, wie viel die Bücherwand wert ist, die bis an die Decke reicht. Jedes Staubkorn, jeder Blutfleck auf meinem zerrissenen Rock kommt mir vor wie ein Pockenmal. Am liebsten würde ich in dem spiegelblanken Boden versinken.

»Interessiert dich etwas?«

Meine Aufmerksamkeit springt zu dem Mann, den ich im Hof neben dem König gesehen habe: Lord Jamis. Mein Blick wandert höher und höher. Bei allen Senfkörnern, der Oberste Lord ist mindestens drei Handbreit größer als ich. Er durchschreitet den Raum, bleibt hinter einem Schreibtisch stehen und lässt sich dann mit der Anmut einer Raubkatze in einen Sessel gleiten. Auf sein Zeichen hin nimmt mir die Wache die Handschellen ab. Erleichtert reibe ich mir die Gelenke, bis ich merke, dass die schwarzen Augen des Obersten Lords die Bewegung verfolgen.

»Das hier ist meine Studierstube, mein liebstes Zimmer im Palast«, sagt Lord Jamis. »Es ist erhebend, so viel Wissen in Griffweite zu haben.«

Ich hüte mich, etwas zu antworten.

Seine langen Finger spreizen sich in Richtung eines blutroten Stuhls. »Setz dich, Tessa – Verzeihung, Miss Flannery. Nehmt doch bitte Platz.«

Verunsicherung steigt in mir auf, während ich meine zerlumpte Tunika glatt streiche, den abgerissenen Ärmel über die Schulter ziehe und mich langsam auf die Stuhlkante sinken lasse.

»Ich möchte Euch mein Beileid ausdrücken. Saul wurde hier hoch verehrt. Als militärischer Berater und Sprecher des Königs kann ich sagen, dass selbst König Aodren um Euren Vater trauert.« Diese Bekundung kommt unerwartet und erregt meinen Unmut, obwohl ich die Wärme der Ehrlichkeit in mir spüre.

»Ihr vermisst ihn sicher sehr. Ihr seid ihm auf Schritt und Tritt gefolgt, wie man mir berichtet hat.« Die Andeutung eines Lächelns umspielt seine Lippen und macht seine scharfen Gesichtszüge etwas weicher. Offenbar belustigt ihn die Vorstellung, dass ich Papa überallhin nachgelaufen bin. Ich koche vor Wut. Hätte ich meinen Bogen, dann würde ich ihm das Lächeln aus dem Gesicht schießen.

»Bin ich hier, um über meinen Vater zu sprechen?« Mein scharfer Ton erschreckt mich selbst.

»Diese Direktheit.« Seine Augen blitzen, und ich beiße mir auf die Zunge. Hätte ich doch nur nichts gesagt. Er stützt die Ellbogen auf den Tisch und legt die Fingerspitzen zusammen. »Seid Ihr nicht der Wilderei überführt worden?« In seiner Stimme schwingt kein Zorn mit, was mich eigentlich erleichtern sollte, meine Beklemmung aber noch steigert.

Ich nicke. Wenn ich nur wüsste, wie ich reagieren soll. Auf keinen Fall will ich das Falsche sagen und mir damit selbst den Strick um den Hals legen.

»Die Menge an Fleisch in Eurer Tasche würde ausreichen, um einen Mann an den Galgen zu bringen. Oder eine Frau.« Ich halte den Atem an. »Habt Ihr das Wild allein erbeutet?«

Ich senke wieder das Kinn, und seine Antwort besteht in einem sanften Blick, bei dem sich Fältchen um seine Augen zeigen. Seine Höflichkeit verwirrt mich. Ich mustere seine entspannten Schultern und sauberen Hände und blinzele den Druck hinter meinen Augen weg.

Lord Jamis schiebt das Buch auf seinem Schreibtisch beiseite, greift in eine Schublade und bringt ein Messer zum Vorschein. »Erkennt Ihr diesen Dolch?«

Meine Augenbrauen zucken in die Höhe. Auf dem Griff aus Elfenbein, in den ein verschlungenes Muster eingraviert ist, blitzt ein Saphir von der Größe einer Träne. Das ist nicht mein Dolch, obwohl meine Waffe fast identisch aussieht. Der Saphir ist auf der anderen Seite des Griffs, das heißt, er gehört Cohen. Wie ist Lord Jamis an Cohens Dolch gekommen? Ist ihm etwas …

Unruhe kribbelt mir auf der Haut und lähmt meine Gedanken, während Lord Jamis mit den Fingern auf den Griff trommelt. Einmal langsam, zweimal schnell.

»Mit dieser Waffe wurde Saul getötet.«

Bevor ich begreifen kann, was er da gerade gesagt hat, zieht er einen Mantel hervor, der von Blutflecken dunkel verfärbt, aber dennoch unverkennbar ist. »Und der hier wurde neben dem Dolch gefunden.«

»Cohen«, hauche ich fast tonlos, ehe ich merke, dass ich seinen Namen ausgesprochen habe. Nein. Nein. Nicht er. Ich verschränke die Arme, lege sie schützend um meine Taille – um das warme Gefühl in meinem Bauch. Mir ist klar, was der Oberste Lord mit diesen Gegenständen beweisen will, aber dass Cohen Papas Mörder sein soll, glaube ich niemals. Unmöglich. Cohen hat Papa geliebt.

»Jemand muss das Messer gestohlen haben«, sage ich. »Nur weil die Waffe oder ein Mantel gefunden werden, heißt das nicht, dass deren Besitzer der Mörder ist.«

»Beides gehört Cohen Mackay, beides ist mit Sauls Blut befleckt, beides war bei seiner Leiche. Dieser Dolch« – seine langen Finger schließen sich fest um den Griff – »steckte im Rücken Eures Vaters.«

Ich zucke zusammen. »Aber … Cohen ist nicht mehr da.« Meine Stimme klingt furchtbar brüchig. Ich atme tief durch und setze neu an. »Er kann es nicht getan haben. Jemand muss gewollt haben, dass es so aussieht, als hätte Cohen meinen Vater getötet.«

»Vielleicht.« Lord Jamis’ Blick wird weich und verrät etwas, das mir nicht oft entgegengebracht wird – Mitleid. »Allerdings wurde Cohen in der Tatnacht in derselben Stadt gesehen wie Saul.«

»Ein Zufall«, setze ich dagegen. Der Cohen, den ich kenne, ist kein Mörder. Er war ein Dorfjunge, der ein ungewöhnliches Talent für die Jagd bewiesen hatte. Als mein Vater den Prinzregenten bat, ihm einen würdigen Schüler zu finden, ergatterte Cohen die hohe Ehre, beim Kopfgeldjäger des Königs in die Lehre zu gehen. Aber er liebte seine Familie so sehr, dass er sich jeden Frühling und Sommer auf ihrem Hof abrackerte und dann die Winter an der Seite meines Vaters verbrachte. Alles, was er tat, war darauf ausgerichtet, seinen Eltern und Geschwistern ein besseres Leben zu ermöglichen. Ein solcher Mensch ermordet doch nicht seinen Mentor.

»Es gibt Zeugen.« Lord Jamis macht eine Pause. Er sitzt so still da, dass man meinen könnte, er atme nicht einmal. Sein Schweigen ist erdrückend. »Zwei Männer haben ausgesagt, sie hätten gesehen, wie Cohen Euren Vater ermordete.«

In meinem Bauch macht sich wieder die Hitze der Wahrheit breit. Zerreißt mich von innen.

Zum ersten Mal in meinem Leben verabscheue ich die sonderbare Gabe meines Körpers. Ich kann nicht glauben … will nicht glauben, was er sagt. Nicht Cohen. Nicht mein Cohen.

»Es muss eine Erklärung dafür geben.« Die Worte platzen aus mir heraus. »Er kann einfach nicht … Er würde nie … Mein Vater war wie ein zweiter Vater für Cohen.« Ich presse das letzte Wort heraus. Sosehr ich mich daran klammere, dass die Behauptung des Obersten Lords falsch sein muss, so wenig kann ich erklären, wohin Cohen verschwunden ist, was es mit den Beweisstücken auf sich hat oder warum Lord Jamis’ Worte sich wahr anfühlen. So verhängnisvoll wahr.

Lord Jamis runzelt die Stirn. »Ich hatte gehofft, Ihr wärt froh, es zu erfahren.«

Froh? Ich starre die blutroten Stickereien auf seinem Sessel an und versuche, den Schock und die rasende Wut in meinem Innern zu bändigen. »H-hat er seine Schuld gestanden?«

Lord Jamis legt den Dolch neben das Buch und drückt die Handflächen auf den Tisch. Er braucht nicht zu antworten; seine steinerne Miene sagt alles. Sie haben Cohen noch nicht geschnappt. Im Fährtenlesen, Jagen und Verstecken konnte meinem Vater niemand das Wasser reichen. Niemand außer Cohen.

Niemand außer mir.

Ich betrachte Lord Jamis’ makelloses Hemd und das sorgsam gekämmte Haar. Als rechte Hand des Königs ist er zweifellos hochgebildet. Und schlau. Er muss wissen, dass der Mensch, der am ehesten in der Lage wäre, Cohen aufzuspüren, hier vor ihm sitzt. »Ihr wollt, dass ich ihn finde«, sage ich. Die Erschütterung ist mir deutlich anzuhören.

»Ja.«

Ich hebe den Kopf und starre Lord Jamis an, doch mein Blick geht ins Leere. »Warum sollte ich das für Euch tun?«

»Ihr seid der Wilderei überführt. Darauf steht der Tod durch den Strang, und Hauptmann Omar verlangt, dass der Gerechtigkeit Genüge getan wird. Es wäre eine Tragödie, eine so ausgezeichnete Jägerin zu verlieren, daher habe ich dem Hauptmann einen Handel vorgeschlagen, mit dem Ihr Euch von Eurem Verbrechen freikaufen könnt.«

Ich blicke kurz auf meine schmutzigen Hände und schaue dann wieder zum Obersten Lord auf.

Mein Herzschlag pocht mir wütend in den Ohren. »Mein Leben gegen Cohens?«

Er lächelt mit einem Anflug von Stolz und entblößt dabei eine Reihe großer Zähne. »Richtig.«

Vier

Lord Jamis’ Angebot und die Anschuldigungen gegen Cohen wühlen mich zutiefst auf. Wie gelähmt vor Trauer, Zweifel und Entsetzen sitze ich reglos da, während der Oberste Lord den Raum durchquert und drei Wachen hereinholt. Den Hauptmann, den jungen Grobian, der mich festgehalten hat und der kräftig und muskulös ist wie ein Bulle, und einen spindeldürren Kerl, dessen spitzes Gesicht mich an einen Fuchs erinnert.

Lord Jamis klopft dem Hauptmann auf den Rücken. »Als Anführer meiner Garde wird Hauptmann Omar Eure Sicherheit gewährleisten.« Die Garde des Königs, meint er wohl, aber natürlich verbessere ich ihn nicht. »Leif und Tomas werden ebenfalls auf die Jagd mitkommen.« Der Bulle und der Fuchs. »Sobald Ihr Mackay aufgespürt habt, werden sie ihn hierherbringen.«

Ich begegne Hauptmann Omars unbeweglicher Miene und frage mich, ob er über diese Wendung erfreut ist oder mich lieber am Galgen sähe. Die Aussicht, mit ihm und seinen Männern loszuziehen, ist alles andere als reizvoll. Tomas, der neben dem Hauptmann steht, hat einen verschlagenen, nervös umherspringenden Blick; er wirkt auf mich wie jemand, der einen Mann im Schlaf erstechen würde. Und der Große, Leif, kann sich mit seiner gewaltigen Statur unmöglich geräuschlos durch den Wald bewegen. Andererseits ist Cohen auch nicht viel kleiner und hatte schon immer die Anmut einer Raubkatze.

Cohen. Er kann Papa nicht getötet haben. Oder doch? Die Beweise sind nicht zu leugnen. Ich bohre mir die Fingernägel in die Handflächen, um mich mit dem Schmerz abzulenken.

Ich sehe Leif direkt ins Gesicht. »Drei Wachen sind unnötig. Das macht es nur schwerer, unentdeckt zu bleiben.«

Leif verlagert sein Gewicht und verzieht unwillig den Mund.

»Es geht darum, Mackay zu fangen«, entgegnet der Hauptmann in einem missmutigen Ton, der keinen Hehl aus seiner Ablehnung macht. »Du magst eine gute Fährtenleserin sein, aber eine Kämpferin bist du nicht. Wie leicht man dich überwältigen kann, hat deine Festnahme deutlich gezeigt.«

Das war eine Ausnahme, bin ich drauf und dran zu erklären. Doch dann erinnere ich mich, wie er bei unserer ersten Begegnung mit mir umgesprungen ist, und verbeiße mir eine Antwort.

»Die Wachen sind nicht verhandelbar«, sagt Lord Jamis, während er zurück an seinen Schreibtisch geht und eine Landkarte ausbreitet. »Da die Lords ihre besten Kämpfer an die Grenze geschickt haben, sind die Lehen des Königreichs nicht mehr so gut bewacht. Es wäre gefährlich, allein zu reisen. Und es könnte sein, dass die Jagd Euch über die Grenze führt. Ihr werdet den Schutz von Hauptmann Omar und seinen Männern brauchen.«

»Shaerdan?«, frage ich, ohne meine Zweifel verbergen zu können. Dass Cohen Malam ohne Erlaubnis des Königs verlassen haben soll, kann ich nicht glauben. Dafür würde er als Verräter gebrandmarkt und zur Strafe so lange gefoltert, bis er um den Strick betteln würde. Andererseits sucht man ihn bereits als Mörder des königlichen Kopfgeldjägers. Was macht es da schon, wenn er auch noch als Verräter gilt?

Tomas, der drahtige Kerl mit dem Fuchsgesicht, wirkte plötzlich angespannt, als ich Shaerdan erwähnt habe. Ich frage mich, ob er sich wegen des bevorstehenden Krieges sorgt oder eher die schwarze Magie des Landes fürchtet. Er merkt, dass ich ihn beobachte, und funkelt mich böse an.

Der Hauptmann tritt neben Lord Jamis und studiert die Landkarte. Er tippt auf eine bestimmte Stelle. »Wir brechen morgen bei Sonnenaufgang auf. Vorher sollte unsere Fährtenleserin so ausgestattet werden, dass sie weniger Aufmerksamkeit erregt.«

Lord Jamis nimmt mein strähniges Haar und den schmutzigen Rock in Augenschein und nickt zustimmend.

»Vielleicht ist die Göre ja ganz appetitlich, wenn sie mal sauber ist.« Zu meiner Rechten grinst Tomas anzüglich.

Leif reagiert nicht, aber ich versteife mich. Tomas’ Bemerkung verheißt nichts Gutes; wenn er sich an mir vergreifen will, bringe ich ihn um, und dann werde ich wohl wegen Mordes hingerichtet. Vom Schreibtisch hinter Lord Jamis lockt Cohens Dolch. Er könnte mir zur Flucht verhelfen. Jetzt, da ich keine Handschellen mehr trage, wäre es ein Leichtes, hinzuspringen und mir die Waffe zu schnappen. Wenn ich sie dem Fuchs an den Hals lege, könnte ich ihn als Schutzschild benutzen und so durch die Tür gelangen. Die Flure entlangrennen. Die Treppe hinunterhetzen. Aber wie würde ich an den Wachen am Tor vorbeikommen?

Sei’s drum. Ich würde es ohnehin nicht über mich bringen, den Dolch anzufassen, der Papas Leben beendet hat.

Wohl oder übel verwerfe ich den Plan, und während Hauptmann Omar und seine Männer den Raum verlassen, nehme ich mir vor, Tomas im Auge zu behalten. Es wird sich schon noch eine Möglichkeit zur Flucht bieten. Zumindest hoffe ich das.

»Man wird Euch neue Kleidung und einen Badezuber ins Verlies bringen«, sagt Lord Jamis zu mir.

Ich löse den Blick von Cohens Dolch. »Ich habe nicht gesagt, dass ich mitgehe.«

Er kräuselt verwundert die Lippen.

Es liegt nahe, dass jemand in meiner ausweglosen Lage sein Angebot annehmen würde, aber er scheint nicht zu begreifen, dass ich schon alles verloren habe. Oder vielleicht begreift er das sehr wohl und glaubt, dass Rache Grund genug wäre, mich zu überzeugen. Eigentlich müsste das so sein.

»Ihr wollt, dass ich mich bereit erkläre, den Mörder meines Vaters aufzuspüren.« Das klingt falsch, so fürchterlich falsch. »Wozu? Mein Leben für seines? In welches Leben sollte ich denn zurückkehren? Mein Land und mein Haus gehören nun dem König. Ich kann also nirgends hin. Ohne eine Unterkunft bringt mich der Winter ohnehin um. Falls der Hauptmann oder seine Männer das nicht schon vorher erledigen.«

»Der Hauptmann hat darauf bestanden mitzukommen. Er will sichergehen, dass Ihr Euren Teil der Abmachung erfüllt. Ihr habt nichts zu befürchten, wenn Ihr Euch an unsere Vereinbarung haltet.« Lord Jamis setzt sich hinter seinen Schreibtisch und betrachtet mich beinahe mitleidig. »Und die anderen Wachen werden Euch nichts zuleide tun. Vertraut mir.«

Ich konnte es mir noch nie leisten, irgendjemandem außer meinem Vater und Cohen zu vertrauen. Und selbst das hat mir nicht viel gebracht, wenn man bedenkt, dass einer dieser beiden nun tot ist und der andere wegen Mordes gesucht wird. Da werde ich einen Teufel tun, wildfremden Menschen mein Vertrauen zu schenken.

Als ich nicht antworte, beugt er sich vor, die Ellbogen auf den Tisch gestützt. »Vielleicht könnte ich noch etwas anderes anbieten, um Euch zu überzeugen.« Er hat die Stimme gesenkt und spricht so eindringlich, dass ich gespannt lausche. »Das Gesetz verbietet es, dass Ihr als uneheliches Kind den Besitz Eures Vaters erbt. Doch wenn Ihr Mackay findet, überlasse ich Euch sein Land und das Haus.«

Noch eine Wahrheit.

Mir stockt der Atem, so verblüfft bin ich, dass ich ihm ein solches Zugeständnis abgerungen habe. »Unmöglich. Das liegt nicht in Eurer Hand.«

Über seinem ebenholzschwarzen Bart zeichnet sich ein huldvolles Lächeln ab, während er sich mit gespreizten Armen breitschultrig aufrichtet. »Ich bin befugt, über das Kopfgeld zu entscheiden, das unsere Jäger erhalten. Als Oberster Lord bin ich außerdem für die Ländereien des Königs verantwortlich. Wenn Ihr Euer Anwesen zurückwollt, kann ich Euch diesen Wunsch gewähren.«

Ich könnte alles behalten, was Papa hinterlassen hat, nicht nur den Dolch. Ich hätte ein Zuhause. Papas Zuhause. Mein Zuhause.

Mein Leben und mein Land gegen Cohen – das Angebot ist ebenso abstoßend wie verlockend.

Will ich ernsthaft Jagd machen auf meinen einzigen Freund? Aber das ist es ja. Er ist nicht mein Freund.

»Sauls Ermordung ist eine Schande für das Königreich. Und Ihr habt Euren Vater verloren«, ruft mir Lord Jamis in Erinnerung. »Das Angebot mag unerwartet sein, doch wie Ihr gesagt habt: Es gibt keinen Ort, an den Ihr zurückkehren könntet. Euer Stück Land bedeutet dem König nichts. Stellt Malams Stolz wieder her und rächt Euren Vater, dann wird das Haus Euch gehören, wenn Ihr wiederkommt.«

Papa war alles, was ich noch hatte. Meine Entscheidung fällt auf ihn. Ich drücke die Hand gegen das Brustbein, so weh tut es.

»Ich gehe.«

Mein frisch gewaschenes Haar ist zu einem Zopf geflochten und unter einer Männerkappe versteckt. Der Hauptmann hat sie mir gegeben, zusammen mit einer Hose und einer Tunika. Ich müsse als Junge reisen, ordnete er an, um weniger Aufmerksamkeit zu erregen. Das ist mir nur recht. Hosen sind bequemer als Röcke, und in dieser Hinsicht ist es von Vorteil, dass ich so kleine Brüste habe.

»Leg ihr Handschellen an«, befiehlt der Hauptmann, als Tomas meine Zelle betritt.

Ich weiche zurück. »So war das aber nicht abgemacht.«

»Hättest lieber ’nen Strick um den Hals, was?« Tomas schlängelt sich an mir vorbei und legt mir grob die Eisenringe an. Ich verbeiße mir einen Aufschrei, als sie die Stellen berühren, die noch vom letzten Mal wund gescheuert sind.

»Wenn du Mackay nich findest, lässt dich der Hauptmann nich frei.« Tomas’ nasale Stimme tropft vor Abscheu. »Nich den Balg einer Shaerdanerin.«

»Lass sie los, Tomas«, schnauzt der Hauptmann.

Der Mann gehorcht, indem er mich so grob aus der Zelle stößt, dass ich geradewegs in Leif hineinstolpere, der vor der Tür aufragt.

Hauptmann Omar weist Leif an, mich aus dem Verlies zu führen. Kurz bevor wir den Ausgang erreichen, höre ich den Hauptmann sagen: »Tomas, ich warne dich. Beim nächsten Mal streiche ich dir die Essensrationen. Heute versorgst du die Pferde …«

Den Rest bekomme ich nicht mit, denn in diesem Moment schließt sich die Tür zum Innersten Verlies hinter uns. Aber die wenigen Sätze sind mir Warnung genug, mich dem Hauptmann nicht zu widersetzen.

Von Papa habe ich gelernt, dass ein guter Fährtenleser das Land um sich herum genau kennen muss. Östlich von uns erstreckt sich das zerklüftete Massiv des Malam-Gebirges, dessen Gipfel selbst im brütend heißen Sommer schneebedeckt sind. Es reicht bis hinauf nach Kolontia, dem Land im Norden, wo Schnee und Eis herrschen. Papa hat mir erzählt, dass einige Bewohner Kolontias in den Kristallhöhlen unter dem nördlichen Teil des Gebirgskamms leben; andere wiederum trotzen den salzigen, eisigen Winden an der Küste, die zwei Drittel des Landes säumt.

An ihrem unteren Ende beschreibt die Gebirgskette einen Bogen nach Westen, wo sie an die Südlichen Lande angrenzt. Dort türmen sich die Sanddünen der Wüste Akaria auf wie Wellen eines gewaltigen Ozeans, und eine Schlucht durchzieht das Land, so tief, wie die Berge hoch sind.