Auf Liebe stand Tod - Max Walter Schulz - E-Book

Auf Liebe stand Tod E-Book

Max Walter Schulz

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Beschreibung

Drei Novellen über deutsche Soldaten im 2. Weltkrieg und ihre sich allmählich ändernde Einstellung zu den Menschen in dem Land, das sie überfallen haben. Ihre Liebe zu einer sowjetischen Frau spielt dabei keine unwesentliche Rolle. Ljuba ist tot. Dass Hellriegel es durch Gitta, seine geschiedene Frau, erfährt, hat Ljuba selbst so gewollt. Und auch, dass er nach Moskau zu ihrem Begräbnis kommt, wo er Andrej, ihrem und seinem Sohn, begegnen wird. Drei Jahrzehnte sind vergangen. Doch was im Jahr 1944 an der bjelorussischen Front mit Hellriegel und Ljuba geschah, rückt plötzlich wieder sehr nah. Ein Tag, fast schon Legende, kettete sie auf Tod und Leben aneinander, zwang sie gemeinsam zum Widerstand, erzwang ihre Kraft, Trennendes zu überwinden. "Mich interessiert die Möglichkeit des Menschseins mitten im Hass", sagt Max Walter Schulz. In seiner neuen Novelle gestaltet er die ungewöhnliche Liebe zwischen einer sowjetischen Fliegerin und einem einstigen faschistischen Soldaten, der sein Vaterland verliert und sich selber gewinnt. Welcher Anstrengung bedarf es für Gitta, die Bedeutung jenes einzigen fernen Tages im Leben Hellriegels zu verstehen, und welch langen Weges bedarf es für ihn, sich ganz zu befreien? Tief in der Steppe, mitten im Zweiten Weltkrieg, begibt sich eine außergewöhnliche Geschichte: Der Soldat Röder, der als Gefangener mit einem Kommando die gefallenen Soldaten begräbt, wird von dieser Gruppe getrennt, und er findet sich wieder allein in der Nähe eines Dorfes, nunmehr als Gefangener von Frauen, die beginnen, ihre Häuser und Höfe wieder aufzubauen. Was erwartet ihn, was kann er erwarten? Er erwartet Hass und erfährt zunächst Hass. Aber im Verlauf des Geschehens verwandelt sich der Hass, und auch er selbst gewinnt neue Erfahrungen, und er wird nicht nur überleben, sondern eigentlich erst wirklich zu leben beginnen. INHALT: Unser Wermut Der Soldat und die Frau Die Fliegerin oder Aufhebung einer stummen Legende

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Impressum

Max Walter Schulz

Auf Liebe stand Tod

Novellen

ISBN 978-3-95655-260-1 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien erstmals 1983 im Verlag Neues Leben Berlin.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

Das Gedicht »Die Sterne« entstammt der Feder der Sowjetdeutschen Lyrikerin Nelly Wacker. (Almanach Sowjetdeutscher Lyrik »Ein Hoffen in mir lebt«, Progress Verlag, Moskau 1972)

© 2015 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Unser Wermut

Es war im dreißigsten Jahr nach dem Sieg über den Faschismus. In der Nähe von Odessa bewirtete ein Kolchos - Getreide- und Weinbauern - eine internationale Gruppe von Schriftstellern. Konstantin Simonow hatte zu Gesprächen nach Moskau eingeladen. Der kleine Ausflug ins südliche Gebiet diente der Anschauung von Geschichte und Gegenwart.

Man sitzt an langen Tischen im Kulturhaus der Kollektivwirtschaft. Man hat sich begrüßt, wechselseitig unterrichtet und befragt, wie man lebt, was die Arbeit macht. Nun bringen die Frauen Brot auf den Tisch, Fisch und Fleisch, Zwiebeln und Äpfel und heurigen Wein, gelben Muskat in hohen Glaskrügen. Freundschaft geht auch durch den Magen, der Appetit durch die Augen. An Trinksprüchen, den epischen, grusinischen, ranken sich Witz und Laune hoch. Mögst du sterben und begraben werden in einem Sarg aus tausendjährigen Eichen, die heute gepflanzt werden. Auf unsere Zeit! Irgendwer fängt für sich allein zu singen an. Irgendeine Liedstrophe, die sofort bei allen zündet. Vielleicht Avanti popolo, vielleicht auch Hejo uchjem. Der Wein will tönen. Lieder umfassen auf einmal die Nationen, Lieder um Lieder, kämpferische, schwermütige. Heute wird es spät werden, sagt der Busfahrer. Die Deutschen sollen auch ihre Lieder singen. Natürlich sollen die Deutschen auch, obwohl hier keiner keinen aufruft. Vier Deutsche, der Muttersprache nach, sitzen in der Runde. Der Andersch, der Wahlschweizer, der Degenhardt aus der BRD, der Langspielplatten besingt, der Törne aus Westberlin und ich aus der DDR. Wir sehen einander an. Und können’s nicht übers Herz bringen, hier in diesem dörflichen Kulturhaus, in der Nähe der Heldenstadt Odessa, nachfeiernd mit den Siegern den Sieg, ein deutsches Lied zu singen. Steht schon zu viel zwischen uns Vieren? Steht noch zu viel zwischen uns Vieren und den anderen?

O Blueberry Hill singt ein schottischer Lord, ein echter schottischer Lord, der mit jugoslawischen Partisanen an der Neretva gekämpft hat. Wir lassen’s ohne Absprache sein mit dem deutschen Lied. Gehen lieber mit im Rundgesang der andern über den Pont d’Avignon, durchs Gebirge durch die Steppe, so weit wir können. Wer rausgeht vor die Tür, kommt bald wieder rein. Einige sind ein bisschen blasser im Gesicht, wenn sie wieder reinkommen. Macht nichts. Nicht allweil kannst du schön sein wie eine frische Gurke. Komm, setz dich her. Der Lord ist verschwunden. Im Dorf feiern sie eine Hochzeit. Ich habe ihn gesehen. Er tanzte mit der Braut. Zwischen dem Dorf und dem Kulturhaus liegt ein Stück Ödland. Darauf steht Wermut, trockener, grauer Wermut. Ich liege bäuchlings im Wermut, ich höre von zwei Seiten die Leute singen. Einmal lag ich auch bäuchlings im Wermut. Bei Kursk ist das gewesen. Da hörte ich von der anderen Seite die Katjuscha orgeln. Einschlägiges Studium. Sehr einschlägig. Fürwahr. Der Wermut, obwohl noch grün, fing an zu brennen. Die Erde, auf der ich lag, schlug mir wie ein Pferd gegen die Brust. Ich lag im grünen Wermut, um zu erfahren, was Krieg, was Tod ist. Ich liege im grauen Wermut, um zu erfahren, was Leben, was Frieden ist. Nimm dir einen Strauß mit nach Hause, sage ich mir. Stell ihn dir auf den Schreibtisch. Einen reichlichen Strauß. Da kommt Lydia Iwanowna. Sie sucht mich, Lydia, die Eiserne, die Unauffällige, die gute alte Freundin. Kapitän der Roten Armee.

Damals. Konsultant für DDR-Literatur. Heute. Sie kennt meine alte Wermut-Geschichte. Kennt sie gut. Ich bin sehr durcheinander. »Ah, balyn, der Wermut«, sagt sie. »Es ist Zeit«, sagt sie. Und während sie das sagt, nimmt sie mir den reichlichen Strauß aus den Händen und teilt ihn. Gibt mir die eine Hälfte zurück. Behält die andere Hälfte für sich. Einfach für sich. »Komm«, sagt sie, »gehen wir.«

Der Soldat und die Frau

Zeitvergleich

1. Kapitel

Auf einmal war die große Schlacht mitten an einem gewöhnlichen Wintertag zu Ende gewesen. Auf einmal, mit den letzten verhallenden Schüssen, stieg tiefe Stille herauf vom Fluss, kam herab vom zerkrallten Hügel, trieb mit den Wolken am unendlich weiten Himmel über die zerschossene Stadt.

Noch während die Soldaten ihre Kampfstellungen verließen, überflutete die Stille die Schützengräben, die Bunker, die Feuernester in den Ruinen. Wer sich noch einmal umschaute, sah zu seinem Erstaunen, dass hinter ihm alles schon ganz anders geworden war, dass die tiefe Stille, in deren Umgebung wir die Zeit empfinden, alles eben noch ganz Gegenwärtige, mit den Händen Angreifbare, mit bloßen Augen und mit Ferngläsern tausendmal scharf Beobachtete, bereits endgültig in Vergangenes verändert hatte. Und wer sich ein zweites Mal umschaute, gleich oder später, wer es nicht beim Erstaunen über die lautlose Macht der Zeit belassen wollte, sah nur noch einmal, dass die Zeit wie tosende Brandung, aus einer fremden Tiefe kommend, an die Gestade unseres Lebens schlägt, dass keine Woge gleich ist einer anderen, keine Empfindung, keine Wahrnehmung genau wiederholbar.

2. Kapitel

Tief in der Steppe, wo sich vor nunmehr fast drei Monaten, gegen Ende November, der Ring um die Deutschen geschlossen, wo es in wenigen Tagen tiefe, verheerende Einbrüche in deren Front gegeben hatte, lagen, abseits der Rollbahnen, deutsche Gefallene noch unter freiem Himmel oder unter dem Schnee. In diese Räume, die durch Zerstörung, Hunger und Kälte verödet waren, wurden Such- und Bestattungskommandos entsandt. Sie bestanden aus Kriegsgefangenen und ihrer meist sehr geringen Bewachung. Die Kommandos waren auf sich gestellt. Jedes war für seinen Suchstreifen verantwortlich. Der Streifen musste nach zwei bis drei Wochen - je nach Ausdehnung - entseucht sein. Nach der vorgegebenen Zeit war auch die Verpflegung bemessen, gleiche Rationen für Bewacher und Bewachte. Die Gefangenen sagten, wer hohle Zähne hat, braucht nicht zu schlucken. Die starren Toten hielten manchmal noch das Fährgeld bereit: selten als die eiserne Ration, die Viertelbüchse Schweineschmalz, meist als ein bisschen schimmeliges Dauerbrot, als grün gewordene Bröckchen Kola-Schokolade, als vermodernde Zigaretten, farblos gewordene saure Drops. In den Brustbeuteln und Taschen auch als Geldscheine, zu nichts mehr gut als zum Feueranmachen. Es fanden sich auch noch Handfeuerwaffen, Munition und Handgranaten. Die Bewacher hatten das Recht, jeden Gefangenen, der eine Waffe an sich nahm, diese bei sich oder außerhalb seines Körpers verbarg, auf der Stelle zu erschießen. Die Gefangenen hatten dieses Recht mit ihrer Unterschrift zur Kenntnis genommen und damit anerkannt.

Im Kommando des Starschina wurde ordentlich gearbeitet, die tägliche Streckennorm, ein Dutzend und drei Kilometer, unabhängig vom Wetter wie von der Häufigkeit oder Seltenheit der aufgefundenen »Objekte« streng eingehalten, alles Abzuliefernde abgeliefert, alles Teilbare genau geteilt. Der Starschina, ein Mann von vierzig Jahren, gedrungene Statur, beweglich wie ein Junger: das Gesicht sibirisch gegerbt, war schon ein Gerechter. Nur ein Vorrecht beanspruchte er: sich täglich sorgfältig zu rasieren. Sein Stellvertreter und einziger Soldat, ein blutjunger, lang aufgeschossener Bursche, verehrte den Starschina wie einen Vater und hasste die vier Kriegsgefangenen, über die das Kommando verfügte, obgleich sich diese arbeitswillig zeigten, als verkappte, der Not gehorchende Faschisten. Der Starschina schor die Deutschen nicht alle über einen Kamm. Sein instinktiver Argwohn galt den Offizieren und solchen Leuten, denen er den Studierten oder den »Meister« ansah, mochten die Studierten hilflos und erbarmungswürdig aussehen oder die »Meister« arbeitermäßig. Sie hätten es nach seiner Meinung besser wissen, hätten anders handeln, gegen den Krieg handeln müssen. Wissen ist doch auch Macht über sich selbst. Die vier Obergefreiten, die er für sein Kommando nach Augenschein ausgewählt hatte, besaßen seines Glaubens unstudierte, unmeisterliche deutsche Gesichter, möglicherweise noch menschliche Seelen. Wenn nicht - der Teufel soll sie holen.

Zur Ausrüstung des Kommandos gehörten Pferd und Karren. Der Karren, hochrädrig, mit einer langen Pritsche, von den Gefangenen »Eismann« genannt, trug über der Achse eine aufgenagelte, verschließbare Bombenkiste. Unter der Achse hing ein Blecheimer. In der Kiste verwahrte der Starschina die Rationen: Brot, Salz, Tee, Graupen, Büchsenfleisch. Dazu die Sprengmittel für die Totengruben: Dynamitpatronen, Zündschnüre, gefundene Handgranaten. Dazu Grabgerät und Brecheisen. Dazu die gefundenen Waffen: Pistolen und Maschinenpistolen, von Karabinern nur die Schlösser. Und die Gasmaskenbüchse mit den abgenommenen Erkennungsmarken. Oben auf der Kiste lagen zwei Futtersäcke für das Pferd, zugedeckt mit den Schlafdecken und mit den steif gefrorenen Zeltbahnen, Stricke darübergezurrt.

Einer der Gefangenen verstand sich auf das Pferd, einen zottigen Panjehengst. Laut Starschina trug der Hengst den Namen »Arrestant«. Wohl weil er ein Ausbrecher war, wohl weil er eine sagenhaft-feine Witterung für alles Fressbare besaß und seinem Fresstrieb hemmungslos nachging, kilometerweit, wie sich eines Tages zeigte. Wenn er halbwegs satt war, bewies er Verstand, rückte mit der in ziemlicher Breite vorgehenden Suchkolonne ohne Kutscher und Anruf vor, umging Verwehungen, blieb ohne Anruf wieder stehen, wenn er sah, dass die Männer zurückblieben. Der Gefangene, der sich auf ihn verstand, brauchte nur zu rufen, dann trottete Arrestant zu der Stelle, wo ein Objekt gefunden und auf den Karren zu befördern war. Eines Tages jedoch, genau genommen am neunten Tag des Einsatzes, am frühen Vormittag, als der Karren noch leer war, hatte sich der Hengst plötzlich in Trab gesetzt, hatte die Richtung verlassen, war querab mitsamt dem Karren davongetrabt. Der Starschina hatte dem pferdeverständigen Nemetz zuge- schrien, er solle die Bestie zurückholen und ihr die Zügel kurz binden. Der Mann war dem Pferd schon nachgelaufen. Er lockte es mit Pfiffen. Einen Wettlauf hätte er hoffnungslos verloren, schon wegen des schweren Wachmantels, den er trug und wegen all der Wollfetzen und Lumpen unter Rock und Hose, um Leib und Glieder gewickelt, mit Telefonkabel überschnürt, statt Unterwäsche. Der Hengst gehorchte, blieb stehen, erwartete den Mann, ließ sich kurz am Zügel nehmen. Aber mehr nicht. Den Rückweg verweigerte er mit gegrätschten, vorgestemmten Vorderbeinen. Der Mann stieg auf den Karren, gab dem Pferd die Zügel frei, hoffend, es werde sich bald müde laufen und lenken lassen. Viel hatte es sowieso nicht auf den Rippen. Als der Wagen anruckte, der Hengst gleich wieder scharf anging, hörte der Mann die Knabenstimme des blutjungen Wachsoldaten. Er drehte sich um. Der Junge kam ihm nachgelaufen, schrie, gab wütende Zeichen, stehen zu bleiben. Der Gefangene beschrieb mit der Hand einen Kreis in die Luft. Da gab der junge Wachsoldat einen Warnschuss ab. Der Hengst stellte die Ohren auf. Nun war er überhaupt nicht mehr zu halten. Der Mann auf dem Karren kam aus dem Stand, musste sich des Kutschbocks bedienen, der hohen Kiste, halb sitzend, halb stehend. Der Junge schoss noch einmal. Wenn er hätte treffen wollen, hätte er treffen können. Das Ziel suchte keine Deckung. Und der Panjehengst zog mit hochgeworfenem Kopf unbeirrbar irgendwohin. Die Hufe klopften munter auf die steinhart gefrorene Erde. Dem Mann überkam es zu denken, er sei jetzt ganz frei, es sei alles sein Wille, was das Pferd tat, er würde nie mehr im Leben gnädigen Herrschaften die Pferde satteln und den Steigbügel halten, nie mehr den jungen feinen Schnöseln, die aufs Gut kamen und prahlten, das Glück der Erde läge auf dem Rücken der Pferde - würde denen nie mehr die Hintern und Dickbeine mit Wundsalben einreiben. Und meinem Jungen, dachte der Mann, wird das auch erspart bleiben, wenn er heil davonkommt. Der Ofen geht denen bald aus. Sie haben hier zu viel verheizt. Und wer weiß, wozu es gut ist, dass sich Maria nicht mehr um den Jungen bangen muss, weil der Junge im Feld steht und so ein Draufgänger ist. Sie hat’s hinter sich gebracht. Die giftigen Dämpfe in der Spritzerei. Der gnädige Herr hat’s doch gewusst, dass sie schon immer schwach auf der Lunge war, schon als junges Mädchen. Er hätte sie nicht freisteilen dürfen für die Rüstung. Ihre Brust ist immer knospig gewesen, hoch und fest. Die junge Gnädige hat sie drum beneidet. Wenn wir schliefen, wollte Maria, dass meine Hand auf ihrer Brust lag. Sie hat gesagt, da träumt sie von dem braunen Fohlen auf der Koppel. Das braune Fohlen käme zu ihr, an ihre Haut mit seinen weichen Lippen.

Ein Gewehrschuss zerriss das Andenken. Die Kugel pfiff ihm dicht am Kopf vorbei. Der Schuss war von vorn gekommen. Der Mann folgte dem Reflex, Warf sich flach auf das Vorderteil der Pritsche, riss am Zügel. Der Hengst verweigerte, lief unbeirrt geradewegs weiter in die Richtung, wo der Schuss gefallen war. Da war eine Steinhütte mit flachem Schrägdach aus Blech. Aus dem stumpfen Schornstein quoll weißer Rauch, Rauch von nassem Holz. Das Haus besaß ein Vordach. Und darunter stand eine Frau, Gewehr im Hüftanschlag, den Finger am Abzug, den Lauf auf ihn gerichtet, so nahe schon und so genau, dass der Mann, der in seinem deutschen Wachmantel, mit seiner deutschen Mütze auf dem Vorderteil des Karrens lag und den Kopf gehoben hatte, in die Gewehrmündung blickte. Das Pferd musste den Rauch gewittert haben. Kurz vor der Hütte war es in Schritt gefallen. Erst unter dem Vordach blieb es stehen. Dort lagerte Heu. Der Hengst begann sofort mit langem Hals zu fressen. Jetzt muss die Frau doch die Buchstaben hinten auf dem Mantel sehen, sind ja russische Buchstaben, groß genug und in gelber Ölfarbe. Vor einem wojna plenij braucht sie doch keine Angst zu haben. Er hört die Frau barsche Worte sagen und verstand, dass er absteigen sollte von dem Karren. Er tat es willig, aber ohne Überstürzung. Als die Frau vor ihm ausspuckte, sah er, dass der Hengst wählerisch fraß, Einzelnes aus dem festgetretenen Heu herauszupfte. Und als er die Hände hochgenommen hatte und die Frau ihn mit der Kolbenplatte des Gewehrs am ganzen Körper nach einer versteckten Waffe abklopfte, einfach und grob da- und dorthin stieß und auch keine Scham dabei walten ließ, gewahrte er in der offenen Tür der Steinhütte eine zweite, ältere Frau und einen Jungen, ein schmächtiges Kerlchen mit struppigem, weißblondem Haar. Der Junge hielt auch ein Gewehr auf ihn gerichtet. Die Augen des Jungen erschienen dem Mann gelb vor Hass. Die ältere Frau konnte ihre Angst nicht verbergen. Sie wollte dem Jungen die Hand beruhigend auf die Schulter legen, doch sie zog die Hand zurück. Der Mann musste die grobe Leibesvisitation ein zweites Mal über sich ergehen lassen, vorher aber den Mantel aufknöpfen. Die Ältere zog ihm den Mantel auf Geheiß der Jüngeren von den Schultern. Im Stillen pries der Mann seine dicke Unterwäsche. Der Kolben stieß auf eine Außentasche seines Infanterierocks, stieß auf harte, metallische Gegenstände. Deswegen hätte die Frau nicht so wütend zuzustoßen brauchen. Sie hätte doch sehen können, dass die Tasche von irgendetwas ausgebeult war. Die Frau trat ein paar Schritte zurück, das Jungchen trat ein paar Schritte vor. So hielten sie den Mann in Schach, während er die Taschen leerte und den Inhalt vorwies: eine Blechschachtel und ein halb Pfund schweres Feuerzeug, aus einer Zweizentimeter-Hülse gebastelt. Die Ältere hatte die Dinge zu prüfen. Das Feuerzeug war ein Feuerzeug. Es schoss nicht, es schlug Feuer, eine große, rußende Flamme, gleich beim ersten Mal, als die ältere Frau mit dem Handballen das Rädchen anriss. Der Junge sah begehrlich hin. Dass die Jüngere die Flamme nicht ausblies, sondern mit der bloßen Daumenkuppe am Docht ausdrückte, erstaunte den Mann. Ein Flintenweib also. Im dunklen, fensterlosen Innern der Hütte brannte ein offenes Feuer. Es sah danach aus, als würde das Feuer auf einem Schmiedeofen brennen. Vielleicht war die Hütte eine Feldschmiede. Vielleicht hat man in dieser Gegend einmal Pferde gezogen. Auslauf genug für Pferde in dieser Gegend. Aber wie kommen die Frauen hierher? Das Kommando war auf seinem Weg noch keiner Menschenseele begegnet.

Die Blechbüchse enthielt einen Rest Krüllschnitt, ein paar Nägel unterschiedlicher Größe (aus Nägeln kann sich der Mensch immer ein Werkzeug machen) und drei Stückchen eingewickelten Würfelzucker aus einem Caféhaus in der schönen Stadt Prag. Da hatte ihm einer gesagt, drei Stückchen Würfelzucker können einen Menschen, wenn der Mensch gar nichts mehr zu essen hat, noch drei Tage am Leben halten. Aber der Mann konnte diesen Glauben nicht aussprechen. Sie hätten seine Worte nicht verstanden. Er hatte noch kein Wort gesagt, kein einziges. Die jüngere Frau rief der älteren etwas zu, schnell gesprochene, ungläubige Worte. Dabei deutete sie auf den Brunnen. Dann gab die Jüngere dem Mann eins von den drei Stücken Würfelzucker in die Hand und verlangte gestikulierend, dass er’s aufäße. Es ist, weil sie denkt, sie hätte es mit einem Brunnenvergifter zu tun. Der Mann wickelte das Papier sorgsam ab, damit kein Krümel verloren ging. Dann schüttete er sich das Stück und die Krümel aus der hohlen Hand in den Mund. Ja, er hatte das Zeug auf der Zunge. Sie ließen ihn den Mund aufmachen, zu sehen, ob er keinen Trick angewandt. Nun wollte die Jüngere in ihrer barschen, unverständlichen Sprache offenbar wissen, wo sein Kommando stünde. Der Mann zeigte auf das Pferd, das noch immer wählerisch fraß, und in die Richtung, aus der er mit Pferd und Karren gekommen war. Die Frauen besprachen sich erneut. Es klang, als ob sie jetzt über das Pferd miteinander sprächen. Besser, man zieht sich jetzt den Mantel wieder an, sonst sprechen sie auch noch über den Mantel. Weiß der Teufel, worüber sich die Frauen einig geworden wären, wäre jetzt nicht der junge Wachsoldat in der Ferne erschienen, in einer Ferne, aus der sie alle sein zorniges Schreien vernehmen konnten. Die Zeit, die der Soldat noch brauchte, um heranzukommen, nutzte der Junge, der zu den beiden Frauen gehörte, um der Älteren das Feuerzeug und die Tabaksschachtel, die immerhin aus Messingblech war, abzuluchsen. Das Feuerzeug hatte es dem Jungen sowieso angetan. Und an der Blechschachtel reizte ihn wahrscheinlich das bunte Reklamebild auf dem Deckel, Tabakernte in Brasilien darstellend. Der alte Herr hatte diese Sorte schwarze Brasilstumpen zu rauchen beliebt. Voriges Jahr, als der Mann Urlaub bekommen hatte, zehn Tage, um seine Frau zu begraben, und in diese Tage auch noch sein einundvierzigster Geburtstag gefallen war, hatte ihm der Alte ein Schächtelchen davon zukommen lassen. Sollte es zu schätzen wissen, der Kanonier! Dergleichen ist heute eine Kostbarkeit! Und Maria, Herr? Die Ältere zögerte, dem Kind das bisschen Habe des Kriegsgefangenen zu überlassen. Sie sah nach der anderen. Die andere schaute aber nicht her. Sie erwartete den Wachsoldaten. Der Mann sah den Zwiespalt der älteren Frau. Den Tabak wenigstens sollte sie einem belassen. Aber nichts ist. Das Kind verschwand mit seiner Kriegsbeute in der Hütte. Es zog die Tür hinter sich zu. Die Tür ging nach außen auf. Hätten früher Menschen in der Steinhütte gewohnt, müsste die Tür nach innen aufgehen. Und der Gefangene, der wird gefilzt. Unerwartet gewöhnlich. Welcher Gefangene sich beim Filzen Feuer und Tabak abnehmen lässt, ist ein Anfänger noch.

Der Atem des Wachsoldaten flog. Vom Lauf und zornigem Ärger krebsrot im Gesicht, schaffte er seinem Herzen und seinen Lungen übergangslos Luft, indem er Mann und Pferd als eine einzige verschlagene faschistische Kreatur beschimpfte. Seiner ungehemmten Scheltrede mangelte es auch nicht an Flüchen. Plischke sagt, der Junge flucht wie ein Hauptstädter. Der Gefangene zog unwillkürlich die Mütze samt dem bindenartigen Ohrenschützer vom Kopf. Sein Schädel war glattgeschoren. Wenn der Herr oder der Verwalter auf solche Art zu reden anfängt, zieht man die Mütze. Das gehört sich. Denken kann man, was man will. Nun wollte der Soldat, ohne sein wüstes Reden zu unterbrechen, das Pferd vom Futter wegbewegen. Aber das Pferd schnaubte nur einmal durch die Nüstern und fraß wählerisch weiter. Der Soldat riss es hart am Zügel. Der Hengst ging hoch im Deichselgeschirr. Er hatte die Hauswand vor Augen, sonst wäre er jetzt durchgegangen. Mag sein, dass den beiden Frauen schon der großstädtische Sprachschatz des Soldaten missfallen hatte, vielleicht auch, dass es ihm nicht eingefallen war, sich anständig vorzustellen. Als sie nun aber sahen, wie der Soldat das Pferd behandelte, fielen sie keifend gemeinsam über den blutjungen, ebenso langen wie mageren Burschen her. Der Versuch zur Widerrede blieb ihm im Hals stecken.

Zwar sicherte die Jüngere bei ihrem Keifen das Gewehr, aber wie die beiden Frauen, voran die Jüngere, loslegten, das hörte sich an wie Dauerfeuer aus Nahdistanz. Ein Posten, der einen Faschisten mit Pferd und Wagen laufen lässt - sie schmückten es reichlich aus, was für ein Posten so ein Posten ist. Der Gefangene bedeckte sich wieder den kahlen Schädel. Er fühlte sich nicht mehr direkt angesprochen. Der Hagel brach jetzt auf einen herab, der sich das Gewitter selber gebraut. Dem Brunnen gegenüber, auf der anderen Seite der Hütte, sah der Gefangene den gewölbten Eingang zu einem Erdkeller. Schön gemauert. Aus Bruchstein. Die Weiber müssen allerhand Vorrat in dem Keller haben. Es geht ein Trampelpfad hin. Vielleicht sogar Kartoffeln. Eine heiße Kartoffel! Eine einzige! Na doch nicht. Eine Ziege halten sie sich in dem Bunker. Wahrhaftig. Plötzlich steckte eine braune Ziege den gehörnten Kopf aus dem Kellerloch. Sie meckerte aufgeregt. Ihr Meckern mischte sich in das Keifen der Frauen. Der Wachsoldat zog den Kopf zwischen die Schultern. Den hat’s erwischt. Der denkt jetzt, er leidet an Einbildungen. Gott sei Dank, jetzt sieht er das Vieh. Es kommt raus. Es senkt die Hörner. Es geht auf ihn los. Sie haben die Ziege abgerichtet wie einen Hund. Sie geht auf den Mann. Der Junge will nicht noch mehr Ärger haben. Lieber springt er hinter einen Pfeiler. Die Alte ist vernünftiger. Die scheucht das Vieh ins Stallloch zurück. Und die Jüngere wird auf einmal still. Schlagartig. Wenn Frauen mitten im Streit auf einmal still werden, sehen sie böse aus. Bei Maria war das genauso. Da muss man sich zu schaffen machen. Eine Arbeit suchen, irgendeine. Der Mann fasste aus Männererfahrung Mut. Er ging hin und warf einen Arm voll Heu auf den Karren. Mit frisch gefasstem Mut ging er gar so weit, der Jüngeren, die das unruhige Pferd inzwischen am Zügel gefasst hatte, den Zügel wortlos aus der Hand zu nehmen. Danach drehte er das Fuhrwerk um und stieg auf den Bock. Der Soldat stieg auf das Hinterteil der Pritsche. Der Kutscher schnalzte mit der Zunge. Das Pferd zog an, fiel in Trab. Der Soldat hob seine Maschinenpistole, die er auf dem Rücken getragen, über den Kopf und brachte sie auf den Mann, der vor ihm auf der Kiste saß, in Anschlag. Der Junge brauchte einen halbwegs guten Abgang.

In der Nacht vor dem letzten Arbeitstag des Kommandos verschlechterte sich das Wetter. Ein scharfer eisiger Wind kam auf. Der pferdeverständige Gefangene kroch aus dem Zelt. Er hatte den Blecheimer klirren hören. Das Pferd stand wie immer unter der langen, schräg hochstehenden Pritsche des Karrens, mit dem lockeren Zügel an die Achse gebunden. Es stieß mit der Schnauze an den Blecheimer, der an der Achse hing. In dem Eimer wurden Tee und Graupen gekocht, aus ihm wurde das Pferd getränkt, nachts fraß der Gaul daraus sein tägliches Maß Hafer. Je weniger ein kluges Pferd vorgeschüttet bekommt, um so langsamer frisst es. Wenn das Pferd nachts mit dem Blecheimer lärmte, dann hatte es seinen Grund. Der Pferdeverständige kroch dann immer aus dem Zelt. Der Starschina hustete jedes Mal kurz, wenn ein Gefangener nachts aus dem Zelt musste. Sie sollten wissen, dass er im Bilde war. Der Starschina hätte im Schlaf eine Mücke furzen hören. Und der Gaul ersetzte eine ganze Wachkompanie. Wenn der Blecheimer klapperte und der Pferdeverständige aus dem Zelt kroch, hustete der Starschina nicht. Es trieben sich hungrige, verwilderte Hunde herum, Riesenköter. Sie könnten das Pferd reißen. Wolfsblut ist in jedem Hund. Es schläft nur. Wenn es erwacht, ist so ein Hund schlimmer als der Wolf. Der Wachsoldat, so großmäulig er tut, vor den Wolfshunden hat er eine Heidenangst. Doch auch Wolfshunde scheuen das Feuer. Deshalb hat sich der Wachsoldat selber den Befehl gegeben, nachts aller zwei Stunden aufzustehen und frische Knüppel ins Biwakfeuer zu schieben. Die Tage gehen einem in die Knochen, die Nächte sind lang, und der Schlacks schläft den Schlaf der Jugend. Trotzdem holt er sich aller zwei Stunden heraus, unterhält das Feuer, zählt bei der Gelegenheit jedes Mal die Gefangenen. So viel Zucht hätte man dem schreihälsigen Milchbart gar nicht zugetraut.

Als der Pferdeverständige in dieser Nacht aus dem Zelt kroch, hatte der scharfe Wind das Feuer ausgeblasen, die Asche verweht. Und der Wachsoldat schlief. Der Mann empfand Schadenfreude, wusste selber, dass er damit nicht recht tat, konnte aber seine Empfindung nicht unterdrücken. Er verlor dieses Gefühl rasch. Denn er sah, weshalb das Pferd mit dem Eimer lärmte. Der Wind traf es von der Seite. Es wollte den Windschatten der hochgestellten Pritsche. Sie stand mit dem Wind. Er drehte den Karren, dass der Wind auf die steile Schräge der Pritsche auflief.

Die Räder blockierte er mit einem Knüppel. Das Pferd die Filzdecke mit einem Zugstrick fest. Als Wachmantel. Das machte das Pferd selten. Sollte es auch nicht oft machen. Wegen Maria. Ein Mann kann dabei wahnsinnig werden. Gürtete er also lieber dem Pferd die Filzdecke mit einem Zugstrick fest. Als sich der Mann bei dieser Arbeit aufrichtete, mit dem Kopf über den Pferderücken kam, erschrak er. Er sah eine Gestalt aus der mondlosen Nacht auf sich zukommen, eine Gestalt, die etwas Großes, Flaches, Glitzerndes hinter sich herschleifte. Irgendwo heulte auch ein wilder Hund. Das Pferd blieb ruhig. Ein Fremder konnte es nicht sein. Dann erkannte er bald, dass es der Starschina war. Erkannte ihn am raschen Gang und an den waagerecht abstehenden Klappen der Pelzmütze. Nicht einmal bei solchem eisigkaltem Wind schlug dieser Mensch die Mützenklappen herunter. Der Starschina hatte den Gefangenen schon lange bemerkt. Als er herangekommen war, brummte er etwas vor sich hin. Es klang beinahe, als ob ein Gevatter dem andern mitten in der Nacht guten Tag sagte. Das Große, Flache, Glitzernde, was der Starschina hinter sich herschleift, war ein großes Stück Tragflächenblech von einem abgeschossenen, am Boden wahrscheinlich zerschellten, Jagdflugzeug. Der Starschina bog das Blech, das von aufgefrorenen Schneekristallen glitzerte, so weit zusammen, bis es sich ein Stück zwischen die Speichen eines Karrenrads schieben ließ. Anders hätte das Blech keinen aufrechten Halt gefunden. Der Gefangene verstand, was der Starschina wollte. Er wollte hinter dem blechernen Windschirm ein neues Feuer anmachen. Vielleicht dem Milchbart zuliebe, weil der ohne Feuerchen nicht ruhig schlafen konnte. Mit dem Nahkampfdolch, den er immer am Koppel trug, begann der Starschina Späne von einem Knüppel zu hauen. Der Gefangene schichtete die Späne kunstvoll zu einem Türmchen. Es kribbelte ihm in den Fingern, die Flamme daranzuhalten. Aber er hatte sein Feuerzeug nicht mehr. Diese schisserige Alte in der Hütte, die wusste doch ganz genau, dass man in so einem Leben ohne Feuerzeug nicht auskommt. Die Weiber hatten ihr Feuer. Auf einem Ofen unter einem Dach mit vier Wänden lässt sich die Glut allemal halten. Nu! sagte der Starschina ungeduldig. Er kannte das Feuerzeug des Gefangenen. Er hatte es sich fachmännisch betrachtet, karascho! für gut befunden. »Kaputt«, sagte der Gefangene. Der Starschina griff in die Manteltasche, warf ihm sein eigenes zu. Das war vom gleichen Kaliber, dieselbe Bauweise, nur mit einer schraubbaren Kappe. Kein Kunststück, wenn man einen Gewindeschneider hat. Die Flamme züngelte hoch. Die Männer holten die verkohlten Reste von der alten Feuerstelle, bauten eine Sparrenspitze aus frischen Knüppeln. Ihr Feuer brannte hervorragend, wie nach Dienstvorschrift. Mit der rasch zunehmenden Wärme taute das Blech ab. Farbe erschien auf grauem Grund, weiße und schwarze Farbe. Das deutsche Balkenkreuz erschien, als die Flammen aus der Sparrenspitze schlugen. Der Starschina tat gleichgültig. Das Pferd tanzte mit den Hinterbeinen etwas zur Seite. Solche Kreuze hat vielleicht Maria aufgespritzt. Sie hat geschrieben, dass sie mit der Schablone spritzt. Der Starschina will etwas wissen, er fragt etwas, familija kommt vor. Was geht den Starschina meine Familie an. Könnt’ man reden in seiner Sprache, könnt’ man doch nicht reden. Darüber ist nicht zu reden. In keiner Sprache nicht. Maria, das ist meine Sache. Wo die Decke nicht deckt, sitzt dem Pferd der Raureif im Fell. Da lässt sich das Brandzeichen mit dem Daumennagel einbrennen.

»Frau«, sagte der Mann. Und kratzte, wo die Decke nicht deckte, ein Kreuz in die Hinterhand des Pferdes.

Und der Junge, das ist auch meine Sache. Der Junge ist ein Hitzkopf. Das haben sie gemerkt. Da haben sie einen Schneidigen aus ihm gemacht. So einen schneidigen jungen Unteroffizier. Aber ein Gutes hat der Junge an sich. Er kann nicht lügen, nicht ums Verrecken. Ich muss pissen. Man soll nicht gegen den Wind. Lieber gegen ein Hoheitszeichen. Und mein Bruder, Starschina, was der ist, der ist ein Arschkriecher und ein Barrashengst in einer Person. In Polen haben sie ihm ein Auge ausgeschossen. Schwein muss der Mensch haben, hat er gesagt. Nur noch garnisonsverwendungsfähig für den Rest des Krieges. Mittlerweile hat er sich mit dem heilen Auge bis zum Spieß hochgeschielt. Nun inspiziert er in der Garnison die Pferdeställe. Wenn überhaupt noch Zossen stehen in den Ställen. Aber der hält durch. Und wenn nur noch eine Mähre steht, und nur noch ein Rekrut für’n Stalldienst übrig ist, dann muss der letzte Rekrut der letzten Mähre, wenn sie rossig ist, mit dem sauberen Taschentuch untern Schwanz. Ordnung und Sauberkeit im Stall! Das kann er brüllen. Aber dafür sorgen, dass Maria aus der Spritzerei rauskam, dafür ist er zu nachtragend. Einmal hat Maria zu ihm gesagt, du bist egalweg ein Schwein, hat sie gesagt. Der Starschina ist kein schlechter Mensch. Hat nicht gefragt, niemand, warum dem Plischke seit vorgestern die Oberlippe klafft. Der Plischke ist ein Speckjäger. Der frisst heimlich, was er bei den Kameraden findet. Und die sind stumm. Der wollte stiften gehen, der Idiot. Mit einer Nullacht und zwei Dosen Schmalz. Familie, Starschina, das ist zu viel verlangt von unsereinem. Da lassen wir’s beim Namen, höflicherweise.

»Röder heiß’ ich«, sagte der Gefangene.

»Roider«, wiederholte der Starschina.

Mehr hatte er auch nicht wissen wollen von dem Deutschen, der sich mit Pferden auskennt und seine eigene Kokarde bepisst. Der jetzt wieder unter das niedrige, flatternde Zeltdach kroch.

Im Lauf der Nacht war der Wind noch heftiger geworden. Am Morgen hing der Himmel, eine einzige, schwärzlich graue Wolkenlast, tief über der Steppe. Das Wetter drückte auf die Lungen. Der dunkle Himmel färbte die Erde und den Wind. Die dünne Schneedecke, die zerrissen und aufgeworfen die Erde bedeckte, war grau und stumpf wie Knochenmehl. Der Wind war wie etwas Graues, Tierhaftes, das die Männer ansprang, das sie biss und würgte. Manchmal trieb der Wind den Schnee wie Bodennebel vor sich her. Manchmal riss er für Augenblicke den tief verhangenen Himmel auf. Dann ergoss sich für Augenblicke unerträglich gleißendes Licht auf die Erde, dann flimmerte der Schnee, dann fluchten und stöhnten die Männer, dann tappten sie wie Blinde vorwärts.

Im Vorwärtsgehen las der Starschina immer wieder die Karte, verglich das Gelände, in dem es keine Anhaltspunkte gab, immer wieder mit dem Kartenbild. Das hatte er noch nie getan. Nach zwei Stunden rief er den Wachsoldaten zu sich. In den zwei Stunden seit dem Aufbruch hatte das Kommando nichts gefunden. Sie hatten auch gestern nichts gefunden. Sollten sie aus dem Suchstreifen herausgeraten sein? Röder hoffte es und fürchtete es. Der Starschina war kein schlechter Mensch. War aber auch keiner, der sich nachreden ließ, einen Befehl schlampig ausgeführt zu haben. Gut, dass sich Plischke in der Nähe der beiden zu schaffen macht, dass Plischke so schlau ist, den harschen Schnee von einem Eisloch zu kratzen. Am Morgan hat ja der Kommandoführer ausdrücklich befohlen: Schnee von Eislöchern kratzen! Nachsehen! Plischke hat das übersetzt. Der versteht mehr Russisch als er zugibt. Gewöhnlich jagt ihn der Starschina weg, wenn er mit dem Wachsoldaten was zu besprechen hat. Plischke hat das übersetzt mit den Eislöchern. Und hat was dazugemacht, eine dienstliche Fresse dabei gezogen, wenn er auch zischelt, seitdem man ihm die Fresse poliert hat. Der Herr Starschina, hat er dazugemacht, der Herr Starschina beliebt zu meinen, hier wäre das Schneewittchen im Eisschrank zu besehen. Eislöcher gibt’s hier wirklich, sogar vereiste Flächen. Hier muss das Grundwasser hoch stehen oder müssen Quellen sein. Wenn es überhaupt Grundwasser oder Quellen hat in dieser gottverdammten Steppengegend. Der Starschina steht da wie sein eigener Feldherr. Zeigt mit dem ausgestreckten Arm nach vorn. Da ist ein langer flacher Huckel. Nicht höher als eine Rübenmiete. Auf der Karte nennt man das immerhin eine Höhe oder eine Bodenwelle. Wenn es im Sommer hier nass und morastig ist, könnten sie Schweinezucht treiben. Stört niemanden der scharfe Gestank. Und die Schweine ständen gut im Fleisch. Der Starschina jagt den Plischke nicht weg. Lässt ihn sogar zuhören. Der Plischke hat aufgehört zu kratzen. Da wird der Speckjäger angeben. Mit mir redet er ja nicht mehr. Redet aber trotzdem mit mir, wenn ich dabei bin. Durch die Blume. Abrechnen will er mit mir. In den Lagern soll’s Betriebsunfälle geben. Und die lange Hand. Ehe wir loszogen, hat der Starschina gesagt: Wer aus dem Kommando zu fliehen versucht, der stirbt. So hat’s der Plischke ausgedrückt. Dann hat der Starschina den gestreckten Daumen hochgehoben und danach alle fünf Finger gespreizt. Und hat noch was gesagt. Das war klar: Dann seid ihr alle dran! Der Herr Dolmetscher hat einen Stuss erzählt. Vertrauen gegen Vertrauen! Und solchen Stuss. Die Russen und uns vertrauen! Solange wir noch leben, geht das einfach nicht mehr. Sie lassen uns arbeiten. Basta. Rabota, Rabota. Von dem Pferd kann man was lernen. Auch wenn es Arrestant heißt. Grade darum. Das Pferd will den Scheißkrieg überleben.

Röder erfuhr noch in derselben Stunde, dass ihre Totenlese auf dem Rücken des dicht vorausliegenden flachen Hügels zu Ende sein würde. In Plischkes Übertragung hieß es weiter, dass von dieser Höhe aus, bereits über fünfzig Kilometer im nördlichen Durchbruchsraum des vergangenen Novembers gelegen, vier deutsche Pak-Geschütze und zwei schwere MGs den Angriff eines ganzen russischen Panzerregiments vom frühen Morgen bis Mittag aufgehalten hätten. Die Bedienungen hätten sich bewusst geopfert, damit sich das Gros der deutschen Kampfgruppe verlustlos vom Feind lösen und günstigere Stellungen beziehen konnte.

So in Plischkes Übertragung. Röder erfuhr, dass der Starschina den Weg dieses russischen Panzerregiments im Verband der Infanteriebegleitung vom Ausgangspunkt der Offensive bis zur Vereinigung mit den aus südlicher Richtung vorgestoßenen Kräften mitgegangen war. Jetzt war er denselben Weg bis zu diesem Hügel mit dem Kriegsgefangenen-Kommando zurückgegangen. Röder begriff nun auch, weshalb der Starschina stets gewusst hatte, wo mehr und wo weniger gründlich gesucht werden musste. Dieser Russe hat einen Orientierungssinn, damit könnt’ er, wenn er fliegen könnt’, im Herbst bis nach Afrika fliegen. Bis zu den Pyramiden. Und im Frühjahr wieder auf seinem Misthaufen landen.

Der Wind wehte nicht mehr so stark, auch nicht mehr so kalt wie am frühen Morgen. Ziemlich dichtes Schneetreiben hatte eingesetzt. Sie waren auf dem Hügel. Der Schnee kam von vorn, machte die Mäntel schwer und die Mützen, setzte sich in die Augen. Die russischen Panzer waren auch von vorn gekommen.

Was ist dagegen das bisschen Schneetreiben. Bis Mittag hatten die Kameraden hier ausgehalten. Bis Mittag sollten sie nun auch die ewige Ruhe finden. Plischkes Parole hatte auch Röder ergriffen. Das wollte er gar nicht leugnen. Es waren auf einmal wieder Kameraden, die sie mit Brecheisen aus ihren Feuernestern und von der blanken Erde lösten. Einer war von Panzerketten zerquetscht worden. Nicht der erste, den sie so fanden. Doch von diesem einen auf dem Hügel lief der junge Wachsoldat weg. Er musste sich übergeben.

Röder ging hügelabwärts. Pferd und Karren waren am Fuß der flachen Anhöhe zurückgelassen worden. Der Starschina bestimmte stets erst am Ende der Suche, wo die Grube ausgesprengt werden sollte. Es war so weit. Sie hatten auf der ganzen Länge des Hügelrückens neun Mann gefunden. Alles junge Leute. Das konnte man noch erkennen. Unter ihnen ein Oberleutnant. Das Schneetreiben machte Pferd und Karren unsichtbar. Röder hörte nur die Räder knarren und wieder verstummen. Das Pferd suchte sich Futter. Auf dem Hügel würde der Starschina die Grube bestimmt nicht aussprengen lassen. Das riecht nach Denkmal. Und in der Nähe des Dorfes, das auf der anderen Seite liegen soll, das man nicht sehen kann, aber sich vorstellen: zerschossen, abgebrannt, niedergewalzt, ausgestorben, dorthin wird er mit der Grube auch nicht wollen. Die Russen haben hier eigene Verluste gehabt, wahrscheinlich mehr als die neun Mann von uns. Ihre Gräber werden bei dem Dorf liegen. In Reih und Glied. Dorthin kommen mal wieder Menschen. Die werden einen schönen Friedhof anlegen, wenn das Dorf erst wieder halbwegs steht. Die einen hüben, die anderen drüben. Der Starschina wird etwas Geeignetes auf dieser Seite suchen. Vielleicht findet er einen anständigen Bombentrichter. Da ist man schon ein Stück in der Erde. Man muss das Sprengloch nicht so tief in den Frostboden pickeln.

Röder sah jetzt das Pferd. Er ließ es gewähren. Es riss mit langen Zähnen an langen Gräsern, hart wie Dreikantfeilen. Unweit des Pferdes gewahrte der Mann einen länglichen, viereckigen Umriss. Eine Begrenzung durch Zeltpflöcke und durch zerschlissene Reste von Zeltbahnen, grünbraungelb gescheckten deutschen Zeltbahnen. Die Abmessung kannte er: Achterzelt. Die Zelte wurden immer in der Deckung aufgestellt, meist über eine Grube, etwas mehr als knietief. Splitterschutz und Kälteschutz für die Wachfreien. An der Ebenheit der Schneedecke innerhalb der Begrenzung sah Röder, dass es eine Zeltgrube war, voll Wasser gelaufen und vereist. Da muss es vorübergehend getaut haben, oder es sind Wasseradern im Boden. Tauwetter war keins seit November, kein Tag. Du lieber Gott, Tauwetter! Der Hügel bietet vielleicht eine Zeit lang Schutz vorm Frost. Hier ist die Südseite. Vor drei Tagen, als das Pferd durchging, ließ der Starschina scharf nach Norden abbiegen. Den Schnee von Eislöchern! Nachsehen!

Röder fand einen Feldspaten, begann die ebene Fläche zu säubern. Das Eis bedeckte einen Toten. Der Korpus erschien unter der rauen Oberfläche wie ein grauer Schatten unter einer geriffelten Glasplatte. Mit dem Feldspaten schabte der Mann eine Stelle blank, die Stelle über dem Kopf des Schattens, den Einblick, den er so groß machte wie ein Kellerfenster. Die Grube war flach, nicht knietief, halb so tief. Ganz in der Nähe knarrten die Karrenräder. Das Knarren entfernte sich. Dann war es bald wieder still. Das Russenpferd will seinen Kopf nicht ins Fenster hängen. In so eins nicht. Wenn der Plischke aber nicht alles erdichtet hat, alles kann er nicht, hat der Starschina mit einer gewissen Achtung von den Kameraden gesprochen, die hier ins Gras gebissen haben. Freiwillig. Röder war allein. Wenn Röder allein war, fühlte er sich auf unbegreifliche Weise frei. Er war so frei, dass er einen toten Deutschen, von dem ein Russe mit einer gewissen Achtung gesprochen hatte, noch einmal ins Gesicht sehen wollte. Vielleicht wollte er das. Er schützte die Stelle über dem Kopf des Schattens, die er wie ein trübes Fenster putzte, mit seinem Körper und mit den Schößen seines langen, weiten und nun geöffneten Wachmantels vor dem treibenden Schnee. Der ist noch sehr jung gewesen, der Unteroffizier. Gerade zwanzig vielleicht. Im Eis halten sich die Toten lange frisch. Zuerst verfallen die Lippen. Weil man an den Lippen zuerst sieht, wie das Blut zu Wasser wird. Er liegt auf dem Rücken, hat den Kopf zur Seite gedreht. Sieht aus, als ob er schlecht träumt. Solche jungen Korporalsgesichter kennt man. Tollheit und Stolz wachsen da auf einem Holz. Vorzeitig befördert wegen Tapferkeit vorm Feind. Der da, der hat wahrscheinlich durchgedreht. Der hat die Pistole noch in der Hand, die Nullacht, System Parabellum, die nie versagt. Die andre Hand hat er in den Rockkragen gekrallt, sich die Knopfleiste aufgerissen. Durchgedreht. Und dann mit der eigenen Pistole ... Das krustige Loch in der Schläfe, der Einschuss, hat geschwärzte Ränder. Genauso hat das bei unsrem Leutnant ausgesehen. Warum hat sich der Leutnant bloß erschossen. War glücklich verheiratet gewesen. Keine dreißig. Bloß, weil wir uns zu dritt wieder bei ihm zurückgemeldet haben? Versetzt gewesen in einen anderen Haufen. Scheißbefehl. Und zurückgemeldet auf eigene Faust nach vierundzwanzig Stunden. Und das am Reichsgründungstag, hat der Leutnant gesagt, als wir ankamen. Einer hat gesagt, ein Reich muss uns doch bleiben.

Im Kessel ging ja zu der Zeit noch alles drunter und drüber. Da wurde gestorben wie am laufenden Band. Zuerst war der Leutnant noch ganz lustig. Dann hat er uns angeschissen. Dann ist er ganz still geworden. Hat für sich alleine einen gehoben. Auf den Reichsgründungstag. Ist anzunehmen. Und dann ist er durch die Kellertür rausgegangen, einfach rausgegangen. Draußen hat er Schluss gemacht. Auch durchgedreht. Auch so ein krustiges Loch in der Schläfe. Das Haar ringsum verbrannt. Genau wie der da. Der hat bloß braunes Haar, dicht wie ein Strohdach. Der Leutnant hatte dünnes blondes. Und wie er dalag, der Leutnant, mit den aufgerissenen Augen, er sah durch einen durch wie in die andre Welt. Du siehst einen nicht an, mein Junge. Du hast den Kopf trotzig weggedreht. Willst niemand mehr sehen und nichts mehr. Du zeigst mir das Muttermal unter deinem rechten Auge. Es sitzt unterm Außenwinkel, einen Fingerbreit tiefer. Wo sich die Haut übern Backenknochen spannt. Groß wie eine Streichholzkuppe. Deine Mutter hat den Schönheitsfleck an der gleichen Stelle gehabt, ganz genau an der gleichen. Auch die gleichen gewölbten Fingernägel. Auf jedem Nagel ein schöner Hof. Wir hatten zehn schöne Höfe. Zwanzig, als du da warst. Ein Reichtum. Komm doch raus, Junge. Versteck dich nicht länger. Warum machst du das. Ich hab’ dich längst gesehn. Hab’ dich doch nicht hierhergeschickt. Ich doch nicht. Hab’ dich bloß gesucht. Vierzehn Tage lang. Vierzehntausend Tage lang durch Schnee und Eis. Komm doch raus. Steh doch auf. Komm, wir gehen nach Hause. Brauchst dich nicht zu schämen mit mir, weil mir die Russen den Schädel kahl geschoren haben. Das wächst alles wieder nach.

Der Mann, der auf dem Eis kniete, beugte das Haupt tief über den Toten. Herrgott im Himmel, wenn es dich noch gibt. Du kannst mir glauben, wir haben ihn aufgezogen in Liebe. Bei der Taufe hat der Pfarrer Ballmann gesagt, dies Kind soll unverloren sein. Hast du es weggeschmissen, Gott? Haben wir’s getan? Hat er’s selber gemacht? Deck dich mit meinem Mantel zu, Junge. Es ist kalt. Es ist kalt, hörst du, wie die Räder knarren vor dem Karren. Und die müssen noch so weit mit dir. Hörst du, wie der Baum umbricht ...

»Roider!«

Das wird der Starschina sein. Den kennst du nicht. Der kann unsern Namen nicht richtig aussprechen. Ist kein schlechter Mensch deswegen. Ich muss jetzt aufstehn.

Der Starschina, das Pferd am Zügel haltend, stand an der Grube. Sah hinab auf den Toten. Sah lange hinab auf das Totengesicht. Blickte auf. Sah prüfend in das tote Gesicht des Mannes, der sich erhoben hatte.

»Familija?«, fragte der Sergeant, auf den Toten deutend.

»Röder«, antwortete der Kriegsgefangene.

Er tappte die paar Schritte bis zum Karren. Nahm sein Brecheisen von der Pritsche. Die Grube war heute für zehn auszusprengen. Neun und einer sind zehn. Und der zehnte war noch aus dem Eis zu hacken. Röder fing gleich damit an. Was du tun musst, tue gleich. Wenn du sterben musst, stirb schnell. Der Starschina stieg auf den Karren, schloss die Kiste auf, warf Spitzhacke und Schaufel herab. Dann ging er zu dem Gefangenen, streifte den Mantelärmel etwas zurück, tippte auf seine Uhr, tippte auf die eins. Die Uhr des Starschina zeigte jetzt auf viertel zwölf.

Die Räder begannen wieder zu knarren. Das Geräusch verlor sich hügelaufwärts. Wenn Maria noch lebte und es wäre noch eine Zeit hin, würde ich sagen, seitdem ich den Jungen begraben habe, würde ich Maria sagen, weiß ich, was eine Gnade ist. Wenn ein Mensch deine Not sieht. Und dir hilft. Ohne zu fragen. Dass mich der Russe allein ließ mit dem Jungen, ganz allein, in dem Schneetreiben. Eindreiviertelstunden, damit ich dem Jungen sein eigenes Grab machen konnte, sein letztes Bett, das war eine Gnade. Wahrhaftig. Eindreiviertelstunden hat’s auch gedauert, als er zur Welt kam. Um fünfe, weißt du noch, setzen bei dir die Wehen ein. Dreiviertel sieben tat das Kind seinen ersten Schrei. Ich hab’ auf die Küchenuhr gesehn. Die ging immer genau. Wir hatten dein Bett in die Küche gerückt. Es war auch kalt und eisig draußen, an dem vierten Dezember. Und wir waren auch alleine. Die Hebamme war tags vorher mit dem Fahrrad gestürzt, hatte sich den Arm gebrochen. Du hast gesagt, das Kind muss gebadet werden. Nicht zu heiß und nicht zu kalt. Ich hab’ heißes Wasser in die kleine Holzwanne geschüttet. Und kaltes dazu. Und mit dem Ellenbogen probiert, bis es nicht zu heiß und nicht zu kalt war. Und als ich’s Kind mir auf den Arm legte, hast du Angst gehabt, es könnt’ mir in der Wanne aus dem Arm rutschen ...

Als es Röder vollbracht hatte, suchte er die Kolonne in der Richtung, aus der er die Sprengschüsse gehört hatte. Er hatte sich beeilen müssen bei der Arbeit, weil er die Grabsohle so tief haben wollte, wie es sich gehört. Über eine Viertelstunde ging er am Fuß des Hügels entlang. Sie waren dabei, die Grube zuzuschütten. Beim Starschina gab er die Uhr des Jungen ab, des Gutsherrn Geschenk zur Konfirmation. Eine billige Armbanduhr. Der Starschina besah sich die Uhr kurz und warf sie zu anderen wertlos gewordenen Dingen mit in die Grube. Die Uhren, die sie fanden, waren alle unbrauchbar geworden. Was Röder dem Kommandoführer nicht ablieferte, das war der Trinkbecher, der Füllfederhalter und die Pistole des Toten, die nie versagende. Warum das? Es war ihm bei der Arbeit geschehen, dass sich auf einmal Erde und Himmel und alle Gedanken in einem irren Tanz um ein reines Nichts zu drehen begannen, um einen Pfahl im Fleisch, den er sich eigentlich schon lange herausgezogen und in Vergessenheit gebracht hatte. Mitten in der Arbeit glaubte er auf einmal lebens- und sterbenshalber wissen zu müssen, ob der Junge es mit der letzten Kugel getan hatte. Wie sich das für einen Soldaten gehört. Die Pistole trug Röder auf der bloßen Haut unter den Lumpen, unter dem Koppelriemen. Ihm hatte sich der wahnsinnige Gedanke eingebrannt, er müsse die Pistole bis zum Einbruch der Nacht auf der bloßen Haut tragen, damit sich das Metall erwärme und er den Kniegelenkverschluss und das Magazin gängig machen konnte. Dann würde er es mit eigenen Augen gesehen haben. Dann würde er zu gegebener Zeit seinem Bruder, diesem falschen Helden, die Wahrheit bieten: Der Junge hat nicht durchgedreht. Der Junge hat die letzte Kugel für sich aufgespart. Und er würde diesem Bruder auch den letzten Brief des Jungen zu wissen geben: Lieber Vater, wir hocken immer noch im Mittelabschnitt hinter unseren Paks und haben nichts zu schießen! Kein Panzerwild im Busch. Aber es riecht nach Stellungswechsel. Wahrscheinlich in den Südabschnitt. Das wäre prima. Da ist was los. Zurzeit sitze ich für drei Tage im verschärften Arrest. In der Protzenstellung. In einem Badehäuschen neben der Schreibstube. Es geht mir gut. Zu futtern habe ich mehr als sonst. Der Schreibstubenbulle bringt mir selber das Essen. Die Tür lässt er offen. Ich kann mich auch in die Sonne setzen. Der Oktober ist hier noch schön warm. Wir hatten vorige Woche ein mächtiges Batteriebesäufnis. Unser Alter ist zum Major befördert worden. Als er völlig duhn war, sollte ich ihm ein Pferd besorgen. Er wollte zu Pferd die Stellungen kontrollieren und die Posten. Die liegen ganz vorn. Nachts ballert der Iwan mit Leuchtspur gleich los. Brauchst nur mit dem Schanzzeug zu klappern. Der Alte fiel aber runter vom Gaul. Da habe ich gemacht, was der Alte machen wollte. Ich, der Gefreite Röder. Batterieehre. Das hat gezwitschert, als ich vor dem vorderen Graben langgedonnert bin. Nächsten Tag natürlich zum Rapport. Drei Tage Verschärften. Und am 4. Dezember, am Sankt-Barbara-Tag, kriege ich die Gurkenschalen, werde ich Unteroffizier. Auch dafür, dass ich nicht quatsche.

Auch das dem falschen Hund von Bruder. Zu gegebener Zeit. Alles Ungereimte des Briefes, ebenso die größere Ungereimtheit, dass es der Junge nicht oben auf der Höhe, sondern unten im Zelt getan hatte, verdrängte Röder aus seinem Bewusstsein.

Als das Kommando an diesem letzten düsteren Wintertag seine Aufgabe erledigt hatte, trat es ohne Zeitverzug den Rückmarsch ins Lager an. Das Lager sollte in vier Tagen wieder erreicht werden. Heute Nacht, nicht später, wollte Röder die Pistole gängig haben und sie danach weit wegwerfen. Er hätte das auch mit Sicherheit getan, wenn es nicht dazu gekommen wäre, dass der Starschina - und das geschah am späten Nachmittag schon - Röder auf Waffenbesitz kontrollierte. »Welcher Kriegsgefangene eine Waffe an sich nimmt, diese bei sich oder außerhalb seines Körpers verbirgt, ist auf der Stelle zu erschießen.« Ohne Diskussion.

Doch als es unter diesen Umständen dazu kam, dass der Starschina den Kriegsgefangenen Obergefreiten Röder auf Waffenbesitz kontrollierte, und als es geschah, dass der auf der Stelle Verurteilte unter den Schüssen, die aus geringer Entfernung auf ihn abgefeuert wurden, vornüber in den Erdkeller stürzte, da erhob sich die Legende und begann ihr dichtes Gespinst um das Geschehene und das darauf folgende zu weben.

Warum wählte der Starschina nur die Marschroute, die genau an der Steinhütte vorüberlief? Der junge Soldat musste ihm doch über die beiden Frauen nicht eben das Beste berichtet haben. Hatte der junge Soldat ein schlechtes Gewissen gegenüber den Frauen? Wollte er etwas gutmachen? Es war gedacht, das Kommando bei der Hütte kampieren zu lassen. Unterwegs wurde Brennholz gesammelt. Bei dem zerschossenen, verödeten Vorwerk, etwa anderthalb Stunden von der Steinhütte entfernt, fanden sich verkohlte und unverkohlte Hölzer. Der Starschina wollte nicht mit leeren Händen kommen. Das gehört sich auch nicht. Vielleicht hatte der Starschina auch gedacht, eine scharfzüngige Frau, mit der man nicht verheiratet zu sein hat, schärft den männlichen Verstand. Als es auf die Hütte zuging, man sah sie noch gar nicht, obwohl das Schneetreiben stark nachgelassen hatte, wurde das Pferd schon wieder unruhig. Aber durchgehen konnte der Fresser diesmal nicht. Der Karren war zu schwer beladen. Alle vier Kriegsgefangenen waren beigespannt: Zugstricke über die Schultern.

Die jüngere Frau sagte kaum Danke, als das Holz abgeladen vor ihrer Behausung lag. Der Starschina hat lange mit ihr geredet. Ihren Landsleuten hätte sie wahrscheinlich ohne Zimperlichkeit ein warmes Nachtquartier geboten. Doch Deutsche duldete sie in ihrer Nähe nicht. Die Babuschka stand ganz auf ihrer Seite. Der kleine Junge spielte mit dem großen jungen Wachsoldaten Krieg. Die beiden waren ein Stück fortgegangen und schossen auf irgendetwas. Wenn einer getroffen hatte, schrie der kleine Junge jedes Mal Hurra mit seiner Kinderstimme.

Schließlich begann die Jüngere mit dem Starschina zu streiten. Sie hatte dabei ein Gesicht, als ob sie zu allem entschlossen wäre. Es ging um das Pferd. Die Frau wollte das Pferd. Sie hätte jetzt das größere Recht auf ein Pferd. Wenn sie im Frühjahr kein Zugtier hätten - und woher sollten sie eins bekommen -, brächten sie nichts in den Boden. Dann müssten sie verhungern. Oder fortziehen. Aber wohin? Und hier wären sie zu Hause. Von hier gingen sie nicht mehr fort. Von hier hätten sie die Deutschen fortgetrieben wie Vieh. Sie wären die einzigen von allen Leuten auf dem Vorwerk, die es überlebt hätten. Überlebt und ein Kind verloren. Das Mädchen, dreijährig. Und den Mann, der Vater - bei Smolensk gefallen. Die verdammten Faschisten könnten den Karren auch ohne Pferd ins Lager zerren. Sollte der Starschina doch melden, das Pferd sei unterwegs krepiert. Plischke hat im Flüsterton übersetzt, und der Starschina hat vor sich hingebrütet. Hat immer wieder nur den Kopf geschüttelt. Immer wieder. Und nichts weiter. Da ist der Frau der Geduldsfaden gerissen. Sie ist hingegangen zu dem Pferd. Sie wollte es ausspannen. Fing schon damit an. Das Pferd fraß ruhig weiter. Mit dem Starschina ging es durch. Er schrie die Frau im Kommandoton an. Als die Frau sich davon nicht beeindrucken ließ, ist er selber hingegangen, ganz beherrscht, kein schneller Schritt. Er hat die Frau vom Pferd getrennt. Weggeschoben. Nicht gewalttätig, aber bestimmt. Die Frau trug an diesem Tag den rechten Arm in der Binde. In einem zerschlissenen schwarzen Kopftuch. Sie hat sich aber mit dem Arm in der Binde gewehrt. Vielleicht war es nur eine Prellung. Oder die Hand war übergriffen. Dann ist es mit der Frau durchgegangen. Gut, hat die Frau gesagt, dann gib mir einen von diesen deutschen Hengsten. Er soll sein Fressen haben. Und die Kandare. Sie wolle ihn auch wieder umtauschen, hat die Frau gesagt, gegen ein anständiges Pferd. Der Starschina fing wieder an vor sich hinzubrüten. Obwohl er diesmal auf den Beinen stand und nicht saß, wie vorher, auf dem Heu unter dem Vordach. Worauf die Frau ein andermal gehandelt hat. Auf dem Karren lagen noch die Zugstricke der Gefangenen. Die Frau nahm einen solchen Strick zur Hand. Die vier Gefangenen standen betont unbeteiligt in der Nähe des Erdkellers. Sie sahen die Frau, den Strick schwingend, auf sich zukommen. Keiner traute dem Wahnsinn. Jeder dachte, die Frau spielt nur verrückt. Die Gesichter zueinander gekehrt, stellten sich die Gefangenen eng zusammen, als die Peitsche auf ihre Mantelrücken klatschte. Drei haben gefeixt. Einer nicht. Der Starschina wollte sie wieder zurückhalten. Nicht gewalttätig. Da hat die Frau die Hand gegen den Starschina gehoben. Er hat stumm zugesehen, als die Frau den einen, der nicht feixen konnte, diesen Röder, beim Kragen fasste, aus der Runde stieß und in das Kellerloch peitschte. Die Babuschka stand in der Hüttentür. Sie schrie zum Gottserbarmen. Der kleine Junge schrie auf dem Schießplatz hinter der Hütte wieder einmal ein dünnes Hurra. Und erst dann brüllte der Starschina los. Die Ziege sprang auf einmal wie ein gehetztes Reh aus dem Kellerhals. Dem Starschina ist sie ausgewichen. Die Frau, die schnell wieder aus dem Keller herauskam, hat die Tür von außen zugeriegelt. Der junge Wachsoldat hatte das Schreien gehört. Er kam angelaufen und wurde befohlen, die Frau in ihre Hütte zu bringen. Die Frau ging aber von allein. Der Wachsoldat folgte ihr streng auf den Fersen, den Daumen unterm Gewehrriemen. Was muss nur der kleine Junge gedacht haben.

Die drei anderen Gefangenen waren zum Karren geflohen. Der Wachsoldat, der unter dem Vordach haltgemacht, beäugte sie scharf. Er wusste nicht, was hier vor sich ging. Er wusste nur, wo der Feind stand. Das Brüllen des Starschina kam aus dem Keller. Dawaj, Roider! Aber Röder kam nicht heraus. Man hörte auch nichts mehr. Vielleicht eine ganze Minute lang hörte man auf einmal nichts mehr. Das Pferd beschnupperte die Ziege. Und die Ziege ließ es sich gefallen. Dann brüllte der Starschina wieder los. Faschist! brüllte er. Pistolet! brüllte er. Rastreljatsch! brüllte er, der Starschina. Dann kam Röder raus. Mantel offen, Waffenrock aufgerissen. Hinter ihm der Starschina, die MPi noch über dem Rücken, in der Hand den Fund. Am Eingang legte der Starschina Röder die Hand schwer auf die Schulter, dreht ihn um, ging dann erst an ihm vorbei. Röder schien völlig apathisch. Als der Starschina ein paar Schritte zurückgegangen war, den Fund dabei unters Koppel schiebend, danach seine Maschinenpistole abnahm und durchlud, müssen Röder, als er das metallische Geräusch hörte, die Knie versagt haben. Er trat eine Stufe tiefer. Der Starschina schoss hoch angelegt. Röder sackte sofort weg. Um sich zu vergewissern, möglicherweise auch, um eine Vorschrift einzuhalten, ging der Starschina zum Eingang und gab dort noch einen kurzen Feuerstoß aus der Hüfte nach unten ab. Die Frauen standen in der Tür der Steinhütte. Zu ihnen ging der Starschina auch noch einmal hin. Er tat es ebenso gemessen. Den Jüngeren hat er ein paar wenige Worte gesagt. Was er wirklich gesagt hat, konnte niemand anders hören. Auch die Babuschka nicht. Sie hatte das Kind ins Innere gedrängt, als der Starschina herankam.

Ein scharfes Kommando zum Aufbruch. Röder hatte das Pferd nie geschlagen. Nun peitschte es der Starschina mit einem Zugstrick. Der Hengst ging ab wie toll geworden. Der Wachsoldat hielt sich an der Runge fest. Die Gefangenen lagen flach auf der Pritsche. Der Starschina stand. Es dunkelte schon in der Steppe.

So wird es gewesen sein.

3. Kapitel

Röder lag für tot auf dünner Spreu. Er wusste nicht, wie lange er schon für tot in diesem Stall unter der Erde lag. Es roch nach Ziege, nach Kartoffelkeimen und nach Gärigem. Es roch alt. Die Ziege fehlte. Ein Haustier lässt man nicht bei einem Toten. Was mit ihm wirklich selber geschehen war, war über seinen Verstand gegangen. Wie lange? Die Zeit verblasste gegen die aufdämmernde Erinnerung. Alles kam mit greller Überdeutlichkeit zurück. Alles, die Dinge, die Menschen, ihre Gebärden, ihre Worte, erschienen ihm in der Stockfinsternis übergroß und laut wie im Kino. Unwirklich erschien ihm nur, dass der Film über seine letzten Stunden einmal viel zu schnell, einmal viel zu langsam lief. Und was das Qualvolle daran war, dass er sich selber sah: wie er das Grab gräbt, wie der Schwung der Spitzhacke plötzlich erlahmt, weil der Totengräber die Erleuchtung hat, dass der Junge nicht durchgedreht, dass er gekämpft und die letzte Kugel für sich aufgespart hat. Und wie er selber vor der Frau in den Erdkeller tappt, dass ihn die Frau dabei gar nicht schlägt. Er tappt ganz langsam hinunter. Sie folgt ihm nicht schneller. Ihr Gesicht ist böse, als ob sie beide eine böse Arbeit in dem Keller verrichten müssten. Er sieht auch, wie er sich den Rock aufknöpft, die Pistole aus dem Unterzeug hervorholt, wie die Pistole, dem Starschina angeboten, auf seiner Hand liegt. Quälend langsam läuft alles ab. Wie aber der Starschina die Augenbrauen hochzieht, wie er die Faust ballt, wie er die Faust hochreißt, ihm ins Gesicht zu schlagen, bleibt der Film stehen. Der Starschina schlägt ihm nicht ins Gesicht. Dann fangen die Bilder wieder an zu rasen. Der Ton brüllt übersteuert: Du Faschist, Pistolet, Rastreljat. Die erste Salve, hämmernd wie der doppelläutige Wecker, der immer in der Kammer auf dem Blechteller stand, der ihn hochriss, der ihn niederreißt. Die zweite Salve, fernab. Und Worte, fernab, kaum zu hören. Du nix kaputt, du rabotat, panjemaisch ... Die Russen sind unberechenbar.