Wir sind nicht Staub im Wind - Max Walter Schulz - E-Book

Wir sind nicht Staub im Wind E-Book

Max Walter Schulz

4,8

Beschreibung

„Welches Unmaß an Hoffnung!" Als Prof. Dr. Füßler diese zuversichtlichen Worte ausspricht, ist der Krieg beendet, lebt in den Menschen die Gewissheit auf ein friedliches, befreites Morgen. Weit ist der Weg dahin, weil er von jedem Einzelnen Besinnung, Auseinandersetzung und Entscheidung fordert. Das aber verlangt Wende, und Wende ist Überwindung. Hagedorn, Saliger, Hilde und Lea müssen sich vor allem von der Einstellung lösen, dass der Mensch machtlos dem Schicksal unterworfen ist. Das Leben dieser Zentralgestalten, ihre vielfältig verflochtene, unterschiedliche Entwicklung dient dem Autor zum Nachweis der These, die dem spannenden Geschehen den Titel gegeben hat: Wir sind nicht Staub im Wind! Ein wahrhaft poetischer, wortkünstlerisch faszinierender Roman, der getragen wird von der nationalen Mission der Literatur. Diese Gewissheit — „Welches Unmaß an Hoffnung!“ LESEPROBE: Hagedorn, gepeitscht von der Angst ums Leben wie von der Verlassenheit des Vogelfreien, des aus allen menschlichen Bünden gestoßenen, lag bäuchlings auf quergestellten Reihen von Benzinkanistern, die unter ihm hin und her schaukelten, weil sie etwas Spielraum hatten zwischen den seitlichen Bordwänden. Als der Wagen eine Kurve befuhr, presste die Fliehkraft die unruhige Ladung nach außen und klemmte dem Liegenden die Finger der rechten Hand ein. Er riss die Hand fluchend aus den zusammengepressten Kanistern, schob die Finger in den Mund, um den Schmerz zu betäuben ... Sechshunderteinsundzwanzig, zwoundzwanzig, dreiundzwanzig ... Zu beiden Seiten der Straße tauchten schattenschwarze Häuser auf. Stimmen erhoben sich, eisenbereifte Räder rumpelten schwer und hart über Pflastersteine, dazwischen klickten ungezählt viele Pferdehufe. Vorn in der Kabine schaltete der Fahrer mit viel Zwischengas herunter. Unendlich langsam überholte der Wagen eine bespannte Einheit, irgendeinen Tross ... Siebenhunderteinsundzwanzig, zwoundzwanzig ... Gesprächsfetzen wehten herein: halbe Stunde von hier, Spaziergängertempo, wär’ ich zu Hause. Hannchen liegt im Bett und greift im Schlaf nach meinem Kopfkissen ... Wißte, Fuchs! Wißte ...“ „... wenn es noch einen lieben Gott im Himmel gibt, Ernst, dann versteh’ ich ihn nicht mehr. So was dürfte er …“ „... ’n Holzfuß trägt jetzt meine Erna. Ich sage ihr, lass gut sein, ’ne hinkende Stute fohlt auch noch gut ab .... unsere V-Waffen, Kameraden, ich sage euch ...“ - „... in der dritten haben sie gestern zwei Oberschnäpser standrechtlich erschossen. Wollten stiften gehn.

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Impressum

Max Walter Schulz

Wir sind nicht Staub im Wind

Roman einer unverlorenen Generation

ISBN 978-3-95655-272-4 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien erstmals 1962 im Mitteldeutschen Verlag Halle.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2015 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

„… DER MENSCH IST ABER EIN GOTT,

SOBALD ER MENSCH IST.

UND IST ER EIN GOTT, SO IST ER SCHÖN ...“

HÖLDERLIN, „HYPERION“

ERSTER TEIL: HAHNENSCHREI MORGEN

ERSTES KAPITEL

An diesem helllichten Aprilmorgen im letzten Kriegsfrühling trottete ein Unteroffizier von der Panzerabwehr mutterseelenallein auf der breiten gepflasterten Straße, die von Eberstedt aus siebeneinhalb Kilometer fast schnurgerade bis zur Abzweigung nach Rayna führt. Gestern mit einem Schub halb Toter aus dem Reservelazarett entlassen, eine immer noch nässende Schusswunde in der Hüfte, war er von einer Frontleitstelle zu der schweren Flak hinter dem Dorf Rayna in Marsch gesetzt worden, um dort die fünf Jahre Fronterfahrung, die er auf dem Buckel hatte, an den Mann, genauer gesagt an die Luftwaffenhelfer, zu bringen. Das großdeutsche Vaterland von der Maas bis an die Memel, der in den Schulatlanten mächtig breit gelaufene himbeerrote Fleck, war nun zusammengedrückt wie eine Eiswaffel für’n Groschen. Die Russen waren schon über die Oder geflutet, und die Amerikaner mussten, wenn sie das Vormarschtempo der letzten Woche einhielten, in etwa zwei Tagen mit den Panzerspitzen hier am Westrand des mitteldeutschen Braunkohlen- und Industriegebietes auftauchen.

Dem Unteroffizier, einem robust aussehenden Burschen, war es in den letzten beiden Kriegsjahren nach und nach völlig gleichgültig geworden, unter welchen Himmelsstrich und zu welchem Einsatz man ihn verfrachtete. Denn auf die Dauer gab es überall die gleiche Gummiwurst, den gleichen Tubenkäse und Kunsthonig zwischen die Zähne und für die armen Teufel, die daran glauben mussten, die gleichen Eisenstückchen zwischen die Rippen. In Russland hatte der Unteroffizier einen älteren Obergefreiten als Ladekanonier auf der Selbstfahrlafette gehabt, einen kleinen, zähen, flachbrüstigen Menschen, Metteur von Beruf, nach wie vor Naturfreund von Gesinnung, bescheiden wie ein Eremit, aussehend mit seiner bändergehaltenen Nickelbrille unterm Stahlhelm und dem ewig stoppeligen Kinn wie ein Waldschrat. Otto Siebelt hieß dieser Sonderling, dessen stoische Ruhe Vorgesetzte zur Raserei oder zu achselzuckendem Erstaunen brachte. Aber er hatte trotz alledem auch ins Gras beißen müssen. Während des Rückzuges durch die Wälder von Brjansk war es gewesen, auf einer sonnigen Schneise voller Brombeeren. Da lag er neben dem Fahrzeugwrack, das er „Gottsdonner“ getauft hatte, und blutete aus.

„Mensch, Otto, warum?“, hatte der Unteroffizier den Sterbenden mit Kehlwürgen gefragt. „Warum denn das alles?“ Der hier lag, war ihm wie ein Vater geworden. Zum ersten Mal in diesem Krieg spürte er, der Unteroffizier, ein stechendes Entsetzen vor der Sinnlosigkeit des Sterbens.

Der zu Tode Getroffene sah ihn mit verschwimmendem Blick an. „Fängst auf meine alten Tage noch anzuquatschen. Halt die Schnauze, Hagedorn. Gab mal einen, der hieß Angelus Silesius, und der hat gesagt: ,Die Rose blühet und verblühet ohn’ Warum.‘ - Das ist der ganze Sinn der Welt. Setz mir die Brille ab, Rudi, ich habe genug gesehen. - Und hau ab, sonst schnappt dich der Iwan …“

Die Rose blühet und verblühet ohn’ Warum, und der Soldat marschiert, krepiert ohn’ Warum. Ist das wirklich der ganze Sinn der Welt? - So viel Gedanken sich dieser Unteroffizier Rudi Hagedorn auch über das Warum gemacht hatte, seine Gedanken brüteten flügellahmen Vögeln gleich, die auf Windeiern sitzen. Ruckediguh, ruckediguh singt der Wildtäuberich und stößt auf die hölzerne Locktaube herab, die oben auf dem First der Feldscheune sitzt, mit einem rostigen Nagel, der aus dem Rücken ragt und den sich der Wildtäuberich ins Herz rennt.

Der Morgen versprach einen wunderschönen Frühlingstag. Die Frühnebelschleier zerrissen über den Saatfeldern, verflüchtigten sich aus dem schwarzen Geäst der Straßenbäume vor der gleißend aufgestiegenen Sonne. In diese Sonne konnte man nur noch schauen, wenn man die Hand über die Augen hielt und die Augen verkniff. Hagedorn tat das hin und wieder, weil er in Eberstedt vor den amerikanischen Jagdbombern und Tieffliegern gewarnt worden war, die mit Vorliebe aus der Sonne auf die schnurgerade Straße herabstießen. „Da bleibt kein Auge trocken …“ Längs der Straße lagen die Beweisstücke: Autos, ausgebrannt, einfach in den Graben gestürzt, die Räder mit den verkohlten Reifenfetzen nach oben, zerschellte Treckwagen, mit denen die Gäule durchgegangen sein mochten. Die Leere und Stille auf der großen Straße mutete fast gespenstisch an. Nirgendwo, auch nicht auf den Feldern, war ein Mensch zu sehen, und zu hören war nichts als die abgerissenen Triller einiger Lerchen, die unsichtbar hoch im Blau hingen.

Dem Dahintrottenden war es, als ritte ihn ein Hund. Die dumpfe Revolte der Gedanken, die sich immer wieder selbst erstickte, war durch einen besonderen Umstand erneut in Bewegung geraten. Das Schicksal spielte wie in weibischer Bosheit den Zufall gegen ihn aus. Er war laut Marschbefehl unterwegs zu der Batterie, deren Chef Hauptmann Saliger hieß. Einem dicken Major auf der Frontleitstelle, der sich’s angelegen sein ließ, Hagedorns Einsatz selbst zu steuern, war der Name bei der Einweisung auf der Karte beiläufig über die Lippen gekommen: „... das ist hier bei dem poplichten Nest Rayna, ’ne Großkampfstellung in der Einflugschneise. Kenne den Chef, Hauptmann Saliger, kann in seinem Kindergarten so ’n altes Frontschwein wie Sie dringend benötigen. Trage Ihnen meine Grüße auf. Is ’n alter Bekannter von mir, na ja, schön …“ „Auch von mir“, wollte Hagedorn schon bestürzt sagen, doch er verschluckte diese zivilistische Anmaßung noch rechtzeitig. Überdies und hoffentlich konnte es ja auch ein anderer Saliger sein als jener, als der Jugendfreund, den er als Zehnjährigen aus dem Fischerteich gerettet, mit dem er in der tiefen Höhle des Katzensteins Blutsbrüderschaft geschlossen, mit dem er in den herrlich törichten Jahren des Erwachens ein und dasselbe Mädchen angebetet hatte: Lea, die Schöne, Reine, Kluge, Unerreichbare, die Göttin. Aber seine Hoffnung, dieser Saliger wäre es nicht, scheiterte durch nähere Nachfrage bei einem Schreibstubenschnäpser der Frontleitstelle. Saliger war Saliger, war Armin, der Haderlump, der bei der ersten Bewährungsprobe ihre Freundschaft verraten, der sich Leas Vertrauen und dann ihre Liebe erschlichen und sie, als es plötzlich um seine Karriere als Offiziersanwärter ging, sitzen gelassen hatte wie der erste beste erbärmliche Schuft.

Damals, als das passierte, war Hagedorn, fiebrig vor Scham und Verachtung, an den Ort geflohen, wo sie sich als Knaben den kleinen Finger aufgeritzt und jeder vom anderen drei Blutstropfen getrunken hatten. Dort in der Katzensteinhöhle tat er einen entsetzlich kindischen Schwur, der, anstatt die Wunde zu heilen, die ihm Saliger geschlagen, zur Geißel wurde, mit der er sich selbst die Seele fort und fort wund schlug. Denn er hatte geschworen, Saliger umzubringen, und nicht den Mut zur Tat gefunden, den Mut nicht und den Hass nicht und auch nicht den Humor, das alberne Rachegelöbnis als eine Jugendeselei zu vergessen. Hätte er, der Straßenkehrersohn, doch lieber seine tausend Hemmungen abgestreift, wäre er hingegangen zu Lea, der Nichte und Pflegetochter seines verehrten Lehrers Dr. Füßler, ihr zu sagen: Lass mich gutmachen, was Saliger an dir gesündigt hat. Ich habe dich je und je geliebt. Doch ja, einmal war es so weit gewesen, nach Ottos Tod, nachdem er selbst wieder einmal davongekommen war, als die heimwärts rollende Ostfront an der Weichsel ausruhte. Da schrieb er endlich an Lea und offenbarte sich ihr. Aber da war es zu spät. Lea Füßler war von der Gestapo abgeholt worden und seither verschollen. Mutter schrieb’s ihm in den Tagen, in denen er den Brief an Lea noch im Soldbuch bei sich trug. So wanderte der schöne gute Brief ins Feuer, und der schlimme Zettel blieb im Brustbeutel bei der Erkennungsmarke. Hagedorn hätte im Tiefschlaf aufsagen können, was auf dem Zettel stand: „Ich schwöre bei meinem Leben und bei allem, was mir heilig ist: bei Deutschland, bei der steilen Flamme des Sonnenwendfeuers, beim Rauschen des nächtlichen Waldes, bei den Felsen auf der Heide, bei Leas Augensternen und bei ihrem Mutterschoß: dich, armin saliger (auf dem Zettel klein geschrieben), vom Leben zum Tode zu bringen, wann ich dich treffe. Der Verräter stirbt.“ Darunter stand, mit eigenem Blut geschrieben, sein voller Taufnahme: „Rudi Paul Christian Hagedorn.“

Und nun war er unterwegs zu dem, dessen Name auf dem Zettel klein geschrieben stand, in symbolischer Bedeutung für „abgeschrieben“. Und nun musste etwas geschehen. Heute noch würde er Saliger Auge in Auge gegenüberstehen, und Saliger würde - ja, er würde sich freudig überrascht gebärden, tun, als ob nichts, gar nichts zwischen ihnen stünde, nicht einmal Zeit, höchstens einige Dienstgrade. „Menschenskinder, Rudi, alter Knabe, lass dich beaugapfeln! Bisschen kantig geworden - aber sonst herrlicher denn je, besonders das klassische Näschen … Hagedorns etwas breitlöcherig geratene Nase hatte Saliger schon immer zum Foppen angeregt. Ach, Saliger konnte lieb sein wie eine alte Nutte. Und davor fürchtete sich Hagedorn. Träte ihm doch dieser Herr Hauptmann in kühler Höflichkeit gegenüber, das Vergangene beiseiteschiebend wie eine leer getrunkene Tasse. Vielleicht gebrauchte er sogar den vertrauten Necknamen, nannte ihn „Amos“. Hagedorn spürte noch jetzt die heiße Welle der Beschämung, wenn er daran dachte, wie er dazu gekommen war. Saliger, der Apothekersohn, zwei Jahre älter als er, war 1930 aufs Reiffenberger Gymnasium gekommen. Danach fing er an, Rudi zu examinieren, sogar oben auf ihrer Baumburg in der alten Kastanie vor dem Straßenwärterhaus. „Welche römischen Götter kennst du? Rudi kannte keinen einzigen. „Du musst doch wenigstens den Gott der Liebe kennen, Kleiner! Na los, mit A fängt er an, A - M, Am… Überglücklich, es doch zu wissen, sagte Rudi: „Amos. Seine fromme Mutter hatte mitunter, um ihre Bibelfestigkeit und ihr gutes Gedächtnis zu beweisen, die Reihe der Propheten hergesagt:

„… Hosea, Joel, Amos, Obadja, Jona, Micha, Nahum, Habakuk …“ Davon war ihm, dem damals Neunjährigen, der Name im Gedächtnis hängen geblieben. Saliger wollte sich vor Lachen ausschütten. Fortan nannte er den Freund Amos. Das blieb aber zwischen ihnen beiden, sonst wäre es zur Keilerei gekommen, bei der Armin den kürzeren gezogen hätte.

Und nun musste etwas geschehen. Reiner Tisch musste gemacht werden. Aber wie? Hagedorn sinnierte: „Es geht um Gerechtigkeit, nicht um Rache. In der Bibel steht: „Mein ist die Rache, spricht der Herr.“ Das hatte Mutter oft gesagt, wenn sie mit krummem Rücken und schmerzenden Augen von der pusseligen Posamentierarbeit aufgestanden war. Saliger kann ein anderer Mensch geworden sein. Vielleicht hat ihn die Reue durchgeschüttelt, vielleicht hat auch das verfluchte Kriegselend sein kodderiges, schnodderiges Wesen geändert. Wir sind ja alle anders geworden. Ich bin auch nicht mehr der dummscheue Liebhaber von damals, habe mit mancher Schönen den Psalm vom Fleisch inniglich heruntergebetet. Nur geliebt habe ich keine dabei. Was Schuld betrifft, da stehen wir alle bei unserem Gewissen in der Kreide. Wir müssen jetzt mehr voraus- als zurückdenken, wenn wir gerecht sein wollen, jawoll ...

Um Lea Füßler wob sich vom ersten Tag ihres Erscheinens in Reiffenberg ein lockendes Geheimnis. Sie war fünfzehneinhalb Jahre, als sie ihr Onkel Dr. Theo Füßler, ein Junggeselle, Rektor der Goetheschule, als Pflegetochter zu sich nahm. Mit ihrem blauschwarzen Haar, dem hohen, schmalhüftigen Wuchs, den mandelbraunen Augen und dem etwas üppigen Mund in dem madonnenreinen Gesicht war sie einfach die Stadtschönheit. Gleich als sie das erste Mal mit ihrem Onkel durchs Städtchen ging, als er sie vom Bahnhof abholte, verschlug es Knaben und Kerlen den Atem, grüßten Männer in den besten Jahren den Doktor mit außerordentlicher Hochachtung und meinten in Ergebenheit seine Begleiterin, wiegten sich junge Mädchen auf einmal herausfordernd stolz im Schritt und taten beleidigend kühl, lächelten Frauen erinnerungsvoll, blieben alte Weiblein ungeniert stehen und nickten sich zu: „So was Auffälliges, nein! Wo kommt das junge Ding denn her? Und der kanariengelbe Mantel, habt ihr das gesehen ...“ Und ein kleines Mädel, das den Reifen schlug, rannte nach Hause zur Mutter und berichtete mit hochroten Wangen: „Ich habe das Schneewittchen gesehen ...“ Woher Lea Füßler kam, wusste niemand genau. Man entsann sich, dass in der Großvätergeneration der Füßlerschen Familie ein italienischer Baumeister aufgegangen sei, ein schöner Mann mit feurigem Auge und pechschwarzen Locken. „Vielleicht kommt sie von dort unten, wo wir doch jetzt mit den Italienischen große Freundschaft haben. Vielleicht spricht sie sogar fremd …“ Aber Lea sprach ein fast bühnenmäßig reines Hochdeutsch, nur mit einem - man möchte hier wirklich schreiben - allerliebsten Anklang ans rheinische Platt. Nicht in den Worten, nur in der Sprechmelodie. Wenn sie sagte: „Bitte, drei Zigarren für meinen Onkel“, dann klang es eben ganz anders wie von einem Reiffenberger Mädchen. Das sagte: „Bitte, drei Zigarr’n for mein’ Onkel.“

Doch es dauerte nicht lange, da erfuhr man, dass die Mutter des schönen Mädchens, Dr. Füßlers jüngere Schwester, eine Schauspielerin gewesen war, die sich vom Theater bereits längere Zeit zurückgezogen hatte, zuletzt unter ihrem Künstlernamen in Düsseldorf gelebt und unlängst an der Schwindsucht gestorben war. Über den Vater Leas erfuhr man aber nichts. „Glaubt es nur; sie ist das Kind einer großen Liebesleidenschaft. Wer weiß, was für ein hochgestellter Herr der Vater ist, vielleicht ein Fürstensohn oder ein Millionärssohn, der die Mutter nicht hat heiraten können, weil sie bloß eine vom Theater war. So geht’s zu in der Welt ...“

In solchen und ähnlichen Reden liefen Vermutungen und Klatsch hinter dem Mädchen her, und Lea tat, als höre sie nichts davon, grüßte jedermann freundlich und bescheiden, grüßte auch in die Fenster, dahinter die Gardinen sich bewegten, wechselte für Reiffenberger Begriffe nicht nur provozierend oft die Garderobe, wechselte dazu auch die Frisur, trug einmal Zöpfe, dann Schnecken, dann Kranz, dann Knoten und - was Knaben und Kerle reinweg toll machte - lose fallendes Haar, gehalten mit einem hellen Band.

Doch so viele Prinzen sich ihrethalben gern in jede Dornenhecke gestürzt hätten, sie vereitelte alle diese Opfertaten von vornherein durch freundliche, allerweltskluge Unschuld, von der man nicht sagen konnte, sie wäre Unnahbarkeit gewesen. Ihre waghalsigen Liebhaber empfanden wohl, dass sie abgetölpelt worden waren, doch keiner gestand sich’s mit Zorn in der Brust, weil es die Schöne so fein getan hatte. Auf diese Weise gewann sich Lea auch die Herzen der Frauen, Mütter und Gattinnen, die einen jüngeren oder älteren Prinzen zu Hause hatten.

Es war auch bekannt geworden, dass Lea nach den Sommerferien in die Obertertia der Goetheschule käme. An diesem ersten Schultag putzten sich alle Pennäler die Schuhe, kratzten sich die Fingernägel sauber, leckten sich wie die Maikater. Die Wochendienst habende Hitlerjugend-Kameradschaft des Internats stolzierte mit Bügelfalten in den kurzen braunen Hosen einher, trug strichgerade, pomadisierte Scheitel und bemühte sich um kühne Gesichter. Als endlich Lea, die Ledermappe unterm nackten Arm, wunderschön verlegen die Portalstufen emporkam und durch die Haustür schritt, erdröhnte der ganze Steinkasten vom Hochschlag der Herzen. Ein schmächtiges Tertianerlein raunte seinem Nebenmann zu: „Du, wenn die’s von mir verlangt, schlachte ich den Pedell.“ Und der war ein gefürchtetes Raubein, ein altverdienter SA-Bulle, der hier seine heiz- und kochgeldfreie Pfründe entgegennahm. Denn er wohnte im Souterrain der Schule, verwaltete neben seinem Hausmeisterposten die Internatsküche, zeigte absolut keine Achtung vor der geistigen Atmosphäre des Hauses, hatte schon manchem Jungen, der sich über schlechtes Essen beklagte, die Nase blutig gedroschen, besonders seitdem ihm dauernd Hühner an Giftweizen verreckten.

Lea kam in Rudi Hagedorns Klasse. Dass Rudi Hagedorn auch die Oberschule besuchte, verdankte er nicht seiner Anschlägigkeit, sondern zuerst dem Herrn Apotheker Saliger, der ihm auf die Dauer der Schulzeit in hochherziger Weise eine Monatsrente von fünfzehn Mark ausgesetzt hatte als Dank für die Lebensrettungstat an seinem Sohn Armin. Das Schulgeld kostete im Monat zwanzig Mark. Zehn Mark hatte Rudi Nachlass wegen guter Noten und weil ihm Dr. Füßler gewogen war. Blieben ihm noch fünf Mark im Monat für Bücher, Schreibzeug, Schuhbesohlen und für die Fahrtenkasse. Das langte verdammt nicht hin und nicht her. Und die Mutter seufzte sogar manchmal, dass sie von ihm kein Kostgeld bekäme. Er wohnte als Ortsansässiger nicht im Internat, er wohnte zu Hause, aß zu Hause und hatte lange Seiten. Zwar wünschte die Mutter auch, dass aus ihrem Ältesten mal etwas Besonderes würde, aber sie konnte sich nicht daran gewöhnen, dass der Junge, der nun schon ein Jahr konfirmiert war, den Alten immer noch auf der Tasche lag und auch noch jahrelang auf der Tasche liegen würde. Ihr war noch die unerbittliche Regel eingebrannt, die Regel, die seit Gedenken auf die Kinder in allen Arbeiterfamilien zutraf: Aus der Schule - aus dem Haus. Aus der Schule kam man mit vierzehn Jahren, von da an steckte man die Beine woanders unter den Tisch oder gab Kostgeld zu Hause.

Paul Hagedorn, Rudis Vater, brüstete sich allenthalben: „Ich lass’ meinen Großen studier’n, das kost’ schließlich was. Aber die Kinder sollen’s mal besser ha’m als unsereins. Lieber will ich Wasser saufen, eh’ er mir von der Schul’ ’runtergeht.“ Der Vater verdiente als Kommunalarbeiter bei der Stadt immer noch ein Blutgeld. Die Mutter machte als Heimarbeiterin Lampenschirmfransen, häkelte Chenillemützen, stach Knoten auf Lampenschirmrohre. Pfennige gab es dafür. Und vier hungrige Kindermäuler wollten gestopft sein. Da waren der Rudi, die Käte, der Christoph, die Bärbel. Von Beruf war der Vater Strumpfwirker, hatte lange Zeit in der Hähnel-Bude gearbeitet, voll oder kurz, wie die Zeiten kamen, hatte auch in der Bude Kassierer von der freien Gewerkschaft gemacht. Dann ging die Massenstempelei los. Bald ausgesteuerter Krisenunterstützungs-Empfänger, musste er Notstandsarbeiten bei der Stadt verrichten, um wieder in die Arbeitslosenunterstützung zu kommen. Und bei der Stadt war er schließlich hängen geblieben. Er hatte sich unentbehrlich zu machen gewusst, war die Wasseruhren ablesen gegangen, hatte im Steinbruch Schotter geklopft, hatte den Ratsboten vertreten und den Totengräber. Es war ihm nicht darauf angekommen. Nur arbeitslos wollte der Vater nicht mehr sein. Ohne Arbeit war er ein hilfloser, verzweifelter, schnapsgieriger Mensch. Und nun war der Vater vom Kommunalhilfsarbeiter zum Hilfsstraßenwärter aufgestiegen. Mit der „Nazibagasche“ konnte er sich nicht anfreunden. Aber er schwieg, wenn in der Straßenmeisterei politisiert wurde; er verrichtete zuverlässig seine Arbeit, zahlte pünktlich seinen Arbeitsfrontbeitrag und ließ sich im „Reichsbund der Kinderreichen“ organisieren. Zum Lohn ließ man dem braven Mann das alte Wärterhäuschen am Stadtrand mit Hof und Garten zu billiger Miete. Darüber war auch die Mutter froh, die sich mit den Nazis noch weniger anfreunden wollte und die ihr Heil in der „Bekenntniskirche“ suchte.

Weil Rudi seine Mutter sehr liebte, hielt er sich in der Hitlerjugend zurück, soweit es anging. Und um den Geschwistern nicht die Butter vom Brot zu stehlen, arbeitete er viermal in der Woche nachmittags als Mädchen für alles in der Auto-, Motor- und Fahrräder-Reparatur von Albert Wünschmann jun. Dafür bekam er drei Mark die Woche. Zwei Mark fünfzig gab er der Mutter, die es ihm nun wieder gern gespart hätte, aber nie dazu kam. Ein Fünfziger und manchmal ein paar Groschen Trinkgeld blieben ihm. Sein Haushalt hatte seit Leas Erscheinen in der Schule eine zusätzliche Belastung erfahren. Er kaufte sich heimlich gehämmertes Büttenpapier, worauf er in gereimter oder hochgestelzter prosaischer Form seiner glühenden Verehrung Ausdruck zu geben suchte. Ja, er war ihr verfallen wie zehn Bäckerdutzend andere. Doch er verschwieg seinen Namen. Er unterzeichnete seine Episteln mit der schrulligen Wendung: „Ihr herzensaufrichtiger Freund Hyperion, der sich erklären wird, wann die Zeit reif ist.“ Aber jeder Blick, jedes belanglose Wort von ihr schien ihm Bündnis zu sein. Er glaubte fest daran, dass sie wüsste, wer sich hinter „Hyperion“ verbarg, dass sie seine Zurückhaltung stillschweigend und mit Genugtuung vor anderen Aufdringlichen billige. Er konnte nicht wissen, dass sich noch andere Zurückhaltende den Namen dieses klassischen Liebenden zugelegt hatten. Denn alle wussten schließlich, wie jünglingshaft verschwärmt ihr Rektor, der nun einmal Leas Onkel war, dem Hölderlinschen Hyperion anhing. Vielleicht bekam er die Briefe zu Gesicht und empfahl am Ende seiner wunderschönen Nichte, sich den Hyperion vorzuziehen. - Ach, wie selten wurde in der Weltgeschichte so viel Herzenspoesie in so kurzer Zeit und auf so engem Raum und in solcher Unschuld vergossen. Lea, die an allem schuldig Gepriesene, blieb dabei die Kühlste. Die Pennäler nannten sie „die Welt“, eine seltsam magisch-nüchterne Bezeichnung, die das höchste ihrer Gefühle ausdrücken sollte: Sehnsucht in die Ferne, Betrübnis in der Näh’. Denn wie nahe die geheimnisvolle Ferne auch herbeigerückt war, sie entschwand beim Draufzugehen, sie ließ sich nicht umfangen mit zwei Armen, nicht berühren mit zwei Lippen. Und nach einem solchen Ding suchen die Romantisch-Verliebten seit jeher mit den angenehmsten Schmerzen. Wo Leas Fuß gegangen war, erblühten auf dem Reiffenberger Holperpflaster blaue Blumen, und wer die Blumen sah, flüsterte: „Die Welt sehen und sterben …“

Aber dann kamen nach dem Pfingstfest im nächsten Jahr aus heiterem Himmel Blitz und Donnerschlag, danach fast alle Ritter der blauen Blume ihr Wappen plötzlich verleugneten. Lea Füßler erschien von einem Tag zum andern nicht mehr im Unterricht. Zu gleicher Zeit wurde ihr Onkel und Pflegevater seines Rektoramtes enthoben und bei voller Gesundheit vorzeitig mit halber Pension in den Ruhestand versetzt. Er reiste über Nacht mit Lea zur Kur nach Karlsbad ab, obwohl hierzulande alles wütend auf die Tschechen war, die den sudetendeutschen Brüdern, wie die Zeitungen schrieben, das Leben zur Hölle machten.

An Füßlers Stelle trat der ehemalige Turnlehrer, der ein hoher Amtswalter der Partei war. Dieser athletische Dummkopf gab in der Aula vor versammelter Lehrer- und Schülerschaft vom hakenkreuzgeschmückten Katheder herab die Ursachen bekannt, die zur Entfernung des alten Rektors und seines Pfleglings geführt hätten. Mit geschwollener Zornesader enthüllte der von den Schülern „Mussolini“ genannte neue Rektor die Ungeheuerlichkeit, dass „die Füßler“ (er sagte tatsächlich „die Füßler“) eine Halbjüdin sei, Tochter eines jüdischen Intellektuellen namens van Bouden, der heute in England sitze und das nationalsozialistische Deutsche Reich anbelle wie der Mops den Mond. Und Herr Füßler habe diese ihm wohlbekannten Tatbestände zu verschleiern gesucht. Nach dieser Mitteilung ertönten aus den Reihen der vorn sitzenden, das Podium flankierenden Lehrerschaft ostentative Pfui-Rufe, die sich sofort in der Schülerschaft fortpflanzten, bis sie durch eine lässige Handbewegung des Redners abstarben.

„Es ist uns weiterhin zu Ohren gekommen“, maulhackte der Mann vom hohen Katheder, das unter dem Wandgemälde von der Speisung der fünftausend am See Genezareth stand, „und zwar von tief empörten jungen Kameraden zu Ohren gekommen, dass der Halbjüdin Füßler massenweise Briefe und gereimte Duseleien von Schülern unserer Anstalt zugegangen sind, und zwar ebenfalls in Unkenntnis der genannten Tatsache. Wir werden“ - und jetzt ließ der Mann seine Stimme furios anschwellen, mit den Worten in seinem riesigen Mund rasselnd wie mit Glassplittern in einer Blechbüchse - „wir werden und wollen das heute noch als missbrauchte Gefühle ansehen und nachsehen. Morgen aber, Kameraden, wenn morgen noch einer seinem Gelüstchen nachtrauern sollte, werden wir diesem pflaumenweichen Heini unsere Begriffe von Blut und Ehre so beibringen, dass ihm sein Gelüstchen vergeht. Schandbuben werden in unserm Reich gebrandmarkt.“

In dieser Minute suchte Rudi Hagedorn den Blick seines Freundes Armin Saliger. Er fand ihn nur für Sekunden. Aber er sah die gleiche Wut, die gleiche Ungehorsamkeit darin, die in ihm selbst bis zur Verzehrung brannte. Auch Saliger hatte Lea Briefe geschrieben. Es war ein offenes Geheimnis, wer alles ihr Briefe geschrieben hatte. - Rudi Hagedorn hörte nicht mehr viel von dem nun folgenden feierlichen Akt, in dem die Goetheschule in eine „Dietrich-Eckart-Schule“ umbenannt wurde.

Am späten Nachmittag holte ihn Armin von Wünschmann ab. Sie gingen den schmalen Weg unter der alten, jasminüberwucherten Stadtmauer. „Das mache ich nicht mit, Rudi. Ich halte mich nicht gerade für einen schlechten Deutschen. Für den Führer gehe ich durchs Feuer, und die Judengesetze sind auch richtig. Aber man muss doch von Fall zu Fall urteilen. Erstens ist Lea nur Halbjüdin, zweitens hat sie ihren Vater nie im Leben gesehen. Das weiß ich von meinem alten Herrn, der stand ja immer gut mit Dr. Füßler. Es gibt eine Grenze, wo der Gehorsam aufhört, sonst wird der Mensch zum Kadaver. Aber - was ich gesagt habe, bleibt unter uns. Ich sagte dir das, weil du mein Freund bist.“

Wie stolz war da Rudi auf den Freund! Armin war der Mitverschworene, machte es ihm leichter, nun allen Drohungen zum Trotz sein fast rührend schönes Herzgefühl für Lea weiterhin auf feines, gehämmertes Briefpapier auszubreiten:

„… und eines Tages, Herrlichste, will ich Ihnen als Mann unter die Augen treten, als ein Mann, der geachtet ist in der Welt, der Autos konstruiert und baut, welche die Menschheit begeistern werden. Aber das schönste soll Ihnen gehören! Wie im Traum werden wir unter blühenden Bäumen hinunter nach Italien fahren, ebenso an die Gräber von Romeo und Julia. Aber meine Liebe will nicht im Tod, sondern im Leben triumphieren. Für mich gibt es nichts Trennendes zwischen Ihnen und mir als Raum und Zeit. Aber was sind Raum und Zeit gegen meine Liebe. Ich will stark sein. Warten Sie auf mich, bis ich ein Mann bin …“

Auch Saliger schrieb weiter an Lea. Rudi wusste es und empfand nicht die mindeste Eifersucht, so bereit war er, sein Schicksal ganz und gar in Leas Hand zu legen, sich ihrer Entscheidung wie ein Sklave zu unterwerfen. Saliger sah in seinem Freund Rudi keinen ernsthaften Rivalen. Er vermittelte ihm sogar die Karlsbader Adresse der Füßlers.

Im Oktober, nachdem die Armee das Sudetenland besetzt hatte, kamen Lea und Dr. Füßler nach Reiffenberg zurück. Der Karlsbader Freund, der ihnen auf unbegrenzte Zeit Quartier geboten, musste sein Versprechen zurücknehmen. Er hatte sein Haus verkauft und war nach Prag übergesiedelt.

In Reiffenberg lebten die Füßlers fortan völlig zurückgezogen. Lea ließ sich nur zu notwendigen Besorgungen auf den Straßen blicken, der Doktor vergrub sich in seine Welt der Musik, der Philosophie und der klassischen Literaturen. Den Leuten, die Lea grüßten, dankte sie freundlich, aber ohne den Kopf zu wenden, ohne Zunicken. Sie hielt den Blick auf irgendeinen fernen Punkt geheftet, trug eine heitere Miene zur Schau, konnte aber die Wehmut, die sich um den üppigen Mund einzugraben begann, nicht verbergen. Sie dankte auch Rudi Hagedorn nicht anders als jedem, der sie grüßte. So war sie ihm nah und ferner als je zuvor.

Saliger brachte den Mut und das Geld auf, bei Dr. Füßler Klavierstunde zu nehmen. Die Liebe zur Musik trieb ihn nicht hin. Er spielte schon ganz passabel und hatte kein musikalisches Bedürfnis außer dem, einige Walzer recht belebend für die älteren Damen zu spielen, einige Nocturnos recht erregend für Backfische, Märsche recht schmissig für die Herren, Capriccios recht frech für jedermann. Die Gefahr, dass man ihm von öffentlicher Seite den wahren Zweck seines Stundennehmens auf den Kopf zusagte, hielt er für nicht sehr groß. Er teilte die in seinem reputierlichen Elternhaus herrschende Ansicht, dass der „böhmische Gefreite“, wenn er genug für die Ankurbelung der Wirtschaft getan, auch seine Schuldigkeit getan habe. Über diese „realpolitische“ Ansicht zog er den Freund nie ins Vertrauen, das hatte ihm sein Vater allerstrengstens verboten.

Rudi beneidete den Freund um die Gelegenheit und um dessen Mut. Er war aber auch jetzt noch nicht eifersüchtig, er war nur etwas traurig, wenn er Armin mit der Notenmappe in das hohe Haus am Ende der Dreibrüderstraße verschwinden sah. Saliger erzählte ihm, wie Dr. Füßler die Umtaufe seiner alten Goetheschule aufgenommen habe. Füßler habe die Sache gelassen hingenommen, habe ein Goethezitat gebraucht, als er sich humorig über den neuen Rektor äußerte:

„Schau, Liebchen, hin! Wie geht’s dem Feuerwerker,

drauf ausgelernt, wie man nach Maßen wettert?

Irrgänglich-klug miniert er seine Grüfte;

Allein die Macht des Elements ist stärker,

und eh er sich’s versieht, geht er zerschmettert

mit allen seinen Künsten in die Lüfte.“

„Na ja, Rudi, der Füßler ist natürlich ein Allround-Genie. Das kann er genauso gut auf seinen würdigen Nachfolger wie auf den Führer gemünzt haben. Aber das letzte nehme ich ihm nicht ab, und du quatschst nicht drüber, klar?“

„Und siehst du Lea? Kannst du mit ihr sprechen?“

„Sie macht sich unsichtbar, das schöne Kind.“

Das glaubte Rudi Hagedorn. Dass ihn der Freund in diesem Punkt so infam belügen könnte, lag außerhalb seiner Vorstellungen. Denn Saliger sprach stundenlang mit Lea und nahm sie immer mehr für sich ein, während Füßler spielte. Lea begann über die naiven Herzensergüsse ihres „Hyperion des Letzten“, hinter dem sie durchaus den Richtigen vermutete, schon nachsichtig zu lächeln. Saliger tat ein übriges, den Freund auf die feine, spöttische Art als tumben Toren hinzustellen. Noch vor dem Weihnachtsfest hatte Saliger die Lea so weit: Sie ließ sich von ihm küssen - und nicht nur geziemlich. „Betrachte das als Verlöbnis, Lea. Im März baue ich mein Abitur. Will sehen, dass ich gleich zum Studium komme. Medizinern schenken sie den Kommiss halb und halb. Denke, in sechs Jahren bist du meine kleine Frau. Und wenn die Welt voll Teufel wär’... Lass mich die Tür abschließen, meine geliebte Lea … bitte …“ Drüben im Musikzimmer spielte Dr. Füßler irgendein Prelude auf dem Cello, auf seinem Lieblingsinstrument ...

Rudi geschah das andere: Bei einer Mappenkontrolle - angeblich war jemandem ein Füllhalter gestohlen worden - fand sich bei ihm ein an Lea Füßler adressierter Brief. (Natürlich war nur nach solchen Briefen gesucht worden.) Nun war der Teufel los. Der forschbraune Rektor wollte den „Schandbuben“ sofort von der Schule „wippen“. Er bekam aber einen Wink von seiner Vorgesetzten Schulbehörde und sprach Hagedorn nur das Consilium abeundi aus. Den Leuten dort oben ging es bei ihrem Anraten zur Vorsicht beileibe nicht um die Rettung des Untersekundaners Hagedorn. Man nahm nur noch einmal Rücksicht auf die starken Sympathien, die Füßler in Reiffenberg, besonders aber in der pädagogischen Fachwelt besaß. Füßler korrespondierte mit pädagogischen Institutionen in vielen Ländern der Erde.

Doch der forschbraune Rektor, der diese diplomatische Rücksichtnahme verachtete, der mit allen Kräften und Mitteln darauf hinarbeitete, aus dem Schatten seines größeren Vorgängers zu treten, gab nun seinerseits auch einen Wink. Den erhielt der Führer der HJ-Gefolgschaft „Dietrich Eckart“, ein Primaner, der sich mit dem neuen Rektor ausgezeichnet verstand. Der Gefolgschaftsführer rief seine drei Scharführer zu einer vertraulichen Besprechung zusammen und verlangte, dass gegen Hagedorn jenes offiziell verbotene, unter dem alten Rektor schwer geahndete Ehrenverfahren anzuwenden sei, das sich das „Geistergericht“ nannte. Das Geistergericht war eine uralte Tradition an der Schule, wahrscheinlich stammte es noch aus vorreformatorischen Klosterschulzeiten. Die Tortur, die der „Delinquent“ dort auszustehen hatte, musste vorzeiten noch der Inquisition abgesehen sein, lediglich, dass die verhängten grausamen Strafen nur noch symbolisch vollzogen wurden. - Dem Verlangen des Gefolgschaftsführers entsprachen seine drei Scharführer ohne nennenswerte Widerrede. Einer der drei Scharführer hieß Armin Saliger.

Am nächsten Morgen, am Morgen des vorletzten Schultages vor den Weihnachtsferien, fand Rudi Hagedorn einen siebenfach versiegelten Umschlag unter dem Klappdeckel seines Platzes. In lateinischen Großbuchstaben stand sein Name darauf und in lateinischer Sprache die Aufforderung, die Siegel stehenden Fußes zu erbrechen. Hagedorn wusste sofort, was die Glocke geschlagen hatte. Es brauchte einer kein Latein zu können, um zu verstehen, was hinter den sieben Siegeln zu lesen war: eine admonitio severa, eine scharfe Ermahnung an den discipulum Hagedornum, sich um die septima hora dem tribunali spirituum, dem Gericht der hohen Geister, zu stellen - sed quod totum voluntarium est, was aber ganz in freiem Willen steht ...

Um sieben Uhr abends, genau als der große Zeiger der elektrischen Uhr über dem Portal auf die Zwölf sprang, klopfte der Schüler Hagedorn aus freiem Willen an die schwere eichene Schultür. Drinnen rasselte der Schlüssel im Schloss. Der Flügel tat sich auf. Zwei in weiße Laken gehüllte „Schergen“ mit roten, tütenartigen Kapuzen über den Köpfen drehten dem Eintretenden sofort die Arme auf den Rücken und stießen ihn vorwärts, die Treppe hinunter auf den Kellergang. Dieser lange, pechschwarze Gang war alle drei Meter durch seltsame Kandelaber erhellt. Das waren die „Wächter“, ganz weiß vermummte Gestalten, die brennende Wachskerzen in den Händen trugen. Sobald die Schergen mit dem Delinquenten an einem Wächter vorbeigegangen waren, folgte dieser nach, und der nächste schloss sich im Gänsemarsch an. Das Ritual war genau festgelegt. Die Schergen stießen Hagedorn in den Raum, wo der Heizer Papierkörbe entleerte. Dort roch es süßlich nach faulendem Einwickelpapier und schimmelnden Obstresten. Im Lichterkreis der Wächter rissen die Schergen Hagedorn den Mantel, die Jacke und alle Kleidungsstücke vom Leibe, bis er nackt dastand. Hagedorn half ihnen dabei willig, damit sie ihm nichts zerrissen und die Mutter nichts merkte. Dann stülpten sie ihm einen Kohlensack über, dessen Quernaht ein Stück aufgetrennt war, sodass der Kopf durchstieß. Alles geschah ohne ein Wort. Schergen und Wächter hatten sich zu benehmen, als wären ihnen die Zungen herausgerissen; sie zählten zu den niederen, den „dienstbaren“ Geistern. Einer streute Hagedorn aus einem Blumentopf eine Handvoll Asche aufs Haupt.

Als Schergen und Wächter mit dem Delinquenten in ihrer Mitte wieder auf den Kellergang traten, setzte aus dunklen Ecken eine schaurige, hohl tönende Musik ein. Das taten andere niedere Geister, die „Pfeifer“. Sie bliesen auf den hölzernen vierkantigen Pfeifen der Übungsorgel, die Dr. Füßler vor Jahren angeschafft hatte. Und dazu bumste eine Landknechtstrommel den uralten Marschierertakt: eins zwei - eins, zwei, drei ... Hagedorn kannte den ganzen Höllenspuk. Er war selbst schon einmal Pfeifer beim Geistergericht gewesen. Dennoch schauderte ihm.

Dieser zweite Akt hieß „die Prozession“. Die Pfeifer, weiß vermummt wie die Wächter, der Trommler, der eine schwarze Schärpe dazu trug, kamen pfeifend und trommelnd aus den dunklen Ecken und vergrößerten den Pulk. Dann sprangen aus der Nische eines Treppenaufganges plötzlich die zwei „Mediziner“ mit dem „Schaman“ hervor. Die Mediziner hatten statt der Tütenkapuzen runde Kappen wie Operationsärzte auf, an denen Schellen klingelten. Sie bliesen in die kürzesten Quiekpfeifen und umsprangen wie närrisch vor Freude den Schaman, das mit Drähten zusammengehaltene Menschenskelett aus dem Biologiezimmer, das der „Beinhalter“, dem zur üblichen Vermummung ein schwarzer Leichenträger-Dreispitz zugestanden war, an einer Stange vor sich herschleifte und so bewegte, dass die knöchernen Arme und Beinen schlenkerten und klapperten.

Die Prozession führte hinab bis zum Eingang der „Katakomben“, der halbmannshohen, rundgemauerten Gänge unter der Kellersohle, durch welche die dick verpackten Heizrohre liefen. Vor diesem Mundloch blieb alles außer den Schergen und dem Delinquenten zurück. Das schaurige Getön der Zurückbleibenden verstärkte sich, weil sich der Schall hier unten eigenartig dumpf-laut an den Ziegelwänden brach.

Von den Schergen in die Knie gedrückt, musste Rudi Hagedorn nun die letzte Strecke bis zum Sitz der hohen Geister, zehn Meter etwa, auf den Knien rutschen, die Hände auf dem Rücken gefaltet. Der Boden war mit Ziegelsplitt und grobem Sand bedeckt. Wer die hohen Geister von vornherein zu seinen Gunsten stimmen wollte, der richtete während dieses schmerzhaften Bußgangs unverwandt, ohne eine Miene zu verziehen, das Gesicht auf sie. Die hohen Geister studierten dieses Gesicht und lasen von ihm ab, in welchem Grade der Zerknirschung des Herzens und des Geistes der Beklagte vor ihnen erschien. Auch Hagedorn verbiss erhobenen Hauptes den Schmerz. Er hatte sich vorgenommen, den traurigen Mummenschanz gefühllos und gedankenlos über sich ergehen zu lassen wie ein Stein, den Blick in die eigene Brust zu senken, nichts anderes zu sehen als Leas Bild. So rutschte er wie eine mechanisch bewegte Puppe auf die hohen Geister zu, die auf Lederkissen zu ebener Erde hinter dem Gerichtstisch saßen, statuenhaft, in Bettlaken gewickelte Götzen, Pappkronen auf den Köpfen, die Gesichter mit schwarzen Dreieckshalstüchern verhängt, in die Augenschlitze geschnitten waren: zur Rechten der „Präfekt“, zur Linken die drei „Geschworenen“. Der Tisch vor ihnen, eine ausgehängte Tür, war mit dem grünen Tischtuch aus dem Lehrerzimmer bedeckt. Drei Kerzen brannten auf ihm, die eine Menge grausiges Gerümpel beschienen: die vier HJ-Dolche der hohen Geister, aus der Scheide gezogen, die Spitze auf den Delinquenten gerichtet, die Klingenseiten mit der eingebrannten Aufschrift „Blut und Ehre“ nach oben gekehrt, ein geschältes Buchenstäbchen, das vor dem Präfekten lag, rostige Handschellen, ein Halseisen, stockfleckige, schweinsledergebundene Schwarten.

Das Verhör begann. Der Präfekt nahm eine der Schwarten zur Hand und las etwa zehn Minuten lang aus einer mittelalterlichen, lateinisch abgefassten Halsgerichtsordnung. Das hohle Getön der Pfeifen und der Trommel begleitete sein stupides Rezitativ wie Hexensabbatsmusik. Wider seinen Willen verlor sich Leas Bild vor Rudi Hagedorns Auge. Er sah eine schmale, dünnfingrige Hand auf dem grünen Tuch des Tisches liegen, deren kleiner Finger halb bedeckt war vom Ringfinger. Diese Hand kannte er wie seine eigene. Aus diesem kleinen Finger hatte er einmal drei Blutstropfen getrunken. Und plötzlich ekelte er sich vor dieser Hand. Er wollte es nicht. Er wusste ja, dass Saliger unter den Geschworenen saß. Dem Geistergericht konnte sich weder der eine noch der andere Teil entziehen, wenn er nicht als Feigling angesehen und geschnitten werden wollte. Hagedorn hatte gebangt, den Freund zu erkennen. Die Mumien da vorn gingen ihn nichts an. Aber nun wusste er, unter welcher Mumienhaut der Freund steckte.

Das Getön brach ab. Der Präfekt richtete nach Bekanntgabe der Anklage sofort die erste „scharfe Frage“ an den vor ihm Knienden: „Bekennt Er sich schuldig, mit einem Wechselbalg auf geistige oder körperliche Weise ein blutschänderisches Verhältnis gehabt zu haben? Ja oder Nein!“ Hagedorn suchte hinter den schwarzen Schlitzen der Mumienhaut die Augen des Freundes. - Jetzt ein Bündnis haben, die erpresste Verleumdung, die ich nicht anerkenne, nicht allein begehen ... Er fand nicht die Augen des Freundes. Und so schwieg er auf die Frage, schwieg entgegen aller Spielregel der Jasagerei. Er konnte nicht sprechen. Etwas verschloss ihm die Kehle. Er sah nicht mehr Leas Bild. Er sah, wenn er die Augen schloss bei jedem Hammerschlag seines Herzens, wie eine rötliche Woge das Auge überflutete, eine nach der anderen; er sah die Kaskade seines Blutes. Und darin floss wie Schleim sein Ekel, der Ekel gegen dieses Treiben, gegen diesen Freund.

Der Präfekt wurde nervös, wiederholte die Frage schreiend das zweite und das dritte Mal. Hagedorn schwieg, sah zu Boden. Ein Scherge riss ihn bei den Haaren, damit er den Präfekten ansähe. Er sah den Präfekten an - und hatte auf einmal wieder Leas Bild vor sich.

Ganz schwach lächelte Hagedorn, bis er hörte, wie die Hand des Präfekten hart auf den Tisch schlug, bis er sah, wie dieser nach dem Buchenstäbchen griff und es mit den Worten „I AD GRAECUM PI“ hoch vor aller Augen zerbrach. Das Gericht hatte sich bei diesem Urteilsspruch erhoben. Ein lang aufgeschossener Geschworener stieß mit dem Kopf gegen die niedrige Decke, und dabei platzte ihm der mit Heftklammern zusammengehaltene Reif seiner Pappkrone. Draußen setzte die Hexensabbatsmusik fortissimo wieder ein.

Nun schritt man zur Exekution. Sie hatten den Delinquenten ob seiner Haltungslosigkeit zu „allen drei Toden“ verurteilt. Die Schergen räumten das schaurige Gerümpel vom Tisch, zerrten das grüne Tuch herab und banden Hagedorn mit Stricken auf die nun zum Vorschein gekommene Tür. So wurde der Delinquent nun in den Waschkeller, in die „Hinrichtungsstätte“, getragen. Dem Zug voran schlenkerte der Schaman, den die Mediziner nicht mehr umsprangen, weil sie jetzt ihre äffischen Kapriolen um die Schinderbahre aufführten.

Als man im Waschkeller angekommen war, begann die Prozedur des ersten Todes. Die Schergen legten die Tür mit dem Gebundenen auf zwei Waschböcke. Jetzt erst erschien der „Henker“. Er trug ebenfalls einen Sack als Gewandung, aber einen rot gefärbten, dazu eine rote Kapuze. Und selbst die Arme waren ihm rot beschmiert.

„Tu, was deines Amtes!“, hieß ihn der Präfekt. Beim ersten Tod musste der „Schierlingsbecher“ geleert werden, ein halbes Wasserglas voll Rizinusöl. Hagedorn schluckte es ohne Widerstand. Er hatte sich darauf präpariert, hatte zu Hause gesagt, er habe Durchfall, und einen Topf Roggenmehlbrei gegessen, in dem der Löffel stand. Hätte er sich gewehrt, wäre ihm das Öl als Schwedentrunk eingeflößt worden. Sie hätten ihm Holzstückchen zwischen die Zähne gekeilt. Als es vollzogen war und die Mediziner ihr „MORTUUS EST gesprochen hatten, hoben die Pfeifen ein solches Allmachtsgetön an, dass „der Tote“ wieder ins Leben zurückkehrte, um den zweiten Tod zu erleiden, den „Tod durch den scharfen Strahl“.

Zu dem Zweck banden die Schergen Rudi Hagedorn die Arme los, zogen ihm den Kohlensack vom Leib, banden die Arme wieder fest und stellten den Nackten, der nun mit ausgebreiteten Armen selbst die Tür trug, an eine fensterlose Wand. Im gespenstischen Kerzenlicht erschien er wie eine riesige Fledermaus. Einer der Schergen schloss den Gartenschlauch mit der Überwurfmutter an den Wasserhahn, der zweite reichte dem Henker das andere mit einem messingnen Spritzmundstück versehene Ende. Der Präfekt begab sich zum Verurteilten und schritt in der Art eines Fußballschiedsrichters, der einen Elfmeter verhängt, drei Meter Distanz ab. Auf den Dreimeterpunkt stellte sich der Henker. Mit einem Kopfnicken bedeutete der Präfekt, das Wasser aufzudrehen. Der harte Strahl traf Rudi auf die Brust. Er rang schwer nach Atem. Die Flöten johlten, die Trommel wirbelte. Der Präfekt streckte die Hand aus und deutete tiefer. Das Wasser spritzte von Bauch und Lenden des Opfers zurück. Zischend verlöschten einige Kerzen der Wächter. Hagedorn atmete schwer. Die ausgestreckte Präfektenhand ging höher. Der Strahl schnitt ins Gesicht. Einige Pfeifer bekamen plötzlich keine Luft mehr. Sie sahen, wie Rudi den Kopf nach links und rechts drehte, weil ihm der Henker auf den Mund zielte. „Musik!“, schrie der Präfekt und ließ den ausgestreckten Arm tiefer gehen. Der Strahl folgte, bis er das Geschlecht des Opfers peitschte. Hagedorn drückte den Hinterkopf mit aller Kraft ans Kreuz der Tür. Ein Pfeifer, jenes Tertianerlein, das damals gesagt hatte, es wolle den Pedell schlachten, wenn sie’s verlangte, erbrach sich rülpsend in den Ansatzstutzen seiner Orgelpfeife. In diesem Augenblick trat Stille ein. Nichts war zu hören als das Geräusch des kanonierenden Strahls.

... jetzt gib wenigstens deinen Blick her, Armin ... hilf mir doch ... Er fand den Blick nicht. Da begann es tierisch laut und roh aus Hagedorn zu brüllen. Das war nicht sein Laut, nicht sein Wille, nicht sein Schmerz. Aus ihm schrie der sterbende Homo sapiens, die zu Tode getroffene verstandes- und gefühlsbegabte menschliche Kreatur. Und ein anderer lachte: stoßweise, trocken wie Keuchhusten, auch nicht mit seinen Lauten, mit Kehllauten des menschlichen Ungeheuers, das zu feige, zu egoistisch, zu bequem ist, den elementaren Schmerz des Menschenbruders mitzuempfinden, das den ungewollten Aufruhr des Gewissens willentlich herabdrückt auf jenen flauen Punkt, wo er umschlägt in zynischen Intellekt. Das war Saliger. Rudi hörte das kurze, heisere Lachen nicht. So urplötzlich, wie der Schrei in ihm aufgebrochen war, erstarb er in seinem Mund. Ihm fiel der Kopf auf die Brust. Ein Schluchzen schüttelte ihn, wie der Bock das Kind stößt, das ausgeweint hat.

Der Präfekt winkte ab. Die Schergen griffen zu und legten die Tür mit dem Gebundenen wieder auf die Waschböcke. Einer der Narrenmediziner legte dem nackt und schlaff Daliegenden die Hand auf das rasende Herz, schüttelte die Schellenkappe und sagte „MORS NON GERIT.“ - Er hat den Tod nicht ausgeführt. Nach diesem Befund wurde die Tortur abgebrochen wie ein Examen, in dem der Prüfling allzu peinliche Wissenslücken offenbarte. Sie schenkten Hagedorn den „dritten Tod durch Lebendigbegraben“, der sonst im Heizkeller durch Zuschütten des Opfers mit Koks vollzogen wurde, danach sonst die Reuefrage gestellt, und wenn diese vom Geschundenen bejaht war, sein „alter Adam“, das Sackgewand, in der Heizung verbrannt wurde. All das geschah nun nicht. Die Schergen banden Hagedorn los und warfen ihm den Sacklumpen zu. Darauf verschwand der ganze Geisterhaufen orgelnd und dröhnend aus dem Waschkeller. Hagedorn tappte im Dunklen, weil die Sicherungen gelockert waren, in den süßlich stinkenden Raum zurück, wo seine Kleidung lag. Beim Anziehen schlugen ihm vor Kälte die Zähne aufeinander. Als er sich zur Haustür getastet hatte und den schweren Flügel aufzog, erhielt er plötzlich von irgendwem einen kräftigen Tritt ins Gesäß, der ihn die Portalstufen hinabstürzen ließ. Im Umdrehen sah er den Pedell oben in der Tür stehen, in klobigen Filzpantoffeln, Stiefelhosen und Ärmelweste. „Scheißkerl!“, höhnte es von oben herab.

Wie ein Betrunkener schleppte sich Rudi Hagedorn nach Hause. In vielen Fenstern brannten Adventssterne. Es schneite, lautlos in großen Flocken. Gut, dass es schneite, dass der Neuschnee die glatt und harsch gewordene Schneedecke auf den Straßen und Bürgersteigen abstumpfte. In der jäh aufsteigenden Schlucht der Frongasse war für die Alten und Gebrechlichen ein eisernes Geländer an die Hausmauer geschlagen. Heute benutzte es dieser siebzehnjährige Junge. Rudi hoffte, die Eltern wären schon ins Bett gegangen. Es war bald halb zehn. Aber die Küchenfenster waren noch hell, und als er eintrat, sah er die Eltern sitzen, als hätten sie auf ihn gewartet. Die Mutter saß, die Hände im Schoß gefaltet, auf ihrem Arbeitsschemel am Nähtisch; der Vater hockte auf der Fußbank vor dem Feuerloch des gusseisernen dreistöckigen Ofens und schnitt Späne mit dem Taschenmesser. Auf dem Nähtisch lag ein blaues Kuvert. Rudi begriff: Der blaue Brief war gekommen, der die Mitteilung über das Consilium abeundi enthielt, das ihm der Rektor ausgesprochen hatte. Paul und Dora Hagedorn vermuteten schreckliche Dinge hinter dem unerklärten lateinischen Ausdruck des Briefes. Die Mutter sah ihn traurig an: „Hast du Unzucht getrieben, Rudi? Sag’s!“ - „Quark!“, fuhr der Vater dazwischen, „Reden wird er im Maul geführt haben, dalkete Reden, oder ...“ Paul Hagedorn stand auf und kam mit einem Stiefelknecht aus dem Ofenwinkel: „Hast du was gemaust, alter Freund? Ich schlag’ dich zum Krüppel! Du kennst mich: Sag uns die Wahrheit ...“ Rudi sagte nichts, kein Wort. Als der Vater zum Schlag ausholen wollte, sah er eine Wildheit in den Augen des Jungen, die ihn stutzig machte. „Was is nu, was haste ausgefressen, haste uns Schand’ gemacht? Red!“ Rudi schlug die Stimme ein paarmal über, als er nun sagte: „Ich geh’ ab von der Schul.’ Keine zehn Pferd’ bringen mich mehr dorthin in das Gefängnis, in das Zuchthaus ... Ich geh’ zu Wünschmann in die Lehr’, anderthalb Jahr, dann bin ich Gesell, da kann ich euch or’ntlich Kostgeld zahl’n.“ Voller Wut schmiss der Vater den Stiefelknecht in die Ecke: „Wieder was Neues! Denkst, ich lass’ mir solche Flausen bieten …“ - „Sag doch, was is, Rudi“, bettelte die Mutter.

Rudi sagte die halbe Wahrheit, sagte, er hätte der Lea einen Brief geschrieben, sie sollte sich’s nicht so zu Herzen nehmen, es würde schon alles wieder gut. Und den Brief hätten sie in seiner Schultasche gefunden und hätten ihn abgekanzelt wie einen Verbrecher. „Das is alles. Mir langt’s. Ich pfeif’ auf eine solche Schul’. Ein Verbrecher bin ich schon lang nicht und hab’ auch keine zwei linkischen Hände zum Arbeiten. Ich geh’ zu Wünschmann, da könnt ihr machen, was ihr wollt ...“ Die Mutter schwieg. Sie holte nun das Brot aus der Kapsel, der Junge hatte doch noch nichts weiter gegessen als den Roggenmehlbrei am Nachmittag. Der Vater räsonierte: „Für unsereins kommt doch nischt zum Guten 'raus. Was geht dich auch das feine Freilein Füßler an! Du siehst doch, es geht uns besser, seit die Juden nischt mehr zu melden haben …“ Er zeigte auf den Zipfel Mettwurst, den die Mutter auf den Tisch brachte: „Hat’s das früher gegeben bei uns, he? Da ha’m wir alle Mann an einem Heringsschwanz geknaubelt! Aber mach, was du willst, du warst ja schon immer gescheiter wie’s Huhn …“

Zwischen Weihnachten und Neujahr ging der Vater mit Rudi zu Wünschmann und unterschrieb den Lehrvertrag, der ab ersten Januar in Kraft trat. Der Rektor der Dietrich-Eckart-Schule legte dem Abgang des Untersekundaners Hagedorn nichts in den Weg.

Am Neujahrstag kam Armin Saliger ins Straßenwärterhaus. „Mach doch keinen Quatsch, Rudi, du schädigst dich doch selbst!“ Rudi blickte aus dem Fenster, blieb stumm wie ein Fisch. „Sicher, Rudi, war hundsgemein von mir, dass ich beim Geistergericht mitgemacht habe. Aber was sollte ich denn machen? Weißt ja, man muss manchmal mit den Wölfen heulen ... Mensch, sei doch nicht so stur wie eine Patronentasche.“ Ohne sich umzuwenden, antwortete Rudi: „Lass dir um mich keine grauen Haare wachsen. Jeder muss wissen, was er tut ...“ Saliger ging ärgerlich weg. Rudi sah ihm durchs Fenster nach, sah ihn an der alten Kastanie vorbeigehen, auf der sie einmal ihre Baumburg gehabt hatten, sah den schmalen Rücken des Freundes, den weichen „Schnappmessergang“, den kindlich dünnen Hals, den unbedeckten Kopf mit dem seidigen blonden Haar. Er stand Qualen aus, als er Armin so - für immer - weggehen sah. Aber - den alten Freundesbund hatte schließlich Saliger gebrochen.

Unzerbrochen war Rudi Hagedorns scheue, tiefe Liebe zu Lea. Aber er konnte ihr keine Briefe mehr schreiben. Er konnte es nicht mehr. Die unschuldigen, naiven Aufrichtigkeiten, die dem Rudi-Hyperion so leicht aus der Feder geflossen waren, erschienen dem Schlosserlehrling Rudi plötzlich irgendwie lächerlich. Mehrere Male versuchte er, Lea auf der Straße anzusprechen. Es gelang ihm nicht. Lea ging weiter, freundlich, den Blick auf einen fernen Punkt gerichtet. Meine Zeit kommt noch, dachte Rudi ...

Im März machte Saliger sein Abitur und wurde gleich darauf eingezogen. Die gesamte Prima war nach der letzten Prüfungsstunde mit dem neuen Rektor beim Kommandeur des Wehrbezirkskommandos erschienen, und jeder einzelne hatte sich dort die Anwartschaft auf die Offiziers- und Reserveoffizierslaufbahn erbeten. Als am 1. September der Krieg ausbrach, war Saliger schon Fähnrich.

Kurz darauf traf Hagedorn Dr. Füßler bei der Lautsprechersäule auf dem Markt, die eben verkündete, dass England und Frankreich den Krieg erklärt hatten. Dr. Füßler nahm ihn beiseite, ging mit Rudi, während der Badenweiler Marsch auf ihre Rücken dröhnte, nach den Anlagen um den Fischerteich. „Ich möchte Ihnen Dank sagen, mein lieber Hagedorn. Sie haben sich tapfer geschlagen. Ja, ja, wehren Sie nicht ab. Ich weiß schon, was ich sage ...“ Darauf wechselte Füßler rasch das Thema und sprach über den Krieg: „... es ist ein verruchtes Schicksal, das die Nation nun abermals auf sich nehmen muss …“ Aber Hagedorn spürte, dass der alte Herr etwas Bestimmtes auf dem Herzen hatte. Endlich, während er Rudi schon die Hand reichte, brachte er es an: „Einen väterlich gemeinten Rat, mein lieber, getreuer Hyperion - einen wirklich väterlich gemeinten Rat: Entschlagen Sie sich der Gedanken an meine Nichte. Das arme Kind sitzt mir halb wahnsinnig zu Hause. Armin Saliger - Sie wissen das nicht -, nun ja, er war so gut wie verlobt mit ihr. Auch er wollte es erzwingen. Es lässt sich nichts erzwingen. Als angehender Offizier musste er alle Beziehungen lösen. Ich verstehe das, ich versuche es zu verstehen. Und ich bitte Sie, Hagedorn, dringen Sie nicht auf das Mädchen ein. Sie machen Lea, im besten Fall, ein zweites Mal unglücklich - und sich selbst auch. Uns bleibt die Klugheit ... Leben Sie wohl.“

Es war Hagedorn, während Füßler sprach, als würde er stehend ausgezählt. Taumelnd kam er bis zur nächsten Bank, die wie jede Bank in den Fischerteichanlagen besät war mit eingeschnittenen, pfeildurchschossenen Herzen.

Sonntags darauf legte er an der Katzensteinhöhle jenen albernen Racheschwur auf Saligers Tod ab. Als aber Saliger Anfang Oktober nach dem Fall von Warschau einige Tage auf Urlaub kam, wich ihm Rudi aus wie der Dieb dem Bestohlenen.

Und wieder einige Zeit später, Anfang Dezember, ging er hin aufs Wehrkreiskommando, um sich als Kriegsfreiwilliger registrieren zu lassen. - Noch vor Weihnachten wurde er eingezogen.

Die Mutter weinte in die Schürze und verfluchte den Krieg, als ihr Ältester Abschied nahm. Der Vater brachte seinen Kriegsfreiwilligen zum Bahnhof. Auf dem Bahnsteig kam der Vater noch einmal auf den Schulabgang zu sprechen, der ihn immer noch wurmte: „Du hast mich schwer gekränkt, Rudi, dass du’s nicht durchgehalten hast mit der Schul’. Aber nu Schwamm drüber. Jetzt bist du achtzehn. Wenn du als großer Held aus dem Krieg wiederkommst, schlacht’ ich einen Truthahn, der muss genauso viel Pfund wiegen, wie du dann Jahr’ alt bist. Neunzehn, zwanzig Pfund, denk ich …“

Der Vater blieb nicht bis zur Abfahrt. Er ging in die Wirtschaft, schob sich den blauschwarzen Straßenwärter-Tschako ins Genick und betrank sich sinnlos.

Als der Zug hinter dem Bahnhof über die Brücke rollte und Rudi noch einmal die Heimatstadt vor sich liegen sah, die alte Bergstadt, die Häuser, die sich an den Buckel des Reiffenberges duckten, die mächtige Feldsteinkirche, das lange, verschneite Dach des Rathauses, den vielfenstrigen Quader der alten Schule, die großtorigen Scheunen am Friedhof, die wandernden Wolken über der Stadt und dem Berg, da dachte er an das geliebte Mädchen, das hier zurückblieb, und dachte in seiner Einfalt: Ich werde dich freikämpfen, Lea ...

„Uns bleibt die Klugheit“, sagte Dr. Theo Füßler und bewog das Mädchen Lea nach der Katastrophe von Stalingrad, als Hilfsschwester in das Reiffenberger Reservelazarett zu gehen. „Die Herren von der Partei bekommen es mit nervöser Angst zu tun. Angstschweiß lässt die feinsten Masken rutschen. Wir müssen vorbeugen. Bis jetzt haben sie dich ignoriert, haben dir sogar die normale Lebensmittelkarte gegeben. Ihre Greiferhände sollen von uns abgleiten. Melde dich. Schwestern sind rar. Verrichte die niedrigste Arbeit. Dein Magddienst für die Humanitas wird dich schützen. Immerhin halten sie sich noch an die Rot-Kreuz-Konvention ... Ich selbst will mich als Elementarlehrer zur Verfügung stellen. Treten wir die Flucht nach vorn an, Lea …“

Lea tat, wie ihr geheißen. Sie kam in die Wäscherei des Lazarettes. Eines Nachmittags, als sie Soldatenunterhosen zum Trocknen auf die Leine hing, wollte ihr ein fideles Trio genesender junger Helden, das sich im Lazarettgarten sonnte, einen Schabernack antun. Die Burschen knoteten, während Lea nach der nächsten Last Wäsche lief, die ganze tröpfelnde Unterhosenphalanx bei den nassen Beinen zusammen und versteckten sich hinter Büschen. Lea, die mit einem schweren Korb zurückkam, sah nun die Bescherung. Am liebsten hätte sie über diesen Max-und-Moritz-Streich herzlich gelacht. Sie war den dreien, die sie schon ein paar Mal ob ihrer Kühle und Schweigsamkeit mit kecken Scherzreden angezapft hatten, gar nicht böse. Aber „uns bleibt die Klugheit …“ So tat sie ärgerlich und ging daran, den Unfug wieder zu beseitigen. Es kostete viel Mühe, die nassen Knoten saßen straff. Da sprangen die drei wie Buschklepper aus ihren Verstecken hervor: „Was zahlt die Schöne Lösegeld ...?“ - „Jedem einen Kuss auf die Nase!“ - „Ach was, einmal ins Kino gehen mit uns drei Harmlosen ...“ - „Oder ins Café Steube, wir zahlen fürstlich, wenn du Kuchenmarken hast … Wir knobeln aus, wer dich an deine Haustür bringt ... Leas Gesicht blieb unbewegt verdrossen. „Den Patienten ist der Aufenthalt in diesem Teil des Gartens nicht gestattet. Bitte gehen Sie ...“

Ihr Ton ließ keinen Zweifel übrig, dass sie meinte, was sie sagte. „Dämliche Pute“, nannte sie einer beim Weggehen.

So läppisch dieses Ereignis war, es hatte Folgen. Die drei sprachen mit einem Sanitätsfeldwebel: „Halten wir draußen unsere Knochen hin, dass wir dafür in der Heimat von so’ner Zicke abgesaut werden?“ Lea wurde ohne Begründung in die Seuchenstation versetzt. Dort lieferte man im Mai vierundvierzig den Rektor der Dietrich-Eckart-Schule, jenen „Mussolini“ genannten Stierschädel, der es inzwischen zum Major gebracht hatte, mit wolhynischem Fieber ein. Zu Leas Obliegenheiten gehörte es, die Fußböden in den Seuchenzimmern täglich zweimal mit Desinfektionslösung aufzuwischen. Sie erschrak und wurde furchtsam, als sie den neuen Patienten erkannte. Aber ihre Angst schien grundlos. Der Herr Rektor und Major benahm sich neuerdings merkwürdig höflich, um nicht zu sagen schmierig-freundlich, zu ihr. „Höre, Sie arbeiten freiwillig hier, Fräulein Füßler?“ Lea zwang sich zu einem Nicken. „Meine Hochachtung.“ Sie hasste diesen Menschen wie nichts anderes auf der Welt: Wenn er mich doch ungeschoren ließe mit seinen Blechknopfaugen, die jetzt gnädiges Wohlwollen vorspiegeln, die nichts anderes anbieten als geheime Rückversicherung. Jetzt fallen dem Herrn alle seine Sünden ein. Die Invasion an der Kanalküste und in Sizilien tut er zwar als Belanglosigkeit ab, aber dass mit Pskow bereits die letzte russische Stadt verloren gegangen ist, das verfolgt ihn bis in seine Fieberanfälle. Neulich schrie er: „Aufhalten Männer! Haltet sie auf, die roten Hunde ... Was wollt ihr denn von mir ... Ich war es doch nicht ... Ich nicht ...“

Bei Besinnung sagte er tags darauf: „Jetzt verfolgen wir die Taktik der Gummifront. Wenn sie genug gespannt ist, lassen wir das Ding losschnippen. Dann fledert’s die Iwans hinter den Ural. Da können sie ihre Sonnenblumenkerne in die Gegend spucken, solange Vorrat reicht. Nach Osten geht unser ewiger Germanenzug. Verstehen Sie, Fräulein Füßler?“ „Sicherlich, Herr Major.“

„Was heißt sicherlich! Das ist unabdingbares historisches Gesetz, nach tausend Jahren verpfuschter Reichsgeschichte neu erkannt und vollstreckt von unserem Führer. - Sie glauben wohl nicht daran?“

„Doch wohl, Herr Major …“

Lea in ihrem blassblau-weiß gestreiften Hilfsschwesternkittel wischte mit dem Schrubber unter dem Bett des Stierschädels und verbarg im tiefen Niederbeugen das Gesicht. Da tastete er nach ihrem nackten Arm. Lea gerann das Blut. Sie wollte schreien. Der Schrei saß ihr schon ganz oben in der Kehle. Aber sie bezwang sich ... Uns bleibt die Klugheit ... Und das schrie ihr stummer Mund, ihr hoch fahrender Blick, der Arm, den sie zurückstieß.

Stierschädel verstand.

In der Aufregung passierte Lea das Missgeschick, fünf Kaninfellwesten statt in die kalte Desinfektion in die Heißentlausung zu geben. Die Fellwesten kamen auf die Größe von Säuglingswäsche zusammengeschrumpft wieder aus dem Dampfofen. Die Stationsoberin der braunen Schwestern tobte: „Sie treiben Sabotage …“

In der Frühe des anderen Tages wurde Lea Füßler in der Wohnung des Onkels verhaftet. In fassungslosem Entsetzen verlangte Dr. Füßler eine Legitimation von den Gestapoleuten. Man hielt ihm einen Wisch vor die Augen, nur sekundenlang. Er konnte nichts entziffern. Er beschwerte sich. Da hielten sie ihm etwas anderes vor die Augen: eine Revolvermündung. Füßler sank in den weichen Ledersessel vor den Bücherregalen und winkte mit kläglich-müder Hand, als sie Lea abführten. Er war aber noch nicht erlöst. Andere Leute kamen, die in seiner Wohnung das Unterste zuoberst kehrten: Haussuchung. Eine Legitimation verlangte er nicht mehr. Die Gestapo durchschnüffelte vor allem seine sorgsam geheftete Korrespondenz. Füßler ahnte nun, was sie suchten. Seinen Schriftwechsel mit zwei Zivilpersonen, die in den letzten Tagen im Zusammenhang mit dem Anschlag auf Hitler verhaftet worden waren. Da konnten sie lange suchen. Das war alles vernichtet. Uns bleibt die Klugheit ...“

Lea wurde ohne Prozess in ein Frauenkonzentrationslager abgeschoben. In ihren Akten stand: „Vater Jude, Mitarbeiter in der Deutschlandabteilung des Londoner Rundfunks“ - und das, was der Herr Major vom Krankenbett aus zu Protokoll gegeben hatte: „… äußerte sich verhaltensweise defaitistisch ...“

„Ich werde dich freikämpfen, Lea …“ Dieser Vorsatz des Rudi Hagedorn hatte sich in der verflossenen fünfjährigen Kriegswirklichkeit nun doch als so schafseinfältig erwiesen, dass ihn die eigene Beschämung darüber am liebsten aus dem Gedächtnis getilgt hätte. Aber was der Mensch vergisst und behält, das bestimmt nicht sein Wunsch und Wille. Seit Hagedorn von Leas Verhaftung wusste, ging sein Wunsch und Wille vollends lendenlahm den Weg passiver Hoffnung. Er dachte, es müsste doch irgendeine Möglichkeit geben, dass sie davonkäme. Er wusste aber nicht, welche. Lea, wusste er, war körperlich nicht die festeste und war gewiss durch die Geschichte mit Saliger und durch alles, was man ihr und ihrem Onkel angetan hatte, auch seelisch zermürbt. Aber selbst wenn sie die seelische Belastung noch aushielte, was nützt ein tapferes Herz gegen den Hungertod oder gar gegen eine Kugel ... Wie oft hatte Hagedorn im Osten gehört, dass Sondereinheiten jüdische und halbjüdische Bevölkerung wie Vieh zusammengetrieben und irgendwo an einem Panzergraben massenweise zusammengeschossen hatten. Er hatte es nie gesehen und nie vollständig geglaubt. Er hatte an Gerüchte geglaubt, die zur Abschreckung in die Welt gesetzt worden wären. Doch als ihm die Mutter schrieb: „... nun haben sie auch die Lea Füßler fortgeholt, und von Ernst Rottluf weiß immer noch kein Mensch was Genaues. Aber von Albert Pohl, der seinerzeit in Raschbach Lehrer war, stand ein rotes Plakat angeschlagen. Man hat ihn in Brandenburg geköpft. Es ist furchtbar ...“ Seit ihm die Mutter dies schrieb, glaubte er nicht mehr an Gerüchte zur Abschreckung. Er setzte seitdem seinen Glauben, seine Hoffnung auf die Möglichkeit einer unglaublichen Ausnahme wie einer, der seinen Glauben in die Frömmigkeit des Teufels setzt.

Und jetzt war er unterwegs zu Saliger. Jetzt glaubte er: Saliger muss mehr wissen als ich. Sein Vater hält es gewiss noch mit ihrem Onkel. Doktor Füßler wird schon eine Gewissheit haben. Ich werde, entschied er sich fürs erste, Saliger nach Lea fragen. WAS er sagt, geht auf das große Konto. Aber WIE er WAS sagt, das geht auf sein eigenes, das muss er mir verantworten ...

Indessen war Lea Füßler wenige Tage vor diesem helllichten Aprilmorgen von englischen Truppen aus dem Frauenkonzentrationslager befreit worden. Sie lag jetzt in einem Krankenhaus schwer darnieder. Aber das konnte der sturbrave Marschierer auf der Straße, der mehr voraus- als zurückdenken wollte, noch nicht wissen, er nicht und auch der Doktor Füßler nicht und auch der Hauptmann Saliger nicht.

ZWEITES KAPITEL

Bis zur Abzweigung nach Rayna mochten es noch dreieinhalb Kilometer sein auf dieser schnurgeraden Straße. Das Städtchen sah er schon. Es lag rechter Hand voraus in diesem beinahe tafelebenen, nur von Halden durchbuckelten Gelände. Der Braunkohlentagebau, der in dieser Gegend betrieben wird, bestimmt das Gesicht der Landschaft. Er setzt riesige Dünen hin, graubraune Abräume, kahle geometrische Industrieberge. Aus der Entfernung sah es aus, als ob die Halde bei Rayna direkt vor den Hintertüren der Häuser abstürzte. Weißlich gelbe Rauchschwaden zogen träge über den stumpfen Grat. Wenn es gut geht, dachte Hagedorn, werde ich die Stellung etwa in einer Stunde erreichen. - Wenn es gut geht, dachte er, denn er hatte schlimme Erinnerungen an schnurgerade Straßen, in den Füßen zum Beispiel. Sie waren ihm schon einmal kreideweiß gefroren an einer schnurgeraden Straße, Eisstelzen, zum Weghacken gefühllos. Er hatte nicht mehr den richtigen Marschierertritt, obwohl er unter den grünen Überfallhosen weiche Kalbslederstiefel trug, die er an der Oder einem Leutnant ausgezogen hatte, der sie nicht mehr gebrauchen konnte.

Diese Art Straßen quälen den Schritt und den Blick, verderben die Stimmung, wecken Erinnerungen ... Man muss denken, wenn man auf diesen Straßen geht, immerzu denken ... Die Rollbahn von Smolensk nach Moskau lief auch schnurgeradeaus. Sie hat uns höllisch geäfft. Sie hatte kein Ziel. Ihr Ziel lief immer vor uns her wie die langen Schlagschatten der späten Nachmittagssonne. Nur die ziel- und siegestrunkenen Ätherwellen, die sie uns aus der Heimat nachschickten, sprangen über unsere Schatten, über die der Panzer, der Zugmaschinen, der Geschütze, der Kübelwagen, der Muni-Fahrzeuge, der Schützensärge und die der marschierenden Fußvölker. Sie schwirrten schon dreist um den Spasskiturm, teilten schon unsere Nisthöhlen auf für den Winter.

Dann krachte Väterchen Frost plötzlich seine weithin rollenden Salven in die Luft. Die Maschinengewehre von drüben meckerten fröhlicher, die Ratsch-Bums und die Granatwerfer, stählerne Füllhörner, schütteten reichlicher ihren Splittersegen aus, und immer mehr 17,2-Batterien paukten ihre Bassarien wieder auf die schnurgerade Straße. Wie aufgeschreckte Entenschwärme kamen da die Ätherwellchen zurückgeflattert, rauschten über unsere Köpfe und nahmen die Heldenbotschaft mit in die Heimat von den vielen braven Soldaten, die in ihren dünnen Mäntelchen kämpfen und frieren täten auf den Tod. Tausend- und aber tausendmal ein Ende hatte es auf dieser schnurgeraden Straße gegeben, aber kein Ziel. - Nicht zurückdenken!

Man kann aber nichts machen gegen das Denken. Es ist ein unsoldatisches Laster, eine Kulturkrankheit. Hier und jetzt muss man leben, von der Hand in den Mund. Hauptsache ist satt werden: beim Essen, beim Schlafen, beim Trinken, beim Schießen, bei den Mädchen, bei allem. Und möglichst mit Genuss. Der allgemeine Fahrplan unseres Lebens ist seit sechs Jahren außer Kraft gesetzt; für jeden kann die Post jeden Augenblick abgehen, gleichgültig, ob er alt ist oder jung, ob er die Sonne oder den Mondenschein liebt, ob er flucht oder betet, hurt oder schwärmt, ob er klug ist oder dumm, glücklich oder unglücklich. Das sengende Eisen fragt nicht danach; es ist sturer als der Feldgendarm. Deshalb sage ich mir: Du bist erst vierundzwanzig, nimm mit, was mitzunehmen ist, genieße jeden Augenblick, es kann dein letzter sein.

Hoch über den sperrigen Baumkronen flieht der Himmel, blass und nichtig. Wölkchen, klein wie Engelshemden, liegen ruhig auf der hohen Bleiche. Vielleicht, denkt Hagedorn, damit die Läuse erfrieren in den Engelshemden, denn dort oben ist es ja saumäßig kalt. Kommt nur darauf an, ob die Engelchen auch Läuse haben. Eigentlich müssten sie, weil Krieg ist und die Engelchen Stubendienst haben in den himmlischen Soldatenheimen. Auf jeden Landser kommen zwei - wegen der Dreieinigkeit. Und Popos haben sie, die lieben kleinen Engelchen, zart wie die Morgenröte im russischen Winter. Na ja, Kameraden, man muss doch einen Ausblick haben ...

War das nicht der dicke Bauernfelt, der diesen romantischen Witz gerissen hatte, den sie mittags bei Alexandrowo von der Lafette kratzen mussten? Oder war es Blohm, der dürre, übergeschnappte Blohm, der nachts auf Posten ein Panjepferd erschoss, ihm mit dem aufgepflanzten Bajonett den Bauch aufsäbelte, die Füße in die blutwarme Höhlung steckte, dabei einschlief und erfror. War es der? Hagedorn wusste es nicht mehr. Es hatten so viel in diesem mordskalten Winter traurig genug in den Schnee gebissen.

Er wollte es auch nicht mehr wissen. Er dachte, die Zeit ist immer nur ein Jetzt, und jetzt muss man auf andere Dinge achthaben, wenn man in die Wolken guckt. Nämlich, dass die Kondensstreifen dort drüben über den Abraumhalden silberne Köpfchen haben und die silbernen Köpfchen falkenscharfe Augen und auf einer kurzen Welle sogar eine Stimme, dass das Aufklärer der Amis sind, doppelrümpfige Lightnings, die Stellungen ausmachen, die die Bomber und auch die Straßenfeger bestellen, die Spitfires und Thunderbolts, die fliegenden Hunde, die ihre langen roten Feuerzungen herausschlappen lassen und alles auflecken, was sich an Unrat auf den Straßen zeigt, Menschen vor allem, fahrende und laufende, ganz ungeniert. Schnurgerade Straßen lecken die fliegenden Hunde am liebsten. Und niemand kann sie verscheuchen. So ist das. Wir schreiben April neunzehnhundertfünfundvierzig.

Heute waren die fliegenden Hunde noch nicht da. Deshalb trifft man auch keine Seele auf dieser schnurgeraden Straße. Aber sie werden noch kommen. Der dicke Major auf der Frontleitstelle hatte, als er Hagedorn den Weg von der Bahnstation bis in die Stellung auf der Karte erklärte, gesagt, sie kämen wie der Wolkenbruch zur Himmelfahrtspartie. Man weiß nie, wann. Der Dicke, dessen stark gelichtetes Haar nach Veilchenpomade roch, hatte sogar eine Unterhaltung begonnen. Das war eine neuartige Erscheinung. Hagedorn war bisher noch keinem Major begegnet, der sich mit einem Unteroffizier unterhalten wollte. Glaubten die höheren Offiziere, sich menschlicher verhalten zu müssen, jetzt, wo sich der Krieg immer unmenschlicher anließ, wo er in der Heimat tobte, unsere Frauen und Kinder mit in seinen Strudel riss? Vielleicht die einen, die Ängstlichen. Die anderen gewöhnten sich daran, das Ausrufezeichen mit der Pistole oder mit Standgerichtsurteilen hinter ihre Befehle zu setzen, wenn die Leute nicht mehr so gehorsam spurten wie in alten Zeiten. Welche hatten mehr Angst?

„Werden sich freuen, Saliger und die jungen Heimatkrieger“, hatte der dicke Major gesagt. „Werden sich freuen, wenn so’n altes Frontschwein zur Verstärkung kommt. Machen Sie denen mal vor, was man mit ’ner Acht-Komma-Acht zu Luft und zu Lande alles ausrichten kann. Sie haben doch reichlich Erdkampferfahrung, sieht man doch.“ Sicher hatten den parfümierten Etappenhengst die Orden und Abzeichen auf Hagedorns Waffenrock dazu bewogen, ihn in den höchsten moralischen Dienstgrad, den des Frontschweins, zu erheben.