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Der Roman „Wir sind nicht Staub im Wind“ von Max Walter Schulz, erstmals 1962 erschienen, wurde zu einem der erfolgreichsten Bücher in der DDR. In diesem folgenden, in sich abgeschlossenen Buch führt der Autor die Gestalten, die mit einem „Unmaß an Hoffnung“ aus der Handlung entlassen wurden, in den dramatischen Augusttagen des Jahres 1968 wieder zusammen. Jetzt gilt es zu überprüfen, ob jene „unverlorene Generation“ den Weg in ein erfülltes menschliches Dasein gefunden hat, ob sie die inzwischen errungene Einheit von Macht und Geist im Sinne des Menschen zu gebrauchen weiß. Dabei hat die Entscheidung zu fallen, ob die Angst der früheren Welt überwunden und praktische Verantwortung aus inzwischen gewonnener Erkenntnis gewachsen ist. Mit einer ungewöhnlichen Episodenfülle, die der Autor ausbreitet, um seine nur wenige Tage umfassende Fabel poetisch umzusetzen, ist eine außerordentlich dichte Romanstruktur entstanden, die bis zur letzten Szenerie, einem Triptychon mit sieben Brücken, Charaktere und Handlungsabläufe zusammenhält. LESEPROBE: Da meldete sich eine Frau aus dem Kreis Eberstedt, die vor einigen Wochen bedingt geheilt aus der Nervenheilanstalt entlassen worden war. Die Frau sprach von einer anderen Frau mit Namen Süptis, einer unheilbaren, inzwischen verstorbenen, die immerfort gesagt habe, ihre Tochter, die Annedore, das Luder, wisse alles über alle. Von Hitler und Himmler angefangen bis ’runter zum Ortsbauernführer. Nach dieser Tochter war früher schon gesucht worden. Sie hatte bis zur letzten Stunde des Krieges in der Telefon-Vermittlungszentrale Eberstedt gearbeitet, als Geheimnisträgerin vereidigt. Man hätte das Mädchen als Zeugin auch in anderen Fällen gebraucht. Aber das Mädchen war unauffindbar geblieben. Die Entlassene behauptete aber, es sei eines Tages ein Päckchen für die Mutter abgegeben worden, darin habe sich auch ein Zettel mit einer Adresse befunden, wahrscheinlich die der Tochter. Die Angabe bestätigte sich. Unter den Habseligkeiten der Verstorbenen war der Zettel gefunden worden. Man hatte die Todesnachricht an die aufgezeichnete Adresse übersandt. Das Schreiben war nach Frankfurt am Main an A. Willewein gerichtet gewesen, war aber mit dem Vermerk «Unbekannt verzogen» an die Leitung der Heilstätte zurückgekommen. Trotzdem blieb wahrscheinlich, dass sich hinter A. Willewein die geborene Annedore Süptis verbarg, und unwahrscheinlich, dass ein Mensch nicht mehr auffindbar sein sollte.
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Seitenzahl: 703
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Max Walter Schulz
Triptychon mit sieben Brücken
Roman
ISBN 978-3-95655-270-0 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien erstmals 1974 im Mitteldeutschen Verlag, Halle und im Damnitz Verlag, München.
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
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«Und doch habe ich nie einen Menschen getroffen, der wiederum so weise gewesen wäre, dass er nicht trotzdem gern erfahren hätte, wohin diese Geschichte steuert und welche guten Lehren sie darbietet. Nun, sie wird sich nie scheuen, sowohl zu fliehen, wie zu jagen, zu entweichen und zurückzukehren, zu schmähen und zu ehren. Wer mit allen diesen <Chancen> umzugehen versteht, der allein ist ein rechter und kluger Mann. Der versitzt sich nicht und vergeht sich nicht, sondern er erkennt seinen rechten Platz. Die Gesinnung, die sich in der Gemeinschaft falsch ausrichtet, ist reif für das Höllenfeuer und wie ein Hagelschlag für die rechte Würde des Menschen. Ihre Treue hat einen so kurzen Schwanz, dass sie schon den dritten Stich nicht abzuwehren vermag, wenn sie in den einsamen Wald läuft und von Bremsen überfallen wird.»
Aus dem Parzival
Sie ist davon wach geworden. Zwischen Tau und Tag, als es in der Ferne einsetzte und vorerst nur schwach und unbestimmbar zu hören war, ist sie schon davon wach geworden. Für eine Weile hat sie geglaubt, ein Volk von Mühlenderleins Bienen hätte sich in absurder Verspätung zum Schwärmen aufgemacht und hätte sich irgendwo in der Nähe draußen vor den offenen Fenstern der Loggia niedergelassen. Als es aber immer näher kam und als es bestimmbar wurde und als es in immer neuer Woge andrang, wenn die vorherige verebbte, da wusste sie, was dieses Dröhnen in der Luft bedeutete. Da hat sie nach seiner Hand getastet und ihn gerufen. «Rux!» hat sie ihn gerufen. Nicht laut, aber gerade so scharf, als ob er dieses Widersinnige herbeibeschworen hätte. Er und kein anderer. Er ist gleich wach geworden und wäre auch gleich auf den Beinen gewesen, den feuchtkalten Umschlag zu bereiten, der ihr bei solcher Schwüle noch immer am besten hilft gegen das Klemmen und Jagen des Herzens. Sie lässt ihn aber nicht aufstehen. Sie hält ihn unwillig bei der Hand zurück. Ob er’s denn nicht höre! Da hört er’s auch. Erst jetzt hört er es auch. Und begreift sofort, was es ist. Begreift es in der Geschwindigkeit, in der eine Erleuchtung begreifen macht. Und hat die Möglichkeit einer solchen Lösung noch gestern Abend vor ihr bestritten. Sanft nachdrücklich, als spräche er zu einem Kind, hat er es gestern Abend noch vor ihr bestritten. Nun nimmt sich das Unmögliche von gestern Abend dröhnend zurück. In den Lärm schwerer Motoren mischt sich das Rasseln und Scheppern von Raupenketten auf gepflasterter Straße. Das hört man deutlich bis hier herauf nach Siebenhäuser. Die Straße, die unweit des Dorfes, tiefer gelegen, zwischen den Höhen über die Grenze führt, ist eine Pflasterstraße.
Der Morgen ist angebrochen. Der sanften Nachtigall ist alles vergangen. - Nichts hat sie gesagt. Nur keine Worte machen, die sich bilden wie Blasen über unsicherem Grund. Schon «Rux» war da zuviel gesagt. Da gehören Steine darüber geschüttet, eine ganze Last. Das wird sie wohl auch tun müssen. Er schweigt. Er stemmt die Fingerknöchel der geschlossenen Faust in die Kerbe der Nasenwurzel. So denkt er, wenn es ihn anstrengt, zu denken. Ihm geht das Bild vom Gordischen Knoten durch den Kopf. Bilder liegen seinem Denken manchmal doch am nächsten, werfen sich in Worte wie in alte Kleider. Erscheinen, bewegen sich, geben Sinn, geben keinen. Darüber muss der Denkende entscheiden. Wer den Riemenknoten zwischen Deichsel und Joch des Wagens zu lösen vermochte, dem war das Königreich ge- weissagt. Alexander zerhieb den Knoten mit dem Schwert. Alexander der Große... Er lässt das Bild ein altes Bild sein. Er entscheidet sich dagegen. Es ist ihm zu klein. Es deckt sich ihm nicht mit dem Sinn des unerhörten Ereignisses. Nicht doch, denkt er, nur nicht mehr diesen penetranten Einmannsgeruch dieser alten Bilder. Was jetzt zu sagen ist, denkt er, muss aufs Ganze zutreffen. Er sieht seine Frau an. Er sagt zu ihr:
«Es ist das Notwendige, Johna. Ich denke, jetzt können wir wieder aufatmen.»
«Ja», sagt sie, «mir schnürt es die Kehle zu.»
Aber sie haben Zutreffendes miteinander gesprochen. Jeder hat das Seine gesagt. So ist wenigstens Helligkeit aufgebrochen. Zunächst fällt sie als Zwielicht in die Szene. Das leuchtet und blendet gleichermaßen. Doch so geht es zunächst einmal ganz natürlich zu. Zunächst einmal. Auf die Dauer, das ist ihnen bewusst, lässt sich in der bloßen Natürlichkeit des Zwielichts nichts Genaues, Zutreffendes erkennen. Weder im Leben noch in der Liebe, noch in der Wissenschaft, noch nicht einmal in der Kunst. Immerzu blinzeln oder glotzen oder durch die Finger sehen, beschädigt als Gewohnheit bekanntlich die Charaktere. Denn es verursacht das Zwinkern. Was sie und ihn angeht, die beiden Leute, die da früh beizeiten hellwach geworden sind: zugezwinkert haben sie sich nicht.
Und was sie gesagt haben, ist auch nicht der Überraschung geschuldet. Sie hat außer Johna von ihm nichts anderes erwartet. Und er trotz dieses Wortes, das ihnen beiden mehr als bloße Zärtlichkeit bedeutet, auch nichts anderes von ihr. Für den Augenblick ist von ihr nichts anderes zu erwarten gewesen. Damit wird auch ausgetan, dass sie beide dem unerhörten Ereignis des Tages nicht völlig unvorbereitet gegenüberstehen. In den letzten Wochen, als sich entgegen den Erwartungen der voraufgegangenen gemeinsamen Erklärungen die Lage in Prag immer mehr verwirrte, als sich in- und ausländische Liquidatoren mit behördlicher Genehmigung schon stabsmäßig in der Stadt einrichteten, da hat er, da hat auch sie begonnen, mit der Möglichkeit, die nun Tatsache geworden ist, als mit der Ultima Ratio zu spielen. Er vertrat in diesem Gedankenspiel die Theorie und das Prinzip, sie ihre Weltempfindung. Zurzeit ist sie sehr weltempfindlich. Miteinander darüber gesprochen haben sie aber nicht. Er fürchtete ihre erregte Fantasie, sie fürchtete die zu erwartende, ihrem Empfinden hart zuwiderlaufende Konsequenz. Und wenn sie stattdessen seine sanft täuschende Nachsichtigkeit in Kauf nahm, so geriet sie nichtsdestoweniger dabei mit ihm und mit sich selbst ins Arge. Die Unfairness der Nachsichtigkeit geht zu ihren Lasten. Denn sie hat sie geduldet. Dabei hätte sie ihm helfen können, ihrem Theoretiker, ganz praktisch durch ihren Widerspruch. Er weiß doch, dass ihr Widerspruch zu jenem Ganzen strebt, zu dem er auch unterwegs ist. Wenn er das nicht wüsste! Und sie, hat sie denn nicht bemerkt, dass er im letzten Monat mit der Arbeit am aktuellen Teil seines Forschungsthemas nicht mehr weitergekommen, dass er noch einmal zurückgegangen ist auf die historischen Traditionen? Er schreibt in einem Kollektiv über Macht und Geist der herrschenden Arbeiterklasse. Die Mitarbeit bedeutet eine Auszeichnung für ihn, bedeutet auch für zwei Jahre keine regelmäßigen Lehrverpflichtungen, bedeutet zum anderen, dass er zu Hause arbeiten, sich um die täglichen Dinge kümmern und für sie da sein konnte während ihrer sicherlich langwierigen Genesung. Hatte sie ihm denn nicht versprochen, seine Arbeit aufmerksam zu verfolgen, die Kapitel mit ihm zu diskutieren, zu entwerfen, ihm zu helfen nach ihren Kräften? Es geht ihr nicht gut.
Es geht ihr aber schon wieder besser. Besser, als nach dem Grad der Ermattung der Herzkranzgefäße zu erwarten gewesen wäre. Sie spürt tatsächlich, dass es ihr besser geht, als zu erwarten gewesen wäre. Und trotzdem ist eine nachhaltige Unsicherheit über sie gekommen, wo stabile Hoffnung das Folgerichtige gewesen wäre. Füßlers unerwarteter Tod in der vorigen Woche hat das Seine noch dazu beigetragen. Die Ursache sitzt tiefer. Wie von ungefähr - oder weil es ihr tatsächlich besser geht als erwartet - fiel es ihr bei, an den Motiven ihrer zweijährigen Beurlaubung vom Schuldienst zu zweifeln. Ein halbes Jahr wäre die übliche Rekonvaleszenz gewesen. Ihr hat man zwei Jahre empfohlen, eingeredet nachgerade! «Spann mal ordentlich aus. Nimm dir Zeit, viel Zeit. Komm doch mal zu dem, wozu du nie gekommen bist: Fertigst paar gute Übersetzungen an! Neue sowjetische Lyrik: poetisch, kämpferisch, klar in der optimistischen Aussage. Eine Schulausgabe. Die könnten wir wieder mal gebrauchen. Aber ein halbes Jahr wird gar nichts gemacht, nur ausgeruht. Und dann vorsichtig den Riemen auf die Orgel. Und wenn er nicht ’runterspringt, was wir ja alle hoffen, dann fängst du mit kleinen Tagesprogrammen an. Der Musenkuss soll ja ’ne Momentsache sein. Und wenn du wiederkommst - Ergebnis unterm Arm -, singt der Chor an der Pforte ...»
So hat Redlich zu ihr gesprochen. Redlich, seit siebzehn Jahren unentwegt Direktor an verschiedenen Schulen nacheinander. Und er, ihr Mann, hat ihm beigepflichtet. Und Josef Sagan hat’s wahrscheinlich eingerührt. «Ums Geld braucht ihr euch doch keine Sorgen zu machen. Dein Mann verdient nicht schlecht. Und du hast deine VdN-Rente immer noch nebenbei ...» Nur Hladek schrieb damals vor einem Jahr: «Mir scheint’s zu lange, gleich zwei Jahre. Je länger du aussteigst, um so schwerer wird es dir fallen, wieder einzusteigen. Wenn es sein muss, dann steige lieber ganz aus und erobere dir was Neues, wenn du dich wieder so wohlfühlst. Flieg nicht auf die Art von Eitelkeit herein, du wärst unersetzbar. Da tätest du mit dem abenteuern, was wir schon fest und gewiss haben: Arbeit und Nachwuchs. Aber du musst dich selber entscheiden. Entscheidung kann dir überhaupt keiner abnehmen. Das weißt du doch, Töchterchen ...» Aber da hat es noch ein anderes Gespräch mit Redlich gegeben, ein Vierteljahr zuvor etwa. Es fand nach jener Zensurenkonferenz statt, in der sie durchsetzen wollte, dass der Beate Schellhammer ins Abgangszeugnis geschrieben würde, sie habe eine Neigung zu intellektualistischem und asozialem Verhalten bisher nicht entschieden genug bekämpft. Damit hatte sie im Kollegium eine scharf geteilte Meinung hervorgerufen. Redlich war gar nicht damit einverstanden gewesen. Er hatte mit dem Vertrauen in unsere jungen Menschen argumentiert und immer wieder mit dem Vertrauen und besonders in unsere Arbeiter- und Bauernkinder und hatte sie, seine Kollegin, sogar gerügt, dass sie nach jugendlichen Flapsigkeiten zu schießen gedenke wie mit der Kanone nach Sperlingen. Danach stand sie mit ihrer Meinung allein da. Redlich war es nicht geheuer, dass sie mit ihrer Meinung plötzlich allein dastand und darauf beharrte. Er bat sie anschließend in sein Zimmer:
«Nun will ich dir mal was sagen: Die Weisheit des Kollektivs ist immer noch größer als die Klugheit des einzelnen. Ich bin der letzte, der dir deine Klugheit und deine pädagogischen Leistungen abstreitet. Du bist zweimal ausgezeichnet worden. Da habe ich auch eine Aktie dran. Aber als Genossin müsstest du wissen, dass man sich einem Mehrheitsbeschluss nicht hartnäckig widersetzt. Und zweitens, und nimm mir die persönliche Bemerkung nicht übel: Man hat dir in deinem Leben Zeit gestohlen. Aber du hast auch Zeit vertan, verschludert. Nun hast du das Gefühl - und das achte ich - du müsstest verlorene Lebenszeit irgendwie zurückholen, reintensivieren oder so ähnlich. Nur: Bring mir damit nicht den ganzen Laden durcheinander! Sonst greife ich dich trotz deiner Verdienste - oder gerade deshalb - wegen Subjektivismus an. Du hast zum Beispiel mal zu deinem Mann gesagt, ich als Leiter der Schule würde bestimmte Erscheinungen übersehen - oder aus Gründen des guten Gesamtabschneidens der Schule sogar übersehen wollen die ideologische Laschheit und Unaufrichtigkeit unter einem Teil der Schüler begünstigen. Ich würde zusehen und schweigen, wenn einzelne Lehrkräfte sich mit Lippenbekenntnissen zufriedengeben, obwohl die Betreffenden genau wüssten, was Lippenbekenntnisse sind und was echt ist. Das war vor deiner Aufnahme in die Partei. Ich gebe zu, es war mein Fehler, dass ich dich bei der Aufnahme nicht danach gefragt habe. Ich habe dich aber nicht danach gefragt, weil ich Angst vor der Frage hatte, sondern weil ich weiß, dass du unrecht hattest. Dir saß damals noch ein bürgerlicher Rigorismus in den Knochen, der mit Wachsamkeit - unserer - nichts gemein hat. Ich will hoffen, er saß, Genossin Hagedorn ... Wenn du so willst, wir hatten auch eine Sturm- und Drangperiode, als Neulehrer hatten wir die. Bei dir kommt durch die Umstände alles ein bisschen später. Aber inzwischen hat sich ja nun unser ganzes Schulwesen wissenschaftlich durchsystematisiert bis in die letzte Schulstunde vor den großen Ferien. Mit Schule, Jugendverband und Elternhaus, mit diesem Dreieck geht’s über ins erweiterte gesellschaftliche System. Das sind Errungenschaften, da lassen wir nicht mehr dranherum revolutionieren. Neuerervorschläge - das ist etwas ganz anderes. Wie zum Beispiel stellst du dir ein technisch perfektes Sprachkabinett vor? Wo gibt es Erfahrungen? Wo gibt es Vergleiche? Mach deine eignen Vorschläge! Und wenn du Sorgen hast mit der Erziehung, dann delegiere deine Sorgen wissenschaftlich formuliert an das Kollektiv. Lass dich nicht auf Eindrücke ein! Das ist doch letzten Endes Metaphysik. Hab Vertrauen in unsere Jugend. Unsre Jugend ist gesund, weil sie klassenmäßig gesund denkt. Dafür stehe ich zu meinem Teil an meiner Schule gerade. Und wenn dir mal so ein Gör eine dumme Frage stellt: Herrgott ja! Alles kann man nicht auf einmal kapieren. Halte dich als Lehrer an den Grundsatz: Es gibt keine dummen Fragen. Es gibt nur dumme Antworten. Sei gescheit! Bei uns wird mit einer Zunge geredet: mit der des Aktivisten ...»
Es geht ihr also nicht gut.
Wenn es ihr ganz und gar besser ginge, als erwartet, würden diese Erinnerungen nicht solchen Zweifel absondern: den Zweifel an der Aufrichtigkeit der Nachsichtigen. Aber wenn sie dieses Zweifelsding in sich verkehrt, dann heißt es: Ich zweifle an der Nachsichtigkeit der Aufrichtigen. Dann hat sie nur das Heu im Regen gewendet. Da ärgert sie sich über die Mäßigkeit des dialektischen Spielchens. Das weißt du doch, mein Töchterchen: Wenn du einen Zweifel hast, dann hast du erst einen, wenn du bestimmen kannst, was du wirklich für einen hast. Und wenn du wirklich einen bestimmten Zweifel hast, dann hast du schon wieder, na ja, nicht wahr, eine echte Frage, ein Problem, eine Aufgabe.
Es geht ihr nicht gut. Sie weiß ihre Aufgabe nicht zu bestimmen. Ihr Mann küsst sie gern auf die Stirn und auf die Augen. Da hat sie ihn neulich gefragt: «Sag mal, Rudi, wenn du so an meiner Fassade herumschnupperst, riechst du da was von bürgerlichem Rigorismus dahinter?» Er begreift ja rasend schnell. Hat gleich gewusst, dass sie Redlichs Stachel gezogen haben wollte. Er hat gelacht, geraderaus hat er gelacht. Und hat gesagt, sie wäre wohl ein bisschen nicht ganz gescheit. Das wäre nun bei Gott nicht mehr ihr Problem. Das hätte sie wohl hinter sich gelassen wie die Fußspur im Sand. Na klar: Proletarisch könnte sich keiner im Nachhinein taufen lassen, der nicht unter proletarischen Verhältnissen aufgewachsen wäre. Aber das Sozialistische, das schlüge jeder Herkunft ins Blut, vorausgesetzt, man wollte dafür sein und dabei sein, und zwar bedingungslos. «Unser Problem, Johna», hat er gesagt, «liegt im Bedingungslosen.» Das war neulich. Da war «Johna» das Beste, was er hätte sagen können. Da hat sie es erwartet, sehnsüchtig sogar. Aber dieses Neulich ist unendlich lange her. Vielleicht acht Wochen. Noch ehe der Hahn dreimal gekräht (so denkt sie), hat er Johna widerrufen. Johna und das Bedingungslose. Sie war nämlich daran gegangen, ein Buch aus der sowjetischen Literatur zu übersetzen. Ohne Auftrag, ohne Honorar, in der reinen Absicht, es gut und richtig zu übersetzen, es für uns bekannt zu machen und damit auch leidenschaftlich zu verteidigen. Gewählt hatte sie Baklanows Roman «Das Jahr 41». Da ist er gekommen am dritten Tag nach neulich, nachdem das zweite Kapitel bei ihr zu Papier stand. Da ist er in ihr Zimmer gekommen und hat sich auf dem blauen Teppich ergangen und ist auf den blauen und grünen Fischen herumgetreten und hat gesagt: «Ich weiß nicht, Lea», hat er gesagt, «ich weiß nicht.» Dann hat er gar nichts mehr gesagt, dann ist er eine ganze Weile hin und her gelaufen. Und dann hat er gesagt, es wäre schon ein gutes Buch. Und ihre Übersetzung wäre prachtvoll, soweit er’s beurteilen könnte. Aber es wäre kein Schullesestoff für uns. Und hat ziemlich hilflos ausgesehen dabei.
Seit diesem Tag geht es ihnen beiden nicht gut. Seit diesem Tag neulich vor acht Wochen ist das Spiel gestört. Ihrer beider schönes, großes, wahrhaftes Zusammenspiel, das so besonders sein kann, wie es doch allgemein ist unter uns. Dieses Findespiel der richtigen Zutrefflichkeiten gegen das Zwielicht. Dieses Steigspiel gegen die träge Erdenschwere des bloßen Natürlichen. Dieses Stehspiel gegen die Gewöhnlichkeit der Überforderung. Dieses Bleibspiel gegen das Vergängliche. Dieses Frage- und Springpunktspiel unserer Aufgaben. Dieses Spiel, das sowieso ständig im Gange ist, ob wir dazu lustig sind oder nicht. Wenn wir es nicht beherrschen, beherrscht es uns. Wenn wir nicht aufpassen, spielt es uns auf Hinz und Kunz hinaus oder auch auf Weltnabeleinbildungen. Wir müssen aufpassen. Wir müssen den zutreffenden Fragen gewachsen sein, mit denen die uns betreffenden Aufgaben alle naslang neu anfangen. Das sind im Wesentlichen die untrennbar zusammenhängenden Fragen: Was weißt du? - Was tust du? - Wer bist du?
Die Sache hat Tradition. Josef Sagan zum Beispiel erzog damit seinen Sohn Vincens. Und Vincens ist wohl immer noch sein, Hagedorns, bester Freund, auch wenn die beiden nur noch selten zusammenkommen. Und auch angesichts der Tatsache, dass sich Hilde, Hagedorns erste Frau, unter dem Einfluss dieses seines besten Freundes von ihrem Mann abwendete. Sie hat später einen anderen geheiratet und ist mit dem anderen in den diplomatischen Außendienst gegangen. «Was weißt du von deinem Mann?», sprach Vincens seinerzeit zu Hilde.
Womit vorab nur gesagt sein soll, dass man aufpassen muss, dass auch dieses Spiel der Tücke nicht entbehrt, die bei jedem ernst zu nehmenden Spiel zwischen Mitmachen und Meistern lauert. Vincens ist gleich nach dem Studium nach Berlin berufen worden. Dort lebt und arbeitet er heute noch. Heute im Bereich des Ministeriums des Innern, ziemlich höher oben. Da kann es zeitweise weit sein nach Berlin. Mit Vincens’ Vater, mit Josef Sagan, treffen sich die Hagedorns öfter. Er im Bezirkstag, wo er als Abgeordneter eine Kommission leitet, sie in gemeinsamer alter Freundschaft zu Hladek. Mag sie den Jaroslaw Hladek aus Prag auch intimer kennen, Josef Sagan kennt ihn jedenfalls länger, auch was das Spiel angeht. In der Nazizeit lebte Sagan der Ältere kreuzgefährlich, da musste er schon wissen, wie der Hase läuft. Wenn wir sagen, er war die ganze Zeit Verbindungsmann und niemals isoliert, dann weiß jeder, wie gefährlich Josef Sagan in der Nazizeit lebte. Und noch einen Sohn großzog, den er in die Nazischule schicken musste und der dann doch im entscheidenden Augenblick wusste, was er zu tun hatte.
Aber auch ein Josef Sagan ist nicht als Verbindungsmann auf die Welt gekommen. Und außerdem traf ihn das Unglück gleich doppelt. Erst starb ihm die junge Frau an Krebs, dann geriet er mit der rechten Hand in der Lokomotivschlosserei in die Fräse. Weiß der Teufel, was er hätte anfangen sollen, wenn da nicht der Zoltan Kerzlfinger wäre gekommen und hätte gesagt: «Nu, was würd’ste machen, Josef, wenn ich dir sag’, kenntest kommen zu mir ins Geschäft, kenntest handeln mit Nippes, schöne alte, neie, kenntest ehrlich Zaster machen mit der linken Hand?» Die Lehrzeit bei Zoltan Kerzlfinger war so knapp bemessen, wie dessen Lebenszeit schon knapp bemessen war: auf drei Monate noch und einen halben. Da kann einer viel lernen, aber nicht genug. Josef bekam den konfiszierten Trödelladen mit der Auflage, Ordnung und Sauberkeit da hineinzubringen. Er nahm ihn auf Kredit, ehe ihm ein andrer zuvorkam. Und leben musste man auch. Und dem Zoltan, wenn der noch ein Wort hätte mitreden können, wäre es mit der Nachfolgeschaft von Josef noch immer am liebsten gewesen: Bis eines Tages der Vater Josefs erschien, der auch Josef hieß, und meinte: «Was würdest du sagen, mein Junge, wenn wir deine Budike ins Netz spannen? Ein Geschäftsmann muss doch öfter über Land, mal hierhin, mal dorthin. In Berlin gibt’s schöne alte Klamotten, in Dresden, in Prag, vielleicht sogar in Brüssel. Man muss nur den richtigen Riecher haben ...»
So kam es, dass Josef Sagan sich sehr bilden musste in seiner Branche. Jede Gelegenheit war ihm recht dazu. Fragte auch einmal den im besetzten Prag vorläufig sicher untergetauchten Hladek: «Was tätest du, wenn du an meiner Stelle wärst und irgend so ein gebildeter Gestapo-Heinrich fragt dich zwecks Überprüfung der Seriosität zum Beispiel nach dem Kunstwert dieses Tabaktopfes?» Hladek besaß ein handliches zylindrisches Keramikgefäß mit antiken Bildmotiven, von dem er sich nicht trennte, nicht ums Leben. Es besaß keinen hohen Kunstwert, aber für ihn vertrat es Lebenswert. Weil es mit der Erinnerung an Cora zusammenhing, das letzte Stück war, das er von ihr besaß. Er nannte es den schönen Topf. Cora hatte ihre «Sächelchen» darin aufbewahrt: das Kinderfoto von ihr, das ins Medaillon gefasste, ihre ersten Ohrringe, ein Bündelchen schwarzes Zopfhaar, mit gelbem Band gebunden, den Trauring ihrer Mutter, die nie verheiratet war, einen Milchzahn, eine schwarze Klaviertaste, die Senkel der Schuhe, in denen Hladek sie das erste Mai besuchte, die sie ihm aufgebunden hatte. Von all diesen und noch anderen Dingen konnte Hladek nicht reden, das versteht sich. Er belegte den Kunstwert des schönen Topfes mit Histörchen, die er schlechtweg erfand. Das heißt, er brachte den Topf nachträglich in den Besitz historischer Berühmtheiten und mischte der landläufigen höheren Schulbildung angemessene Kenntnisse mit schwer überprüfbaren, Eindruck erweckenden Zusätzen trivialer und sentimentaler Natur, mit Lutschbonbons also. Hladek brachte Napoleon ins Spiel. «Napoleon weinte, als er dieses Gefäß, das ihm als Schminktopf gedient und das er wohl Josephinen zu verdanken hatte, nach der verlorenen Völkerschlacht bei Leipzig, am Spätabend des 18. Oktober des Jahres 1813, dem Herzog von Bassano vermachte. Man hatte dem Kaiser einen hölzernen Schemel gebracht, auf dem er bald danach, erschöpft von den Anstrengungen der letzten Tage, in Schlummer sank. Seine Hände ruhten, nachlässig gefaltet, im Schoß. Er glich in diesem Augenblick jedem anderen unter der Bürde des Missgeschicks erliegenden Menschenkinde ... Doch wüssten wir nichts von alledem, wenn jener Herzog von Bassano den Edelmut seines Kaisers nicht umgehend zu Geld gemacht hätte. Eine seiner Ordonnanzen brachte den Topf noch an dem folgenden Tage an den Mann. Und zwar an den Leipziger Maroquinfabrikanten - ah, das zergeht auf der Zunge, ja, nicht wahr? also an den Maroquinfabrikanten namens Dietrich. In dessen Küche hatte tags zuvor eine Granate aus französischem Geschütz eingeschlagen. Sie war aber glücklicherweise nicht explodiert. Jener Dietrich nun ließ es sich angelegen sein, dem kostbaren Gefäß eine Hülle aus feinstem Ziegenleder anzupassen und der Hülle des Kaisers Adler aufzuprägen. An die hundert Jahre trug das Gefäß diese Konservierung. Und das, mein Herr, erklärt auch die Untadeligkeit seines Zustandes ...» Darauf verabfolgte Hladek noch die Quintessenz: «Der Kunde, den du fürchtest, Josef, dieser gebildete Typ, den brauchst du nicht zu fürchten, wenn du ihn kennst. Kratze ihn, und der Kleinbürger kommt zum Vorschein! Wonach verlangt’s ihn denn, diesen Typ, wenn er auf Kennerschaft aus ist? Es verlangt ihn nach den Intimitäten der Noblesse, nach dem, was ihm eine Träne in die Hosen treibt: nach der Feinheit der Gewalttätigen, ja, nicht wahr?»
Dem Josef Sagan hat diese Steh-Spiel-Lektion über die Psychologie der Halbbildung machtgespickter Kleinbürger später in Polen unter anderen Umständen tatsächlich einmal das Leben gerettet. Heute ist er staatlicher Leiter in der Stellung, die, wenn er mit einer Abordnung wohin kommt und es findet eine Begrüßung statt, bereits zu der protokollarischen Wendung «An der Spitze mit ...» veranlasst. Mithin gehörte er auch dem Einsatzstab der Bezirksleitung der Partei an, darüber hinaus der Volkskammer. Josef Sagan verträgt die Macht mit Persönlichkeit. Aber auch er wird nicht auslernen, sich mit den Gesetzmäßigkeiten der Macht zu vertragen. Und da er das weiß, darf man ihn unter Anwendung der äußeren literarischen Freiheit einen der alten Meister des großen, ernsthaften Stehspiels nennen. Gleicherweise auch den Jaroslaw Hladek, obwohl dieser altershalber bereits aus dem unmittelbar aktiven Spiel ausgeschieden ist und seit Monaten den Hagedorns gegenüber schweigt. Die Frau, die gerade eben Johna genannt wurde, besitzt heute jenen schönen Topf, von dem sich Hladek nicht ums Leben zu trennen gedachte. Das besagt doch einiges. Und da nimmt es auch nicht wunder, dass diese Frau über Hladeks Schweigen, verbunden mit dem postalischen Vermerk aus Prag «Unbekannt verzogen», nachgerade verzweifelt ist. Noch hinzu kommt ihr Verdacht, dass Josef Sagan mehr über Hladeks Schweigen und Verschwinden weiß, als er preisgibt. Sie können mich doch nicht, meint sie, weil ich mich in der Sache etwas aufgerieben habe, einfach aus dem Spiel nehmen wie einen schlechten Stein. Man ist doch nicht Figur, man bewegt sich doch, man wählt doch seine Felder. Und wenn einem der Körper einen Streich spielt, dass man pausieren muss, dann verlangt‘s einen, kaum dass man wieder bei Besinnung ist, erst recht nach Bewegung und Entscheidung. Das Leben reitet schnell, viel schneller als die Toten. Aber die Toten überreiten bald, was das Zeichen «krank» auf seinen Stirnen sichtbar werden lässt.
O diese lebhaften Gesunden, die glauben, sie täten Gutes, wenn sie ihre Aufgeriebenen vorübergehend in die Idylle schicken! Und er! Er, der Doktor der Philosophie Rudolf Hagedorn (Rudi, wie man ihn auf vertrautem Fuße nennt), er hat bei Josef Sagan einen Stein im Brett. Was heißen soll, dass Josef Sagan die Theorie des großen Spiels zu schätzen weiß. Erstens die gesellschaftswissenschaftliche, zweitens die naturwissenschaftliche, drittens die schöngeistige. Am höchsten jene, die erstens, zweitens, drittens in einem praktischen Kopf vereint. Nach solchen allseitigen Köpfen begehrt freilich alles bei so viel Arbeitsteiligkeit in unserer Welt. Bei Hagedorn verhält sich’s so, dass er, als für ihn und seinesgleichen das menschliche Zeitalter anbrach, zugleich und sofort auch das schöngeistige wollte anbrechen lassen, wenigstens im pädagogischen Bereich des neuen Lebens. Er zahlte dabei einiges Lehrgeld und warf sich späterhin in der Erkenntnis, dass es unnötig wehtut, wenn man wegen der Flöhe im Ohr unausgesetzt geflöht wird, zusätzlich auf die Gesellschaftswissenschaften. Zu den Naturwissenschaften ist er nicht mehr gekommen. Des Menschen Wollen ist bemessen. Ein kluger Mann wie er weiß auch wie: wie es die Befreiung der Produktivkräfte vorschreibt und erlaubt. Was wieder heißt: wer das nicht anerkennt - und zwar richtig -, schmeißt sich selber aus dem großen Spiel. Nun immerhin: dieser Hagedorn zählt bereits zu den Vielseitigen. Aber nicht deshalb hat er bei Josef Sagan einen Stein im Brett. Wenn Josef Sagan einen Mann für seine Mannschaft sucht, dann fragt er nicht wie weiland Napoleon Bonaparte bei Anstellung von Generälen: «Hat der Mann Glück?» Solche kaderpolitische Metaphysik erlaubt sich ein Josef Sagan nicht. Er geht von dem Satz aus: «Die Gesamtauffassung der Pflicht ist wesentlicher als die Vielfalt der Neigungen.» Doch, doch: auch er hat gelernt, sich am Schlips zu reißen, wie man sagt. Denn als er anfing zu regieren liebte er noch die Bravourmethoden. Wie kam man am Anfang aber auch zu Elektroden oder Frischgemüse für die Arbeiter, wenn nicht mit Bravour. Wenn am Anfang der kollektive Leitungsstil in die Binsen ging, profitierte in der Regel immer noch die neue Ordnung. Aber wir leben schon lange nicht mehr von der Hand in den Mund. Heute heißt es: Was tust du, Josef Sagan, du an der Spitze, da du weißt, unsere Energiebasis, die Braunkohle, ist in absehbarer Zeit erschöpft? Was tust du, da du weißt, die Substrukturen aller Städte im Bezirk sind veraltet, die Leitungssysteme fassen den Mehrbedarf nicht mehr, die Straßen nicht mehr den Verkehr, die Häuser nicht mehr die Menschen, obwohl gebaggert und gebaut wird Tag und Nacht? Was tust du, da du weißt, der Mensch lebt nicht vom Brot allein? Du musst von der Gesamtauffassung der Pflicht ausgehen und dein Kollektiv danach bilden. Und musst trotzdem wachsam sein, höllisch aufpassen musst du sogar, dass die Pflicht der Neigung, der Liebe und allem Bedürfnis nach dem Schönen nicht über den Kopf wächst ... Da hätten wir ein paar Spielsätze nachgesprochen, die den Josef Sagan betreffen. Teils von ihm selbst aufgestellt, teils von dem Theoretiker Hagedorn und teils von ihr, die eben Johna genannt wurde. Für sie ist kennzeichnend, dass sie den zuletzt aufgestellten Satz ins Spiel bringt: «Und musst trotzdem wachsam sein, höllisch aufpassen ...» Und so weiter. Das heißt nicht, dass die beiden andern diesen letzten Satz nicht auch ins Spiel brächten. Sie bringen ihn durchaus, nur in anderer Betonung. Hagedorn zumal in einer vornehmlich wissenschaftlichen Betonung. Wohl weil er denkt, es gäbe falsche Akzente, wenn er so einen Satz leidenschaftlich betonte. Da könnten unsre Leute, die immer scharf hinhören, wenn es um die Regeln geht, doch denken, wir müssten uns einen solchen Satz ganz besonders zu Herzen nehmen, weil wir nachlässig damit umgingen. Seiner Meinung nach gehen wir überhaupt nicht nachlässig damit um. Seiner Meinung nach könnte das unsere Kulturwissenschaft anhand unserer Kulturpolitik eindeutig widerlegen. Im Prinzip hat er damit auch recht. Und sie weiß auch, dass er im Prinzip damit recht hat. Und beharrt dennoch auf Leidenschaftlichkeit der Betonung gerade dieses Satzes. Auch muss gesagt werden, dass sie der gängigsten Spielformel «Im Prinzip recht haben» nur argwöhnisch vertraut, ob es ihr nun zum Vor- oder zum Nachteil gereicht. Einmal ist sie bei kaltem Wetter in einem Kurheim gewesen und hat in ihrem Zimmer gefroren. Auf ihre Bitte um Abänderung der kalten Zimmertemperaturen hin erschien der Kurheimleiter und wies ihre Bitte wie ein Ansinnen mit den unnachahmlich freundlichen Worten «Im Prinzip ist geheizt!» zurück. Denn wenn man die Heizung längere Zeit anfasste und kein böswilliger Mensch sein wollte, musste man zugeben, dass tatsächlich etwas geheizt war. Und im vorigen Jahr und im Zusammenhang mit dem, wie er sagt, «Notwendigen» auf der Pflasterstraße boten ihr Hagedorn wie Sagan hinreichend Gelegenheit, ihr argwöhnisches Vertrauen ins prinzipielle Rechthaben voll auszuspielen. Da konnte sie auftrumpfen: «Da könnt ihr mal sehen, ihr Helden, wie ihr prinzipiell auf die Nase fallen könnt, wenn ...» Es geschah in einer Sitzungspause auf dem Korridor. Josef Sagan erwischt den Rudi Hagedorn beim Rockzipfel und hält ihm empört ein Zeitungsblatt unter die Nase, eine Prager Zeitung, eine literarische. Übersetzt ihm mit Widerwillen vor den Worten, die er übersetzt, was er sich rot angestrichen hat. Der Artikel, von Literaten verfasst, tut sich linker als links und gipfelt salopp in der Forderung, den amtierenden Präsidenten der Republik zum Rücktritt zu veranlassen. Sagan ergänzt durch zornigen Kommentar: «Da kommen sie wieder mal an, diese Artikulierer! Rote Schärpen um den Bauch, Revisionismus aus der Flüstertüte und Konterrevolution im Hinterkopf! Schreien Demokratie und meinen die Liquidierung der führenden Rolle der Partei! Die Taktik des Trojanischen Pferdes! Wie gehabt!» Und flucht Unwiederholbares, sagt, was Hagedorn das erste Mal hört, dass er, Sagan, illegale Kontakte zu ihm, dem heutigen Präsidenten, dem damaligen Sekretär der Prager Bezirksleitung, hatte, den letzten kurz vor dessen Verschleppung ins KZ Mauthausen. «Und wenn er mich als Präsident auch nicht zum Kaffee eingeladen hat! Und wenn er Fehler gemacht hat! Ihre Tintenfinger sollen sich diese Artikulierer an sich selber abwischen! Unsre Fehler sind unsre Fehler! Und die werden von unsren Parteien korrigiert und nicht von der Boulevardpresse!» Josef Sagan hatte sich aufs Äußerste erregt. Er lief Hagedorn ein paar Schritte davon, als wollte er ihn stehen lassen, als ärgere es ihn jetzt zu allem Ärger noch, dass er dem jüngeren Genossen überhaupt davon berichtet hatte. Kam aber zurück. Hatte sich zur Ruhe gezwungen. Konnte schon wieder das Zeitungsblatt einhändig falten und in die Tasche schieben wie ein beliebiges. Brachte seine Schlussfolgerung, dagegen müsse man um des Prinzips willen auftreten, auch hier bei uns, schon ganz beherrscht vor. Wurde erneut heftig, aber auf andere Art, als ärgere er sich über eigene Kinder. Fand es «dünne», dass sie Genossen von der Agitation und Propaganda empfohlen hatten, die Sache nicht hochzuziehen, nicht öffentlich in der Presse und vorläufig auch noch nicht parteiintern. - Und konnte sogar wieder ein Spiel aufmachen:
«Also was tust du da, Rudi, falls es dir auch ums Prinzip geht?» Es geschah in der Sitzungspause auf dem Korridor, dass sich der Josef Sagan und der Doktor Hagedorn um des Prinzips willen verschworen: «Zwei sind viel, wenn es gegen eine Empfehlung geht. Aber zwei sind noch keine Plattform. Jeder von uns zweien wird in der nächsten Versammlung seiner Grundorganisation - gleichgültig, welches Thema im Referat behandelt wird - zu dieser revisionistischen Machenschaft Stellung nehmen. Namen und Einzelheiten werden nicht genannt. Es wird prinzipiell gesprochen. Wenn wir richtig läuten, hören es die Genossen auch zusammenschlagen. Und Hand drauf!»
Und schief ging’s. Weil die Wahrheit konkret ist und demzufolge auch das Prinzipielle. Nicht dass die zwei mit ihren, wie hinterher eingeschätzt wurde, «subjektiven» Diskussionsbeiträgen eingebrochen wären. Aber immerhin. Mit solcher Einschätzung zollt man höchstens Künstlern Lob, Politikern niemals. Es ging nicht schief, es ging zu glatt. Denn es verdrießt, zu fragen, oder man denkt, es schickt sich nicht, zu fragen, wozu konkret ein geachteter Genosse gesprochen hat, wenn er im Prinzip richtig gesprochen hat. «Himmel, hast du keine Flöte! Das haben wir doch auch schon vorher gewusst ...»
«Da könnt ihr mal sehen, ihr Helden, wie ihr auf die Nase fallen könnt, wenn ihr das Prinzip, das ein brandhelles Ding wie eine Fackel ist - ja, wie eine Fackel! -, wenn ihr das nehmt wie das Messer, das eiskalte Wasser schneidet bis auf den Grund. Da könnt ihr mal sehen ...»
«Nun sehen wir’s doch aber auch erst recht!»
O ihr lebhaften Gesunden! Ihr fühlt euch noch immer wohl und eins mit euch selbst, wenn ihr eure Patzer erkennt.
Nein, außer Johna nichts Unerwartetes. Johna ist sein ganzes, unbedingtes, unteilbares Eins-Sein mit ihr. Das ist, dass er sich an sie hingegeben weiß und fühlt und ihre Erwiderung vorausnimmt. Ihrer beider Ehe geht ins zwölfte Jahr. Ungeschehen und undenkbar bis jetzt, dass sie Johna hätte jemals nicht mit Johna erwidern können. Da ist sie eine Schlagfertige. Da bringt sie es fertig, ihm drei Johna-Steine für einen hinzugeben. Aber er hat ihr auch schon drei für einen hingegeben. Seltener als sie ihm. Noch oft genug, dass keine Dankbarkeit, von keinem keine, die Schalen ungleich gemacht hätte. Johna duldet nicht, dass Dankbarkeit geschuldet bleibt. Wer ist denn dann der Schuldner?
Was tust du, wenn der große Stein zurückrollt?
Solange Johna da ist, rollt der große Stein nicht zurück.
Mit Johna kommt ins Spiel, was profan Lebensgefühl genannt wird, das Wissen unseres Wissens. Mit der entsprechenden heiligen Nüchternheit gesagt: unser Glaube, der Glaube an uns selbst. Und glauben kann man nur an eine große, unbesiegbare Kraft. «Ich weiß, Lea, dass du solchen Worten wie Glauben, wie Kraft, wie Unbesiegbarkeit seit neulich nur noch argwöhnisch vertraust. Wenn ich aber Johna zu dir sage, und du weißt doch, Lea, dass das nur die Lautformel ist, meine Lautformel für mein Lebensgefühl, für meinen Glauben an uns selbst, und du nimmst es an, das Johna, dann nimmst du doch dich selber an - und mich - und uns - und alles das. Und du bist bei den lebhaften Gesunden, wie du uns nennst, bei dir, mitten unter uns ...»
Solche Einsatzworte hatte er vor drei Tagen gebraucht, als sie von Füßlers Begräbnis zurückgekehrt waren, als er ihre tiefe Angst spürte, dass sie der tote gute, alte Mann bald überreiten wird. Die Toten treiben auch ihr Spiel. Nicht unter sich, mit uns treiben sie’s. «Die Tradition aller toten Geschlechter lastet wie ein Alb auf dem Gehirne der Lebenden.» Diesen Satz hätte er ihr auch zitieren können. Er wollte aber das Wort «tot» nicht in den Mund nehmen. Er war aufmerksam. Johna ist auch seine Aufmerksamkeit. Sie wird es jedermann bestätigen: In diesem letzten Jahr seit ihrer Herzgeschichte war er aufopfernd aufmerksam zu ihr. Ihm selbst aber wird sie es nicht bestätigen.
Ihm wird sie etwas anderes sagen. Zu unerwartet dieses Johna jetzt. Oder zu lang erwartet, zur Unzeit gebraucht.
Als sie nach seiner Hand tastete, hat sie ihn «Rux» gerufen. Vor sehr langer Zeit, vor zwölf Jahren und länger, hat sie einmal mit diesem Wort zu spielen versucht. Rux war ihr nichtsnamiger Spielstein. Rux heißt niemand, irgendein Rudi X. Vor sehr langer Zeit hat sie ihn nur mit nichtsnamigen Wörtern gerufen und nach seiner Hand getastet. Wenn sie ans Fenster ginge, dann könnte sie noch genau die Stelle sehen, wo es gewesen ist zum Beispiel: da unten in dem Schulgarten unter den Holzbirnen. Da ist er davongelaufen: entsetzt, verwirrt, trotzig, kläglich, kurz entschlossen, mit sich Schluss zu machen, wenn er schon mal niemand ist. Unterm Baum der Eule in der großen Kurve hat es ihn aber wieder ermannt. Da hat er sich zum Schlafen ins Gras gelegt. Und zu sich selber hat er wohl dort gesagt oder hätte es fertiggebracht, zu sich selber zu sagen: Bleib mal lieber schön gesund, mein Junge! Wer ist so einer? Wer ist der schlafende Hagedorn? Wie hat sie ihn gerufen? Wach endlich auf, du Niemand? Das geht doch gar nicht mehr. Dieser alte nichtsnamige Stein ist doch längst unter den Estrich getreten, ist doch längst zerbröckelt und zerfallen. Also wie denn? Wie das Mädchen ihren Surabaja-Johnny ruft: ... warum bist du so roh? Nimm doch die Pfeife aus dem Maul, du Hund! Denn ich liebe dich so? Der Stein wäre noch nicht unterm Estrich zerbröckelt. Der hat nur seine Spielbedeutung etwas gewandelt: nicht mehr so sehr «Geld machen wollen und dabei roh werden» als vielmehr herzloses Verhalten bei Geltungsdrang. Mit dem Stein hätte sie gegen Hagedorn ins Leere gezogen. Zu entscheidenden Zügen braucht man Steine mit genauer Zutrefflichkeit. Nein, sie hat überhaupt keinen Stein gezogen. Sie hat nur gesagt, dass es ihr ja die Kehle zuschnürt, dass sie nichts Zutreffendes anzubieten hat, nichts. Und er hat es schon gehört, als sie nach seiner Hand tastete und ihn «Rux» gerufen hat. Und hat sich nicht mehr entsetzt und ist nicht mehr davongelaufen, ist weise geworden unter der Hand, hat Johna zu ihr gesagt, hat den Johnastein gezogen, der bedeutet: Wo nimmst du, wenn es Sommer ist, die Eisblumen her? Vor zwölf Jahren, als sie endlich nach ihrer toten Zeit herüberkam in dieses Land mit dem Köfferchen, in dem Geld war und ihr schöner Topf, und sie trotzdem wieder auf «Rux» zurückfiel, da hat er ihr den nichtsnamigen Stein noch mit einem anderen nichtsnamigen Stein und genauso bösartigen schlagen wollen: mit dem Stein Abacchai. Das ist der Stein, der eine bezeichnet, die nicht mehr lieben kann. Den Stein nahm sie aber nicht an, den nicht. Es dauerte auch noch eine Weile, bis sie glücklicherweise fanden, was auf sie beide noch zutraf: Ihre Talismane, an schönen Kettchen um den Hals getragen, gläubig bis in diese Zeit schon später Jugend, äußerlich nicht miteinander zu vergleichen, entdeckten sich ihnen auf einmal als ein und derselbe Plunder: Aufrichtigkeit in Eigenliebe gefasst. Danach erst stand ihnen Johna offen.
Es kam ganz natürlich dann mit Johna. Sie ging als Sprachlehrerin an die Schule. Aus unerfindlichen Gründen - das hing mit Jeanne d’Arc zusammen - nannten die Schüler sie bald Johanna. Den Namen hatte sie weg, aber darin lag kein Spott. Darin lag Achtung, die sich wehrte, nicht gerührt zu sein. Übers Jahr wurde ihnen das erste Kind geboren. Sie nannten das Mädchen Jane. Als er seine Frau nach der Geburt das erste Mal sehen durfte und auch nicht gerührt sein wollte und ihn Johanna und Jane in glücklichste Verwirrung setzten, da sagte er Johna zu ihr. Sternstunden, wirkliche, hinterlassen zunehmende Helligkeit.
Ach ja doch! Jede Liebe ist und bleibt erstens ein Widerspruch. Die Sache ist nur, was wissen doch die Liebenden, wenn sie es schon wissen, wirklich damit anzufangen?
«Was wirst du antworten, wenn dich die Kinder fragen?»
«Dass wir Hilfe bringen, auch für Onkel Hladek.»
Da entzieht ihm Lea ihre Hand. Davon will sie nichts annehmen für Johna. «Weißt du, worin unser Problem liegt?», sagt sie. «Unser Problem liegt in der Ökonomie des Vertrauens.»
Dieser Baum der Eule ist eine doppelstämmige Buche. Er steht auf dem Kranz der Außenböschung des großen Horns, ziemlich genau in dessen Scheitelpunkt. Dicht unter dem Böschungskranz durchbricht ein Teil seiner Wurzeln das steinige Erdreich. Die Wurzeln laden aus, krümmen sich krakig und krallig, stemmen sich wieder in den Boden, drücken den Doppelstamm und die eine mächtige Krone gegen den Sturz.
Dieser Baum wirft viel Schatten. Es ist ein heißer Tag geworden, schon am Vormittag ein heißer Tag. Trotzdem gehen nicht viele von den Leuten, die hier warten müssen, in den Baumschatten. Die meisten stellen oder setzen sich lieber dorthin, wo sie etwas von dem sehen können, was da unten auf der Pflasterstraße vor sich geht. Viel Leute sind es nicht. Was kommt schon von Siebenhäuser an einem Vormittag mit Fahrzeugen herunter und will auf die Pflasterstraße. Er hat gesagt, man werde schon durchkommen mit dem Auto. Die Sache verliefe verkehrsgeregelt. Er hat entschieden: Wir fahren heute Vormittag, wie vorgehabt, nach Hause. Die Kinder hätten es lieber ausgenutzt und wären gleich noch ein paar Tage länger geblieben. Nun sammelt sich’s hier an. Hier ist die Absperrung. Es könnte Stunden dauern, es könnte auch schnell einen Durchlass geben, sagt der Abschnittsbevollmächtigte, der hier absperrt.
Unter dem Baum stehen nur Hagedorn, seine Frau, die beiden Kinder und ein Urlauber. «Wenn man bedenkt, was so eine Kiste wiegt», sagt der Urlauber zu ihm, «legen die ein ganz schönes Tempo vor.» Hagedorn nickt. Ihr kommt es vor, als habe er mit Leib und Seele genickt. Nun ja, der Gürtel hält’s zusammen. Noch fest im Fleisch, der Hagedorn, und sauber überm Nierenstück. Nicht viel Bauch, nur etwas im Ansatz. Aber das streckt sich in die Länge, das vertreibt sich in die Schulterbreiten. Das ist massiv zu nennen. Und so verhält sich’s auch zum Kopf. Der lädt im Schädel aus, rundköpfig lädt der Schädel aus und bucklig, zweibucklicht, weisheitsgehörnt die Stirn. Sogar die Oberlippe ist gewölbt. Da springt die Nase, an sich kräftig, nicht sehr vor. Und kurz gepacktes Haar auf dem Schädel, zur Unauskämmbarkeit bestimmt, nicht zur Unverfärbbarkeit. Ist vom Dunkelbraunen schon ins Graugussgrau geraten, ins jugendliche Verdienstmedaillengrau, nach Josef Sagan zitiert. Aber der Mund verhütet, dass der Kopf konsequent ins Bauernschädlige gelingt. Der Mund biegt sich zu fein in die Derbheit. Eine Dame des gebildeten Publikums fühlt sich von diesem Mund immer aufs neue verführt, so stark, dass sie nicht einen auslässt von seinen Vorträgen in der Gesellschaft zur Verbreitung wissenschaftlicher Kenntnisse. Seiner schönen Augen wegen ginge sie da nicht hin. Zuviel Grün im Blau. Solche Augenbildung hält den guten Ton nicht durch, begeistert und befremdet sich, wie’s ihr gerade einfällt.
Der Urlauber sagt ein übriges. «Wenn man bedenkt», sagt der Urlauber, «dass sie voll aufmunitioniert haben.» Kein Nicken diesmal. Darauf sagt Hagedorn zum zweiten Mal an diesem Tag: «Ich denke, wir können wieder aufatmen.» Sagt es unbedacht unter diesem sagenhaften, unberühmten Baum der Eule. Begeht ein Sakrileg gegen Johna. Sie hat es mitgehört. Der Baumschatten wird kalkig. Die Zeichen verlöschen. Sie fühlt sich auf einmal wie absterbend. Aufatmen können, weil Johna ist. Aufatmen können, weil voll aufmunitioniert ist. Mein hoher Herr! Das kann ich nicht verkraften. Er gewahrt aber gar nicht, dass sie sich für den Augenblick wie absterbend fühlt. Er geht mit dem Urlauber die Lage besichtigen. Geht mit dem Mann über die Straße ans Auto, holt das Fernglas heraus. Dann klimmen die Männer über Kraut und Stein die Innenböschung hoch wie Indianer.
Auf dem Böschungsrand sitzen schon Leute. Von da kann man’s im Sitzen sehen. Sogar die Katlene hat sich da ’raufgesetzt, die junge Katlene. Sonst nutzt Katlene jede Gelegenheit zu den Gesprächen von Frau zu Frau. Glaubt sie, der Reinhard würde jetzt auch auf den Straßen sein? Katlene lacht. Wie leicht verraten sie alle Johna.
Der Abschnittsbevollmächtigte sagt, mit dem Motorrad käme man schon durch. Aber der Motorradfahrer, der die Auskunft erhalten hat, setzt den Sturzhelm ab und bockt die Maschine auf. Das ist doch der Baubrigadier. Dass der wieder Motorrad fährt! Dem müsste es doch ein für alle Mal gereicht haben ...
Und der da oben: wie er auf einmal dasteht: breitbeinig, das Glas an den Augen, der lederne Tragriemen hängt wie eine Trense. Und wie die Griffe sitzen: Augenabstand, Dioptrien, Schärfe. Er hat es im Moment geschafft. Kein bisschen Umständlichkeit wie sonst auf unseren Ausflügen. Von der Mechanik wird mir übel. Was ist mit mir los? Sehe ich Eulen in der Sonne flattern?
Sag mir doch, wer du jetzt bist, Hagedorn!
Niemand von den Leuten, die hier warten, hört etwas von ihrem Schrei. Er schon. Er kommt in einer Eile zurück, als wäre ihr etwas zugestoßen. Und als er wieder vor ihr steht, klopft er sich wie ein Junge, der sich den guten Anzug beschmutzt hat, die Hosen sauber. Aber wie die Kinder auf einmal an ihr hängen ...
Die Buche wurzelt im Scheitelpunkt des Großen Horns. Das Große Horn ist eine von den zwei scharfen Kehren des uralten Sträßchens von Siebenhäuser hinunter nach Henndorf. Von den Einheimischen wird das uralte Sträßchen der Ochsenweg genannt. Amtlich heißt es Siebenhäuser Straße. Der andere Name kommt aus längst Vergangenem. Denn mit Pferden, selbst vierspännig, haben die Fuhrleute, wenn sie früher mit schwerer Ladung unter der Plane von der Leipziger Messe oder von den Salinen im Hallischen hier ankamen und mussten noch über den Kamm ins Böhmische hinein, den steilen Stich nicht bezwungen. Da mussten Ochsen als Vorspann her, die stämmigen, schrittbeständigen Henndorfer Zugochsen, die den Berg über den Berg zerrten, wenn es sein musste, den zackigen Wegegeist, den Knöterich, das spindeldürre Männchen, das sich schwer machen kann wie der Berg.
Der Ochsenweg ist, wie er heißt. Die neue Straße hebt sich klüger übers Gebirge. Wiewohl schon vor einem Menschenalter angelegt, gilt sie in der Gegend eben als die neue Straße. Am Ortsausgang von Henndorf, bei den Aufzuchtställen der Genossenschaft lässt sie den alten Ochsenweg rechter Hand liegen, um den mächtigen Ansprung hinauf nach Siebenhäuser zu tun. Und nun, da das Notwendige auf der neuen Straße unterwegs ist, nimmt sie den spärlichen zivilen Verkehrsabfluss von Siebenhäuser her nicht mehr auf. Bleibt also den Leuten, die mit Fahrzeugen von daher in die landeinwärtige Richtung unterwegs sind, denen, die sich auf den Rand der Innenböschung hingesetzt haben, und denen, die unter der Buche stehen geblieben sind, vorerst nichts als das Warten. Es könnte doch noch eine Stunde dauern oder auch zwei, lässt sich der Abschnittsbevollmächtigte vernehmen. Auf dem Sträßchen kann auch keiner mit dem Fahrzeug wenden. Wenden oder mit dem Rückwärtsgang nach oben, was nützt das schon. Oben in Siebenhäuser hinter dem alten Zollhäuschen, in dem die Katlene mit ihrer Mutter wohnt, verödet der Ochsenweg. Der ist, wie er ist: eine steile, geschotterte, steinsandige Beschwerlichkeit, eine zehrende Kurzweil allenfalls, höchstenfalls, aufwärts wie abwärts. Oben durch den Siebenhäuser Wald hin ist das Gefälle sanft. Doch kaum aus dem Wald ausgetreten, schießt der Weg kopfheister, ohne sich noch ein paar Meter zu besinnen, über die freie Henndorfer Höhe, den sogenannten Buckel, hinunter ins Tal. Die beiden Kehren, die der Weg nun doch dem Berg abringt, werden, krumm genug, wir haben es schon gehört, für das Kleine und das Große Horn befunden.
Die Buche, unter der die Frau mit den Kindern stehen geblieben ist und den Mann etwas gefragt hat, laut und deutlich und doch nicht für alle Ohren zu hören, wird geradehin der Eulenbaum genannt. Nur die Feinhörigen belieben vom Baum der Eule zu sprechen. Sie haben ihren besonderen Grund dazu, der freilich nicht in der Paukenhöhle oder im Schneckengang des Gehörorgans zu suchen ist. Dergleichen Feinhörigkeit findet sich im höchsten Nervensystem ganz oben an und ist eigentlich nichts Besonderes, könnte vielmehr jedermanns Beschaffenheit und Sache sein. Im Natürlichen fängt alles an. Unten im Straßendamm und auf den Wiesen hausen die Feldmäuse, oben in der Krone nistet ihre Herrschaft, das Volk der Eulen und Uhus. Geht man in der Dämmerung oder nachts, wenn der Mond scheint oder nicht scheint, auf der schmalen Straße unter dem Baum durch, wird einem leicht nicht ganz geheuer. Da verdunkelt sich der Weg. Da sucht man den Mond, ob er scheint oder nicht scheint, da möchte man etwas Laterne und blickt unversehens in ein paar glühgelbe spitzige Augen.
Der alte Füßler, der nun seit drei Tagen auch unter der Erde liegt, erzählte sagenhafte Dinge, die da unter dem Baum der Eule geschehen sein sollen und bis auf den heutigen Tag noch kein Ende gefunden hätten. Schulmeister und Musikant, wie er gewesen ist, befleißigte er sich des großen Steh-Spiels auf seine Art. Er lernte das Spielen noch auf dem Spinett, vermochte auch noch die Gambe zu bedienen und liebte den weichen Strich des Cellos. Unter solchen Tönen fügte er die Steine zu Zeichen der Bedeutung und der Erkenntnis aneinander. Hagedorn, sein Schwiegersohn, war einstens sein Schüler gewesen, in miserablen Zeiten war Hagedorn Füßlers Schüler gewesen. Für eine kurze Weile auch zusammen mit Lea. Und für eine längere Weile auch zusammen mit Armin Saliger, dem geschickten Spielverderber. Der hat aber nun auch seine Lektion weg, wie sie an sich alle ihre Lektion weghaben, die jene miserablen Zeiten durchzustehen gedachten mit der siebensaitigen Viola d`Amore. Mit der Gambe, die unter dem Griffbrett noch sieben Resonanzsaiten extra besitzt, die den «Liebesklang» hervorbringen. Mühe haben sie sich schon gegeben, diese Gambenspieler, der Füßler und seine Schüler, der junge Hagedorn und die noch jüngere Lea. Nicht der Saliger. Der hat sich keine gegeben. Der hat immer nur so getan, als gäbe er sich auch welche. Und hat die blutjunge Lea vorübergehend sogar mit seiner Fingerfertigkeit betört. Als sie’s erkennen musste, schlug ihre Torheit um in die allemal durchs Miserable gereizte Einbildung, die Geschlechter täten um der Wahrheit willen am besten, sich zu hassen. Wie gesagt, sie haben alle ihre Lektion weg, diese Gambenspieler, verordnete, verpasste und freiwillig genommene Lektionen. Auf die letzteren lief alles hinaus, wenn sie die drei Hauptfragen des neuen Spiels ums wesentliche Leben halber bestehen wollten. Das kostete unentwegt neue Mühe. Die haben sie sich so oder so auch gemacht, der alte Füßler wie seine älter gewordenen Schüler. Was aber den Saliger angeht, den geschickten Spielverderber, dem zu Recht die härteste Lektion verpasst wurde, so behauptete Hagedorn noch heute aus instinktivem Misstrauen, dass der Saliger wieder nur so tue, als gäbe er sich auch Mühe. Heute nicht mehr mit dem «Liebesklang», heute mit der Loyalität.
Und der alte Füßler, der die sagenhaften Dinge erzählte, die da unter dem Baum der Eule geschehen sein sollen und noch kein Ende gefunden haben sollen bis auf den heutigen Tag, der kam trotz empfangener und trotz der von ihm selber - und nicht schlecht! - gegebenen neuen Lektionen immer noch nicht richtig ’runter von dem alten tragödischen Liebesklang. Seine Rede ging: Vor langer, langer Zeit fand ein Mann, der in der späten Dämmerung den Ochsenweg nach Siebenhäuser hinaufging, unterm Eulenbaum ein totes Mädchen. Es war ein junges Zigeunermädchen, ein überaus schönes mit sieben siebenfarbenen Röcken, mit schwarzseidener Bluse, mit gelbem Schultertuch und glitzernden Ohrringen. Sie lag so schön unterm Baum, als hätte sie jemand in großer Liebe hingebettet, Heckenrosen in den Händen, und war doch erwürgt. Das sah der Mann an den Würgemalen an ihrem Hals. Ihre Stirn fühlte sich auch schon so kalt an wie der Stein im Winter. Den Mann hat’s sehr erbarmt. Er ist schnell gelaufen, die Leute aus Siebenhäuser zu holen, alle guten Leute, die er kannte. Sie sollten ihm helfen, das tote Mädchen gleich unter dem Eulenbaum zu begraben. Denn die Kirche hätte es nicht gelitten, dass eine Zigeunersche auf dem Gottesacker zur ewigen Ruhe käme. Aber als der Mann und die guten Leute, die er aufgetrieben hatte, mit Grabgerät und mit Schaudern im Herzen zum Eulenbaum kamen, war da kein totes Zigeunermädchen mehr. Und nichts war zu sehen von Spuren im Sand, von Fußspur oder Radspur. Der Mann ließ nicht ab zu beteuern, wie er gesagt habe, so sei alles wahr gewesen! Wenn Gott es ihm erlaubte, gäbe er seine Seele dafür! Das hat die guten Leute um so mehr erzürnt. Und wenn er nicht endlich geschwiegen hätte, hätten sie ihn am Ende noch selber umgebracht. So ein Lügner!
Eine Zeit später ging der Mann wieder bergauf nach Siebenhäuser. Als er dem Eulenberg nahe kam, gewahrte er zu seinem Schrecken auf einmal das Zigeunermädchen. Es stand unter dem Baum und sah den Mann dreist an, als käme er ihr bekannt vor. Da wich der Schrecken des Mannes dem Zorn. So hat mich dieses Weibsstück also genasführt, so lästerlich! dachte er. Wie er aber vor das Mädchen hintrat, um ihr Schelte zu bieten, war es ihm, als finge das Mädchen an zu sprechen: «Du hast es doch getan! Sag mir doch wenigstens, wer du bist!» Nach solchen unsinnigen Worten hatte es geklungen. Drauf ist das Mädchen durch die kralligen Wurzeln des Eulenbaums in die Erde hineingegangen. Der Mann, der nun schon gar nicht mehr wusste, was gehauen und gestochen war, stieß mit dem Kopf gegen den Baum, um zu erfahren, ob es ihm wehtäte, ob er nicht selber zum Gespenst geworden wäre. Es tat ihm aber weh, ganz ordentlich.
Nun wohnt es, erzählte der alte Füßler jedes Mal weiter, nun wohnt es, das schöne tote Mädchen, wie eine Trude unterm Baum der Eule. Wohnt dort oder ist tiefer in die Erde gezogen und hat dort nur einen von vielen Ausgängen. Unter der Erde laufen viele Gänge. Auch Stollen, Überhaue, Wasserläufe und wer weiß. Der Ochsbach, der oben im Siebenhäuser Wald entspringt, sucht sich seinen Weg doch auch erst mal unter der Erde. «Ja, ja», sagte der alte Füßler, «die Gänge unter der Erde!» Sie verbinden den Hörselberg und die Schächte der Wismut, die Wälder von Kalaurea und den Buchenwald auf dem Ettersberg, den Munsalvaesche und die Sperlingsberge an der Moskwa, die Wasser des Jordans und die Wasser der Landwehrkanäle, die Seidenstraße und die Salzstraßen. Nord und Süd und Ost und West. Und bei den Buchen treten die Gänge immer aus, immer bei den Buchen. Und bevölkern sich mit den Toten und mit den Lebenden. Und die Toten wollten sich nicht scheiden von den Lebenden, wie sehr die Lebenden den Toten auch die Tür in die Erde wiesen ...
Und die Eulentrude ließe sich die Tür auch nicht weisen. Stiege immer noch die Wurzeltreppe hoch, stellte sich unter den Baum und spräche mit jedem, der bergauf oder bergab an ihr vorbei will, wie sie mit dem Mann gesprochen habe. So unsinnig dieses Gerede aber auch wäre und überhaupt alles ist, ja, nicht wahr, so renne doch jedermann erst mal mit dem Kopf gegen den Stamm, um zu erfahren, ob es wehtäte. Und es täte jedem noch weh, schmerzlich weh, Gott sei Dank ...
Stets kam der alte Füßler nur bis an diesen Punkt, bis an diesen schmerzlichen. Auch wenn er variierte, an diesem Punkt kam er immer an und sank ins Nachdenken. Seinen Schwiegersohn hat er damit nicht gerührt, nicht die Spur. Hagedorn griff diese alte Liebesklang-Spielart lieber mit Ironie an. Nannte Füßler den Eul auf dem Baum der Eule, den Hofdichter und Kanzleirat der Eule, dem alles zur Eingebung wird, wofür die Eule sich ausgibt. Den Hieronymus nannte er ihn, Hieronymus, den Welteneul. Verfertigte einen Vierzeiler «Von des Hieronymus eigener Hand über sich selbst», den er seinem lieben Schwiegervater unter die Cellosaiten steckte.
Zog Tag für Tag wie allemal
- Ahnungen umschwanken mich –
adagio durch mein Journal
einen Hauptgedankenstrich.
Der Eul autorisierte aber nur die zweite Zeile von den vieren. Und Lea meinte, das wäre überhaupt kein guter Scherz gewesen. Warum kam denn Füßler immer nur bis an den schmerzlichen Punkt? Weil er in einem bestimmten Punkt seines Lebens nicht darüber hinausgekommen war und auch nicht darüber hinauskommen wird. Er selber, Füßler, hat über diesen Punkt nie gesprochen. Und Lea weiß davon auch nur im Ungefähren von ihrer Mutter, Füßlers früh verstorbener Schwester. Da ist ein Mädchen in seinem Leben gewesen, auf einem Gut groß geworden, ein frisches, kluges Ding, Kontoristin im Raiffeisenverein. Als Studienreferendar hat er sie kennengelernt und zu seiner Braut gemacht. Sind schließlich schon miteinander verreist. Alles Geld hat er für Reisen mit ihr zusammengekratzt. Hat sie an die klassischen Bildungsstätten in Deutschland, Frankreich und Italien geführt. Griechenland, das schöne, sollte noch. Jedenfalls Weimar intensiv, Berlin, München, Paris en passant, Verona in Ergriffenheit. Zuletzt zum Gralsberg Monsalvaesche. Dort muss er vor seiner Frischen, Klugen wohl auch eine bestimmte Frage unterlassen haben. Denn als sie zurückkamen, verkaufte sie alles, was sie besaß, nahm bei ihrer Raiffeisenbank noch einen kleinen Kredit auf und ging mit einem Landwirtssohn, der sich in Merino-Schafzucht ausgebildet hatte, in die Lüneburger Heide. Füßler sprach nur insofern von dieser Angelegenheit, als ihm kein Lüneburger Heidelied jemals über die Lippen ging. Die Frische, Kluge soll mit ihrem Merinoschäfer nicht glücklich geworden sein, soll sich in ewigen Geldsorgen, im Kinderkriegen und schließlich in Wacholderschnaps rasch verbraucht haben. In der vorigen Woche allerdings, an dem Tag vor seinem unerwarteten Hingehen, verlor der alte Mann ein paar Worte über diese unverjährte Jugendgeschichte. Nur ein paar allgemeine Worte. Und die haben ihn schon aufgebracht. Er hat dann auch gleich von ganz anderen Jugendgeschichten geredet. Immer hat er solche anderen Jugendgeschichten für die eigentliche Geschichte eingesetzt. Oder eben die Eulentrude, die er mit Vorliebe seinem Schwiegersohn wie ein warnendes Beispiel vorführte.
Lea war mit den Kindern gleich am ersten Ferientag nach Siebenhäuser gefahren. Die Hanne Mühlenderlein, die Nachbarin und Hausbesorgerin, hatte geschrieben, sie sollten diesmal lieber keinen Tag verlieren. Der Professor gefiele ihr gar nicht recht. Er habe keine Lust mehr zu laufen, dieser Laufmensch. Nicht einmal in die Pilze wollte er gehen, wo es in die Pilze doch nur ein Katzensprung wäre. Und er habe auch schon immer nach den Kindern verlangt. Aber nicht, dass er klagte ...
Frauen müssen eine bessere Ahnung haben, wie es um jemanden steht. An jenem Tag also, als Lea bei ihm allein war, hat sie darauf angespielt. Füßler saß matt und unruhig in seinem Lehnstuhl am Fenster. Wie im Vorbeigehen hat sie ihn da gefragt, ob er der Eulentrude, die ihm ja immer wieder mal erschienen sein müsste, nicht mal, anstatt sich den Schädel wund zu schlagen, ein vernünftiges Angebot gemacht hätte. Hör mal, ich bin der Theo Füßler. Ich möcht’ dich fragen, was dir fehlt. Ich möcht’ dich aus deinem Erdloch herausholen, verstehst du!
Mit einem roten Stein also, mit einem aktiven, hat Lea auf die wie ein Korken immer wieder hochkommende Geschichte angespielt. Füßler, der Altkontemplative, der alte Blausteinspieler, hätte zu dieser Stunde den roten Stein wahrscheinlich direkt angenommen. In den letzten zwanzig Jahren seines Lebens hat er sich schließlich den Rotsteinen ganz offen gestellt. Aber doch nicht mit dieser matten Unruhe ... Aufgeregt hat ihn ihr roter Stein, dass sie ihm den kalten Schweiß von der Stirn trocknen musste und sie den Zug schon bereute. Sie wollte den Arzt anrufen. Füßler verbat sich die Fisimatenten. Er wäre ein bisschen außer Tritt geraten, weiter nichts. Und das mit dem schmerzlichen Punkt, also da wollte er doch wenigstens gesagt haben: Ein Frauenfeind wäre er sein Lebtag nicht gewesen. Es sei denn, er hätte sich Bilder von den Frauen gemacht, wie sie die bittere Erde nie gehegt, es sei denn. So darin aber ein Vorwurf keimte, gereichte der Vorwurf ihm nicht zur Schande. Nein, auch nichts von Sonderling oder Hagestolz! Damit geschähe ihm ein Unrecht. Dagegen gäbe es auch eine Kronzeugin aus jungen Jahren. Allerdings, diese wollte er nicht mehr beanspruchen. Und wenn er es schon wollte, er könnte es gar nicht mehr.
Also nein. Nichts Absonderliches. «Aber siehst du, Lea - ah, der Gottesackerhusten, der maladige -, sieht du, da ist etwas in unsereinem, das ist nun mal. Das hat zu lange gegolten. In Abessinien sollen die Maria-Theresien-Taler noch heute im Umlauf sein. Das glaubt hierzulande keiner. Ist auch einfach nicht zu glauben ...»
Lea hatte ihm seine Medizin auf den Löffel getröpfelt. Gegen den Gottsackerhusten, den maladigen, verordnete er sich selber das Rechte: Buchenteer, nur Buchenteer. Es war aber das erste Mal, dass er sich das Zeug einflößen ließ und nicht selber nahm. In seiner Aufregung registrierte er das nicht einmal. «Du nimmst mir’s auch nicht ab, Lea, was da noch in unsereinem herumspukt, was einen quält, weil es noch herumspukt. Und nicht mal nur in unsereinem! Nicht mal nur, sag’ ich dir, in unsereinem. Das Ding hat einen langen Atem. Und dein Mann, der nimmt mir’s schon gar nicht mehr ab. Für den ist alles schon passé, ist das alles schon gelaufen ...»
«Na, was denn aber Schlimmes, Väterchen?»
«Ja, wenn ihr einem alten Mann Nachlass gewährt, dann sagt ihr Väterchen, Väterchen. Ihr sollt aber nicht Nachlass gewähren, wenn euch Nachlass hinterlassen wird. Das ist kein guter Zug.» Lea bedrängte ihn, er möchte sich jetzt lieber schonen. Gerade das wollte er aber nicht hören. «Zum Donnerwetter mit dem Schonen! Schont meinetwegen eure starken Seiten, aber niemals eure Schwächen! Hörst du? Warum ist Rudi nicht da?»
«Er hat doch ...»
«Ach, hat, hat, hat! Er hat immer was! Er hat noch mal den Hintern verlorn und merkt’s nicht mal, wenn er sich kratzt.»
«Aber Väterchen!»
«Na ja, es ist doch so mit dem Kerl. Ein Rammeldamm! Ein roter Kanzelhusar ist das! Indessen ... Ja, was ist das, wenn ein alter Mann wie ich in einer Tour anfängt, auf jemand zu schimpfen, und nach der ersten halben Schimpfe ein Komma macht und fortfährt mit <indessen> und anhebt mit Verstehen, hintendrein mit Lob? Das ist doch eine putzige Kruke. Das ist doch, als ob man eine Nadel in einem Luftballon versteckt. Die Nadel, Lea ...»
«Möchtest du Kaffee trinken? Soll ich draußen auf dem Balkon ...»
«Die Nadel, Lea, mit der ich tätowiert bin seit der Zeit, die du gemeint hast. Ich hab’ schon verstanden. Aber er hätte mich fragen ,sollen. Er! Warum er? Weil er über meine alte Geschichte, über das, was mir unter die Haut geätzt ist und bleibt, doktoriert hat. Ja. Und weißt du, was das ist? Das ist es ...»
Darauf gab es noch einmal die schweifende Handgeste bei dem alten Schulmeister. Und das Straffen der Lippen. Und die geöffnete Hand, aus der man sich nehmen darf, was man sich nehmen kann. «Denn nämlich», sagt der alte Schulmeister und Blausteinspieler, «wenn selbst die Raupe sich beflügelt und die Biene schwärmt, so bleibt der Deutsche doch in seinem Fach und kümmert sich nicht viel ums Wetter ... Das, Lea, das sind Nadel und Zeichen meiner alten Geschichte. Nun siehst du’s, ja, nicht wahr?« Wieder einmal gebrauchte er Hladeks «Ja, nicht wahr?», Hladeks unnachsichtliche Verbindlichkeit als seine eigene. Und stieß damit auf den Klang, der ihm fortzufahren erlaubte: «Man muss die Menschen fragen, was ihnen denn fehlt, wenn du’s ihnen ansiehst, dass ihnen was fehlt. Parzival war ein reiner Tor, wenn auch kein astreiner. War zu borniert, dieser Waldknabe und Landstörzer, um schuldig zu werden ein für alle Mal. Fragte den alten Herrn von der Gralsburg eben nicht, was dem fehle. Unterließ es. Besaß nicht die Kultur dazu. War zu blöd im alten Sinne dieses Wortes. Peinlich. Aber in solchen Fällen geben die Erzieher die Hoffnung nicht auf. Und siehe da: Über vielerlei Umwege klappte es doch noch mit dem Kerl. Plötzlich wandelte ihn etwas an, dämmerte ihm etwas. Setzte sich auf den Baumstamm - du erinnerst dich -, ließ Bohourt und alle edle Balgerei vorübergehend sein und starrte auf die drei Blutstropfen im Schnee - Ah, was wollte ich sagen? Natürlich: dein lieber Rudi. Der hat mich mit Absicht nie gefragt, was mir fehlt oder was die Fabel von dem toten Mädchen soll, das nicht zur Ruhe kommt. Mit Absicht hat er das nicht. Hat über Hölderlins Gesellschaftsidee promoviert, hat nach meiner Meinung mehr dran gefunden, als was wirklich dran zu finden ist. Hat - was mir als Tollkühnheit erschien - den Versuch gemacht, die Taue zu kappen, die uns als Nation an die vielerlei deutschen Miseren fesseln. Unser Volk, hat er gesagt, soll sich von den eisernen Jungfrauen der Nation nicht mehr zerfetzen lassen. Soll es nicht, braucht es nicht, wird es nicht.
Erledigt, ein für alle Mal. In der Beziehung wird sich für uns nichts mehr abspielen. Und da Sie, hat er zu mir gesagt, da Sie nun auch werktätiges Volk geworden sind, Volksprofessor, Herr Professor, hat sich das auch für Sie erledigt ... Und schwang sich noch höher auf, der Kerl. Wir haben nun mal, hat er gesagt, die geschichtliche Anweisung unterschrieben: Das Unmögliche erledigen wir sofort, damit die Wunder nicht zu lange dauern ... So hat er damals zu mir gesprochen, der frischgebackene Doktor der Philosophie: Macht in der Linken, Diplom in der Rechten, Bewusstsein in der Mitten. So. Und ich habe damals ...»
Dem alten Mann hob es die Schultern. Lachen wollte ihm die Sprache verschlagen. Aber der Husten, der maladige, machte sich gleich über das Lachen her. Verdarb ihm den Spaß, zu wiederholen, was er damals auf Rudis Befreiungsrede erwidert hatte. Soll niemand denken, der Hagedorn hätte sich dazu kein Herz fassen müssen. Natürlich hat er. Aber der Professor hat sich dann auch eins gefasst. Hat dreimal laut Hurra! gerufen wie beim Militär. Das verdross selbstverständlich den Hagedorn an seinem Volksprofessor, sodass er sich kurz für längere Zeit verabschiedete. Erschien erst nach reichlich zwei Jahren wieder. Und da mit dem Fräulein Füßler, sozusagen als zu seiner Rechtfertigung, obwohl das Fräulein ihrem Heimbringer nur kühle Freundlichkeit gewährte.