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Ljuba ist tot. Dass Hellriegel es durch Gitta, seine geschiedene Frau, erfährt, hat Ljuba selbst so gewollt. Und auch, dass er nach Moskau zu ihrem Begräbnis kommt, wo er Andrej, ihrem und seinem Sohn, begegnen wird. Drei Jahrzehnte sind vergangen. Doch was im Jahr 1944 an der bjelorussischen Front mit Hellriegel und Ljuba geschah, rückt plötzlich wieder sehr nah. Ein Tag, fast schon Legende, kettete sie auf Tod und Leben aneinander, zwang sie gemeinsam zum Widerstand, erzwang ihre Kraft, Trennendes zu überwinden. "Mich interessiert die Möglichkeit des Menschseins mitten im Hass", sagt Max Walter Schulz. In seiner neuen Novelle gestaltet er die ungewöhnliche Liebe zwischen einer sowjetischen Fliegerin und einem einstigen faschistischen Soldaten, der sein Vaterland verliert und sich selber gewinnt. Welcher Anstrengung bedarf es für Gitta, die Bedeutung jenes einzigen fernen Tages im Leben Hellriegels zu verstehen, und welch langen Weges bedarf es für ihn, sich ganz zu befreien?
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Seitenzahl: 238
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Max Walter Schulz
Die Fliegerin oder Aufhebung einer stummen Legende
Novelle
ISBN 978-3-86394-639-5 (E-Book)
Die Druckausgabe erschien 1981 beim Mitteldeutschen Verlag Halle-Leipzig
Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta
© 2012 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de
Was ist denn mit den Fischen, Fischfrau? Na Madamchen, legen Sie sich mal bei dem Frost nackigt auf den Tisch. Dann werden Sie sich auch krimmen und nich' lang ausstrecken.
Folgendes hingegen ist eine Liebesgeschichte.
Es war einmal einer - es war einmal keiner.
Mannchen! Mannchen! So eine Geschichte aber auch zu machen. Es geschah ihm vor zehn Jahren in ein paar Tagen und Nächten, dass er einer war und keiner war. Ein Fisch und kein Fisch. Ein Fleisch und kein Fleisch. "Ein wunderbarer Mann für eine Frau, die's gar nicht gibt", sagte Gitta.
Damals vor zehn Jahren sah sich Benno Hellriegel umständehalber wie ehrlichkeitshalber genötigt, seiner jungen Frau eine Geschichte zu erzählen, eine Geschichte, gut genug, sie mit ins Grab zu nehmen. Damals vor zehn Jahren verlangte seine junge Frau Gitta, er möge einen Punkt machen, also einen Schlusspunkt setzen hinter die hornalte, traurig-romantische Geschichte mit der Fliegerin, mit dem schönen, wilden, lieben Mädchen namens Ljuba. Er hätte die Geschichte erlebt und überlebt. Und damit gut. Der Krieg und seine Elegie. Mann, bist du verrückt! Das steht dir als Deutschen nicht zu, als Deutschen nicht. Und das schöne, wilde, liebe Mädchen, das ginge mittlerweile mit ihren Enkelkindern Eis essen. Moroshenoje. Vielleicht ist sie auch zum dritten Mal verheiratet. Oder sie lebt gar nicht mehr. In dreißig Jahren passiert unheimlich viel.
Er saß damals erzählend auf ihrer Bettkante und lehnte Gegenwärtiges innerlich ab. Es war einmal einer...
Ach Benno, Benno! Ich seh' dich an. Wie siehst du aus. So viel Abglanz ist in deinen blauen Augen wie auf deiner metallisch erbleichten Nase. Und nicht von mir, nicht von mir. Aber ja. Der Mensch hebt sich auf, was ihm gefällt. Und wenn's der Schnee ist vom vergangenen Jahr...
Solches hat ihn damals tief gekränkt. Und als er anfing, dies zu hegen und zu pflegen, solches ihm aus ihrerseits gekränkter Liebe zugefügtes tiefes Leid, da ist ihm seine junge Frau davongelaufen, einfach davongelaufen. Von einer Stunde zur andern. Behüt' dich Gott... Ohne sich noch einmal umzudrehn.
Wohl hatte er den Schlusspunkt hinter die alte Geschichte setzen wollen. Hatte er. In aller Redlichkeit. Doch entging es ihm - und ist es ihm bis heute entgangen -, dass es großer Kunst bedarf, den Punkt zu setzen, solang er noch springt.
Mannchen! Mannchen! Das hätte nicht sein müssen, sagt Frau Hertha Hebelaut, geborene Kadreia, gebürtig aus Pillkoppen im ehemaligen Ostpreußen. Sagt es als Nachbarin, Zugehfrau und gute Seele. Sagt es jedes Mal, wenn er stilles Gedenken anzettelt und einen krummen Punkt setzt hinter dem Satz, da sei nichts Rückläufiges zu verzeichnen. Gar nichts.
Wenn es aber nicht zurückläufig wäre zugegangen, nicht bis in die schlimmen Zeiten, wo Krieg und geballert, fragt die gute Hertha, warum dann ist das Salz verschüttet?
Da schweigt er still.
Na, wird schon so sein. Das Gittachen war zu heiß für was Gereifteres von Mann. Nein, sagt er, nicht an ihr, am Schicksal hätte es gelegen. Nimmt alles auf sich. Gottchen nein aber auch, ein breites Stück, was er Schicksal nennt und auf sich nimmt. Kommt damit durch keine Tür. Auch wenn sie offen stünd, sperreweit. Und die Jahre gehen hin...
Heute nun, in der Nacht zum 20. Januar, im zehnten Jahr nach seiner unglückseligen Erzählung, hat das Schicksal einen wirklichen, endgültigen Schlusspunkt gesetzt hinter die alte, wirre, reichlich unpassende Geschichte. Hellriegel wird heute davon erfahren wie aus dem Jenseits. Er wird das Frühstücken vergessen und schmerzhafter unberaten sein denn je zuvor.
Die Fahrt geht zu Tal. Von den Baggern auf den Terrassen des Tagebaus über weite Schleifen hinunter zur Sohle. Er hat vierzehn Waggons Abraum, vierzehn mal fünfundzwanzig Tonnen Last hinter der E-Lok. Was ist das schon. Für ihn ist es das Alltägliche, seit zehn Jahren das Alltägliche. Auf der Sohle wird gekippt, der Graben verfüllt. Das machen andere. Für ihn geht's nach dem Kippen im Schub wieder hoch, dann vorspännig wieder runter. Nichts Langweiliges. Auf der Maschine ist man sein eigner Herr. Fahrer, Abschmierer, Streckenfuchs. Freie Findigkeit schafft kurze Weile. Mal fährst du Abraum, mal fährst du Kohle. Abraum zur Sohle oder zur Kippe. Kohle zum Kraftwerk oder zur Brikettfabrik. Wie die Dispatcherzentrale will. Du bist dem Hauptdispatcher unterstellt, und der Hauptdispatcher ist dir unterstellt. In der Kampfgruppe ist der Hauptdispatcher mir unterstellt. Ausgewogene Verhältnisse. Darauf kommt schließlich alles an. Hellriegel sagt, seine Arbeit mache ihm Spaß. Selten, dass ihm ein Waggon ausgleist. Schon Kunst, wie er abgesacktes oder schlingerndes Gleis befährt. An Medaillen fehlt's dem Manne nicht.
Heute fährt er also Abraum in der Frühschicht. Es ist gleich halb neun. Nach dem Kippen wird er frühstücken. Der Januarmorgen, grau und träge, befällt die aufgerissene Erde wie Mehltau. Im harschen Schnee höhlen rußige Lunker. feuchtkalte Luft und die Abgase von der Schwelerei schlieren gegen die Frontscheiben. Die Scheibenwischer laufen. Es riecht nach Schwefel und Mühsal. Benno Hellriegel wird heute nicht zum Frühstücken kommen. Heute nicht. Das kann er jetzt, kurz vor halb neun, noch nicht wissen. Jetzt fährt er mit dreihundertfünfzig Tonnen Achslast zu Tal und denkt sich etwas aus gegen die Mühsal des trüben Tages. Himbeergesträuch wird wieder rascheln, Eidechsen werden wieder besonnte Kiesel umtanzen. Denken hilft, wenn einem der Spaß vergehen will. Denken und sich gut stehen mit der Natur.
Am unteren Stellwerk steht das Lichtsignal auf Halt. Hellriegel flucht. Tränt der Stellwerker? Der Zug, der vor ihm kippte, hat ihn schon aufwärts passiert. Signal ist Signal. Den Bremsdruck erhöhen. Gefühlvoll. Nicht alle Bremsbacken fassen gleichmäßig. Eisen schleift nun schrill auf Eisen. Die Klangringe auf den Achsen schlagen hell und hart dazwischen. Der Zug puffert, stottert. Nicht ganz zu vermeiden. Ein Mann verlässt das Stellwerk, geht ans Gleis, verharrt dort. Ein Mann im dunklen Mantel, Koppel übergeschnallt, Pelzkappe, Stiefel. Wird einer vom Betriebsschutz sein, der mitgenommen werden will. Der Zug kommt zum Stehen. Der Einstieg zur Maschine befindet sich genau auf der Höhe des wartenden Betriebsschutzmannes. Hellriegel schiebt das Rollfenster hoch: "Was ist? Hast du Erbsen im Schuh?" - "Ein dringendes Telegramm von weither", antwortet der Mann. Die Poststelle in Großgähren, beziehungsweise eine Frau Hebelaut, habe es telefonisch sofort nach Empfang ans Kombinat weitergeleitet. Sie meine, der Inhalt pressiere. Auch betrieblicherseits meine man, dass der Inhalt pressiere. Die Kombinatsleitung böte Unterstützung an. In Form von sofortigem Urlaub, bezahltem oder unbezahltem, sowie bei der Erledigung der Formalitäten. Hellriegel hat sich aus der Fahrerlaube gebeugt und nimmt einen verschlossenen Umschlag mit Werk-Aufdruck entgegen. Es verschließt ihm vollendes den Mund, als er sieht, wie der außerordentlich bevollmächtigte Bote zwei Finger an die Kappe legt, militärisch kehrtmacht und ins Stellwerk zurückstapft. Im Aufrichten sieht er Max, den Stellwerker, oben am Stellwerksfenster stehen, die Szene betrachtend mit gelassener Anteilnahme. Wie der Stellwerker Hellriegels verwirrtem Blick begegnet, zieht er sich sofort vom Fenster zurück. Dem Boten wird er seinen Leib- und Magenspruch verpassen: So ist das Leben! Ein Unglück aufs andere. Kauf dir ein Reitschwein... Hellriegel ist bewusst, dass er eine Unglücksbotschaft in den Händen hält. Die Kollegen bezeigten deutlich scheuen Respekt. Allgemein nur noch bei tödlichen Unfällen zu bemerken. Es kann nur Gitta betreffen. Es kommt von weither. Gitta, seine geschiedene Gitta, ist der einzige Mensch in weiter Ferne... Gitta ist tödlich verunglückt... Vor vier Jahren ging sie in die SU, nach Moskau, als Auslandskorrespondentin beim Rundfunk. Ihr Traum... Im März wären die vier Jahre umgewesen. Da wäre sie zurückgekommen. Sie hatte schon die neue Stellung in Berlin... Vorigen Sommer war sie plötzlich in Großgähren aufgetaucht, einfach mal zu Besuch, zu einem Kaffeeklatsch. Das einzige Mal seit der Scheidung. Einen andern hätte sie immer noch nicht gefunden. Freunde halt. Dann und wann auch mal einen zum Schlafen. Aber alles Nitschewo mit Liebe und so. Ganz aufgeräumt, ganz lustig und heiter war sie gewesen. Fast schon unmenschlich lustig und heiter... Einen kupfernen Topf hatte sie ihm mitgebracht, einen alten, bäurischen, vom offenen Feuer gezeichneten... Hatte Tee gemacht, in der Küche, auf Gas, der musste draußen im Garten getrunken werden. Auf dem Gartentisch der kupferne Topf mit den Feuermalen. Und der Gartentisch musste dorthin, wo der Fingerhut steht. Der stand noch vergangenen Sommer. Der ging ihr bis zur Brust... Dann hat sie fotografieren wollen. Unbedingt. Stillleben: Tisch mit Geschiedenem, mit Topf und blauem, blauem Fingerhut... Wenn nichts Unmenschliches an ihr war, etwas Unheimliches ist an ihr gewesen... Sie versprach Abzüge zu schicken. Nichts ist gekommen. Das ist gekommen. Das. Als letztes. Von ihrer Dienststelle wahrscheinlich... Sie hatte weiter keine Angehörigen... Angehörigen... Angehörigen...
Der Streckenwärter sieht, dass der Kollege in der Fahrerkabine nicht die Kraft hat, den Briefumschlag zu öffnen. Da muss man etwas tun. Da schaltet der Streckenwärter die Strecke frei. Das Leben geht weiter. Der Dreck muss weg. Reiß dich zusammen, Kumpel! Fahr los! Der Kumpel fährt nicht los. Der Kumpel bricht den Briefumschlag auf und liest das Telegramm. Da schaltet man eben noch mal auf Halt. Noch mal kurz. Man wird sehen, wie er's aufnimmt.
Hellriegel nimmt folgenden Text nun in sein Bewusstsein auf: Heute Nacht verstarb Ljuba. Nach Lungenoperation. Ihr Bruder, General Kondratjew, bittet dich, an der Beerdigung teilzunehmen. Freitag, 24. Januar, 14.50 Ortszeit. Friedhof Nowo Alexandrowskoje. Bitte zur Teilnahme ergeht auf ausdrücklichen Wunsch der Verstorbenen. Ljuba stand auch mir nahe.
Erwarte dich Donnerstag, 25., mit Interflug, Flug Nr. 600 am Flughafen Scheremetjewo. Hotelzimmer für dich bestellt. Gitta.
Benno, der Kumpel, nimmt das schwer auf. Stützt sich mit beiden Händen auf den Fahrschalter. Sieht starr geradeaus. Guckt Löcher in die Luft. Mann! So schwer isses nu auch wieder nicht. Wir wissen ja, was drinnesteht in dem Telegramm. Jemand Bekanntes ist verstorben. Kein Familienangehöriger...
"Aber ein General bittet zwecks Teilnahme", sagt der Betriebsschutz. Ja, die Liebe geht seltsame Wege. Und die Züge müssen roll'n. Strecke frei! Du denkst: der General. Der ist ein Zufall in der Sache. Ich denk': seine Geschiedene. Das ist ein Motiv! Vorigen August war sie in Großgähren. Mir nichts, dir nichts... Hellriegel löst die Bremsen. Der Zug kommt wieder ins Rollen. Am Gartentor war sie noch einmal stehen geblieben, Gitta, sein Sommer-Stundengast. Ein wenig verlegen in betonter Unverlegenheit. Ich kenn' sie doch. Fragte nach einem Kupferpfennig am Grunde der See. Sagte, manchmal dächte sie noch nach über die Geschichte mit der Fliegerin. Manches hätte sie schon berührt. Manches käme ihr aber auch ein bisschen unwahrscheinlich vor. "Was hast du zum Beispiel gesagt, weißt schon, in der Schlucht, als du dachtest, sie würden dich umlegen wie den Leutnant. Als du dachtest mitgegangen - mitgehangen. Was hast du gesagt, dass die Killer so schauderhaft lachen mussten?"
Die merkwürdige Frage hatte ihn mehr verdrossen als erstaunt. Sie hatte doch das Ganze schon längst abgetan als Schnee vom vergangenen Jahr. Wozu denn jetzt noch eine Flocke nachliefern? Erst als sie beleidigt tat, und er nicht wollte, dass sie beleidigt wegging, tat er ihr den Gefallen. Sagte noch einmal, was er in der Schlucht zu den Killern gesagt hatte, dass sie so schauderhaft lachen mussten.
Sie hatte ihm die Auskunft mit einem flüchtigen Kuss gelohnt. Das hatte er den ganzen vergangenen Sommer und Herbst über nicht begriffen.
Das begriff er jetzt. Als der Zug wieder rollte.
Gitta Hellriegel besitzt in Moskau eine möblierte Dienstwohnung. Einraum, Küche, Bad, Toilette, kleine Diele. Neubaugebiet. Neuer Außenbezirk der Hauptstadt. Einer der vielen. Mit Metro und Bus zu erreichen. Ohne Schwierigkeit. Für ihn hat sie das Zimmer im Hotel "Rossija" bestellt. Sogar im Januar eine Schwierigkeit. Kondratjews Vermittlung hat sie abgelehnt. Auch sein Angebot, Hellriegels Unkosten in Rubel zu decken. Benno Hellriegel soll ihr Gast sein. Er wird aber, fürchtet sie, ihr Gast nicht sein wollen. Wird niemandes Gast sein wollen. Wird genügend Rubel eintauschen, alles selbst bezahlen. - Wenn er überhaupt kommen wird. Sie ist sich seines Kommens nicht sicher. Eigentlich wünscht sie, dass er kommt. Zugleich hofft sie, dass er nicht kommt. Er kann doch gar nicht anders. Er muss sich von ihr hintergangen fühlen. Auf eine ziemlich gemeine Art. Erst hat er ihr angeboten, sein ureigenstes Eigentum, die Erinnerung an Ljuba, mit ihr, seiner Frau, zu teilen. Sie hat sein Angebot zurückgewiesen, wie eine Beleidigung zurückgewiesen, hat sich von ihm getrennt. Um nach der Trennung das, was sie damals zurückgewiesen, ihm heimlich zu entwenden. Ziemlich schäbig, meine Liebe. Dein Blitzbesuch vergangenen Sommer, dein Geschenk, deine Schnappschüsse im Garten, deine Unheimlichtuerei - und kein Wort von Ljuba. Wer weiß, wie lange du sie schon gekannt hast. Man kommt sich doch nicht von heute auf morgen nahe zu stehen. Du hast Recht, Hellriegel. Aber was weißt du schon. Es war Ljubas Bedingung, dass du nichts erfährst von meiner Begegnung, meiner Freundschaft mit ihr. Sie hat mir mal gesagt, du hättest sie ohne Worte verstanden. Mit dem richtigen, natürlichen Gefühl. Den kupfernen Topf hat sie für dich besorgt. Bezahlt haben wir ihn beide, Ljuba und ich, je zur Hälfte. Sie wollte es so. Sie sagte, pass auf, ob er was merkt. Wir spielen mal zwei lustige Hexen. Wenn er noch das richtige, natürliche Gefühl hat, durchschaut er dich. Dann müsste er sagen, Gitta, müsste er sagen, so einen kupfernen Topf, grad so einen, hätte mir eigentlich nur Ljuba schenken können. Und wenn er das sagt, so etwas Ähnliches, dann bist du von deinem Versprechen entbunden, dann grüß' ihn von mir... Aber nichts hast du gesagt, warst stumm wie ein Fisch. Hast dir nur Mühe gegeben, mich ohne Vorwurf anzuglotzen. Weißt du, was Ljuba dazu gesagt hat? Du wärst alt geworden, hat Ljuba dazu gesagt. Vielleicht wollte sie, dass ich widerspreche. Ich hab' ihr nicht widersprochen. Sie hat weise gelächelt. Manchmal konnte sie unerträglich weise sein. Sagte mir auf den Kopf zu, was bei mir den Ausschlag gegeben hat, von dir wegzugehen. Ich hab' ihr erzählt von dem Kadergespräch damals. Dass du damals amtierender Zweiter der Kreisleitung gewesen bist, dass sie dich zum Studium hierher nach Moskau schicken wollten, dass du abgelehnt hast. Aus persönlichen Gründen. Du wärst nicht der Typ, der mit 41 Jahren noch mal erfolgreich die Schulbank drücken könnte. Und dass du eine junge Frau hättest, um 15 Jahre jünger, die du nicht drei Jahre allein lassen wolltest. Dass du sogar so weit unter'n Strich gegangen bist, das Siedlungshaus in Großgähren anzuführen und die tausend Quadratmeter Garten dahinter. Ljuba war entsetzt, mehr als enttäuscht. Als ich ihr dann sagte, du hättest wirklich Angst gehabt, hierher in dieses Land zu gehen, weil dich hier alles an eine gewisse Ljuba erinnerte, da war sie nicht mehr enttäuscht. Dann hat sie die Brille aufgesetzt - sie war weitsichtig -, ist ganz nahe zu mir hergekommen, hat mir zwei Finger auf den Mund gelegt und mich geheißen, nun endlich stille zu sein. Ich wäre doch nicht so ein fades Weibchen, das einen Mann von solcher Angst nicht hätte kurieren können. "Nein, nein, meine Liebe. Auf die Geschichte mit dieser gewissen Ljuba bist du sogar ein bisschen stolz gewesen. Von daher rührt meine Sympathie für dich. Aber du warst jung und ehrgeizig, wahrscheinlich ziemlich ehrgeizig. Du wolltest in die Welt. Hast du mir nicht erzählt, er wäre schwankend geworden, als man ihm sagte, seine junge Frau sollte das Problem nicht sein? Sie könnte mitgehen oder nachkommen. Könnte in Moskau in ihrem Beruf arbeiten. Das ließe sich schon arrangieren. Und wie er dann doch wieder Nein gesagt hat. Nein, er wollte keine Privilegien für seine Frau. Sie wäre noch sehr jung im Beruf. Es gäbe eine Menge erfahrenere Leute, die es weitaus eher verdienten, ins Ausland geschickt zu werden. Das, meine Liebe, das hast du ihm nicht verzeihen können. Obwohl du wusstest, dass er - in diesem Punkt - moralisch im Recht war..." Und im ganzen, Ljuba? War er auch im Ganzen moralisch im Recht? So eine Perspektive auszuschlagen, hat das noch etwas zu tun mit parteilicher Moral?
Ljuba wohnte draußen bei den Leninbergen. Die Abenddämmerung war angebrochen. Wie jetzt. Sie ist ans Fenster gegangen. Hat das Schattenbild der Stadt betrachtet. Lange. Schweigend. Hat mich dann bewirtet, bemuttert mit Plinsen und Tee und Quittenkonfitüre. Als ich ihr sagte, dass du nach der Scheidung einen Infarkt hattest, meinte sie, das wäre eine natürliche Reaktion gewesen. Sie fragte nicht, ob ich dich besucht hätte im Krankenhaus. Manchmal konnte sie unerträglich weise sein. Ljuba Fjodorowna, die Lehrerin für angehende Lehrer im Fach Geschichte...
Ich müsste ihn anrufen. Er sitzt bestimmt zu Hause genau so erschlagen, wie ich hier sitze. Ich kann's nicht. Weiß nicht, wie anfangen, weiß nicht, wie aufhören. Soll er kommen. Setzen wir den Schlusspunkt am Tag. Ich habe meine Perspektive.
Gitta trägt glattes, kastanienbraunes Haar, liebt schulterlange, linksbetonte Frisuren von lockerer Strenge und hasst Unentschiedenheit. Eigene Unentschiedenheit spürt sie als Kribbeln in der Kopfhaut und als die Einbildung, sie habe Grannen im Haar. Das Durchkämmen und Durchbürsten - die ganze kastanienbraune Pracht über links geworfen - geschieht bei solchen störenden Empfindungen als Übung zur Wiederherstellung ihres seelischen Gleichgewichts, als unbestechliche Selbstkontrolle. Sie durchforscht das Gesicht dabei. Sie ist uneitel und eitel genug, ohne Selbsttäuschung sehen zu wollen, was die Zeit wieder einmal zwischenzeitlich in ihrem Gesicht abgelagert hat. An Retuschierbarem und Unretuschierbarem. Am Abend dieses 20. Januar kommt sie zu der weiträumigen Erkenntnis, dass eine Sechsunddreißigjährige keine Sechsundzwanzigjährige mehr ist.
Vor zwei Jahren, wollt' ich dir noch sagen, feierten wir hier in dieser Wohnung meinen Geburtstag. Zu zwölft. Unter Kollegen. Fünf Ehepaare, Pawel und ich. Eine internationale Gesellschaft. Georgi Lwowitsch, der Altmeister, Journalist und Wissenschaftler, war auch dabei. - Vor anderthalb Wochen haben wir ihn begraben. - Ich wollte jung aussehen, weil Pawel jünger ist. Ich flocht mir einen schönen, dicken Zopf. Hier vor dem Spiegel. Sie fanden mich auch alle jung und schön, und Pawel sogar verwegen jung und schön. Ich wollte betörend sein und war nur betört. Wir tranken und lachten und kamen dann ins Erzählen. Wie das so geht, wenn Ehepaare feiern. Georgi Lwowitsch erzählte aus seiner Berliner Zeit, von den ersten Jahren nach dem Krieg. Andere erzählten von ihren Reisen. Da stachelte es mich, deine Geschichte zum Besten zu geben. Vielleicht nur, weil ich an dem Abend Zopf trug. Ljuba, das schöne, wilde, liebe Mädchen - war's nicht so? -, trug auch Zopf. Ich habe keine Namen genannt, habe getan, als kenne ich die Geschichte nur so vom Hörensagen. Als wäre alles halb wahr und halb erdichtet. Und wenn sie nicht gestorben sind, lautete mein Schluss, dann leben sie heute noch. Als meine Gäste gingen, nahm mich Georgi Lwowitsch beiseite. Mädchen, sagte er, du weißt mehr von dieser Geschichte, als du davon preisgegeben hast. Du solltest dich zur Wahrheit zwingen: aufschreiben. In deinem Zopf steckt eine spröde Feder. Grade richtig dafür. Das hat Georgi Lwowitsch mir an dem Abend gesagt. Stell dir vor, ich folgte seinem Rat, schrieb dies und das auf. Aber erst nachdem sich zu meiner Bestürzung die wirkliche Ljuba bei mir gemeldet hatte. Ich zeigte ihr mein Aufgeschriebenes. Sie hatte jedes Mal furchtbar viel daran auszusetzen. Da ist mir die Lust wieder vergangen. Noch ein anderer hat mich beim Abschied an diesem Abend zur Seite genommen. Einer, der gar nicht gehen wollte und gehen sollte, der nicht das erste Mal erst am Morgen gegangen wäre: Pawel, mein schöner, schwarzgelockter junger Freund. Pawel zog sich die Jacke aus, als wir allein waren, und sagte, diese Romanze in Essig und Angst hätte ich mir sparen können. Darauf sagte ich zu ihm, Pawel Sergejewitsch, sagte ich, es ist besser, wenn du jetzt deine kleinkarierte Jacke wieder anziehst. Er ging, und ich riss mit fünf Fingern meinen schönen, jungmachenden Zopf auseinander. Bei mir hat er seitdem die Jacke nicht mehr ausgezogen. Schade, sag' ich. Aber das geht dich nichts mehr an, Genosse Hellriegel.
Hast nur das Recht zu erfahren, wie ich auf Ljuba gestoßen bin. Drei Wochen nach der Geburtstagsfete erhielt ich einen Anruf in der Redaktion. Eine sehr energisch klingende Männerstimme, der es Mühe machte, Höflichkeit zu bewahren, forderte mich höflich auf, die Verbreitung solcher und ähnlicher Legenden in Zukunft gefälligst zu unterlassen. Der Mann, dem diese sehr energische Stimme gehörte, stellte sich erst am Ende des kurzen Telefonats vor: Mit Ihnen sprach General Kondratjew. Ich wünsche Ihnen erfolgreiche Arbeit in Ihrem Ressort. - Ende. Da habe ich zum zweiten Mal deine Geschichte verflucht. Und mich törichte Jungfrau dazu. Aber kaum waren drei Tage vergangen, da meldete sich eine weibliche Stimme am Telefon. Hier, bei mir zu Hause. Ich würde sagen, eine freundliche, ironischbeherrschte Stimme. Sie sei Ljuba Fjodorowna, die Schwester des großen Donnerers. Sie lüde mich ein, wenn ich annehmen wollte. Zu sich. Zu einer Tasse Tee. So sind wir miteinander bekannt geworden. Ganz logisch, nicht wahr?
In den Kreis ihrer Familie hat mich Ljuba nie einbezogen. Ihren Bruder, den General, sah ich heute morgen zum ersten Mal. Vor Arbeitsbeginn. Hier in der Wohnung. Eine Viertelstunde vorher hatte er sich telefonisch angesagt. Seine Schwester betreffend. Ich ahnte, dass Ljuba ihre dritte Lungenoperation nicht überlebt hatte. Und sollte Recht behalten. Kondratjew wahrte Form und Distanz, als er mir die Mitteilung überbrachte. Ich bot ihm einen Stuhl an. Er blieb stehen. Nahm nur die rotgerandete Mütze ab, zog nur den rechten Handschuh aus. Ljubas schriftlich hinterlassenen Wunsch, dich betreffend, Hellriegel, brachte er im sachlichen Ton vor. Und als er mich bat, das diesbezüglich Notwendige zu erledigen, klang es so, als ob er's in meine Entscheidung stellte, dich zu benachrichtigen oder es bleiben zu lassen.
Sinnlos, sich zum Schlafen hinzulegen. Sinnlos, Gespräche zu führen mit jemandem, der nicht anwesend ist. Lieber etwas tun. Auf dem Schreibtisch liegt Arbeit genug. Kassetten, Notizen, Entwürfe. Sie hat eine Serie Kurzreportagen übernommen: Moskauer Hausgemeinschaften. Menschen, Formen, Aktivitäten. Der erste Teil, Hausgemeinschaft- und Wohnblockversammlungen, ist fertig. Die Leute hier sagen sich ihre Meinung ziemlich rückhaltlos, beherrschen die Rhetorik der Überspitzung und der Untertreibung. Wer solche Versammlungen leitet, braucht zum dicken Fell eine gute Seele, zur Schlagfertigkeit genügend Kenntnisse im Zivilrecht. Wenn aber die Dienstleistung überfordert ist oder korrupt, dann hilft das alles nichts. Dann hilft nur noch budjet, es wird schon werden. Die beiden letzten Sätze sind in Gittas Konzept gestrichen. Mit Rotstift. Und mit der Randbemerkung: Allgemeinplätze!
Sie hat noch zwei weitere Teile zu liefern: Ordnung und Sauberkeit und Freizeitgestaltung. Für Ordnung und Sauberkeit muss etwas Besseres gefunden werden. Etwas mehr Schöpferisches. Gitta befragt den kleinen Jäger. Er steht auf ihrem Schreibtisch. Eine Bronzestatuette, nicht höher als ein Esslöffel. Senkrecht. Einen nackten, krausköpfigen Knaben darstellend. In der Rechten hält der Knabe einen leicht geneigten Speer. Der Wurfarm verhält in der Bewegung. Der Knabe wollte werfen oder stechen. Er wird es nicht mehr tun. Sein Blick geht dorthin, wohin die Speerspitze zeigt. Auf kurze Entfernung zur Erde. Der linke Arm vollführt eine auffordernde, einladende Geste. Das Spielbein ergänzt die auffordernde Einladung. Die klassische scheue Unschuld des Knabengesichts spiegelt bereits den alsbaldigen Triumph. Was wird es denn sein, was der kleine Jäger gestellt hat und sich zueignen wird, wie's ausschaut. Ljuba sagte, was schon! Ein Nixlein, ein Hexlein oder eine dumme Gans. Immer dasselbe. Es überlegt sich nichts, das Knäbchen. Es lebt, es jagt, es fängt. Es treibt ein reines Spiel. Es ist ein kleiner Jäger. Wenn du ihm aber das Krausköpfchen kraulst, dem kleinen Jäger, dann kommt er auf gute Gedanken. Er schenkt sie dir. Er braucht sie nicht - noch nicht, der Glückliche. Als schon feststand, dass Ljuba zur dritten Operation bestellt war, Gitta noch nichts wusste davon, hat ihr Ljuba den kleinen Jäger geschenkt. Mit Gebrauchsanleitung. Ljuba sagte, sie kenne das Jungchen nun schon so lange, fast ihr ganzes Leben lang, dass er bei ihr anfinge, sich zu wiederholen. Zeit, dass es in andere Hände käme. Und sie sollte sich nur nicht bedanken. Gute Gedanken kosteten nichts - nichts als Kraft, und machten eine Menge Mühe und Arbeit.
Gitta meinte zu begreifen, was ihr Ljuba da so beiläufig schenkte. Ein Stück Leben, meinte Gitta. Vollständig hat sie's wohl doch nicht begriffen. - Oder begreifen wollen.
Jetzt also befragt sie, krault sie den kleinen Jäger um bessere, mehr schöpferische Wörter anstelle von Ordnung und Sauberkeit. Sie sieht durch das breite Fenster, vor dem ihr Schreibtisch steht. Sieht die weiße Front, die Balkone, die erleuchteten Fenster der Großblockbauten gegenüber, die verschneite Grünfläche dazwischen, die vielen parkenden Autos, sieht über den Umrissen der neuen Häuser das diffuse Licht der Zwölfmillionenstadt, das vom frottierten Winterhimmel aufgesogen wird. Wie Wasserdampf. Offenbar verschenkt der kleine Jäger Gedanken ohne Rücksicht, ob sie passen oder nicht. Der kleine Jäger schenkt ihr Ljubas Episode von Lena und Igor und der grimmigen Deshurnaja Beljajewa. Ljuba ist Lenas Schulfreundin gewesen. Ljuba hat das Ding für dich erzählt, wenn du's wissen willst. Es gäbe dafür einen Grund. Und eine zweite Fassung.
Die Beljajewa bewachte ein großes Haus, in dem viele Menschen wohnten und auch das schöne, kesse Mädchen Lena. Lenas Eltern waren für lange Zeit verreist. Dienstlich in ein fernes Land. Alsbald schlich sich Igor ein, Igor mit dem flotten Bärtchen, ein strebsamer Dekorateur. Schlich sich des Abends ein ins Haus und husch! vorbei an der schlafenden Beljajewa und husch! hinein zu Lenas Tür im fünften Stock. Lena freute sich, dass Igor so gut hinein- und auch wieder hinaushuschen konnte. Eine kleine Weile ging das gut. Aber die Beljajewa schlief in Wahrheit keinen Augenblick. Sie hatte die unanständige Huscherei längst bemerkt und kein einziges Auge zugedrückt. Im Gegenteil, sie hatte alles aufgeschrieben. Tag und Stunde. Von wann bis wann. Diese Zeitung schlug sie an das Schwarze Brett. Lest, meine Verehrten! Lest nur! Und setzte sich wie eine dicke Spinne in ihren Winkel auf ihre Pritsche und beobachtete blinzelnd, wie die verehrten Hausleute ihr Skandalblättchen lasen. Die einen schüttelten die Köpfe, die andern zuckten mit den Schultern, die dritten kicherten, die vierten lachten, nur die fünften taten entrüstet. Die Beljajewa erboste sich über die Mehrheit der verehrten Leser. Am meisten erboste sie sich über ihren eignen Alten, Großväterchen Wadim, der zu den Kichernden gehörte. Dem machte sie die Hölle heiß. Und Igor grüßte jetzt freundlich, wenn er kam und wenn er ging. Punkt zehn Uhr in der Nacht verschloss die Beljajewa die Haustür. Igor pflegte zu späterer Stunde zu gehen. Er besaß einen Hausschlüssel. Eine wilde Ehe. Und noch keine achtzehn Jahre das Fräulein. Ein sittenreines Gemüt müsste sieden, wallen und zischen. Vor lauter solchen Selbstgesprächen wurde die Beljajewa stockheiser.
Eines Nachts kochte ihr Zorn über. Es war bereits nach zweien in der Nacht. Und die beiden da oben, sie trieben's lautlos noch immer. Da alarmierte die grimmige Beljajewa die Miliz. Sie weckte auch ihren Alten als weiteren Zeugen. Der sagte scheinheilig, zwar wäre der Mensch gegen die Liebe und den Heuschnupfen machtlos, aber solche Vagabunden gehörten aufgedeckt! Was die Beljajewa missverstand und zum Anlass nahm, ihren Wadim wiederum grob zu beschimpfen. Der Milizionär kam. Tat mürrisch. Mit bebenden Händen schloss die Beljajewa die Tür der Lasterhöhle auf. Es war eine Lasterhöhle. Keine Glühlampe vorhanden, keine einzige. Nur eine dicke Kerze brannte und tropfte in einer Suppenterrine. Und welch schrecklicher Anblick! Tot, starr und steif in groben Hemden lagen die beiden Vagabunden auf der Couch. Drüber hing ein umgedrehtes Plakat. Darauf stand in Druckbuchstaben: DIE LIEBE IST DAS SCHÖNSTE GIFT. Und drunter stand. WIR KONNTEN DAS LEBEN MIT DER BELJAJEWA NICHT MEHR ERTRAGEN! Diese war schlotternd in die Tür zurückgewichen, hielt ihren lieben Alten fest bei der Hand. Der Milizionär hatte die grausige Mitteilung mit lauter Bassstimme verlesen. Nun klopfte er mit einem silbernen Esslöffel dem toten Igor hart auf die wachsbleiche Stirn: "Es klingt hohl und nach Holz", sagte der Milizionär. "Ich wusste es", sagte die Beljajewa. Nunmehr riss der Milizionär das umgedreht und beschriebene Plakat von der Wand. Er ging damit zu den beiden Alten, leuchtete mit der Taschenlampe aufs Papier und forderte sie auf weiterzulesen im Text, wenn sie keine Analphabeten wären. Der Beljajewa waren die Augen übergegangen. Großväterchen las weiter im Text, was da noch, ziemlich klein geschrieben, stand: Deshalb heiraten wir morgen. Ihr seid alle eingeladen. Lena und Igor. Großväterchen wusste nicht recht, ob er kichern sollte oder fluchen. Er räusperte sich. Seine Alte besaß den fixeren Verstand. "Vagabunden, verlauste!", fluchte die Beljajewa.
Auf der Couch lagen in erbarmungswürdigen Verrenkungen Schaufensterpuppen mit igor- und lena-ähnlichen Perücken. Deinen Anteil an der 2. Fassung, Benno, hättest du für dich behalten sollen.
Gitta fand die besseren, mehr schöpferischen Worte für Ordnung und Sauberkeit an diesem Abend nicht. Kurze Zeit nach der krausköpfigen Irreführung durch den kleinen Jäger schrillte ihr Telefon. Zu ihrem großen Erstaunen meldete sich noch einmal Kondratjew. Ohne Dienstrang. Einfach Kondratjew. Und fast nichts mehr von Distanz im Ton. Er bat darum, mit Anna Iwanowna, seiner Frau, noch einmal vorbeikommen zu dürfen. Heute noch. So spät wäre es ja noch nicht. Es ginge um eine diffizile Sache, eine doch sehr diffizile Sache, die sich neu ergeben hätte... Aber selbstverständlich, Genosse General. Kommen Sie bitte mit Anna Iwanowna...
Sie kamen ohne Blumen, Kondratjew, in Zivil, bot die Hand. Wortlos. Er schwieg auch beim Ablegen. Die beiden Frauen sahen sich zum ersten Mal. Auch Anna Iwanowna hielt mit Freundlichkeit und üblichen Worten zurück. "Einverstanden, wenn ich Sie ohne weiteres Gitta nenne?" Sie sagte es von sich. Nicht zugleich von ihrem Mann. Ein Bündnisangebot? Gitta wusste, dass diese Frau Juristin war. Körperlich Derbes, Gesundes, leicht zur Fülle Neigendes, noch immer Schönes verband sich bei Anna Iwanowna mit unbefangener, doch aber strenger Direktheit. Ihr Mann half ihr aus dem Mantel. Sie trug weiße Bluse zu dunklem Kostüm. Und Stiefel. Gitta erschien es, als ob diese Frau niemals etwas anderes getragen habe als weiße Blusen zu dunklen Kostümen.
Kondratjew litt nicht, dass ihm jemand beim Ablegen des Halbpelzes behilflich war. Er trug Rollkragenpullover. Nach den vorausgegangenen Förmlichkeiten beinahe ein Vertrauensangebot. Im legeren Zivil wirkte der Mann größer, kräftiger, schlanker als in Uniform. Sichtbarer auch die auffällige Beweglichkeit in Schultern und Hüften, das geschmeidige Spiel der Bewegungsabläufe, das sehr an Ljuba erinnerte. Gitta meinte, der Schweigende müsse jetzt die Linke hochwerfen, müsse die Augen schließen, sich mit zwei Fingern langsam über den Nasenrücken streichen - wie Ljuba, wenn ihr noch etwas ganz Wichtiges plötzlich einfiel. Sie wartete vergebens. Spontane Gesten schien Kondratjew zu meiden. Das streng gekerbte Gesicht, der harte ausforschende Blick widersprachen der weicheren Linie des Mundes.
Salzgebäck und Wodka. Gitta lud zum Sitzen ein. Für einen Augenblick stellte sie sich Hellriegel neben Kondratjew vor. Hellriegel, den etwas Jüngeren, körperlich etwas Massiveren, Langsameren, an Schweigsamkeit, wenn er's für angemessen hielt, Ebenbürtigen. In ihrer Vorstellung erschien Ljuba als die Gesprächigste von allen. Gitta füllte die Gläser. Anna Iwanowna wollte ihrem Mann das erste Wort lassen. Es gehörte ihm als Ljubas älterem Bruder. Aber es dauerte ihr zu lang mit dem ersten Wort zur Sache. Also sagte sie etwas, etwas Unpassendes, nicht zur Sache Gehörendes. "Es wird ein Milizionär geboren", sagte Anna Iwanowna. Diese Redensart gebraucht man dortzulande, wenn ein Gespräch nicht in Gang kommen will, oder wenn es stockt. Bei uns sagt oder denkt man in solchen Situationen: ein Engel fliegt durchs Zimmer.