Der Soldat und die Frau - Max Walter Schulz - E-Book

Der Soldat und die Frau E-Book

Max Walter Schulz

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Beschreibung

Tief in der Steppe, mitten im Zweiten Weltkrieg, begibt sich eine außergewöhnliche Geschichte: Der Soldat Röder, der als Gefangener mit einem Kommando die gefallenen Soldaten begräbt, wird von dieser Gruppe getrennt, und er findet sich wieder allein in der Nähe eines Dorfes, nunmehr als Gefangener von Frauen, die beginnen, ihre Häuser und Höfe wieder aufzubauen. Was erwartet ihn, was kann er erwarten? Er erwartet Hass und erfährt zunächst Hass. Aber im Verlauf des Geschehens verwandelt sich der Hass, und auch er selbst gewinnt neue Erfahrungen, und er wird nicht nur überleben, sondern eigentlich erst wirklich zu leben beginnen. Und so spiegelt sich im Außergewöhnlichen das historisch Bedeutsame, das sich wandelnde Verhältnis zwischen sowjetischen und deutschen Menschen. In ungewöhnlicher Dichte, spannungsgeladen, wird diese Geschichte erzählt, die den Autor wiederum als reifen Erzähler ausweist. LESEPROBE: Der Mann, der auf dem Eis kniete, beugte das Haupt tief über den Toten. Herrgott im Himmel, wenn es dich noch gibt. Du kannst mir glauben, wir haben ihn aufgezogen in Liebe. Bei der Taufe hat der Pfarrer Ballmann gesagt, dies Kind soll unverloren sein. Hast du es weggeschmissen, Gott? Haben wir’s getan? Hat er’s selber gemacht? Deck dich mit meinem Mantel zu, Junge. Es ist kalt. Es ist kalt, hörst du, wie die Räder knarren vor dem Karren. Und die müssen noch so weit mit dir. Hörst du, wie der Baum umbricht ... »Roider!« Das wird der Starschina sein. Den kennst du nicht. Der kann unsern Namen nicht richtig aussprechen. Ist kein schlechter Mensch deswegen. Ich muss jetzt aufstehn. Der Starschina, das Pferd am Zügel haltend, stand an der Grube. Sah hinab auf den Toten. Sah lange hinab auf das Totengesicht. Blickte auf. Sah prüfend in das tote Gesicht des Mannes, der sich erhoben hatte. »Familija?«, fragte der Sergeant, auf den Toten deutend. »Röder«, antwortete der Kriegsgefangene. Er tappte die paar Schritte bis zum Karren. Nahm sein Brecheisen von der Pritsche. Die Grube war heute für zehn auszusprengen. Neun und einer sind zehn. Und der zehnte war noch aus dem Eis zu hacken. Röder fing gleich damit an. Was du tun musst, tue gleich. Wenn du sterben musst, stirb schnell. Der Starschina stieg auf den Karren, schloss die Kiste auf, warf Spitzhacke und Schaufel herab. Dann ging er zu dem Gefangenen, streifte den Mantelärmel etwas zurück, tippte auf seine Uhr, tippte auf die eins. Die Uhr des Starschina zeigte jetzt auf viertel zwölf.

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Impressum

Max Walter Schulz

Der Soldat und die Frau

Novelle

ISBN 978-3-95655-264-9 (E-Book)

Die Druckausgabe erschien erstmals 1978 im Mitteldeutschen Verlag Halle – Leipzig.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

Das Gedicht »Die Sterne« entstammt der Feder der Sowjetdeutschen Lyrikerin Nelly Wacker. (Almanach Sowjetdeutscher Lyrik »Ein Hoffen in mir lebt«, Progress Verlag, Moskau 1972)

© 2015 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Godern Alte Dorfstraße 2 b 19065 Pinnow Tel.: 03860 505788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

Zeitvergleich

1. Kapitel

Auf einmal war die große Schlacht mitten an einem gewöhnlichen Wintertag zu Ende gewesen. Auf einmal, mit den letzten verhallenden Schüssen, stieg tiefe Stille herauf vom Fluss, kam herab vom zerkrallten Hügel, trieb mit den Wolken am unendlich weiten Himmel über die zerschossene Stadt.

Noch während die Soldaten ihre Kampfstellungen verließen, überflutete die Stille die Schützengräben, die Bunker, die Feuernester in den Ruinen. Wer sich noch einmal umschaute, sah zu seinem Erstaunen, dass hinter ihm alles schon ganz anders geworden war, dass die tiefe Stille, in deren Umgebung wir die Zeit empfinden, alles eben noch ganz Gegenwärtige, mit den Händen Angreifbare, mit bloßen Augen und mit Ferngläsern tausendmal scharf Beobachtete, bereits endgültig in Vergangenes verändert hatte. Und wer sich ein zweites Mal umschaute, gleich oder später, wer es nicht beim Erstaunen über die lautlose Macht der Zeit belassen wollte, sah nur noch einmal, dass die Zeit wie tosende Brandung, aus einer fremden Tiefe kommend, an die Gestade unseres Lebens schlägt, dass keine Woge gleich ist einer anderen, keine Empfindung, keine Wahrnehmung genau wiederholbar.

2. Kapitel

Tief in der Steppe, wo sich vor nunmehr fast drei Monaten, gegen Ende November, der Ring um die Deutschen geschlossen, wo es in wenigen Tagen tiefe, verheerende Einbrüche in deren Front gegeben hatte, lagen, abseits der Rollbahnen, deutsche Gefallene noch unter freiem Himmel oder unter dem Schnee. In diese Räume, die durch Zerstörung, Hunger und Kälte verödet waren, wurden Such- und Bestattungskommandos entsandt. Sie bestanden aus Kriegsgefangenen und ihrer meist sehr geringen Bewachung. Die Kommandos waren auf sich gestellt. Jedes war für seinen Suchstreifen verantwortlich. Der Streifen musste nach zwei bis drei Wochen - je nach Ausdehnung - entseucht sein. Nach der vorgegebenen Zeit war auch die Verpflegung bemessen, gleiche Rationen für Bewacher und Bewachte. Die Gefangenen sagten, wer hohle Zähne hat, braucht nicht zu schlucken. Die starren Toten hielten manchmal noch das Fährgeld bereit: selten als die eiserne Ration, die Viertelbüchse Schweineschmalz, meist als ein bisschen schimmeliges Dauerbrot, als grün gewordene Bröckchen Kola-Schokolade, als vermodernde Zigaretten, farblos gewordene saure Drops. In den Brustbeuteln und Taschen auch als Geldscheine, zu nichts mehr gut als zum Feueranmachen. Es fanden sich auch noch Handfeuerwaffen, Munition und Handgranaten. Die Bewacher hatten das Recht, jeden Gefangenen, der eine Waffe an sich nahm, diese bei sich oder außerhalb seines Körpers verbarg, auf der Stelle zu erschießen. Die Gefangenen hatten dieses Recht mit ihrer Unterschrift zur Kenntnis genommen und damit anerkannt.

Im Kommando des Starschina wurde ordentlich gearbeitet, die tägliche Streckennorm, ein Dutzend und drei Kilometer, unabhängig vom Wetter wie von der Häufigkeit oder Seltenheit der aufgefundenen »Objekte« streng eingehalten, alles Abzuliefernde abgeliefert, alles Teilbare genau geteilt. Der Starschina, ein Mann von vierzig Jahren, gedrungene Statur, beweglich wie ein Junger: das Gesicht sibirisch gegerbt, war schon ein Gerechter. Nur ein Vorrecht beanspruchte er: sich täglich sorgfältig zu rasieren. Sein Stellvertreter und einziger Soldat, ein blutjunger, lang aufgeschossener Bursche, verehrte den Starschina wie einen Vater und hasste die vier Kriegsgefangenen, über die das Kommando verfügte, obgleich sich diese arbeitswillig zeigten, als verkappte, der Not gehorchende Faschisten. Der Starschina schor die Deutschen nicht alle über einen Kamm. Sein instinktiver Argwohn galt den Offizieren und solchen Leuten, denen er den Studierten oder den »Meister« ansah, mochten die Studierten hilflos und erbarmungswürdig aussehen oder die »Meister« arbeitermäßig. Sie hätten es nach seiner Meinung besser wissen, hätten anders handeln, gegen den Krieg handeln müssen. Wissen ist doch auch Macht über sich selbst. Die vier Obergefreiten, die er für sein Kommando nach Augenschein ausgewählt hatte, besaßen seines Glaubens unstudierte, unmeisterliche deutsche Gesichter, möglicherweise noch menschliche Seelen. Wenn nicht - der Teufel soll sie holen.

Zur Ausrüstung des Kommandos gehörten Pferd und Karren. Der Karren, hochrädrig, mit einer langen Pritsche, von den Gefangenen »Eismann« genannt, trug über der Achse eine aufgenagelte, verschließbare Bombenkiste. Unter der Achse hing ein Blecheimer. In der Kiste verwahrte der Starschina die Rationen: Brot, Salz, Tee, Graupen, Büchsenfleisch. Dazu die Sprengmittel für die Totengruben: Dynamitpatronen, Zündschnüre, gefundene Handgranaten. Dazu Grabgerät und Brecheisen. Dazu die gefundenen Waffen: Pistolen und Maschinenpistolen, von Karabinern nur die Schlösser. Und die Gasmaskenbüchse mit den abgenommenen Erkennungsmarken. Oben auf der Kiste lagen zwei Futtersäcke für das Pferd, zugedeckt mit den Schlafdecken und mit den steif gefrorenen Zeltbahnen, Stricke darübergezurrt.

Einer der Gefangenen verstand sich auf das Pferd, einen zottigen Panjehengst. Laut Starschina trug der Hengst den Namen »Arrestant«. Wohl weil er ein Ausbrecher war, wohl weil er eine sagenhaft-feine Witterung für alles Fressbare besaß und seinem Fresstrieb hemmungslos nachging, kilometerweit, wie sich eines Tages zeigte. Wenn er halbwegs satt war, bewies er Verstand, rückte mit der in ziemlicher Breite vorgehenden Suchkolonne ohne Kutscher und Anruf vor, umging Verwehungen, blieb ohne Anruf wieder stehen, wenn er sah, dass die Männer zurückblieben. Der Gefangene, der sich auf ihn verstand, brauchte nur zu rufen, dann trottete Arrestant zu der Stelle, wo ein Objekt gefunden und auf den Karren zu befördern war. Eines Tages jedoch, genau genommen am neunten Tag des Einsatzes, am frühen Vormittag, als der Karren noch leer war, hatte sich der Hengst plötzlich in Trab gesetzt, hatte die Richtung verlassen, war querab mitsamt dem Karren davongetrabt. Der Starschina hatte dem pferdeverständigen Nemetz zuge- schrien, er solle die Bestie zurückholen und ihr die Zügel kurz binden. Der Mann war dem Pferd schon nachgelaufen. Er lockte es mit Pfiffen. Einen Wettlauf hätte er hoffnungslos verloren, schon wegen des schweren Wachmantels, den er trug und wegen all der Wollfetzen und Lumpen unter Rock und Hose, um Leib und Glieder gewickelt, mit Telefonkabel überschnürt, statt Unterwäsche. Der Hengst gehorchte, blieb stehen, erwartete den Mann, ließ sich kurz am Zügel nehmen. Aber mehr nicht. Den Rückweg verweigerte er mit gegrätschten, vorgestemmten Vorderbeinen. Der Mann stieg auf den Karren, gab dem Pferd die Zügel frei, hoffend, es werde sich bald müde laufen und lenken lassen. Viel hatte es sowieso nicht auf den Rippen. Als der Wagen anruckte, der Hengst gleich wieder scharf anging, hörte der Mann die Knabenstimme des blutjungen Wachsoldaten. Er drehte sich um. Der Junge kam ihm nachgelaufen, schrie, gab wütende Zeichen, stehen zu bleiben. Der Gefangene beschrieb mit der Hand einen Kreis in die Luft. Da gab der junge Wachsoldat einen Warnschuss ab. Der Hengst stellte die Ohren auf. Nun war er überhaupt nicht mehr zu halten. Der Mann auf dem Karren kam aus dem Stand, musste sich des Kutschbocks bedienen, der hohen Kiste, halb sitzend, halb stehend. Der Junge schoss noch einmal. Wenn er hätte treffen wollen, hätte er treffen können. Das Ziel suchte keine Deckung. Und der Panjehengst zog mit hochgeworfenem Kopf unbeirrbar irgendwohin. Die Hufe klopften munter auf die steinhart gefrorene Erde. Dem Mann überkam es zu denken, er sei jetzt ganz frei, es sei alles sein Wille, was das Pferd tat, er würde nie mehr im Leben gnädigen Herrschaften die Pferde satteln und den Steigbügel halten, nie mehr den jungen feinen Schnöseln, die aufs Gut kamen und prahlten, das Glück der Erde läge auf dem Rücken der Pferde - würde denen nie mehr die Hintern und Dickbeine mit Wundsalben einreiben. Und meinem Jungen, dachte der Mann, wird das auch erspart bleiben, wenn er heil davonkommt. Der Ofen geht denen bald aus. Sie haben hier zu viel verheizt. Und wer weiß, wozu es gut ist, dass sich Maria nicht mehr um den Jungen bangen muss, weil der Junge im Feld steht und so ein Draufgänger ist. Sie hat’s hinter sich gebracht. Die giftigen Dämpfe in der Spritzerei. Der gnädige Herr hat’s doch gewusst, dass sie schon immer schwach auf der Lunge war, schon als junges Mädchen. Er hätte sie nicht freisteilen dürfen für die Rüstung. Ihre Brust ist immer knospig gewesen, hoch und fest. Die junge Gnädige hat sie drum beneidet. Wenn wir schliefen, wollte Maria, dass meine Hand auf ihrer Brust lag. Sie hat gesagt, da träumt sie von dem braunen Fohlen auf der Koppel. Das braune Fohlen käme zu ihr, an ihre Haut mit seinen weichen Lippen.

Ein Gewehrschuss zerriss das Andenken. Die Kugel pfiff ihm dicht am Kopf vorbei. Der Schuss war von vorn gekommen. Der Mann folgte dem Reflex, Warf sich flach auf das Vorderteil der Pritsche, riss am Zügel. Der Hengst verweigerte, lief unbeirrt geradewegs weiter in die Richtung, wo der Schuss gefallen war. Da war eine Steinhütte mit flachem Schrägdach aus Blech. Aus dem stumpfen Schornstein quoll weißer Rauch, Rauch von nassem Holz. Das Haus besaß ein Vordach. Und darunter stand eine Frau, Gewehr im Hüftanschlag, den Finger am Abzug, den Lauf auf ihn gerichtet, so nahe schon und so genau, dass der Mann, der in seinem deutschen Wachmantel, mit seiner deutschen Mütze auf dem Vorderteil des Karrens lag und den Kopf gehoben hatte, in die Gewehrmündung blickte. Das Pferd musste den Rauch gewittert haben. Kurz vor der Hütte war es in Schritt gefallen. Erst unter dem Vordach blieb es stehen. Dort lagerte Heu. Der Hengst begann sofort mit langem Hals zu fressen. Jetzt muss die Frau doch die Buchstaben hinten auf dem Mantel sehen, sind ja russische Buchstaben, groß genug und in gelber Ölfarbe. Vor einem wojna plenij braucht sie doch keine Angst zu haben. Er hört die Frau barsche Worte sagen und verstand, dass er absteigen sollte von dem Karren. Er tat es willig, aber ohne Überstürzung. Als die Frau vor ihm ausspuckte, sah er, dass der Hengst wählerisch fraß, Einzelnes aus dem festgetretenen Heu herauszupfte. Und als er die Hände hochgenommen hatte und die Frau ihn mit der Kolbenplatte des Gewehrs am ganzen Körper nach einer versteckten Waffe abklopfte, einfach und grob da- und dorthin stieß und auch keine Scham dabei walten ließ, gewahrte er in der offenen Tür der Steinhütte eine zweite, ältere Frau und einen Jungen, ein schmächtiges Kerlchen mit struppigem, weißblondem Haar. Der Junge hielt auch ein Gewehr auf ihn gerichtet. Die Augen des Jungen erschienen dem Mann gelb vor Hass. Die ältere Frau konnte ihre Angst nicht verbergen. Sie wollte dem Jungen die Hand beruhigend auf die Schulter legen, doch sie zog die Hand zurück. Der Mann musste die grobe Leibesvisitation ein zweites Mal über sich ergehen lassen, vorher aber den Mantel aufknöpfen. Die Ältere zog ihm den Mantel auf Geheiß der Jüngeren von den Schultern. Im Stillen pries der Mann seine dicke Unterwäsche. Der Kolben stieß auf eine Außentasche seines Infanterierocks, stieß auf harte, metallische Gegenstände. Deswegen hätte die Frau nicht so wütend zuzustoßen brauchen. Sie hätte doch sehen können, dass die Tasche von irgendetwas ausgebeult war. Die Frau trat ein paar Schritte zurück, das Jungchen trat ein paar Schritte vor. So hielten sie den Mann in Schach, während er die Taschen leerte und den Inhalt vorwies: eine Blechschachtel und ein halb Pfund schweres Feuerzeug, aus einer Zweizentimeter-Hülse gebastelt. Die Ältere hatte die Dinge zu prüfen. Das Feuerzeug war ein Feuerzeug. Es schoss nicht, es schlug Feuer, eine große, rußende Flamme, gleich beim ersten Mal, als die ältere Frau mit dem Handballen das Rädchen anriss. Der Junge sah begehrlich hin. Dass die Jüngere die Flamme nicht ausblies, sondern mit der bloßen Daumenkuppe am Docht ausdrückte, erstaunte den Mann. Ein Flintenweib also. Im dunklen, fensterlosen Innern der Hütte brannte ein offenes Feuer. Es sah danach aus, als würde das Feuer auf einem Schmiedeofen brennen. Vielleicht war die Hütte eine Feldschmiede. Vielleicht hat man in dieser Gegend einmal Pferde gezogen. Auslauf genug für Pferde in dieser Gegend. Aber wie kommen die Frauen hierher? Das Kommando war auf seinem Weg noch keiner Menschenseele begegnet.

Die Blechbüchse enthielt einen Rest Krüllschnitt, ein paar Nägel unterschiedlicher Größe (aus Nägeln kann sich der Mensch immer ein Werkzeug machen) und drei Stückchen eingewickelten Würfelzucker aus einem Caféhaus in der schönen Stadt Prag. Da hatte ihm einer gesagt, drei Stückchen Würfelzucker können einen Menschen, wenn der Mensch gar nichts mehr zu essen hat, noch drei Tage am Leben halten. Aber der Mann konnte diesen Glauben nicht aussprechen. Sie hätten seine Worte nicht verstanden. Er hatte noch kein Wort gesagt, kein einziges. Die jüngere Frau rief der älteren etwas zu, schnell gesprochene, ungläubige Worte. Dabei deutete sie auf den Brunnen. Dann gab die Jüngere dem Mann eins von den drei Stücken Würfelzucker in die Hand und verlangte gestikulierend, dass er’s aufäße. Es ist, weil sie denkt, sie hätte es mit einem Brunnenvergifter zu tun. Der Mann wickelte das Papier sorgsam ab, damit kein Krümel verloren ging. Dann schüttete er sich das Stück und die Krümel aus der hohlen Hand in den Mund. Ja, er hatte das Zeug auf der Zunge. Sie ließen ihn den Mund aufmachen, zu sehen, ob er keinen Trick angewandt. Nun wollte die Jüngere in ihrer barschen, unverständlichen Sprache offenbar wissen, wo sein Kommando stünde. Der Mann zeigte auf das Pferd, das noch immer wählerisch fraß, und in die Richtung, aus der er mit Pferd und Karren gekommen war. Die Frauen besprachen sich erneut. Es klang, als ob sie jetzt über das Pferd miteinander sprächen. Besser, man zieht sich jetzt den Mantel wieder an, sonst sprechen sie auch noch über den Mantel. Weiß der Teufel, worüber sich die Frauen einig geworden wären, wäre jetzt nicht der junge Wachsoldat in der Ferne erschienen, in einer Ferne, aus der sie alle sein zorniges Schreien vernehmen konnten. Die Zeit, die der Soldat noch brauchte, um heranzukommen, nutzte der Junge, der zu den beiden Frauen gehörte, um der Älteren das Feuerzeug und die Tabaksschachtel, die immerhin aus Messingblech war, abzuluchsen. Das Feuerzeug hatte es dem Jungen sowieso angetan. Und an der Blechschachtel reizte ihn wahrscheinlich das bunte Reklamebild auf dem Deckel, Tabakernte in Brasilien darstellend. Der alte Herr hatte diese Sorte schwarze Brasilstumpen zu rauchen beliebt. Voriges Jahr, als der Mann Urlaub bekommen hatte, zehn Tage, um seine Frau zu begraben, und in diese Tage auch noch sein einundvierzigster Geburtstag gefallen war, hatte ihm der Alte ein Schächtelchen davon zukommen lassen. Sollte es zu schätzen wissen, der Kanonier! Dergleichen ist heute eine Kostbarkeit! Und Maria, Herr? Die Ältere zögerte, dem Kind das bisschen Habe des Kriegsgefangenen zu überlassen. Sie sah nach der anderen. Die andere schaute aber nicht her. Sie erwartete den Wachsoldaten. Der Mann sah den Zwiespalt der älteren Frau. Den Tabak wenigstens sollte sie einem belassen. Aber nichts ist. Das Kind verschwand mit seiner Kriegsbeute in der Hütte. Es zog die Tür hinter sich zu. Die Tür ging nach außen auf. Hätten früher Menschen in der Steinhütte gewohnt, müsste die Tür nach innen aufgehen. Und der Gefangene, der wird gefilzt. Unerwartet gewöhnlich. Welcher Gefangene sich beim Filzen Feuer und Tabak abnehmen lässt, ist ein Anfänger noch.

Der Atem des Wachsoldaten flog. Vom Lauf und zornigem Ärger krebsrot im Gesicht, schaffte er seinem Herzen und seinen Lungen übergangslos Luft, indem er Mann und Pferd als eine einzige verschlagene faschistische Kreatur beschimpfte. Seiner ungehemmten Scheltrede mangelte es auch nicht an Flüchen. Plischke sagt, der Junge flucht wie ein Hauptstädter. Der Gefangene zog unwillkürlich die Mütze samt dem bindenartigen Ohrenschützer vom Kopf. Sein Schädel war glattgeschoren. Wenn der Herr oder der Verwalter auf solche Art zu reden anfängt, zieht man die Mütze. Das gehört sich. Denken kann man, was man will. Nun wollte der Soldat, ohne sein wüstes Reden zu unterbrechen, das Pferd vom Futter wegbewegen. Aber das Pferd schnaubte nur einmal durch die Nüstern und fraß wählerisch weiter. Der Soldat riss es hart am Zügel. Der Hengst ging hoch im Deichselgeschirr. Er hatte die Hauswand vor Augen, sonst wäre er jetzt durchgegangen. Mag sein, dass den beiden Frauen schon der großstädtische Sprachschatz des Soldaten missfallen hatte, vielleicht auch, dass es ihm nicht eingefallen war, sich anständig vorzustellen. Als sie nun aber sahen, wie der Soldat das Pferd behandelte, fielen sie keifend gemeinsam über den blutjungen, ebenso langen wie mageren Burschen her. Der Versuch zur Widerrede blieb ihm im Hals stecken.

Zwar sicherte die Jüngere bei ihrem Keifen das Gewehr, aber wie die beiden Frauen, voran die Jüngere, loslegten, das hörte sich an wie Dauerfeuer aus Nahdistanz. Ein Posten, der einen Faschisten mit Pferd und Wagen laufen lässt - sie schmückten es reichlich aus, was für ein Posten so ein Posten ist. Der Gefangene bedeckte sich wieder den kahlen Schädel. Er fühlte sich nicht mehr direkt angesprochen. Der Hagel brach jetzt auf einen herab, der sich das Gewitter selber gebraut. Dem Brunnen gegenüber, auf der anderen Seite der Hütte, sah der Gefangene den gewölbten Eingang zu einem Erdkeller. Schön gemauert. Aus Bruchstein. Die Weiber müssen allerhand Vorrat in dem Keller haben. Es geht ein Trampelpfad hin. Vielleicht sogar Kartoffeln. Eine heiße Kartoffel! Eine einzige! Na doch nicht. Eine Ziege halten sie sich in dem Bunker. Wahrhaftig. Plötzlich steckte eine braune Ziege den gehörnten Kopf aus dem Kellerloch. Sie meckerte aufgeregt. Ihr Meckern mischte sich in das Keifen der Frauen. Der Wachsoldat zog den Kopf zwischen die Schultern. Den hat’s erwischt. Der denkt jetzt, er leidet an Einbildungen. Gott sei Dank, jetzt sieht er das Vieh. Es kommt raus. Es senkt die Hörner. Es geht auf ihn los. Sie haben die Ziege abgerichtet wie einen Hund. Sie geht auf den Mann. Der Junge will nicht noch mehr Ärger haben. Lieber springt er hinter einen Pfeiler. Die Alte ist vernünftiger. Die scheucht das Vieh ins Stallloch zurück. Und die Jüngere wird auf einmal still. Schlagartig. Wenn Frauen mitten im Streit auf einmal still werden, sehen sie böse aus. Bei Maria war das genauso. Da muss man sich zu schaffen machen. Eine Arbeit suchen, irgendeine. Der Mann fasste aus Männererfahrung Mut. Er ging hin und warf einen Arm voll Heu auf den Karren. Mit frisch gefasstem Mut ging er gar so weit, der Jüngeren, die das unruhige Pferd inzwischen am Zügel gefasst hatte, den Zügel wortlos aus der Hand zu nehmen. Danach drehte er das Fuhrwerk um und stieg auf den Bock. Der Soldat stieg auf das Hinterteil der Pritsche. Der Kutscher schnalzte mit der Zunge. Das Pferd zog an, fiel in Trab. Der Soldat hob seine Maschinenpistole, die er auf dem Rücken getragen, über den Kopf und brachte sie auf den Mann, der vor ihm auf der Kiste saß, in Anschlag. Der Junge brauchte einen halbwegs guten Abgang.

In der Nacht vor dem letzten Arbeitstag des Kommandos verschlechterte sich das Wetter. Ein scharfer eisiger Wind kam auf. Der pferdeverständige Gefangene kroch aus dem Zelt. Er hatte den Blecheimer klirren hören. Das Pferd stand wie immer unter der langen, schräg hochstehenden Pritsche des Karrens, mit dem lockeren Zügel an die Achse gebunden. Es stieß mit der Schnauze an den Blecheimer, der an der Achse hing. In dem Eimer wurden Tee und Graupen gekocht, aus ihm wurde das Pferd getränkt, nachts fraß der Gaul daraus sein tägliches Maß Hafer. Je weniger ein kluges Pferd vorgeschüttet bekommt, um so langsamer frisst es. Wenn das Pferd nachts mit dem Blecheimer lärmte, dann hatte es seinen Grund. Der Pferdeverständige kroch dann immer aus dem Zelt. Der Starschina hustete jedes Mal kurz, wenn ein Gefangener nachts aus dem Zelt musste. Sie sollten wissen, dass er im Bilde war. Der Starschina hätte im Schlaf eine Mücke furzen hören. Und der Gaul ersetzte eine ganze Wachkompanie. Wenn der Blecheimer klapperte und der Pferdeverständige aus dem Zelt kroch, hustete der Starschina nicht. Es trieben sich hungrige, verwilderte Hunde herum, Riesenköter. Sie könnten das Pferd reißen. Wolfsblut ist in jedem Hund. Es schläft nur. Wenn es erwacht, ist so ein Hund schlimmer als der Wolf. Der Wachsoldat, so großmäulig er tut, vor den Wolfshunden hat er eine Heidenangst. Doch auch Wolfshunde scheuen das Feuer. Deshalb hat sich der Wachsoldat selber den Befehl gegeben, nachts aller zwei Stunden aufzustehen und frische Knüppel ins Biwakfeuer zu schieben. Die Tage gehen einem in die Knochen, die Nächte sind lang, und der Schlacks schläft den Schlaf der Jugend. Trotzdem holt er sich aller zwei Stunden heraus, unterhält das Feuer, zählt bei der Gelegenheit jedes Mal die Gefangenen. So viel Zucht hätte man dem schreihälsigen Milchbart gar nicht zugetraut.

Als der Pferdeverständige in dieser Nacht aus dem Zelt kroch, hatte der scharfe Wind das Feuer ausgeblasen, die Asche verweht. Und der Wachsoldat schlief. Der Mann empfand Schadenfreude, wusste selber, dass er damit nicht recht tat, konnte aber seine Empfindung nicht unterdrücken. Er verlor dieses Gefühl rasch. Denn er sah, weshalb das Pferd mit dem Eimer lärmte. Der Wind traf es von der Seite. Es wollte den Windschatten der hochgestellten Pritsche. Sie stand mit dem Wind. Er drehte den Karren, dass der Wind auf die steile Schräge der Pritsche auflief.

Die Räder blockierte er mit einem Knüppel. Das Pferd die Filzdecke mit einem Zugstrick fest. Als Wachmantel. Das machte das Pferd selten. Sollte es auch nicht oft machen. Wegen Maria. Ein Mann kann dabei wahnsinnig werden. Gürtete er also lieber dem Pferd die Filzdecke mit einem Zugstrick fest. Als sich der Mann bei dieser Arbeit aufrichtete, mit dem Kopf über den Pferderücken kam, erschrak er. Er sah eine Gestalt aus der mondlosen Nacht auf sich zukommen, eine Gestalt, die etwas Großes, Flaches, Glitzerndes hinter sich herschleifte. Irgendwo heulte auch ein wilder Hund. Das Pferd blieb ruhig. Ein Fremder konnte es nicht sein. Dann erkannte er bald, dass es der Starschina war. Erkannte ihn am raschen Gang und an den waagerecht abstehenden Klappen der Pelzmütze. Nicht einmal bei solchem eisigkaltem Wind schlug dieser Mensch die Mützenklappen herunter. Der Starschina hatte den Gefangenen schon lange bemerkt. Als er herangekommen war, brummte er etwas vor sich hin. Es klang beinahe, als ob ein Gevatter dem andern mitten in der Nacht guten Tag sagte. Das Große, Flache, Glitzernde, was der Starschina hinter sich herschleift, war ein großes Stück Tragflächenblech von einem abgeschossenen, am Boden wahrscheinlich zerschellten, Jagdflugzeug. Der Starschina bog das Blech, das von aufgefrorenen Schneekristallen glitzerte, so weit zusammen, bis es sich ein Stück zwischen die Speichen eines Karrenrads schieben ließ. Anders hätte das Blech keinen aufrechten Halt gefunden. Der Gefangene verstand, was der Starschina wollte. Er wollte hinter dem blechernen Windschirm ein neues Feuer anmachen. Vielleicht dem Milchbart zuliebe, weil der ohne Feuerchen nicht ruhig schlafen konnte. Mit dem Nahkampfdolch, den er immer am Koppel trug, begann der Starschina Späne von einem Knüppel zu hauen. Der Gefangene schichtete die Späne kunstvoll zu einem Türmchen. Es kribbelte ihm in den Fingern, die Flamme daranzuhalten. Aber er hatte sein Feuerzeug nicht mehr. Diese schisserige Alte in der Hütte, die wusste doch ganz genau, dass man in so einem Leben ohne Feuerzeug nicht auskommt. Die Weiber hatten ihr Feuer. Auf einem Ofen unter einem Dach mit vier Wänden lässt sich die Glut allemal halten. Nu! sagte der Starschina ungeduldig. Er kannte das Feuerzeug des Gefangenen. Er hatte es sich fachmännisch betrachtet, karascho! für gut befunden. »Kaputt«, sagte der Gefangene. Der Starschina griff in die Manteltasche, warf ihm sein eigenes zu. Das war vom gleichen Kaliber, dieselbe Bauweise, nur mit einer schraubbaren Kappe. Kein Kunststück, wenn man einen Gewindeschneider hat. Die Flamme züngelte hoch. Die Männer holten die verkohlten Reste von der alten Feuerstelle, bauten eine Sparrenspitze aus frischen Knüppeln. Ihr Feuer brannte hervorragend, wie nach Dienstvorschrift. Mit der rasch zunehmenden Wärme taute das Blech ab. Farbe erschien auf grauem Grund, weiße und schwarze Farbe. Das deutsche Balkenkreuz erschien, als die Flammen aus der Sparrenspitze schlugen. Der Starschina tat gleichgültig. Das Pferd tanzte mit den Hinterbeinen etwas zur Seite. Solche Kreuze hat vielleicht Maria aufgespritzt. Sie hat geschrieben, dass sie mit der Schablone spritzt. Der Starschina will etwas wissen, er fragt etwas, familija kommt vor. Was geht den Starschina meine Familie an. Könnt’ man reden in seiner Sprache, könnt’ man doch nicht reden. Darüber ist nicht zu reden. In keiner Sprache nicht. Maria, das ist meine Sache. Wo die Decke nicht deckt, sitzt dem Pferd der Raureif im Fell. Da lässt sich das Brandzeichen mit dem Daumennagel einbrennen.

»Frau«, sagte der Mann. Und kratzte, wo die Decke nicht deckte, ein Kreuz in die Hinterhand des Pferdes.

Und der Junge, das ist auch meine Sache. Der Junge ist ein Hitzkopf. Das haben sie gemerkt. Da haben sie einen Schneidigen aus ihm gemacht. So einen schneidigen jungen Unteroffizier. Aber ein Gutes hat der Junge an sich. Er kann nicht lügen, nicht ums Verrecken. Ich muss pissen. Man soll nicht gegen den Wind. Lieber gegen ein Hoheitszeichen. Und mein Bruder, Starschina, was der ist, der ist ein Arschkriecher und ein Barrashengst in einer Person. In Polen haben sie ihm ein Auge ausgeschossen. Schwein muss der Mensch haben, hat er gesagt. Nur noch garnisonsverwendungsfähig für den Rest des Krieges. Mittlerweile hat er sich mit dem heilen Auge bis zum Spieß hochgeschielt. Nun inspiziert er in der Garnison die Pferdeställe. Wenn überhaupt noch Zossen stehen in den Ställen. Aber der hält durch. Und wenn nur noch eine Mähre steht, und nur noch ein Rekrut für’n Stalldienst übrig ist, dann muss der letzte Rekrut der letzten Mähre, wenn sie rossig ist, mit dem sauberen Taschentuch untern Schwanz. Ordnung und Sauberkeit im Stall! Das kann er brüllen. Aber dafür sorgen, dass Maria aus der Spritzerei rauskam, dafür ist er zu nachtragend. Einmal hat Maria zu ihm gesagt, du bist egalweg ein Schwein, hat sie gesagt. Der Starschina ist kein schlechter Mensch. Hat nicht gefragt, niemand, warum dem Plischke seit vorgestern die Oberlippe klafft. Der Plischke ist ein Speckjäger. Der frisst heimlich, was er bei den Kameraden findet. Und die sind stumm. Der wollte stiften gehen, der Idiot. Mit einer Nullacht und zwei Dosen Schmalz. Familie, Starschina, das ist zu viel verlangt von unsereinem. Da lassen wir’s beim Namen, höflicherweise.

»Röder heiß’ ich«, sagte der Gefangene.

»Roider«, wiederholte der Starschina.

Mehr hatte er auch nicht wissen wollen von dem Deutschen, der sich mit Pferden auskennt und seine eigene Kokarde bepisst. Der jetzt wieder unter das niedrige, flatternde Zeltdach kroch.