Aufgeklärtes Denken. Aus dem Philosophischen Taschenwörterbuch. [Was bedeutet das alles?] - Voltaire - E-Book

Aufgeklärtes Denken. Aus dem Philosophischen Taschenwörterbuch. [Was bedeutet das alles?] E-Book

Voltaire

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Beschreibung

Das Philosophische Taschenwörterbuch ist alles andere als ein Nachschlagewerk. Es ist eine scharfe Abrechnung mit Dummheit, Fanatismus, Borniertheit und Intoleranz. Voltaire führt hier in bestechender Klarheit vor, was eine kritische, undogmatische Geisteshaltung ausmacht. Die hier vorliegende Auswahlausgabe vereint zentrale Stichworte von ›Atheismus‹ über ›Fanatismus‹, ›Freundschaft‹, ›Gleichheit‹, und ›Toleranz‹ bis hin zu ›Vorurteile‹.

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Seitenzahl: 98

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Voltaire

Aufgeklärtes Denken

Aus dem Philosophischen Taschenwörterbuch

Übersetzt von Angelika Oppenheimer

Herausgegeben von Rainer Bauer (Voltaire-Stiftung)

Reclam

2021 Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Covergestaltung: Cornelia Feyll, Friedrich Forssman

Gesamtherstellung: Philipp Reclam jun. Verlag GmbH, Siemensstraße 32, 71254 Ditzingen

Made in Germany 2021

RECLAM ist eine eingetragene Marke der Philipp Reclam jun. GmbH & Co. KG, Stuttgart

ISBN978-3-15-961938-5

ISBN der Buchausgabe 978-3-15-014094-9

www.reclam.de

Inhalt

Vorwort

Aus dem Philosophischen Taschenwörterbuch

Abraham

Âme/Seele

Amitié/Freundschaft

Amour/Liebe

Amour propre / Eigenliebe

Ange/Engel

Anthropophages/Menschenfresser

Apocalypse/Apokalypse

Athée, Athéisme / Atheist, Atheismus

Beau, Beauté / Schön, Schönheit

Bêtes/Tiere

Bien. Souverain bien / Das Gute. Das höchste Gut

Tout est bien / Alles ist gut

Bornes de l’esprit humain / Die Grenzen des menschlichen Geistes

Caractère/Charakter

Certain, Certitude / Gewiss, Gewissheit

Chaîne des évènements / Die Kette der Ereignisse

Chaîne des êtres créés / Die Kette der geschaffenen Lebewesen

Le ciel des anciens / Der Himmel in der Antike

Circoncision/Beschneidung

Corps/Körper

De la Chine / Über China

Catéchisme Chinois / Chinesischer Katechismus

Destin/Schicksal

Égalité/Gleichheit

Enfer/Hölle

États, Gouvernements / Staats- und Regierungsformen

Fanatisme/Fanatismus

Fausseté des vertus humaines / Die Falschheit der menschlichen Tugenden

Fin, Causes finales / Zweck, Zweckursachen

Folie/Verrücktheit

Fraude/Betrug

Grâce/Gnade

Guerre/Krieg

Idole, Idolâtre, Idolâtrie / Götzenbild, Götzendiener, Götzendienst

Inondation/Überflutung

Des lois / Über die Gesetze

Lois civiles et ecclésiastiques / Staatliche und kirchliche Gesetze

Luxe/Luxus

Matière/Materie

Méchant/Böse

Métamorphose, Métempsychose / Verwandlung, Seelenwanderung

Miracles/Wunder

Moïse/Mose

Patrie/Vaterland

Pierre/Petrus

Préjugés/Vorurteile

Religion

Résurrection/Auferstehung

Salomon

Sensation / Sinnliche Wahrnehmung

Superstition/Aberglaube

Tirannie/Tyrannei

Tolérance/Toleranz

Vertu/Tugend

Zu dieser Ausgabe

Inhaltsübersicht nach deutschen Stichwörtern

Vorwort

Voltaires Philosophisches Taschenwörterbuch, zuerst 1764 in Genf erschienen und 2020 erstmals vollständig ins Deutsche übersetzt, ist ein Aufruf gegen Aberglauben und Fanatismus, für Toleranz und vor allem zum Gebrauch des eigenen Verstandes. Jederzeit kann man diesem Aufruf folgen: Man beobachte, halte seine Sinneseindrücke fest, ziehe folgerichtige Schlüsse aus ihnen und übernehme nicht ungeprüft, blind und ängstlich, was die Autoritäten aus Kirche, Universitäten und Staat sagen. So heißt es kurz und knapp in Voltaires frühem Drama Ödipus:

Vertrauen wir nur uns selbst, sehen wir alles mit unseren eigenen Augen. Sie sind unsere heiligen Gefäße, unsere Orakel, unsere Götter.

Voltaire (geboren unter dem Namen François-Marie Arouet; 1694–1778) nahm die Fackel wieder auf, die den Humanisten der Renaissance im 16. und 17. Jahrhundert durch die katholische Gegenreformation, die Ketzer- und Hexenverbrennungen, die Inquisition, aus den Händen geschlagen worden war, und bereitete so den Boden für die Große Französische Revolution.

Sein Philosophisches Taschenwörterbuch wurde verboten und verbrannt, und da, wenn man Bücher verbrennt, dasselbe oft auch Menschen droht, wurde in Abbéville der Chevalier de la Barre gefoltert, an den Pranger gestellt, schließlich am 1. Juli 1766 geköpft und auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Zusammen mit den sterblichen Überresten de la Barres verbrannte auch ein Exemplar des Philosophischen Taschenwörterbuchs, das er und seine Freunde gelesen hatten. Voltaire, der das Werk anonym und mit dem fingierten Druckort London veröffentlicht hatte, fürchtete nach diesem Terrorurteil ebenfalls um sein Leben. Es gelang ihm und seinen Verbündeten jedoch, der Inquisition Einhalt zu gebieten, bis ihr schließlich durch die Französische Revolution endgültig die Folterinstrumente aus den Klauen geschlagen wurden.

Die Grundsätze der Aufklärung, die im 18. Jahrhundert bis in adelige Kreise hinein einen ungeheuren Siegeszug beschritten und die Macht der Kirche schwer erschütterten, waren:

Wissen statt Glauben!

Beweis durch Überprüfen in Experiment und Quellenkritik statt durch Bezug auf Autoritäten!

Jeder soll seine Gedanken frei und ohne Bedrohung veröffentlichen können!

Toleranz (Glaubensfreiheit): keine Verfolgung wegen Mitgliedschaft in einer abweichenden Religionsgemeinschaft oder wegen Atheismus!

In den 73 Artikeln seines Philosophischen Taschenwörterbuchs zeigt Voltaire, wie er aufgeklärtes Denken auffasst: Man sammle die gängigen Ansichten zu einem Thema, konfrontiere sie mit den Tatsachen, am besten aus eigener Beobachtung, daraus schließe man auf die Wahrheit, die auch in der Feststellung bestehen kann, dass wir durchaus nichts über eine Sache wissen können. Die hier zusammengestellten Auszüge aus dem Philosophischen Taschenwörterbuch vermitteln einen Eindruck von der Geburtsstunde dieser Geisteshaltung der Neuzeit.

Rainer Bauer

Aus dem Philosophischen Taschenwörterbuch

Abraham

Man sagt uns, er1 sei in Chaldäa geboren worden und Sohn eines armen Töpfers gewesen, der seinen Lebensunterhalt damit verdiente, kleine Götterfiguren aus Ton herzustellen. Es ist kaum wahrscheinlich, dass der Sohn dieses Töpfers aufgebrochen ist und unwegsame Wüsten durchquert hat, um dreihundert Meilen davon entfernt unter dem Wendekreis Mekka zu gründen. War er ein Eroberer, wandte er sich zweifellos dem schönen Land der Assyrer zu; war er nur der arme Mann, als den man ihn uns beschreibt, hat er außerhalb seiner Heimat keine Königreiche gegründet.

Die Genesis berichtet, er sei 75 Jahre alt gewesen, als er nach dem Tod seines Vaters Terach, dem Töpfer, das Land Haran verließ. Aber dieselbe Genesis sagt auch, dass Terach Abraham mit 70 Jahren zeugte, selber bis zum Alter von 205 Jahren lebte, und dass Abraham Haran erst nach dem Tode seines Vaters verließ.2 Nach dieser Berechnung erhellt aus der Genesis selbst, dass Abraham 135 Jahre alt war, als er Mesopotamien verließ. Er ging von einem götzendienerischen Land in ein anderes götzendienerisches Land namens Sichem in Palästina. Warum ging er dorthin? Warum verließ er die fruchtbaren Ufer des Euphrat für eine so weit entfernte, so unfruchtbare, so steinige Gegend wie die von Sichem? Das Chaldäische muss sich von der Sprache Sichems stark unterschieden haben, es war kein Handelsplatz; Sichem ist von Chaldäa mehr als hundert Meilen entfernt, und man muss Wüsten durchqueren, um dorthin zu gelangen; aber Gott wollte, dass er diese Reise unternahm, er wollte ihm das Land zeigen, das seine Nachkommen einige Jahrhunderte nach ihm bewohnen würden. Nur schwerlich begreift der menschliche Geist den Sinn einer derartigen Reise.

Kaum ist er in dem kleinen bergigen Sichem angekommen, zwingt ihn eine Hungersnot, es zu verlassen. Er geht mit seiner Frau nach Ägypten, um dort eine Lebensgrundlage zu finden. Von Sichem nach Memphis sind es zweihundert Meilen. Ist es normal, dass man so weit entfernt um Korn bittet, in einem Land, dessen Sprache man überhaupt nicht versteht? Dies sind seltsame Reisen, unternommen im Alter von fast 140 Jahren.

Âme/Seele

Könnte man in seine Seele blicken, so wäre dies eine gute Sache. Erkenne dich selbst ist eine vortreffliche Verhaltensregel, doch Gott allein vermag sie anzuwenden, denn wer außer ihm ist in der Lage, sein eigenes Wesen zu erkennen?

Als Seele bezeichnen wir, was beseelt. Weil unser Verstand beschränkt ist, wissen wir davon kaum mehr. Drei Viertel der Menschheit kommen darüber nicht hinaus und scheren sich nicht um das denkende Wesen, das letzte Viertel sucht, doch hat niemand jemals etwas gefunden, noch wird jemals irgendjemand etwas finden.

[…]

O Mensch, dieser Gott hat dir den Verstand gegeben, damit er dich gut leite, aber nicht, damit du in das Wesen der Dinge dringst, die er geschaffen hat.

Amitié/Freundschaft

Das ist ein stillschweigender Vertrag zwischen zwei füreinander offenen und aufrichtigen Personen. Ich sage offen, weil ein Mönch, ein Einsiedler, keineswegs bösartig sein muss und doch lebt, ohne die Freundschaft zu kennen. Ich sage aufrichtig, weil die Bösartigen nur Komplizen haben, Wollüstlinge haben Kumpane ihrer Ausschweifungen, Gewinnsüchtige Teilhaber, Politiker versammeln Parteigänger, der gewöhnliche Müßiggänger hat seine Beziehungen, Prinzen haben Höflinge, allein aufrichtige Menschen haben Freunde.

Amour/Liebe

Amor omnibus idem.3 Hier müssen wir uns auf körperliche Dinge beziehen, denn Liebe ist ein Stoff der Natur, den die Fantasie bestickt hat. Willst du eine Vorstellung von der Liebe bekommen, so schau auf die Spatzen in deinem Garten, auf deine Tauben; betrachte den Stier, welchen man zu deiner Jungkuh bringt; sieh den stolzen Hengst, den zwei Stallburschen der friedlichen Stute zuführen, die ihn erwartet und ihren Schweif zur Seite dreht, um ihn zu empfangen; sieh, wie seine Augen sprühen; höre sein Gewieher; betrachte dies Springen und Tänzeln, die gespitzten Ohren, das Maul, wie es sich unter kurzen Zuckungen öffnet, die geblähten Nüstern, den entflammten Atem, der daraus entweicht, die Mähne, die sich sträubt und wogt, diese ungestüme Bewegung, mit der er sich auf das Objekt stürzt, das seine Natur ihm bestimmt hat. Du aber sei bloß nicht eifersüchtig, sondern gedenke der Vorzüge der menschlichen Gattung: sie entschädigen in der Liebe für alles, was die Natur den Tieren mitgab: Kraft, Schönheit, Zwanglosigkeit, Schnelligkeit.

[…]

Die meisten der Tiere, die sich paaren, kosten die Lust nur mit einem einzigen Sinn aus, und sobald dieses Verlangen gestillt ist, erlischt alles. Kein Lebewesen außer dir kennt die Umarmung; dein ganzer Leib ist empfindsam; deine Lippen vor allem genießen eine Wollust, die nichts ermüdet, und diese Lust gehört deiner Gattung allein. Schlussendlich kannst du dich jederzeit der Liebe hingeben, während die Tiere nur einen bestimmten Zeitraum haben. Wenn du diesen Vorrang bedenkst, wirst du mit dem Grafen von Rochester sagen: »Die Liebe brächte noch ein Land von Atheisten dahin, das Göttliche anzubeten.«4

[…]

Das also ist es, was du den Tieren voraus hast, doch wenn du so viele Freuden genießt, die sie nicht kennen, so auch viele Leiden, von denen sich die Tiere überhaupt keine Vorstellung machen! Das Schreckliche für dich ist, dass die Natur in drei Vierteln der Erde die Liebesfreuden und die Quellen des Lebens mit einer scheußlichen Krankheit vergiftet hat, die nur den Menschen trifft und die nur bei ihm die Fortpflanzungsorgane infiziert!

Es ist mit dieser Pest nicht so wie mit zahlreichen anderen Krankheiten, die eine Folge unserer Maßlosigkeit sind. Es ist mitnichten die Ausschweifung, die sie in die Welt gebracht hat. Phryne, Lais, Flora, Messalina5 wurden nicht von ihr befallen, sie ist auf Inseln entstanden, wo die Menschen in Unschuld lebten, und hat sich von dort aus in der Alten Welt ausgebreitet.

Wenn es jemals einen Grund gab, die Natur anzuklagen, dass sie ihr eigenes Werk missachtet, ihrem eigenen Plan widerspricht, gegen ihre eigenen Absichten handelt, dann aus diesem Anlass. Ist dies die beste aller möglichen Welten? Wie das? Wenn jene Krankheit Cäsar, Antonius, Octavius nicht befiel, hätte es dann nicht sein können, dass sie auch François I6 verschonte? Nein, sagt man, die Dinge wurden so zum Besten eingerichtet: Ich möchte es glauben, aber es fällt schwer.

Amour propre / Eigenliebe

Ein Bettler aus der Gegend um Madrid bat mit edler Geste um Almosen. Ein Passant sagte zu ihm: »Schämen Sie sich denn nicht, diesem unwürdigen Beruf nachzugehen, wo Sie doch arbeiten können?« – »Mein Herr, antwortete der Bettler, ich bitte Sie um Geld, und nicht um Ratschläge«; dann drehte er ihm den Rücken zu und bewahrte so seine kastilische Würde. Das war schon ein stolzer Herr, dieser Bettler, ein Weniges genügte, um seine Eitelkeit zu verletzen. Aus Eigenliebe bat er um Almosen und duldete nicht, dass eine andere Eigenliebe ihn rügte.

Ein Missionar reiste durch Indien und traf auf einen Fakir, kettenbehängt, nackt wie ein Affe, der auf seinem Bauch lag und sich für die Sünden seiner indischen Mitbürger auspeitschen ließ, die ihm dafür einige Heller in Landeswährung gaben. »Welche Selbstverleugnung!«, sprach einer der Zuschauer – »Selbstverleugnung?«, erwiderte der Fakir; »Sie sollen wissen, dass ich mir in dieser Welt nur den Hintern versohlen lasse, um es Ihnen in einer anderen zurückzugeben, wenn Sie das Pferd sein werden und ich der Reiter.«

Diejenigen, die gesagt haben, dass die Eigenliebe die Grundlage all unserer Empfindungen und Handlungen sei, haben folglich absolut recht in Indien, in Spanien und auf der ganzen bewohnbaren Erde; und weil man nicht schreibt, um den Menschen zu beweisen, dass sie ein Gesicht haben, braucht man ihnen auch nicht zu beweisen, dass sie Eigenliebe besitzen. Diese Eigenliebe ist das Werkzeug unserer Selbsterhaltung und gleicht dem Werkzeug unserer Arterhaltung; es ist uns unentbehrlich, es ist uns teuer, es bereitet uns Vergnügen, und man muss es verbergen.

Ange/Engel