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Auf der Suche nach einem verschwundenen Freund löst eine Buchhändlerin versehentlich eine Revolution aus und stürzt ein ganzes Land in eine fundamentale Krise, in der es auf einmal um alles geht: Leben, Tod, Wasser, Demokratie und vor allem um die Liebe. Margarete "Maxi" Messner stolpert unfreiwillig in ein rasantes Abenteuer, in dem sich alles um das Wasser dreht, das letzte nicht neoliberal geschröpfte Gemeingut. Es weckt auch das Interesse von gewissenlosen Energiekonzernen, die mehr aus der Kraft des Wassers ziehen wollen, als man sich vorstellen vermag. Der letzte Puzzlestein zur uneingeschränkten Macht, das Missing Link, fehlt allerdings. Maxi gerät in den Besitz dieses "Missing Link" und damit entfacht sich der erschreckend aktuelle Kampf Gut gegen Böse. Margarete Messner wird zu einer unfreiwilligen Heldin, wie sie in jedem von uns stecken könnte: Sie verliert alles, aber sie gibt nicht auf. Aufstand erzählt im charmantest-möglichen Plauderton eine allgemeingültige Geschichte über Verzweiflung und Gerechtigkeit, Zufälle und Prinzipien. Und appelliert dabei an jeden Einzelnen, den Mut zur Veränderung aufzubringen - wenn auch nur im Kleinen.
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Seitenzahl: 238
Fabian Eder
Aufstand
Roman
FABIAN EDER
ROMAN
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1. Auflage 2013© 2013 by Braumüller GmbHServitengasse 5, A-1090 Wienwww.braumueller.at
Coverfoto: Dora Pete / sxcISBN Printausgabe: 978-3-99200-100-2
ISBN E-Book: 978-3-99200-101-9
I will not pretend
I will not put on a smile
I will not say I’m all right for you
For you, whoever you are
You bloody mother fucking asshole
Martha Wainwright, „Bloody Mother Fucking Asshole“, 2005
Ich wusste es bereits, als sie das erste Mal eintrat. Sie war bleich, sah müde aus, verletzbar, Hilfe suchend. Und ich war derjenige, der ihr helfen würde. Das war mir damals schon klar, in diesem ersten Moment unserer ersten Begegnung. Und jetzt war es soweit. Ich hatte ihr lange zugehört, versucht, ihr zu glauben, konnte es aber nicht, bis ich schließlich nicht mehr anders konnte, als ihr zu glauben, sosehr ich mich zusehends dagegen wehrte.
Heute ist der 14. März 2013, es ist 16 Uhr, ein Donnerstag. Ich habe die Arbeit mit Margarete Messner heute Vormittag nach unserem wöchentlichen Treffen beendet. Mein Wissen und mein Können sind am Ende. Um diesen Schritt, der mir nicht leichtfällt, zu verstehen, müssen Sie die ganze Geschichte kennen. Ich werde versuchen, Ihnen diese zu erzählen, so gut ich das kann, werde meine Aufzeichnungen zu Hilfe nehmen, diese Hundertschaft an Seiten, klein und mit der Hand geschrieben. Ich hebe die handschriftlichen Notizen zu den schwierigen Fällen immer getrennt und sicher verwahrt auf, versteckt, wenn Sie so wollen, in erster Linie, damit meine neugierige und geschwätzige Putzfrau, die ich bis vor Kurzem noch hatte, diese nicht liest. Es hat sich bezahlt gemacht. Bei dem Einbruch in meine Praxis vor drei Tagen sind alle Unterlagen, Patientendaten, mein Laptop, sämtliche Festplatten und viele persönliche Dinge gestohlen worden. Ich fürchte, ich weiß, wo all das ist, und dieses Wissen macht mein Leben keineswegs sicherer. Die Frage ist also: kämpfen oder fliehen?
Fliehen werde ich nur mit ihr, und sie wird nicht fliehen. Sie hat gelernt, stur zu bleiben. Und das ist eine Tugend, auch wenn das vielen nicht klar ist. Sturheit kann man lernen und, wenn Sie mich fragen: Sturheit muss man lernen.
Die handschriftlichen Notizen liegen hier auf dem Tisch und mir sind Ihre Blicke nicht entgangen, aber, um gleich klarzustellen: Es handelt sich um Kopien. Die Einbrecher haben die Originale in meiner Wohnung nicht gefunden, und, glauben Sie mir, sie werden diese niemals finden, folglich wäre es sinnlos, mir die Kopien entreißen zu wollen. Aber ich würde nicht hier sitzen, wenn ich Ihnen nicht bis zu einem gewissen Grad vertrauen würde. Obwohl es sich mit dem Misstrauen ähnlich verhält wie mit der Sturheit.
Fangen wir aber ganz vorne an.
Wenn New York der „Big Apple“ ist, dann ist diese Gegend der Apfelstrudel, jenes Kuchenstück, das sich zwischen der Mariahilfer Straße, der Pilgramgasse und dem inneren Teil der Favoritenstraße über Naschmarkt und Karlsplatz hinweg ergießt Richtung Innenstadt, jener den Menschen weitgehend entzogenen Zone, in der die politischen und finanziellen Entscheidungen des Landes getroffen werden, auf Firmenrechnung und mit Blick auf den Stephansdom, zwischen Sushi und Wokgemüse, allerfeinste Qualität.
Diese Gegend, die Teile des vierten, fünften und sechsten Wiener Gemeindebezirks umfasst, ist die Heimat jener fluktuierenden Gesellschaftsschicht, die nur ein paar Jahre in solchen Bezirken verweilt, ehe sie hinauszieht an den noblen Stadtrand, ins Grüne, wegen der Kinder, damit sie ins Freie können. Grünflächen haben hier etwas Exotisches. Aber unser Apfelstrudel ist alle paar Jahre wieder, wenn sich eine gewisse Konstellation an jungen Leuten, Studenten, Künstlern, Querdenkern, Krawattenträgern, Strizzis und gealterten Intellektuellen zusammenfindet, einer der wegweisenden Flecken auf dieser Welt. Hier werden Ideen geboren, lange bevor man im Big Apple eine Ahnung hat, dass es diese überhaupt gibt.
Nichtsdestotrotz, im Gegensatz zur Innenstadt wohnen und leben hier Menschen, eine seltsame Mischung aus Bürgertum und Künstlern, aus Spießern und Anarchisten. Manchmal kann man sogar den Eindruck gewinnen, als würde in dieser Gegend die dem Land sonst konsequent anhaftende Trennung in die linke und die rechte Reichshälfte außer Kraft gesetzt sein, freilich nur zeitweise. Das System hat sich ja bekanntlich zu gut bewährt und versteht, sich selbst vor Krebsgeschwüren zu schützen. Wo Menschen frei denken, orten marode Systeme immer Geschwüre.
Seit dem Jahr 1944 lebte hier ein Mann, der irgendwann in den späten Siebzigerjahren – oder war es Anfang der Achtziger? – begann, Sandalen anzuziehen, sich in eine Toga zu hüllen, einen Kranz aus Olivenzweigen ins Haar zu stecken und mit seinem gehstockgroßen Zepter in der Hand den Menschen zu predigen, sie sollen ihre Umwelt achten und einander lieben; er nannte sich WaLuLiSo, nach der Zusammensetzung der Anfangsbuchstaben seiner Botschaft: Wasser, Luft, Licht, Sonne. Er wurde natürlich als Spinner abgetan, wenn er so in die Innenstadt zog, Downtown, zu den Schönen und Reichen, wurde erst befremdet, dann belustigt angeglotzt, aber nachdem er die erste Zeit der Befremdung ausgesessen hatte, waren die Wiener sogar ein bisschen stolz, einen WaLuLiSo zu haben, etwas, das es woanders nicht gab, vergleichbar mit den Lipizzanern. Dass er fast kein Geld hatte und praktisch von nichts lebte, müsste nicht erwähnt werden, hätte er nicht bei einem seiner letzten Auftritte in der Kärntner Straße Geld verteilt mit dem Hinweis: „Charakter zählt und nicht Geld. Politiker sind Spekulanten.“
Das wirklich Faszinierende an WaLuLiSo war, dass er diese Botschaft zu einem Zeitpunkt in die Welt entsandte, als es modern wurde, sich von den Achtundsechzigeridealen abzuwenden und endlich vernünftig, also neoliberal zu werden, und man landauf, landab mit dem Spruch „Hängt die Grünen, solange es noch Bäume gibt“ ganze Gesellschaften unterhalten konnte, egal zu welcher Reichshälfte sich diese zählten. Man könnte sagen, er hat vorausgesehen, wie sich die Welt entwickeln würde, die Geiz-ist-geil-Gesellschaft, den Ruf nach der Energiewende und so weiter; vielleicht hat er aber nur seine Werte vertreten, so unpopulär sie auch gewesen sein mögen, und das mit einer gewissen Sturheit. Ohne Blasphemie betreiben zu wollen: Hat Jesus das nicht auch getan? Wäre Jesus ein Österreicher gewesen, er hätte im Apfelstrudel gelebt, wie auch WaLuLiSo im Apfelstrudel nicht wohnte, vielmehr hauste, noch treffender: vegetierte, im fünften Wiener Gemeindebezirk in der engen Wehrgasse am oberen Ende des Naschmarkts, in einer jener winzigen Einzimmerwohnungen, deren Mauern bis über Kopfhöhe hinauf nicht feucht, sondern nass sind, aufgeweicht vom nahen Wiental, neun Quadratmeter groß ein Bauer würde sein Vieh nicht dort einstellen, aber an Menschen werden die Wohnungen heute wie damals vermietet.
Am Dienstag, den 3. April 1984, chauffierte ein gewisser Hans Braunbrenner eine Straßenbahngarnitur der Linie D vom Südbahnhof kommend Richtung Nußdorf. Braunbrenner wusste noch nicht, dass dieser Tag sein Leben wesentlich mitbestimmen würde. Meist erkennen wir solche Tage nicht, die wirklich entscheidenden sind oft ganz unscheinbar, haben jedoch große Auswirkungen, und wir neigen dazu, jene Tage der markanten Umbrüche, Erfolge, Katastrophen als die entscheidenden, als jene Tage zu bezeichnen, die Signalwirkung haben, an denen sich etwas bewegt. Das wirklich Entscheidende passiert aber immer schon viel früher. An diesem Tag musste Hans Braunbrenner eine der drei „Sandbremsungen“ in seinem Leben hinlegen, weil WaLuLiSo die Ringstraße vor dem Hotel Bristol unachtsam überquert hatte und vor Braunbrenners D-Wagen ins Straucheln gekommen war. Braunbrenner, unfallfrei ein Leben lang, konnte Schlimmeres verhindern und WaLuLiSo lächelnd wieder aufstehen und ihm danken. Was bedeutet es eigentlich, wenn man jemandem das Leben rettet?, fragte sich Braunbrenner einige Monate später, und ob es denn sein könne, dass ein Teil der Seele, ein Teil des Lebens vom Geretteten auf den Retter überspringe und umgekehrt natürlich auch. Diese persönliche Begegnung und die Tatsache, dass sich die Wege der beiden zwei Stunden später auf dem Schwarzenbergplatz wieder kreuzten, hatten eine irreversible Auswirkung auf das Leben von Hans Braunbrenner. Am anderen Ende der Welt, in Buenos Aires, Argentinien, kam an diesem Tag Maximiliano Gastón López zur Welt, der scheinbar nichts mit Braunbrenner zu tun hatte. Scheinbar.
Zwölf Jahre später, Braunbrenner hatte schon begonnen, sich zaghaft dem Universum zu öffnen, natürlich ohne dass es irgendjemand bemerkt hätte, lenkte er am 21. Juli 1996 eine Straßenbahn der Linie 71 zum Zentralfriedhof. An diesem Tag starb WaLuLiSos Körper zweiundachtzigjährig. Seine Seele aber bestieg eben diesen 71-er am Schwarzenbergplatz, stellte sich hinter Braunbrenner, lächelte zufrieden und klopfte ihm ermutigend auf die Schulter, als die Sonne ihn kurz blendete. Wenn man einmal begonnen hat, sich dem Universum zu öffnen, die Kräfte fließen zu lassen, begreift, dass alles eins ist, ein großer Fluss durch Raum und Zeit, dann gibt es keine Zufälle mehr, sosehr man sich vielleicht auch wünscht, dass manches nur Zufall sei.
Weitere zehn Jahre später und dem Universum schon deutlich geöffnet, fuhr Braunbrenner zum letzten Mal für die Wiener Linien. Wie sollte es anders sein, den 71-er, ein makaberer Scherz gegenüber jemandem, den man in Pension schickte, könnte man meinen. In Wahrheit stand kein anderer Plan dahinter als der Dienstplan der Wiener Linien, der auf solche Feinheiten keine Rücksicht nahm, sich aber andererseits auch nicht aus dem Treiben der universellen Kräfte herausschälen konnte, so gern er das auch manchmal mochte. Und so erkannte Braunbrenner, dass sich der Kreis schloss, und es durchströmte ihn eine große Gewissheit, mit seinem unsichtbaren Fahrgast zum letzten Mal in die Remise einzufahren, mit jemandem, der nicht mehr aufgehört hatte, ihn zu begleiten, seit jener Sandbremsung vor dem Bristol, zweiundzwanzig Jahre zuvor. Braunbrenner lächelte innerlich, als er den Bügel von der Oberleitung abzog und ausstieg. Die kleine Abschiedsfeier ließ er freundlich und geduldig über sich ergehen wie auch die Sprüche seiner Kollegen. Er war verblüfft über sich selbst, hatte er doch keinerlei Gefühlsregungen. Er war nicht traurig, nicht fröhlich, nicht glücklich und nicht verzweifelt. Er war eins mit dem Universum, er ruhte in sich selbst. Er hatte sein ganzes Leben bei den Wiener Linien verbracht und es bereitete ihm keine Schwierigkeit, jetzt aus der Remise hinauszugehen, Auf Wiedersehen zu sagen und zu wissen, dass man sich nie wiedersehen würde, nicht, wie versprochen, einmal auf ein Bier oder zum Heurigen. Und nie wieder würde er den Geruch der alten Straßenbahngarnituren riechen und es machte ihm nichts aus.
Eine Stunde später kam er in seine Wohnung, fünfundfünfzig Quadratmeter, ein Gemeindebau im Bezirk Donaustadt, auf der anderen Seite der Donau. Die Wohnung war leer und geputzt. Der Beamte, der die Übergabe abwickelte, konnte nicht aufhören, seiner Verwunderung Ausdruck zu verleihen: Wieso gab Braunbrenner nur diese Wohnung auf? Eine Gemeindewohnung! Nach all den Jahren? Bei der günstigen Miete? Und gerade jetzt, wo der Bezirk doch so gewonnen hat, mit riesigem Einkaufszentrum und Kinotempel vor der Tür? Braunbrenner sagte dazu nichts, lächelte unverbindlich und zog von dannen, im sicheren Wissen, weder diesen Beamten noch diese Wohnung, dieses Wohnhaus, diese Siedlung jemals wiederzusehen, und es machte ihm auch das nichts aus.
Als er, nur mehr Fahrgast, aber an diesem Tag noch Vertragsbediensteter und damit zur Freifahrt berechtigt, in der U-Bahn-Linie 1 sitzend, die Donau überquerte, blendete ihn wieder kurz die Sonne, die im Westen schon tief stand. Sechs Wochen zuvor hatte er den 71-er in der Remise geparkt und mit der Routine eines absolvierten Berufslebens das Wageninnere der Garnitur kontrolliert, als ihm zwischen den achtlos zurückgelassenen Gratiszeitungen, die in den Stationen für jedermann auflagen, ein Zweig aufgefallen war. Er hatte sich vornübergebeugt. Wo hatte er so einen Zweig schon einmal gesehen? War nicht aus solchen Zweigen der Kranz jenes seltsamen Mannes geflochten gewesen, den er damals vor dem Bristol beinahe überfahren hatte? Unter dem Olivenzweig war ein Stück einer Zeitung gelegen, wie sie sonst selten zurückgelassen wurde, denn sie war nicht umsonst, daneben ein Stück eines Apfels, ein Keil, fein säuberlich herausgeschnitten, weder angebissen noch verfärbt. Braunbrenner hatte den Kopf zur Seite gelegt, so als wollte er den Standpunkt wechseln, und festgestellt, dass dieses Stillleben unmöglich einer Willkür entsprungen sein konnte. Unsicher hatte er sich aufgerichtet, sich umgesehen, vergewissert, dass ihn niemand beobachtete, dann niedergekniet und mit größter Vorsicht den Zweig mit Daumen und Zeigefinger ein kleines Stück hochgehoben. Darunter war die Annonce zum Vorschein gekommen. Noch am selben Tag hatte er den Mietvertrag unterschrieben.
Und jetzt, nach seinem Leben bei den Wiener Linien, bog er von der Hamburgerstraße ab, um seine neue Wohnung und sein neues Leben zu betreten: neun Quadratmeter, Wehrgasse, Wien Margareten.
Der fünfte Wiener Gemeindebezirk wurde, so sagt man zumindest, nach Margarete „Maultasch“ von Tirol benannt, die hier im Oktober 1369 gestorben war, nachdem sie Tirol den Habsburgern übergeben hatte, um es vor der Gier der Tiroler Barone und Landherren zu schützen. Diese dankten ihr das mit unbändigem Hass und übler Nachrede, sodass einhundertfünfzig Jahre nach ihrem Tod das erste Bildnis entstand, das sie von unglaublich abscheulicher Hässlichkeit entstellt und vertrauenswürdigen Quellen der Zeit damit widersprechend zeigt, war sie doch offenbar eine durchaus ansehnliche Frau. Nichtsdestotrotz, sie war eine Frau und hat regiert, was in der patriarchal strukturierten Gesellschaft Tirols damals wie heute einer Gotteslästerung gleichkam, und sie hat zu allem Überfluss mit ihrer Tat den wesentlichen Grundstein für das heranwachsende Österreich gelegt, das Österreich, das in seiner Rumpfform ja heute noch oder, um genau zu sein, wieder existiert. Grund genug für die Tiroler, sie bei jeder Gelegenheit hässlichzureden, wenn sie sich gerade mal nicht verschweigen oder sich das Gespräch auf Andreas Hofer lenken ließ, den tollen Burschen, auch eine historische Figur und immerhin ein Held, der unter dem Einsatz seines Lebens versucht hatte, Tirol vor der Aufklärung zu schützen. Eine verklärte Form, mit der Vergangenheit umzugehen, wie sie in Österreich Schule gemacht hat, Verschweigen ist ja nach wie vor modern, und dort, wo das Verschwiegene zur Sprache kommt, ist Abstreiten die weitläufigste Taktik, dicht gefolgt vom Sich-selbst-als-Opfer-Darstellen.
An der einen Wand prangte überlebensgroß das Plakat eines schwarz gelockten Südamerikaners in einem gelben Trikot mit grünem Kragen: Éder Aleixo de Assis, brasilianischer Fußballnationalspieler der Achtzigerjahre, wahrscheinlich bester Linksaußen seiner Zeit, trug wegen seines gewaltigen Schusses den Spitznamen „O Canhão“, die Kanone. Ihm gegenüber, ebenso groß, das Bild eines anderen jungen Mannes mit langen blonden Locken: Maximiliano Gastón López, argentinischer Ballzauberer der Gegenwart, dessen Name und Können all jenen etwas sagte, deren Wissen um Fußball nicht bei seinem vergötterten Landsmann Lionel Messi endete. Die beiden Plakate hingen weit oben im ohnehin hohen Raum, der große Auslagenfenster zur Straße hin hatte. Von unten stiegen zwischen den beiden Fußballhelden die Rauchschwaden selbst gedrehter Zigaretten auf. Eine bunte Gruppe, sozusagen ein repräsentativer Querschnitt aus dem Apfelstrudel, saß und stand an diesem Freitag im Juni vor dem riesigen Plasmabildschirm, brandneu, von der Besitzerin dieser Lokalität, Margarete Messner, eigens angeschafft für die Fußball-WM, leichtsinnig, weil teuer, aber sie würde ihn als Betriebsausgabe von der Steuer abschreiben, wobei man wissen muss, dass es sich bei diesem Etablissement nicht um eine Bar oder ein Café handelte, sondern um eine Buchhandlung, in Wahrheit war es jedoch viel mehr als das.
Margarete wurde wegen ihrer hingebungsvollen Verehrung des blonden Latinos Maxi López von allen „Maxi“ gerufen und nicht etwa, weil es irgendeine verunglückte Abkürzung ihres Namens gewesen wäre. Ihre Buchhandlung, die auch diesen Namen trug, war längst zu einer Institution geworden und in den Jahren herangewachsen, vergleichbar mit jenem gallischen Dorf, das sich Cäsar angeblich erfolgreich widersetzt hatte und noch immer größter Beliebtheit erfreute, zu einem Refugium für Querdenker, Wissenssuchende und all jene, die sich nicht mit dem zufriedengeben wollten, was die großen Buchsupermarktketten zwischen Computerspielen und Bürobedarf als lesenswert anboten, oder die bekannten Internetportale, bei denen man praktischerweise neben der Lektüre für den Strand auch gleich Bikini und Badehose bestellen konnte und den neuen Staubsauger, für den es ohnehin schon längst höchste Zeit gewesen war, genauso wie Speicherkarten für die Digitalkamera. Hier bei Maxi, „in der Maxi“, wie man sich im Volksmund verabredete, hier war ein Ort der Ruhe, des Gediegenen, Freiraum für Verschwörungstheorien, Fundort für alle, die auf der Suche waren, ganz gleich aus welcher Reichshälfte sie hierherkamen. Maxi bewarb ihr Geschäft mit dem einzigartigen Werbeslogan „Verlassen Sie bitte dieses Land“, der an Doppelbödigkeit und Hintergründigkeit kaum zu übertreffen war. Der ihr bekannte Besucher durfte im Ohrensessel Probe lesen, besonders beund erlesene Kunden bekamen auch einen Espresso von der Chefin persönlich serviert. Manches Buch soll hier sogar von Anfang bis Ende Probe gelesen worden sein.
Zu ihren Stammgästen gehörte auch Hans Braunbrenner, mittlerweile besser bekannt als „Der Prophet“, seinem Vorbild in Toga, mit Olivenzweigkranz und Zepter nacheifernd, der schon einige Jahre in der Gegend lebte, sein Erspartes längst verschenkt hatte und sich von seiner Straßenbahnerpension nur das zurückbehielt, was er zum allernotdürftigsten Überleben benötigte. Den Rest gab er Menschen, von denen er glaubte, sie bräuchten es dringender als er selbst. Meist war er spätestens in der Monatsmitte derart pleite, dass er sich selbst durchschnorren musste, und das gelang ihm hier im Apfelstrudel, auch ohne seine Würde verlieren zu müssen. Vor allem Maxi unterstützte ihn, hegte ihn, und ohne es zu wissen, waren zu diesem Zeitpunkt beide Leben bereits viel tiefer ineinander verstrickt, als ihnen bewusst war. Sie war gute dreißig Jahre jünger und hatte in ihm das gefunden, was auch ihm seit Langem gefehlt hatte: Familie.
Zufrieden, weil mit dem Universum verbunden, betrat Braunbrenner an diesem Freitag im Juni das Maxi, platzte in die illustre Runde von Fußballfreunden, die sich vor dem neuen Plasmabildschirm versammelt hatte, und sagte, ganz Prophet: „Spanien wird Weltmeister.“
Bekanntlich sollte er recht behalten und manch einer wird sagen, dass das wohl keine allzu schwierige Prognose war, jenen muss aber entgegengehalten werden, dass es erstens noch einige andere seriöse Kandidaten auf den Turniersieg gab, und zweitens, dass ein ganz wesentlicher Punkt bei der Verbindung mit der universellen Energie der ist, dass man die Dinge, die auf der Hand liegen, auch erkennt – nicht mehr, nicht weniger, oder wie Trainerlegende Ernst Happel sagte: „Vorher muss man’s wissen, nachher weiß es ein jeder.“ Großer Philosoph.
Südafrika und Mexiko hatten sich 1 : 1 unentschieden getrennt und die Gäste im Maxi sich bald nach dem Abpfiff verzogen, die meisten von ihnen in einen der vielen Schanigärten, die sich in die schönen Hinterhöfe erstreckten. Braunbrenner hatte Maxi noch geholfen, die Aschenbecher auszuleeren und die leeren Gläser in den kleinen Geschirrspüler im Hinterzimmer der Buchhandlung zu räumen. Die beiden führten ab und an interessante und angeregte Diskussionen, manchmal bis spät in die Nacht, über dem ein und anderen Glas Rotwein, nicht selten in der Küche von Maxis Wohnung, wohin Braunbrenner regelmäßig eingeladen war, meist, wenn er wieder einmal all sein Geld verschenkt und schon seit Tagen nichts Vernünftiges gegessen hatte. Dabei unterhielten sie sich über Themen wie Umwelt, Gesellschaftspolitik, Armut und die Zukunft der Welt, über „des Kaisers Bart“, wie scheinbar sinnlose Diskussionen vom Wiener Volksmund gern bezeichnet werden. An diesem Abend aber ging es vergleichsweise profan zu, es wurde nämlich persönlich.
„Hansi“, begann Maxi, als sie den Geschirrspüler schloss, „ich mache mir Gedanken.“
„Das ist gut, man soll sich Gedanken machen. Die meisten machen sich viel zu wenig Gedanken!“, antwortete Braunbrenner in der Hoffnung, das Gespräch, das mit jenem gefährlichen Unterton begann, den Frauen haben, wenn sie über wirklich persönliche Dinge sprechen wollen, vielleicht doch noch auf eine andere Ebene zu bringen, Richtung Kaisers Bart sozusagen. Keine Chance.
„Du bist jetzt wie alt?“
Braunbrenner versuchte Halt zu finden, die Unterhaltung schien noch viel schlimmere Bahnen zu nehmen, als er im ersten Augenblick befürchtet hatte. Er ging nach vorne und sah sich bei den Sachbüchern um. So wird man eine Frau, die so ein Gespräch führen will, nicht los.
„Na, deinen Siebziger hast du sicher schon hinter dir, auch wenn keiner weiß, wann du eigentlich Geburtstag hast.“
„Ist auch unwichtig“, murmelte er in einen Bildband über die Entdeckung des Universums, den er aufgeschlagen hatte, so als wolle er eben dieses um Hilfe bitten. Maxi hatte seinen Einwurf offenbar nicht gehört.
„Ich mache mir Sorgen, wie lange das noch gut gehen soll, du in dieser nassen Neun-QuadratmeterWohnung. Ich meine, du hast wirklich was Besseres verdient.“
„Die Menschen haben was Besseres verdient.“
„Hansi, die Menschen sind selber schuld an ihrer Misere.“
„Sagst du.“
„Du tust ohnehin so viel. Schau einmal auf dich selbst.“
„Das tue ich.“
„Nein, tust du nicht, Herrgott noch mal.“
Er legte das Buch zur Seite, drehte sich zu ihr um und blickte sie an, mit ruhigen, zufriedenen und glücklichen Augen. Man hätte meinen können, er würde lächeln. Maxi sah in diesem Blick ihren Vorstoß stranden, sie konnte sich nicht entziehen.
„Danke“, sagte er, nachdem sie sich eine ganze Weile lang, schweigend, so angesehen hatten, und dieses eine Wort umschloss die ganze Welt und vor allem sein Gegenüber.
„Ich will nur, dass es dir gut geht.“
„Ich weiß.“
„Ich hab nämlich sonst niemanden.“
„Ich weiß.“
Dann schloss er sie in seine Arme und tröstete sie in ihrer ganzen Einsamkeit, die unvermittelt aufbrach. Maxi fasste sich langsam wieder. Braunbrenner nutzte diese Gelegenheit zur Flucht und wechselte das Thema.
„Das Wichtigste ist das Wasser.“
„Bitte?“
„Das Wichtigste auf der Welt ist das Wasser. Wir bestehen praktisch nur aus Wasser, die Erde besteht hauptsächlich aus Wasser, überall, wo Leben ist, ist Wasser, muss Wasser sein. Wasser ist die Energie des Lebens.“
„Und die Sonne, das Licht?“
„Auch nicht unwichtig. Aber ohne Wasser nutzlos. Wir müssen uns aufs Wasser konzentrieren.“
„Wie meinst du das?“
„Ich glaube, dass die Natur die Lösung all unserer Probleme birgt. Und das Wasser ist der ganz große Schlüssel zu unserer Zukunft. Das Öl, zum Beispiel, ist eine Bremse, aber das Wasser …“
Maxi zog die Augenbrauen hoch.
„Wasser ist Energie.“
Maxi war zu müde. Sie wusste, würde sie jetzt darauf eingehen, würden sie wieder bis mindestens vier Uhr morgens philosophieren, und sie brauchte dringend Schlaf.
„Nicht heute, bitte.“
Braunbrenner lächelte.
„Nein, nein, kein Problem. Du wirst schon noch früh genug erkennen, was ich meine!“
Sie schaltete das Licht aus und ließ nur die Beleuchtung ihrer Auslage an, Zeitschaltuhr. Sie traten hinaus in den warmen Juniabend, es war schon spät, aber noch dämmerig und die Luft voll Leben. Die Auslage der Buchhandlung erstreckte sich um die Straßenecke, Maxi betrachtete sie kritisch.
„Vielleicht sollte ich einen Wasser-Schwerpunkt machen. Statt der ewigen Krimis.“
Dann verabschiedeten sie sich und Maxi ging über die Straße zu ihrem Haustor. Sie drehte sich noch einmal um, Braunbrenner schlapfte in seiner Toga die Margaretenstraße hinauf, Richtung Wehrgasse. Auch er drehte sich noch einmal um, was er sonst nie tat, und machte den Ansatz einer Handbewegung, so als wollte er sich verabschieden. Er lächelte und Maxi fühlte einen Stich in ihrem Herzen.
Sie stieg die Stufen hinauf in den zweiten Stock. Sie hatte wieder einmal den ganzen Tag in der Buchhandlung verbracht, war damit beschäftigt gewesen, alles für das Eröffnungsspiel herzurichten, den neuen Fernseher zu montieren, die Brötchen zu machen – und hatte vergessen, für sich selbst einzukaufen. Nicht, dass sie jetzt noch Hunger gehabt hätte, aber sie stellte mieselsüchtig1 fest, dass keine Milch mehr im Kühlschrank war, essenzieller Bestandteil des Frühstückstees. Sie öffnete die Fenster, was um diese Tageszeit gut möglich war, da nun durch die Margaretenstraße nur noch vereinzelt Autos fuhren, und ließ die laue Juniluft herein, Stadtluft freilich, nur dem Anschein nach frisch, alles eine Frage der Relationen. Ihrem Instinkt folgend, verzichtete sie auf das tiefe Durchatmen und blickte stattdessen hinunter auf ihr eigenes Geschäft. Sie war zufrieden, wie die Auslage von der Ferne aussah, ein warmes Licht verströmte. Die Buchhandlung war ihr Leben, sie ernährte sie, geistig wie körperlich, auch wenn es immer wieder schwierige Zeiten gab. Sie hatte sich etabliert, hatte es geschafft, eine hübsche Zweieinhalb-Zimmer-Wohnung, sehr ordentlich und trotzdem gemütlich, mit dem Luxus das „halbe“ Zimmer als Schrankraum nutzen zu können. Den Gedanken, dass dieser Raum auch Kinderzimmer werden könnte, ließ sie nicht zu. Sie ging in die Küche, nahm ein Glas und drehte das Wasser auf. Keine schlechte Idee, der Wasser-Schwerpunkt, dachte sie. Es gibt nicht viele Orte auf dieser Welt, an denen Trinkwasser einfach aus der Leitung kommt. Sie ließ das Wasser nahezu zehn Sekunden lang rinnen, wie man es tun soll, wenn man noch die alten Wasserleitungen aus Blei hat, spülte das Glas zweimal aus, und als schließlich das Wasser von tiefer unten heraufgedrückt wurde, beschlug die spiegelnde Chromoberfläche der Armatur, so kalt war das Wasser. Einfach den Hahn aufdrehen, trinken. Kühl. Erfrischend. Gesund. Luxus.
Im Polizeibericht sollte später stehen, dass Hans Braunbrenner das letzte Mal am Montag, den 13. Juni 2010, von einem gewissen Herrn Dr. Walter König, Psychiater, wohnhaft in 1040 Wien, Große Neugasse 17, am Karlsplatz gesehen wurde. Aber nicht etwa irgendwo im Park oder vor der Kirche, sondern mitten auf der großen Kreuzung, an der sich die Wiedner Hauptstraße und die Wiener Straße, die Verlängerung der Rechten Wienzeile, vereinen, um in der Folge in die Kärntner Straße zu münden, auf der einen Seite der Girardipark, die Kunsthalle, auf der anderen der Resselpark, darunter das riesige Labyrinth der U-Bahn-Station Karlsplatz. Der Verkehrsknotenpunkt, an dem sich die Autos nicht nur morgens stauten. Auf dieser Kreuzung, selbst im Stau steckend, hatte der Psychiater den Propheten gesehen, etwa um acht Uhr morgens. Ihm, sozusagen in seiner Eigenschaft als Professionist, war er aufgefallen, wie er, das Zepter schwingend, zwischen den Autos umherlief, seine Stimme mit aller Kraft gegen den Straßenlärm erhebend. Dr. König hatte nur bruchstückhaft verstehen können, was Braunbrenner schrie, aber er sagte aus, in etwa Folgendes vernommen zu haben: „… das Verderben wird über euch kommen in neuem, strahlendem Glanz, schaut hinauf und seht die roten Lettern, die euch in die Finsternis, den Hunger und den Durst führen werden.“
Dr. König wurde gefragt, ob er den offensichtlich verwirrten Mann angezeigt oder in seiner Eigenschaft als Arzt irgendwelche anderen Maßnahmen eingeleitet hätte, um ihn zu beruhigen oder in Sicherheit zu bringen, das sei ja wohl auch nicht ungefährlich gewesen, zwischen all den Autos? Es liege der Polizei auch keine Meldung vor, dass die Rettung verständigt worden sei? König gab zu Protokoll, dass der Spinner schließlich und endlich stadtbekannt sei und in all den Jahren keine im medizinischen Sinn psychiatrische Auffälligkeit gezeigt hätte, zumindest wisse er nichts davon und er fühle sich auch nicht für die Verkehrssicherheit am Karlsplatz zuständig. Nur weil man solche Leute jahrelang frei herumlaufen lasse, könne man bei bestem Willen jetzt nicht ihm etwas andichten.
Die Vehemenz, mit der König darauf hinwies, dass man ihm keine Schuld geben könne am Verschwinden des Propheten, und da außer König auch niemand aussagen wollte oder konnte, Braunbrenner an jenem Morgen am Karlsplatz gesehen zu haben, ließ die Polizei in der Folge an Königs Aussage zweifeln. Später kamen die Ermittler zu der Überzeugung, dass Braunbrenner das letzte Mal von einer gewissen Margarete Messner gesehen worden war, und zwar am Freitagabend auf der Margaretenstraße, womit auch die Aussage des Psychiaters als unglaubwürdig eingestuft wurde.
In den letzten Jahren hatte sich Maxi fast zwangsläufig ein rituelles Verhalten angeeignet, ohne dies zu bemerken und wahrscheinlich ohne es zu wollen, und wenn auch nicht inhaltlich, so war dieses doch in seiner Regelmäßigkeit vergleichbar mit den obligaten Kirchenbesuchen der Landbevölkerung.